Weit war der Weg zurück ins Heimatland - Ulrich Slawinski - E-Book

Weit war der Weg zurück ins Heimatland E-Book

Ulrich Slawinski

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Beschreibung

Ich weiß bis heute nicht, wie ich diese 23 Tage überlebt habe, ohne ein Wort mit jemandem gewechselt zu haben und immer mit der Angst vor den Mitgefangenen, die nicht gut über die Deutschen sprachen. Deswegen habe ich mich immer wieder aus dem Blickfeld der Mitreisenden verzogen. Jedes Mal war ich froh, wenn die da oben endlich eingeschlafen waren! Ich habe oft gefragt wie Jesus am Kreuz: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Dann immer wieder die Fragen: "Was wird noch alles kommen in den neun Jahren, die vor dir liegen? Wirst du sie überhaupt überleben und wenn, was wird dann aus dir werden mit 34 Jahren ohne Beruf? Kommst du überhaupt noch einmal nach Deutschland zurück oder musst du in Sibirien verrecken?" Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Kraft und Kraftlosigkeit, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit – diese scheinbar so gegensätzlichen Worte wurden Eins in einer nicht enden wollenden Zeit. Von 1942 bis 1953 war Ulrich W. Slawinski in Russland/Sibirien in Kriegsgefangenschaft. Er erlebte dort den Winter seines Lebens, nicht nur im Herzen dieses fremden und fernen Landes, sondern auch in den Herzen der Menschen. Das autobiographische Werk "Weit war der Weg zurück ins Heimatland" erzählt aus der Sicht des nun über 90-jährigen Ehemannes, Vaters, Opas und Uropas seine Erlebnisse in unumschweiflicher Form, mit viel Weisheit und Lebenserfahrung.

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Seitenzahl: 395

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Ulrich W. Slawinski

Weit war der Weg zurück ins Heimatland

 Ulrich W. Slawinski

Weit war der Weg zurück ins Heimatland

Meine Erlebnisse als Soldat

und Kriegsgefangener in Russland/Sibirien

 Alle Rechte vorbehalten

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert, verbreitet und genutzt werden, insbesondere nicht in Medien, öffentlichen Vorträgen und Datenerfassungen. In gleicher Weise genehmigungspflichtig ist die Speicherung in analoger oder digitalisierter Form auf Datenträgern jeder Art.

Copyright © by Ulrich W. Slawinski

Deutsche Erstveröffentlichung

Dezember 2015

printed in Germany

Cover von Andrea Langer (M.A. Literatur u. Medien)

FSC-zertifiziertes Papier

ISBN 978-3-7375-7971-1

 Vorwort

Das Buch verdankt seine Entstehung zunächst der wiederholten Aufforderung von Verwandten, Freunden und Bekannten, meine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg und in den langen Jahren in russischer Gefangenschaft zu schildern. Als ich an meinem 90. Geburtstag erneut darum gebeten wurde, begann ich mit der Niederschrift. Nun ist es endlich soweit! Ein Jahr brauchte ich, um meine Erlebnisse unter „brauner“ und „roter“ Diktatur zu Papier zu bringen. Ich möchte damit auch dem Wunsch derer nachkommen, die ihre Väter kaum oder gar nicht kennen lernen durften, weil diese ihr Leben im oder nach dem Zweiten Weltkrieg in Russland verloren haben.

Alle Begebenheiten sind in meiner Erinnerung noch so lebendig, als sei es gestern gewesen. Solche Erlebnisse sind eben nicht auszulöschen!

Am Ende meines langen Lebens, das mir geschenkt wurde, beschäftigt mich immer noch die Frage, warum ich als junger Mensch diesen schweren Weg gehen musste, vielleicht, um die Erkenntnis zu vermitteln, Hoffnung und Glauben niemals aufzugeben.

Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Elisabeth für ihre hilfreiche Unterstützung. Ein ganz großes Dankeschön geht an unsere Tochter Dorothee und unseren Enkel Andreas mit seiner Verlobten Andrea, die in vorbildlicher Weise ihre Freizeit geopfert haben, um meine Erinnerungen in diesem Buch erscheinen zu lassen!

I. Einberufung zum Wehrdienst

Geboren bin ich, Ulrich Wilhelm Slawinski, im Inflationsjahr 1923 in Siegen als jüngstes Kind der Familie Friedrich Slawinski. Nach dem Mittelschulabschluss 1940 folgte ein zweijähriges Praktikum vom 1. April 1940 bis 31. März 1942. Während dieser Zeit wurden alle, die nicht Hitler-begeistert waren, der HJ1-Feuerwehr zugeteilt. Wir mussten abwechselnd nachts Wache schieben, falls es zu Luftangriffen kommen sollte. Im Januar 1942 erkrankte ich an einer schweren Rippenfellentzündung. Es wurde schon längere Zeit gemunkelt, unser Jahrgang würde im April eingezogen. Mein Vater schrieb auf Grund meiner Erkrankung an das Wehrbezirkskommando, mich wegen des schlechten Gesundheitszustandes zurück zu stellen. Die Antwort vom 19. März 1942 lautete: „Ihr Sohn wird mit seinem Jahrgang zum aktiven Wehrdienst einberufen!“ Ich war nach meinen beiden Brüdern Friedrich und Lothar sowie meinem Schwager Herbert der vierte aus unserer Familie, der zum Wehrdienst eingezogen wurde. Mein Vater gehörte keiner Partei an. Alle meines Jahrgangs bekamen im März bereits ihren Einberufungsbescheid, ich erst am Samstag, dem 10. April 1942. Darin stand: „Sie werden zu einer kurzfristigen militärischen Übung am 18. April 1942 eingezogen!“ Nur noch eine Woche!

Es waren 750 junge Leute aus dem Kreis Siegen, die sich morgens um sieben Uhr beim Wehrbezirkskommando in Siegen, Friedrichstraße, zu melden hatten. Mit einem Sonderzug fuhren wir über Wetzlar und Gießen nach Marburg an der Lahn. Dort ging es in die alte Jägerkaserne.

Wir waren mit 26 Mann auf einer Stube! Beim Einkleiden hatte man mir ein Paar ausgetretene Schuhe verpasst. Mit diesen musste ich nachmittags beim Sport einen 10-Kilometer-Lauf machen. Dazu herrschte hochsommerliche Hitze. Meine Füße waren geschwollen und die Fußsohlen voller Blasen. Aber als Soldat muss man ja durchhalten, wie später an der Front! In den folgenden acht Tagen gab es einen Wetterumsturz. Wir bekamen kühles Maiwetter. Da ich durch die Rippenfellentzündung im Januar noch sehr empfindlich war, musste ich immer mit einem Rückfall rechnen. Der kam auch in Form von Kehlkopfkatarrh. Wir hatten morgens eine Stunde Schulung. Hauptmann Hilpisch fragte etwas und zeigte auf mich. Ich stand auf, um seine Frage zu beantworten, konnte aber nicht eine Silbe herausbringen. Hauptmann Hilpisch sagte: „Der Kerl kann ja gar nicht sprechen. Setzen!“

10. Mai 1942 – Es gab Schießübungen. Ich hatte Glück und schoss 34 Ringe, zweimal 12 und einmal 10. Als erster Siegerländer bekam ich auf diese Weise Sonntagsurlaub. Um 15 Uhr ging mein Zug ab Marburg Hauptbahnhof, den ich humpelnd erreichte. Etwa um 18 Uhr kam ich im Heimatbahnhof Geisweid an, brauchte aber eine Stunde vom Bahnhof bis nach Hause, ein Weg, den man normalerweise in 10 Minuten zurücklegt. Ich ging nur auf den Fersen. Alle waren entsetzt, als sie meine Füße sahen. Am Sonntag musste ich schon den Zug um 16 Uhr zurück nach Marburg nehmen, da ich um 22 Uhr in der Kaserne zu sein hatte und der nächste Zug erst um 22.30 Uhr in Marburg angekommen wäre.

In der nächsten Woche machten wir Geländeübungen in Cyriaxweimar, südwestlich von Marburg. Da ich wegen meiner kaputten Füße behindert war, scheuchte man mich extra. Keiner der Kameraden machte den Mund auf, um mich zu rechtfertigen. Nach einem weiteren 30-Kilometer-Marsch mittags in einer Gluthitze rund um Marburgs Osten hinkte ich in der letzten Reihe derart nach, dass Unteroffizier Brust mir das Gewehr abnahm und es für mich trug!Anschließend wurde gefragt, wer fußkrank sei. Ich war nicht der einzige. „Ab ins Krankenrevier!“ Eine Woche vor Pfingsten. Der Sanitäter konnte mir die Haut unter den Füßen abziehen. Meine Mutter hatte sich zu Besuch über Pfingsten angemeldet. Da ich ja eine Woche im Revier gelegen hatte, konnte ich nicht mit ihr in die Stadt gehen. Mein Bruder Friedrich kam auch überraschenderweise nach Marburg, um mich zu besuchen! Da wir Slawinskis dieselbe Fußform hatten, gab er mir seine Stiefel – sie passten – nur hätten sie eine halbe Nummer größer sein können. Aber ich habe den nächsten 40-Kilometer-Fußmarsch in der Woche nach Pfingsten mitgemacht ohne Beschwerden. Alle Vorgesetzten waren fassungslos und konnten nicht begreifen, dass ich keinerlei Fußbeschwerden hatte! Tags darauf Stiefelappell. Oh weh, die Stiefel meines Bruders sahen noch so neu aus und hatten keine Nägel unter den Sohlen. Jeder Stiefel sollte laut Vorschrift mit 32 Nägeln versehen sein. Wehe, es fehlte einer! Was nun? Guter Rat war teuer! Die Stiefel zum Benageln abgeben war nur in der Mittagspause möglich! Da in unserem Kasernengebäude auch noch eine „Genesungskompanie“ untergebracht war, lieh ich mir dort von einem älteren Kameraden gegen eine Schachtel Zigaretten dessen Stiefel aus. Ich dachte, hoffentlich merkt keiner beim Appell etwas, wenn er diese alten ausgetretenen Stiefel sieht. Aber alles ging glatt.

Der Zufall wollte es, dass ich Dienst in der Gerätekammer hatte. Unteroffizier Lissi, dem die Gerätekammer unterstand, sah wohl in mir den geeigneten Soldaten. Er erkundigte sich bei mir nach irgendwelchen körperlichen Einschränkungen wie Herzfehler, Asthma… Ich berichtete, dass ich Herz- und auch Atembeschwerden hätte! Er daraufhin: „Gehen Sie morgen früh sofort zum Arzt ins Krankenrevier und lassen sich untersuchen, alles weitere veranlasse ich.“ Am nächsten Morgen, Samstag, dem 20. Juni, meldete ich mich beim Revierarzt. Der horchte mich ab: „Luft holen, nicht atmen!“ Ich hielt die Luft an; dann hieß es: „Donnerwetter, der Kerl holt ja gar keine Luft, ab in die Poliklinik!“ Diese befand sich damals schon in der Deutschhausstraße. Dort wurde ich gründlich untersucht. Es wurde auch ein EKG gemacht. Dann ging Oberarzt Dr. Irle hinaus und kam und kam nicht wieder. Neugierig, wie ich schon immer war, sah ich mir das EKG an und dachte: „Oh weh, alles gleichmäßig, keine Unregelmäßigkeiten, jetzt ruft der Arzt gewiss ein Kommando, das mich als Simulant abholen soll.“ Mit klopfendem Herzen wartete ich den ganzen Vormittag bis kurz vor zwölf Uhr. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Sofort ins Lazarett! Mir fiel ein Stein vom Herzen. Da mein Vater mich an diesem Wochenende besuchen wollte, fragte ich: „Hat es nicht bis Montag Zeit?“ „Nein, das Bett ist schon freigemacht!“ Dieser Arzt hatte ein furchterregendes Gesicht, ähnlich dem einer Bulldogge, aber dahinter verbarg sich ein guter Kern. Nun eilte ich zurück in die alte Jägerkaserne; dort brüllte man schon: „Wo bleibst du denn? Du sollst die Latrine schrubben. Heute am Samstag ist unsere Stube mit Revier reinigen dran!“ Ich sagte: „Ihr müsst das ohne mich machen! Ich muss ins Lazarett!“ Ich ging erst noch in den Speiseraum, um mein Mittagessen einzunehmen; es war mittlerweile 13 Uhr. Es gab Nudelsuppe mit Kartoffeln. Ich habe mich das erste Mal in den neun Wochen Kaserne satt gegessen. Als Innendienstleistender hatte ich beim Umräumen im Vorratskeller Fässer mit Gurken entdeckt, in denen es nur so von Maden wimmelte! Da war mir der Appetit vergangen. Es stellte sich heraus, dass ich 7,5 kg abgenommen hatte. Wie ich später erfuhr, hatte man den „Spieß“, die Mutter der Kompanie, wegen Veruntreuung von Lebensmitteln degradiert und wohl inhaftiert.

Nach einem kurzen Gang durch die Stadt meldete ich mich im Reservelazarett 1, der medizinischen Klinik, an. Wir lagen dort mit 22 Soldaten in einem Saal; für heutige Begriffe unvorstellbar, aber ich denke immer gern an diese Zeit zurück. Abends stand ein Mann im dunkelblauen Anzug am Fußende meines Bettes, sah mich kurz an und ging wieder weg. Ich nahm an, dass es ein Besucher gewesen war. Da wurde ich von meinem Bettnachbarn informiert, dass es sich hier um den Chefarzt handelte! Er trug, da er wohl kein Anhänger des Dritten Reiches war, keine Uniform, sondern immer den Dunkelblauen! Er kam kurz darauf wieder, erkundigte sich nach meinen Beschwerden und untersuchte mich. Ich fragte: „Bekomme ich keine Arznei?“ „Nein, Sie bekommen hier nach alter Marburger Art dreimal täglich für zwei Stunden einen Brustwickel und essen Sie so viel Sie können! Sie haben nasse Rippenfellentzündung!“ Das Wasser wurde verschiedene Male punktiert! Jeden Abend wurden alle bettlägerigen Soldaten zur Sicherheit wegen Fliegeralarm ins Hauptgebäude gefahren.

Nach etwa drei Wochen schrieb mein Vater, mein Bruder Lothar sei durch einen Bauchschuss schwer verwundet worden, sodass man mit allem rechnen müsse! Dann hatten

meine Eltern ihren Besuch angemeldet! Just an dem Tage, es war vielleicht der 20. Juli, kam morgens ein Brief von meiner Schwägerin aus Wien: „Nun hat unser lieber Lothar alles überstanden!“ Für mich brach eine Welt zusammen; ich konnte es nicht fassen! Und schon ging die Tür zum Saal auf und meine Eltern traten ein, ganz in schwarz gekleidet. Mein Puls war so hoch, dass ich am Abend nach 18 Uhr immer noch 146 Pulsschläge zählen konnte! Mein treusorgender Vater hatte auch eine Unterredung mit Oberstabsarzt Dr. Habs wegen meines Gesundheitsbefunds. Seine Meinung: „Ihr Sohn wird nur noch arbeitsverwendungsfähig werden und nicht mehr zum Kriegsdienst tauglich sein, weil Lunge und Rippenfell miteinander verwachsen sind. Damit er keine Tbc bekommt, schicken wir ihn noch in ein Kurlazarett für Lungenkranke. Der Antrag liegt schon dem Generalarzt in Kassel zur Genehmigung vor.“

Dr. Habs machte Urlaub, oh weh! Wer würde ihn vertreten? Es war Oberarzt Dr. Irle! Ich dachte, wenn das gut geht! Vielleicht ist er so eingestellt, schnell alle gesund zu schreiben, um zu glänzen? Nun kam Dr. Irle! Ich war der Elfte in der Bettreihe, jeder hatte ein Schild am Kopfende des Bettes mit Namen, Geburtsdatum, Dienstgrad und darunter die Fiebertafel und so weiter. Er blieb vor meinem Bett stehen und fragte: „Slawinski, sind Sie der verhungerte Ziegenbock, den ich hierher eingeliefert habe?“ „Jawohl, das bin ich.“ Irgendwie stellte sich dann in der nächsten Zeit heraus, dass Dr. Irle einer der bekanntesten Siegerländer Familien entstammte. Da ich über den Familienstamm Irle im Bilde war, kam dann durch die Blume heraus, dass er auch mit der Irle Brauerei verwandt war. So hatten wir von nun an ein gutes Verhältnis!

Jeden Morgen kamen etwa ein Dutzend Medizinstudenten, um an uns Untersuchungen durchzuführen. Erst kamen sie noch in Zivil, nach drei Wochen dann in Uniform als Sanitätsunteroffiziere. Einmal wurde festgestellt, mein Herz wäre zwei Zentimeter nach links verschoben. Schließlich war ich die Bemalung auf meinem Körper mit blauen und roten Farbstiften leid und erklärte den Studenten, sie dürften an mir keine Untersuchungen mehr vornehmen, ich sei so schwer krank, dass ich sonst einen Rückschlag bekommen und es mit mir noch schlimmer werden würde. Von da an hatte ich Ruhe.

Die tragischste Erinnerung an meine Zeit im Lazarett war die Einlieferung eines 35 Jahre alten Familienvaters von zweijährigen Zwillingen. Er litt an Darmverschluss und ist bei vollem Bewusstsein innerlich verbrannt. Die Ehefrau saß hilflos da, und die Kinder wollten mit dem Papa spielen. Ich kann das Bild des Grauens nicht auslöschen!

Nachdem ich länger als sechs Wochen das Bett gehütet und auch mein Normalgewicht von 70 kg erreicht hatte, bat ich immer wieder darum, bei sonnigem Wetter an die frische Luft gehen zu dürfen. Endlich hieß es: „Heute dürfen Sie eine Stunde an den Lahnwiesen spazieren gehen.“ Ich war glücklich. Aber ich schaffte es nicht mehr ganz zurück, wohl auf ebener Erde, aber nicht die Treppen hinauf! Die Krankenschwestern erklärten mir: „Das Bett zehrt!“

Meine Eltern hatten einmal bei einem Besuch versehentlich einen kürzeren Weg in die medizinische Abteilung durch die Chirurgie genommen. Als mein Vater dort das Elend mit den Verstümmelungen gesehen hatte, äußerte er sich, es wäre besser tot zu sein, als ohne Arme oder Beine leben zu müssen.

1Hitler-Jugend

In Königstein im Taunus

 Am 2. September morgens hieß es auf einmal: „Sie fahren heute ins Kurlazarett nach Königstein im Taunus. Der Dienstälteste hat die Marschpapiere. Ihr Zug geht um so und soviel Uhr ab Marburg Hauptbahnhof, über Gießen nach Frankfurt, umsteigen in die Kleinbahn, die dann über Höchst nach Königstein führt.“ Wir fuhren durch den schönen Taunus. Man hätte aussteigen und nebenher laufen können, so langsam war das Züglein. Das Reservelazarett 1 befand sich in einem ehemaligen Grandhotel. Als sich in den 20er Jahren die englischen Besatzungstruppen dort einquartieren wollten, ließ der Eigentümer Kasernen in der Nähe errichten. Diese dienten während des zweiten Weltkrieges dem Reichsarbeitsdienst als Unterkunft.

Da wir als Soldaten im Gang des Zuges zu stehen hatten, wo es natürlich trotz großer Hitze von den Türen her ständig zog, bekam ich einen Rückfall. Zunächst kamen wir Neuen alle auf einer Isolierstation für Tbc-Kranke in Quarantäne. Ausgerechnet, als sich meine Eltern zum Erholen in Königstein für zwei Wochen angemeldet hatten, lag ich da oben im Dachgeschoss und hätte brüllen können vor Schmerzen. Nun hatte ich linksseitig trockene Rippenfellentzündung. Die Krankenschwester pinselte mich mit Jod ein. Und weil ich nun halb farbig aussah, pinselte man mir aus Sympathie auch noch die rechte Seite ein. Die Hölle kann nicht schlimmer sein. Nach ein paar Tagen kamen meine Eltern und mein Bruder Friedrich, um mich zu besuchen. Sie durften nicht zu mir, da ich ja auf der „Mottenstation“ isoliert war und ich selbst durfte auch nicht zu ihnen. Das ehemalige Hotel hatte aber zwei Treppenaufgänge für den Notfall. Ich schlich mich, in der Hoffnung ungesehen zu sein, den Notausgang hinunter in den Park zu meinem Besuch. Kaum unten angekommen, erschien eine Schwester: „Sofort rauf, Sie haben hier nichts zu suchen. Sofort ins Bett!“ Ich war schockiert, meine Eltern und mein Bruder saßen dort im Park an einem wunderschönen kleinen Teich, in dem sich das Grandhotel spiegelte. Bei einer Unterredung mit dem Chefarzt stieß mein Vater auf taube Ohren, bis sich mein Bruder Friedrich als Dr. Ing. der Architektur vorstellte. Da wurde der Herrgott in weiß gesprächig, er wandelte sich um 180 Grad. Man fand auch eine Lösung. Ich wurde auf Station 2 für leichtere Fälle verlegt und musste morgens und nachmittags zwei Stunden Liegekur machen bei einer Temperatur bis zu sechs Grad Außentemperatur. Ich durfte nun auch nach draußen gehen. Die Zeit meines Ausgangs war kurz bemessen: 15 bis 18 Uhr Ich bekam ein Bett in einer Suite des früheren Grandhotels, belegt mit drei Soldaten, mit Blick zum Feldberg und bis Frankfurt. Es war eine schöne Zeit. Uns wurde viel geboten. Die Opel-Werke sowie die Farbwerke Hoechst hatten eigene Aufführungsgruppen. Zu diesen Veranstaltungen musste der Speisesaal geräumt werden.

Wir Lungenkranke bekamen zusätzlich jeden Morgen ein zweites Frühstück in Form von einem halben Liter Milch, zwei Scheiben Brot, 20 Gramm Butter sowie einem Ei! Milch und Eier wurden jeden Morgen vom Rettershof mit einem sogenannten Milchwagen angeliefert. Ich habe nie wieder Milch und Eier von so guter Qualität genossen wie vom Rettershof, der damals einer Nichte des Außenministers von Ribbentrop gehörte, ebenso das Café Rettershof. Dort verkaufte man uns Soldaten immer noch Kuchen, ohne Brotmarken dafür zu verlangen. Die sieben Kilometer dorthin zu laufen, fiel mir jedoch ziemlich schwer.

Einen Ausflug zum Feldberg zu machen, war immer mein Traum gewesen. Es hatte lange gedauert, bis ich ein Clübchen beisammen hatte, das mir zuliebe dann eines Sonntagnachmittags den Aufstieg über das Reichenbachtal, das Wildgehege von Falkenstein rechts liegen lassend, über den „Fuchstanz“ zum Feldberg wagte. Endlich oben. Wir waren enttäuscht, denn der Fernsehturm, damals neu erbaut, war von der Luftfahrt besetzt. Der eigentliche Feldberg-Turm befand sich etwas weiter weg, auch den haben wir noch geschafft. Dann ging es über die normale Straße nach Königstein zurück, wir mussten ja um 18 Uhr im Hause sein. Auf dem Heimweg begegnete uns eine Gruppe von etwa 30 jungen Leuten mit Mandolinen und Gitarren. Sie waren nicht in Uniform. Ich war überrascht, hieß es doch immer, alle deutschen Jungen gehörten der Hitlerjugend an. Ich wusste damals noch nicht, dass Frankfurt trotz Drittem Reich links eingestellt war.

Am Samstag, dem 5. Dezember, überwies man mich in ein HNO-Lazarett in Frankfurt. Dort sollte eine Nasenscheidewandverkrümmung operiert werden, die man in der Klinik in Marburg festgestellt hatte. Kaum angekommen, wies man mich ab mit der Bemerkung: „Es gibt keinen freien Platz.“ Daraufhin fuhr ich zurück nach Königstein und aß dort zu Mittag. Als ich mich beim Zahlmeister zurückmeldete, meinte dieser besorgt und verzweifelt, er hätte keine Verpflegung für mich, da ich nicht gemeldet wäre. Er gab mir Essensmarken und Geld für zwei Tage. Die Marken schickte ich nach Hause, ebenso Brotreste, die übrig geblieben waren. Ich schrieb dazu: Brot für die Hühner. Aber meine Eltern kochten daraus eine Brotsuppe für sich, es wäre für die Hühner zu schade. So durfte ich noch den Dezember in Königstein verbringen. Heiligabend gab es für alle Speiseeis. Ich bekam ein Schachspiel, das ich immer noch habe. Ebenso bekam ich ein Buch von Goebbels, darin stand unter einer der Geschichten: „Alle Menschen sind Komödianten.“

Am 5. Januar 1943 kam ich nach Frankfurt zur Operation der Nasenscheidewand. Von dort kehrte ich in meine Garnison in Marburg zurück, die sich nun in der neuen Jägerkaserne befand. Ich bekam dann noch zwei Wochen Genesungsurlaub. In dieser Zeit – ich war kaum zu Hause – fiel Stalingrad, und der Chefarzt und seine Oberschwester in Königstein wurden wegen Lebensmittelverschiebung verhaftet. Nach Beendigung des Urlaubs und Vorstellung beim Truppenarzt fragte dieser nach meinen Beschwerden. Ich nannte: „Atemnot beim Laufen auf Grund der dreimaligen Rippenfellentzündung.“ Die Antwort: „Wenn der Russe hinter Ihnen ist, können Sie laufen!“

Nun hieß es: Neu einkleiden sowie Waffenempfang. Ich erhielt ein Gewehr 98 k1. Unser Marschbefehl lautete: Fulda, Konstantin-Kaserne. Abends um 21 Uhr kamen wir dort an. Am nächsten Tag wurde ein Marsch-Bataillon ZbV2 B9 zusammengestellt. Danach drillte man uns zwei Wochen lang mit Exerzieren, Scharfschießen und so weiter, um ein Manövrieren im Team zu üben.

1deutsches Gewehr mit verkürztem Lauf

2zur besonderen Verwendung

An der Ostfront

Am Samstag, dem 27. Februar 1943 ging es dann Richtung Osten, wo wir nach einer Woche Fahrt ab Fulda über Leipzig und Brest-Litowsk Gomel1 erreichten. Unser Transport hielt irgendwo in einer verlassenen Gegend. Hier musste vor kurzem das Frontgebiet gewesen sein, denn der Bahnhof war eilig verlassen worden, lediglich ein ganzer Güterzug voll Skier, weiß gestrichen, stand noch da. Die Wagentüren geöffnet und nichts entladen – ein Zeichen, dass hier ein Überfall der Roten Armee bzw. ein Frontwechsel stattgefunden hatte. Altgediente Soldaten nahmen Skier mit, gewusst warum! Es war etwa 15 Uhr, die rotgoldene Sonne stand tief im Westen und wir marschierten, erst auf einer Straße, die mit runden Steinen wie aus einem Bach gepflastert war, dann im Schnee bis an die Knie und mehr und das etwa 20 bis 25 Kilometer weit. Da es nun dunkelte, mussten wir irgendwo Quartier machen. Für viele von uns war es das erste Mal im Ausland. Mein damaliger Kamerad Franz Fredewes, Bauernsohn aus Oldenburg, und ich – wir hatten uns in Fulda angefreundet – suchten in einer Scheune, angefüllt mit Stroh und Heu, einen warmen Platz. Fehlanzeige! Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil der Boden aus Lehm von unten gefroren war.

8. März – Ich wurde als Melder eingesetzt und musste, da unser Zug, der aus circa 25 Soldaten bestand, den Schluss der Marschkolonne bildete, bis zur Spitze an allen anderen vorbei laufen, um von Hauptmann Sassnick, sein Spitzname war „Männer“, Befehle zu empfangen. Ich hatte ihm in Fulda diesen Namen gegeben, weil jede seiner Ansprachen mit dem Wort „Männer“ anfing. So sagte er zum Beispiel einmal zu Beginn einer Instruktionsstunde: „Männer, ich sage euch, wie man die Angst besiegt. Ich selbst habe auch Angst, schreie mir aber die Angst aus dem Leibe und ihr schreit Hurra und stürmt auf den Feind.“ Er behielt den Namen auch, als wir später an die Front kamen und er Kommandeur des dritten Bataillons wurde. So hatten wir Nachrichtenleute einen Stabsfeldwebel als Vorgesetzten in Fulda, der behauptete, der „Gasskrieg“ käme demnächst und der Krieg wäre beendet! Er ließ mich das Wort „Gass“ hundertmal abschreiben, weil er darauf bestand, es hieße „Gass“. Vorgesetzte haben ja immer recht und dulden keinen Widerspruch!

Von Gomel ging es südlich in Richtung Kursker Bogen. Mit zwei anderen wurde ich dem Regiments-Nachrichtenzug als Fernsprecher zugeteilt. Die 340. Infanterie-Division hatte kurz vorher wegen der Übermacht der Roten Armee den Rückzug von Woronesch antreten müssen. Ihre schweren Verluste konnten durch unser Ersatzbataillon, circa 1500 Mann, nur zum Teil aufgefüllt werden. Mein Glück war, dass ich mit den beiden anderen Fernsprechern bei der Regimentsstabskompanie bleiben durfte, während die übrigen 14 Kameraden, die der Schützenkompanie zugeteilt wurden, schon in den ersten Tagen ihr junges Leben lassen mussten. Von den insgesamt 18 Nachrichtenleuten blieben nach den ersten Kampftagen nur fünf übrig: einer namens Geschke, 38 Jahre alt, Franz Fredewes, Willi Bäcker, W. Orth und ich. Willi Bäcker war nachtblind und W. Orth hatte einen Leistenbruch. Später habe ich erfahren, dass die Zuteilung nur vorübergehend war, bis die Urlauber und Verwundeten wiederkämen.

9. März 1943 – Abends erreichten wir Rülsk, wo sich der Divisionsgefechtsstand befand. Eine Division besteht normalerweise aus drei Regimentern, unsere besaß nur noch zwei. Unser Regiment bestand aus einem Bataillon mit einer Kompanie sowie dem 2. und 3. Bataillon mit je drei Kompanien, und die waren auch nicht mehr vollständig! Am Stadtrand hatte man Hunderte von einjährigen Pferden zum Abtransport zusammen getrieben. Ich selbst entdeckte einen Schlitten mit Pferd, angebunden an einem Lichtmast. Da weit und breit kein Eigentümer zu sehen war, entführte ich das Gespann zum Marschbataillon, ohne mich noch einmal umzuwenden. Im selben Augenblick war mein Schlitten schon mit den Tornistern meiner Kameraden beladen; für mich blieb kein Platz mehr frei. Übrigens muss ich noch dazu bemerken, dass wir aus Marburg mit den schlechtesten vorzeitlichen Tornistern und Utensilien ausgestattet waren! Während alle anderen mit neuen Feldspaten zum Eingraben an der Front versehen waren, hatte man mir ein altes Feuerwehrbeil „verpasst“, wie man sich beim Militär auszudrücken pflegt.

10. März – Wir marschierten über Klennaja nach Sarja, wo sich der Regimentsgefechtsstand befand. Dort angetreten erfolgte eine Besichtigung durch Oberst Herbst. Hinter unserem Zug stand Geschke mit dem Pferdeschlittengespann. Oberst Herbst bemerkte: „Das Pferd hat auch schon bei den Preußen gedient.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen! Die Bemerkung hätte auch heißen können: „Wie kommen Sie zu dem Gespann? Es ist seit gestern verschwunden!“ Wir wurden nun zu dritt dem Nachrichtenzug des Grenadierregiment 695 zugeteilt, Feldpostnummer: 04542. Die Stabskompanie befand sich aber in Klennaja, also mussten wir den Weg wieder zurücklaufen. Ich habe gedacht: „Wenn Oberst Herbst wüsste, wo ich das Gespann entwendet habe?“ Am späten Nachmittag, es war schon dunkel, trafen wir bei der Stabskompanie ein, wo wir uns bei Stabsfeldwebel Viola zu melden hatten. Von dort ging es zum Regimentsnachrichtenzug, Leitung Leutnant Töter. Franz Fredewes und ich kamen als jüngste in ein Quartier mit lauter „alten Frontschweinen“! Dann ging das übliche Ausfragen los. Wie heißt du? Woher kommst du? Man bot uns direkt Becher voll Schnaps an, ebenso Tee aus deutschen Schulsammlungen; er schmeckte ganz abscheulich, auch der Schnaps war nicht besonders, Marke Eigenbau, undefinierbar! Da unsere Unterkunft nicht im direkten Frontbereich lag, konnten wir uns beruhigt hinlegen auf den Lehmboden der armseligen Bauernkate. Nach all dem Gesprächsaustausch wurde noch gesungen, als letztes „Guten Abend, Gute Nacht“. Dann bemerkte noch einer der alten Hasen, die sich schon zwei Jahre kannten: „Gute Nacht, ihr lieben Sorgen, leckt mich am… bis morgen!“ Ich dachte: „Mein Gott, wohin bin ich hier nur geraten?“ Aber im Nachhinein kann ich die Menschen verstehen, die wegen eines Größenwahnsinnigen alle ihren Familien- und Lebensaufbau liegen lassen mussten! Ein Glück für mich, dass unter diesen Kameraden keiner war, der vom Dritten Reich begeistert war. Sie hatten ein Jahr zuvor bei Woronesch gekämpft und waren eingekesselt worden, ohne Winterbekleidung. Einer, der Russisch sprach, hatte das Regiment bei Schneegestöber durch die feindlichen Linien geführt. Dort war das Lied von der Rollbahn 13 entstanden mit folgendem Refrain: „… wenn ich su an ming Heimat denke un sin d'r Dom su vör mer ston, mööch ich sofort ming G'wehr verschenke, ich mööch zo Foß noh Kölle jonn…“

22 Uhr – „Slawinski, aufstehen! Wachablösung!“ Wir waren ja nicht im Schützengraben, es ging hier nur um die Bewachung der Ortsunterkünfte. Jeden Abend um 19 Uhr wurden die Wachposten vergattert, das heißt: Wir wurden mit allen Verhaltensregeln vertraut gemacht und darin unterwiesen, was wir während der Wache zu beachten hatten. Ablösung war alle zwei Stunden. Peter Heister, der mit mir zusammen auf Wache war, flüsterte mir zu: „Die Filzstiefel hier habe ich einem toten Russen ausgezogen, sonst wären meine Füße erfroren.“

Die 340. Division hatte auf dem Rückzug viel verloren unter anderem die Feldküche. Man musste alles liegen und stehen lassen, was unnützer Ballast war beziehungsweise Lärm verursachte! Nach etwa zwei Wochen bemerkte ich die ersten Läuse, und zwar an den Fußknöcheln in den dicken Strümpfen, später an allen besonders warmen Körperstellen.

Mitte April – Stellungswechsel. Der Schnee verschwand, die Erde taute auf, die Schlammperiode setzte ein. Schlamm bis an die Waden und mehr! Das Gehen war deshalb sehr beschwerlich! Als Essen gab es jeden Tag Bohnensuppe mit Lammfleisch. Die Suppe war meistens schon angesäuert, da sie in gebrauchten Holzfässern transportiert wurde, die sich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht steril reinigen ließen.

Kabelbau vom zweiten Bataillon zum Jägerbataillon! Nach nur neun Wochen Kurzausbildung wusste ich gar nichts mehr. Außerdem kränkelte ich immer. Jeden Abend bekam ich Fieber und Luftnot von der Rippenfellentzündung.

Ich als Neuling war im März 1943 etwa drei Wochen im Einsatz im Raume „Kursk“ und befand mich in einer Zwischenvermittlung in einem Dorf namens Periest. Wir waren nur zu dritt in diesem Dorf. Ich hatte Vermittlungsdienst während der Nacht, als plötzlich ein Anruf von vorderster Stellung kam, vielleicht einen Kilometer von uns entfernt: „Der Russe ist durchgebrochen, wir brauchen dringend Unterstützung.“ Ich hörte schon das „Hurrääää“ der Iwans2. Kurz entschlossen wie ich war, rief ich Oberst Herbst an. Es war nachts ein Uhr! Es meldete sich der Bursche des Oberst und wollte mich abweisen, da der Herr Oberst schliefe und nicht gestört werden dürfe. Ich aber setzte mich durch und ließ den Oberst auf meine Verantwortung wecken. Ich entschuldigte mich für die nächtliche Störung und machte Meldung. Er bedankte sich und veranlasste das Weitere.

Im Juni 1943 in Nadeyka wurden Franz Fredewes und ich vom Bataillon zur Stabskompanie zurückbefohlen. Das war schade, denn in Weschonka3 hatten wir uns in neuen Erdbunkern häuslich eingerichtet. Vor dem Bunker ein Samowar, im Hintergrund der große Teich, den meine Kameraden und ich wegen der großen Hitze öfters aufsuchten, um uns zu erfrischen.

 Wieder in der Regimentsstabskompanie, mussten wir jeden Morgen exerzieren. Ich hatte dauernd Fußbeschwerden. Mein Kamerad Franz Fredewes meinte, ich müsse Marschriemen um die Stiefel tragen. Er sollte recht behalten, denn als ich im Dezember zu Hause auf Urlaub war, erklärte mir unser Schuhgeschäftsbesitzer, der mich von klein auf kannte: „Du hast Senkfüße.“ Da die deutsche Wehrmacht unbedingt den Kursker Bogen mit Belgorod und Orel zurück erobern wollte, wurde alles auf einen Kampf vorbereitet und sämtliches unnötige Gepäck beim Tross deponiert. Ich fragte mich, ob wir es wiedersehen würden. Ich hatte ein ungutes Gefühl, und das hatte nicht getrogen. Meinen Fotoapparat sowie alles andere hat später der Russe kassiert. Wie ich jetzt nach über 70 Jahren erfuhr, hat Hitler die Offensive zu lange hinausgezögert. Dadurch konnte der Russe genug Zeit gewinnen, sich auf einen Angriff seinerseits vorzubereiten. Unsere Armeeführer nahmen nun wohl an, die Front würde so stehen bleiben. Obwohl jeder normale Mensch merken musste, dass der Krieg kein gutes Ende nehmen würde, wagte niemand, so etwas laut zu denken. Man ordnete an, die Stallgebäude winterfest zu machen! Das hieß, die Böden in den primitiven Ställen auszuheben und durch Holzstangen zu ersetzen. So begaben wir uns jeden Morgen mit unseren Gespannen einige Kilometer weiter in Niederholzwälder, um Holz zu schlagen. Um den Landsern etwas Abwechslung zu verschaffen, richtete man in einem Getreidespeicher einen Kultursaal ein. Es gab zum Beispiel Kinovorführungen, auch für die Bevölkerung, natürlich umsonst. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass eine für mich damals ältere etwa 50-Jährige Kolchosenbäuerin zum ersten Mal in ihrem Leben eine Kinovorstellung besuchte. Sie blieb hinten im Kinoraum sitzen, den Blick nicht zur Leinwand, sondern rückwärts zum Eingang gerichtet. Sie hatte nichts von dem Film gesehen. Alles Zureden half nichts, sie blieb mit dem Blick durch die Ritzen nach draußen so sitzen! Einmal kam eine Fronttheatergruppe. Unter den männlichen Schauspielern befanden sich auch zwei Frauen, Mutter und Tochter, bei denen wir zwei Jüngsten uns für ein Foto unterhaken durften. Da die Front seit Beginn des Jahres zum Stehen gekommen war, versuchte die rückwärtige Heeresleitung alles Mögliche, um den Soldaten in den Schützengräben kleine Erholungspausen zu gönnen. Es war ja schon aus einer halbwegs gut erhaltenen Kate ein Offizierskasino für die Offiziere geschaffen worden. Nun fehlte noch ein Soldatenheim für die Unteroffiziere und Mannschaften. Die Bewohner setzte man einfach aus. Sie kamen bei Nachbarn oder Verwandten unter.

Ein Koch von Beruf hatte sich wohl etwas negativ über das Dritte Reich geäußert. Er kam zur Strafverbüßung nicht in den Fronteinsatz, sondern durfte bei uns Dienst tun, aber ohne Waffe! So wurde mir später als Störungssucher einer namens Krause zugeteilt, der, nachdem er merkte, dass von mir keine Gefahr ausging, mir seine Erlebnisse durch die Schikanen der SS im Strafkommando berichtete, nur weil er als Familienvater mit 35 Jahren etwas zu laut gedacht hatte.

Auf Anordnung der Reichsregierung wurden Frauen unter 36 Jahren nach Deutschland deportiert, um dort in Munitionsfabriken zu arbeiten und vielleicht die Munition herzustellen, mit der später ihre eigenen Männer und Väter erschossen wurden.

Alarm um Mitternacht am 28. August: Der Russe ist durchgebrochen! Ich weiß nicht mehr ob links oder rechts von uns. Jedenfalls glaubten unsere oberen Vorgesetzten, der Feind käme hier nicht durch. Wir mussten ja den ganzen Sommer über jeden Morgen die Frauen der Dörfer hinter der Front mit Spaten antreten lassen, um einen Panzergraben auszuheben. Zum Glück bestand der Boden aus Lehm und nicht wie in meiner Heimat aus Felsgestein! Aus Sicherheitsgründen wurde ein Leutnant mit seinem Zug im linken Frontabschnitt eingesetzt, um mit etwas Schießerei den Feind zu irritieren. Aber was machte der Iwan? Er ignorierte das Scheingefecht ebenso wie den schützenden Panzergraben. Er war schon nachts beim Nachtbarregiment durchgebrochen. Den Leutnant haben wir leider nicht wiedergesehen. Er und sein Zug wurden geopfert. Ich konnte es nicht fassen, dass unsere Vorgesetzten so leichtfertig mit Menschenleben umgingen.

Am 28. August musste ich nochmals zurück, um Leitungen abzubauen. Auf der Wiese Hunderte von jungen Gänsen, wie im tiefsten Frieden. Wir fuhren über die normale Verbindungsstraße von Tsukanov nach Krasnaya Polyana. Dort befand sich eine Zwischenvermittlungsstelle in einer Bauernkate. Wir glaubten, die Uniformierten, die plötzlich aus dem Haus kamen, wären unsere Fernsprechleute, die uns kannten. Georg Bernsdorf, ein älterer Kamerad, sprang vom Pferdewagen, ich wollte hinterher, da hatten sie ihn schon erschossen. Ich kam soeben noch aufs Fahrzeug, das nun in die entgegengesetzte Richtung jagte. Dort kam uns noch ein Stoßtrupp entgegen. Ich selbst war so von meiner ersten Feindberührung überwältigt, dass ich in aller Eile nur das Wichtigste berichtete, aber keine offenen Ohren fand, obwohl der Russe bereits weit hinter unsere Stellungen vorgedrungen war! In der Nacht mussten wir noch eine neue Telefonleitung zum vorgesehenen Regimentsgefechtsstand im rückwärtigen Gebiet legen. Als ich am nächsten Morgen abermals nach Nadeyka musste, um etwas zu holen, ging ich nochmals in unsere alten Quartiere, die wir nach deutscher Art ordentlich zurückgelassen hatten. Oh Schreck, alle Fenster waren zerschlagen, die Türen aus den Angeln gerissen, alles durcheinander gewühlt, überall Scheißhaufen. Ich dachte: „Das kann doch nicht wahr sein. Es hat in den wenigen Stunden doch gar keine Feindberührung gegeben. Wir hatten alles sauber verlassen!“ Aber die Dorfbewohner saßen draußen vor den Katen in sauberer Kleidung wie am Feiertag und warteten auf die Rotarmisten, um ihnen die Verwüstungen und das ungebührliche Verhalten der deutschen Besatzer vor Augen zu führen. Der Übermacht der Roten Armee mussten wir bis zum Dnjepr4 weichen: Immer wieder die Front halten, Stellung beziehen, abwechselnd anderen Einheiten den Rücken decken. Meist war es die Pakgeschützabteilung, die mit ihren Panzerabwehrkanonen die Rückendeckung zugweise vornahm, um dann im letzten Augenblick auch den Rückzug anzutreten. Wir Fernsprecher legten den Weg von 300 Kilometern doppelt zurück, da wir nach einer Absatzbewegung von 20 bis 30 Kilometern neue Telefonverbindungen zu Fuß erstellen mussten.

Folgendes Ereignis hat mich besonders betroffen gemacht: Ich kam von einer Störungssuche wieder und hörte immer eine Stimme: „Helft mir doch! Helft mir doch! Warum hilft mir keiner?“ Ich sah hin. Es war unser Sanitätsoberfeldwebel Friedrich von der Regimentsstabskompanie. Ich habe dann gefragt wieso ihn niemand verbindet. Da wurde mir geantwortet: „Den brauchen wir nicht mehr zu verbinden. Wir können die Blutung der Bauchwunde nicht stoppen. Der stirbt sowieso.“ Es hatte vorher aus besonderem Anlass Alkohol gegeben. Danach erfolgte ein Beschuss durch unsere Feinde, wobei ein Granatsplitter seinen Bauch aufriss. Sein Blut war durch den Alkoholkonsum zu sehr verdünnt. Zwanzig Minuten später starb er mit vollem Bewusstsein und offenem Bauch. Es ist mir bis heute eine Warnung geblieben, nie betrunken zu sein!

Unser Regimentskommandeur Oberst Herbst tat einmal in unserer Gegenwart den Ausspruch: „Es geht nichts über ein kurzes Telefongespräch!“ Im vertrauten Kreis äußerte er: „Wenn die versprochenen Auffangstellungen hinter dem Dnjepr nicht vorhanden sind, ist der Krieg für uns entschieden.“ Er sollte recht behalten!

Die Front befand sich hinter dem Dnjepr. Auch hier konnten wir der Übermacht auf Dauer nicht standhalten, obwohl wir 28er und 32er Geschütze besaßen. Der schlaue Russe war ja bekanntlich schon vor uns über den Dnjepr gekommen, nördlich von Kiew. In Dymer befand sich unser neuer Divisionsgefechtsstand. Der Russe saß zum Teil auf einer kleinen Insel im Dnjepr, der an dieser Stelle besonders seicht war. Wir starteten einen neuen Angriff von Dymer aus, um den Russen wieder zurück über den Dnjepr zu zwingen, was uns aber wegen der Übermacht des Feindes nicht gelang. Ich wurde als Störungssucher dem dritten Bataillon zugeteilt. Wir warteten in einem Wald am Dnjepr bis mir einer sagte: „Du brauchst nicht mit.“ Ein Glück für mich, denn von all den Nachrichtenleuten, die mit den Infanteristen eingesetzt wurden, kehrte keiner wieder zurück, da sie alle im Nahkampf gefallen waren. Noch nicht einmal beerdigen konnte man sie! Der Russe blieb auf dem Westufer des Dnjepr, davor wir. Wir lagen dort vor einem Sumpf. Als wir die erste Telefonleitung dorthin verlegten, mussten wir den Sumpf durchqueren und schnell von Wurzel zu Wurzel springen, um nicht in dem Sumpf für immer zu versinken. Es wurden sogar Stukas5 eingesetzt, sodass unser Oberst sprach: „Solche starken Gefechte habe ich selbst im Ersten Weltkrieg nicht erlebt!“ Der Russe besaß die Gemeinheit, sogar mit Schrapnells6 zu schießen, was nach der Genfer Konvention verboten war. Die Menschen wurden dabei zerrissen! Da das Gelände zwischen den Sumpfgebieten aus Bims bestand, konnte man sich sehr schwer eingraben. Es war nur durch Kratzen möglich. Wir waren zu dritt: Unteroffizier Wendt, Werner Hinrichs, mit dem ich fast den ganzen Rückzug zusammen gewesen war, und ich. Unser Splitterschutzloch war gerade mal so tief, dass wir darin sitzen konnten. Tiefer hatte keinen Zweck, weil wir sonst mit Grundwasser in Berührung gekommen wären.

Eines Abends kam im Dunkeln Ersatz, ganz junge Menschen. Wir wussten weder ihren Namen noch wer sie waren. Am nächsten Morgen setzte der Russe wieder Schrapnells ein. Keiner blieb übrig, alle waren bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt! Einem älteren Soldaten war es gelungen, sich ein tieferes Splitterschutzloch ähnlich einem Grab auszuheben. Er hatte nach langer Zeit einen Brief von zu Hause erhalten und saß ganz unten, in den Brief vertieft, als der Russe wieder seinen Granatregen über uns austeilte und den Lesenden total unter sich begrub, für immer. Ich in meinem flachen Splitterschutzloch kam unversehrt davon!

Da wir Störungssucher zu dritt waren, gingen immer zwei auf Störungssuche, der dritte durfte sich ausruhen! Ich war mit Hinrichs die ganze Nacht unterwegs gewesen, sodass Rittmeister Rotkamp schon einen Suchtrupp nach uns losgeschickt hatte. Ich war lange Zeit auf dem Rückzug mit Rotkamp zusammen auf einem Gefechtsstand gewesen. Wir hatten uns öfter die letzten Zigarillos geteilt, denn ich hatte immer welche in einer Zusatz-Kartusche, damit sie nicht zerbrachen. Werner Hinrichs und ich kamen also erst morgens gegen sieben Uhr zurück. Wir hatten die Telefonleitung nicht flicken können, denn es fehlten uns etwa zwei Meter Kabel. Und zwar waren spät abends in der Dunkelheit Feldküchen zu den einzelnen Kompanien gefahren. Dabei hatten sich die Pferde irgendwo im Kabel verheddert und das Kabel bis ans Ende des Sumpfes, der bis ins Dorf reichte, mitgeschleift. Dort lag das dritte Bataillon. Wir mussten ständig unter Lebensgefahr vorgehen, da wir nie wussten, wo sich Freund oder Feind befand. Nun kamen wir in unserem Unterstand an. Als es wieder hieß „Störungssucher raus!“, blieb ich ruhig, da ich ja nicht dran war. Werner rief: „Wir müssen los.“ Ich antwortete: „Ich bin nicht dran.“ Was sagte Wendt: „Na, jehen Se schon!“ Werner zu mir: „Komm, das schaffen wir auch noch!“ Wir gingen weit über den Sumpf hinaus. Dort hatte der Wind eine etwa 15 Meter hohe Düne angeweht. Wie, weiß ich nicht. Jedenfalls gab es, von uns aus gesehen, am Ende der Düne eine Schlucht, durch die man ins Hinterland gelangte. Dort her verlief auch unsere Telefonleitung! Plötzlich stand unser Leutnant Töter vor uns und fragte nach dem Weg zum dritten Bataillon. Aber erst musste er noch zum zweiten. Wir beschrieben den Weg durch den Sumpf. Nichts ahnend kehrten wir nach getaner Arbeit zurück, wobei wir auf halbem Wege an einer Verbandsstation vorbeikamen. Dort trat einer der Sanitäter aus der Kate, die mit Stroh bedeckt war und bat uns herein. Oh Schreck! Dort lag unser Unteroffizier Wendt, bleich wie eine Kerze. Wir dachten: „Der macht's nicht mehr lange durch den hohen Blutverlust.“ Doch er hat alles überstanden, wie er später in einem Brief mitteilte. Der Leutnant war zu Unteroffizier Wendt gegangen, um nach dem Weg zum dritten Bataillon zu fragen. Wendt, als Ostpreuße überaktiv, sagte prompt: „Jawohl, Herr Leutnant, ich zeige Ihnen den Weg.“ Der Weg selbst war nicht weit, aber Wendt wollte dem Leutnant nicht zumuten, auf dem Boden zu kriechen, sondern kletterte über einen Zaun. Dabei hatte ihn der Russe wohl von irgendeinem Baum aus gesehen und geschossen.

Als der Leutnant uns bat, ihm dem Weg zu zeigen, fragte ich ihn: „Wann werde ich endlich mal abgelöst, ich bin nun seit dem 27. August immer hier draußen.“ „Dafür sollen Sie auch belohnt werden.“ „Ich verzichte auf Ihr Eisernes Kreuz und das Eisen ins Kreuz!“ Wie mir später erzählt wurde, hatte er sich beim Regiment folgendermaßen über mich ausgedrückt: „Frech ist der Slawinski ja, aber Angst hat er keine.“ Bezüglich der vielen herrenlos verletzt herumlaufenden halbwüchsigen Kälber meinte er: „Sie müssen die Kälber alle einsammeln und zum Regiment bringen!“ „Was wollen Sie denn damit?“ „Bouletten backen!“ „Hier kommen jeden Abend drei Feldküchen und bieten ihr Essen an, ich weiß nicht wo ich Essen fassen soll.“ Was ich dachte, möchte ich hier nicht äußern.

Jetzt saß der Russe oben auf der Düne und konnte jeden einzelnen beobachten, denn hier war eine freie Fläche. Wir mussten unsere Stellung nochmals zurücknehmen bis auf einen Teil des zweiten Bataillons, der in einem Wäldchen Unterschlupf gefunden hatte. Dorthin konnte die Feldküche im Schutze von Kiefer-Kusselgelände7 sogar am Tage das Mittagessen sowie die Post bringen, bis eines Mittags, als gerade die Küche vorgefahren war, der Iwan ein kleines Gefecht veranstaltete. Alle stoben auseinander, jagten dann aber die Russen wieder zurück. Weil der Koch nicht zu finden war, teilte ein anderer das Essen aus. Er schöpfte und schöpfte, bis er es merkwürdig fand, dass da noch dicke Fleischstücke drin zu sein schienen. Es war der Kopf des Kochs. Ich konnte mir so etwas nicht vorstellen, denn ich kannte die Russen noch nicht gut genug!

Dem zweiten Bataillon wurde nach all den Verlusten ein Hauptmann von Knobelsdorf vorgesetzt, ein feiner Mensch, der jeden respektierte. Wenn wir uns morgens in der Frühe bei der körperlichen Entleerung trafen: „Guten Morgen, Herr Hauptmann.“ „Guten Morgen, Slawinski. Was gibt es Neues? Was meinen Sie, wie das Wetter wird?“

Während des Rückzugs von Kursk lagen wir irgendwo ohne jegliche Verbindung zu den nächst höheren Truppen. Ich sah eine Freileitung an einem Telefonmast herunterhängen und sprach Oberleutnant Abresch, den Bataillonsadjutanten an, das wäre die Gelegenheit zu versuchen, irgendwelche Telefonverbindung zu bekommen. Alle waren gegen mich. Ich also am Mast hoch bis zum Blankdraht, Telefon angeschlossen und durchgeklingelt. Es meldete sich der Gefechtsstand des Armeekorps. Ich stellte mich als Gefreiter des Regimentsnachrichtenzuges vor, gab unsere Abteilung und Position anhand einer Landkarte durch. Es hat mich keiner von dort angebrüllt. Im Gegenteil, man war dankbar, Nachricht über unseren Stand zu haben, da man durch den Rückzug tagelang nichts von unserer Einheit gehört hatte.

3. November 1943 – Ich musste wie alle morgens aus unserem Erdbunker raus, nachdem ich schon eine Zeit lang gedacht hatte: „Was ist das nur für ein merkwürdiges Dröhnen? Die ganze Erde vibriert ja!“ Ich raus aus dem Erdbunker, den wir erst vor einigen Tagen mühsam erstellt hatten. Ich kam nicht mehr zum pinkeln. Ich rief nur: „Die Russen sind da!“ Alle waren im Nu hellwach. Werner Hinrichs war sofort bei mir und wir nichts wie ab Richtung Glebowka. Es war das nächste Dörfchen, hinter einem Wald gelegen. Wir wussten nicht, ob die Iwans schon dort waren oder nicht. Immer weiter liefen wir Richtung Südwesten, bis wir am Nachmittag in Dymer ankamen. Dort befand sich, wie ich erst später im Urlaub erfuhr, die Divisionsapotheke mit unserem Ortsapotheker Heinrich Büscher! Dymer selbst war voll gestopft mit Gespannen, die nicht vorwärts noch rückwärts konnten. Alle suchten nach Verpflegung, denn man war gerade dabei, das Lager zu räumen, als auf einmal ein ganz merkwürdiges Geräusch zu hören war, das ich bis jetzt noch nicht kannte: Die Stalinorgel8. Wir liefen in all dem Chaos um unser Leben! Ich wollte mich nach etwa 150 Metern zu meiner Linken in einen Straßengraben legen, aber da war schon einer vor mir. Noch weiter, da legte sich auch schon einer gerade vor mir in den Straßengraben. Verdammt! Noch mal zehn Meter, da machte es auf einmal „wupp“ auf meinem linken Ellenbogen. Ich rief: „Werner, ich bin verwundet!“ Ich hatte Glück gehabt, denn die Falten meines Mantels hatten mich vor dem Verlust meines Armes durch Granatsplitter bewahrt!

In meiner Neugier ging ich nochmals zurück und stellte fest: An der Stelle, die ich zuerst ausgesucht hatte, war ein anderer für mich gefallen; der zweite, seinetwegen musste ich ja noch weiter laufen, hatte einen Arm ganz verloren, der andere Arm baumelte nur noch unterhalb der Schulter. Wir konnten ihm mit meinen Marschriemen den Arm abbinden, etwa zehn Zentimeter Knochen unter dem Schultergelenk waren noch vorhanden! „Helft mir, helft mir!“, waren seine Worte. Am Horizont sah man ganze Fahrzeugkolonnen wild durcheinander gegen Westen ziehen. Wir halfen ihm auf und sagten ihm, in welche Richtung er laufen müsse, um ein Fahrzeug zu erreichen, das ihn mitnehme. Auch wir flohen, weil wir nicht wussten, was der Iwan weiter vorhatte und landeten bei der 216. Division, die dort wohl ausgerüstet in Reserve lag, wie im tiefsten Frieden! Wir suchten eine Sanitätsstelle wegen meines Arms auf. Zum Glück war es nur eine Fleischwunde am linken Ellenbogen. Ich wurde verbunden, aber die Verwundung wurde im Soldbuch nicht bestätigt: „Das kann ich nicht anerkennen, ich brauche einen Sanitäter, der das gesehen hat.“ Ich dachte armes Deutschland, mit solch einer Bürokratie kann man nicht viel anfangen! Später, als ich wieder bei meiner Einheit war, habe ich unter Zeugenaussage von Werner Hinrichs den Vorfall dort gemeldet, und er wurde akzeptiert.

Wir waren nun versprengt und von unserer Einheit getrennt. Richtung Westen landeten wir schließlich beim Armeekorps, als der Herr General sich gerade davon machte! Keiner wusste etwas von den Geschehnissen des Vortages! Man dokumentierte im Soldbuch, dass wir uns vorschriftsmäßig bei der nächst höheren Befehlsstelle gemeldet hatten, denn hätten wir das nicht getan, hätte man uns wegen Fahnenflucht sofort erschießen können! Man wies uns an, nach Borodyanka zu gehen. Dort könne man uns eher Auskunft geben. Von da nach Radomyshl', wo sich eine große Verpflegungsstelle befand. Aber der Oberzahlmeister in seiner Gewissenhaftigkeit war nicht bereit, uns, die nun schon den fünften Tag nichts zu essen bekommen hatten, auch nur die geringste Kleinigkeit zu geben. Lediglich eine große Packung Zigaretten bekamen wir aus seinem persönlichen Vorrat, da er Nichtraucher war. Was er uns anbot, war ein Duschbad in einem riesigen Baderaum. Da es gerade Samstag war, passte das ganz gut. Wir waren von den langen Märschen hundemüde und schliefen im Nachbargebäude so fest, dass wir nichts davon mitbekamen, als in der Nacht Partisanen alles ausraubten und das Verpflegungsgebäude in Schutt und Asche legten. Der Zahlmeister und seine nächsten Untergebenen mussten dabei ihr Leben lassen.

7. November 1943 – Irgendwelche Lastwagen nahmen uns mit nach Schitomir. Im Nachhinein bin ich immer noch der Meinung, dass es Partisanen waren, denn es wurde nichts gesprochen, wie es sonst üblich war. Keiner stellte Fragen, lediglich als sie plötzlich von hinten kommend anhielten und fragten: „Wohin?“ „Nach Schitomir.“ Auf dem Weg dorthin kamen wir an einem kleinen Obstgeschäft vorbei. Ich erstand dort für fünf Reichsmark den teuersten Apfel meines Lebens! Spät am Sonntag landeten wir in Schitomir und meldeten uns bei der entsprechenden Wehrmachtsstelle, die unsere Meldung im Soldbuch bestätigte. Das war wichtig! Man wies uns in die Wehrmachts-Übernachtungsstelle zum Schlafen. Die war in einer großen Kirche eingerichtet mit mindestens 100 doppelstöckigen Feldbetten. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so gut geschlafen wie in dieser ehemaligen Kirche! Da niemand den ständig wechselnden Frontverlauf kannte, schickte man uns erst nach Korosten, dann nach Malyn, von da wieder zurück nach Korosten. Dort trafen wir einen namens Helmes aus Weidenau und den Sohn aus der Spedition Pracht in Dillenburg, zwei Landsleute von mir. Von Korosten mussten wir durch ein Partisanengebiet nach Sarny! Den Zug, den wir eigentlich nehmen wollten, hatten wir aus irgendwelchen Gründen versäumt. Ich war verärgert. Doch als wir dann später mit der Bahn nach Sarny fuhren, stand dort der vorausgefahrene Zug auf einem Nebengleis – gesprengt. Alle tot, die meisten verstümmelt. Es waren Frontsoldaten, die endlich mal Urlaub bekommen hatten. Mit manchen hatten wir uns noch kurz vorher unterhalten und ausgetauscht. Sie hatten sich gefreut, dass sie endlich nach Hause konnten! Es sah aus wie in einem Schlachthof! Ich wusste jetzt, warum ich den Zug mit aller Gewalt nicht bekommen sollte!

13. November – Wir kamen abends in Sarny an. Die Feldpolizei lieferte uns in der Waldkaserne ab. Dort waren 18-Jährige zur Ausbildung. Die armen Jungen mussten sogar ihren Ausbilder mit „Herr Oberschütze“ anreden. Mittags beim Essensempfang hieß es: „Die Alten zuerst!“. Ich sagte zu Werner: „Komm, wir sind wohl die Ältesten!“, sahen weg vom Küchenschalter, hielten unsere Blechteller hin und bekamen unser Essen als Erste! Hier waren wir nun eingesperrt und konnten nicht raus, da wir kein Soldbuch hatten. Das gab es nur, wenn man angeben konnte, wo sich die Einheit befand.

14. November – es war Sonntag. Unter Bewachung durften wir geschlossen ins Kino. „Die goldene Stadt“ wurde gespielt. Der Zufall wollte es, dass uns ausgerechnet imKino der Holländer van Dieken in die Quere kam. Er war auf der Regimentsschreibstube eingesetzt und wusste, dass sich unsere Einheit bei Rowno9 befand! Das war das Stichwort, mit dem wir unser Soldbuch wieder bekamen.Wir setzten uns am folgenden Morgen sofort in den nächsten Zug, der durchs Partisanengebiet über Zwiaehel10 nach Rowno fuhr. Im Zug waren auch wieder junge Rekruten, die vom Einsatz im Partisanengebiet sprachen. Die armen Jungen, sie konnten einem leidtun! Von Rowno schickte uns die Wehrmachts-Auskunftsstelle nach Kowel. Wir hatten im Stillen gehofft, nach Bialystok, wo sich jetzt unsere Ersatztruppe befand, zu kommen. Hier in der Urlauber-Übernachtungsstelle durften wir zwei Nächte bleiben. Nachdem wir uns in einer Banja gereinigt hatten, bekamen wir nach etwa 12 Wochen die erste saubere Wäsche auf den Leib! Da nachts wegen Partisanengefahr wohl kaum Personenzüge eingesetzt wurden und niemand wusste, wo er uns hin beordern sollte, genossen wir die Stunden im Soldatenheim. Dort hatte man an die Wand ein großes Bild gemalt, eine Landschaft am Rhein, worunter stand: „Erst wenn man in der Fremde ist, weiß man, wie schön die Heimat ist!“ An beides erinnere ich mich nach über 70 Jahren noch genau!

21. November – morgens fuhren wir nach Osten. Wir trafen dort abends Ernst Faust, einen Klafelder Jungen, der am Arm verwundet, Richtung Heimat geschickt wurde. In Stolbuno selbst gab es als Marschverpflegung Fleischwurst aus Rindfleisch. Sie war etwas härter als andere. Ich habe oft in Sibirien noch an die Wurst denken müssen, aber es gab dort keine! Am 22. November 14 Uhr fuhren wir Richtung Südosten nach Berditschew. Dort stellte man aus allen möglichen Uniformträgern Kampftruppen zusammen. Werner Hinrichs sprach: „Komm schnell weg von hier, sonst sind wir verloren bei so einer Kampfgruppe, in der keiner den anderen kennt!“ Berditschew war uns unheimlich wegen Partisanen, ebenso Rowno, wo wir bei unserer ersten Ankunft dort das Strangulieren von sieben Männern fast noch miterlebt hätten, durchgeführt von einer Frau, deren Mann wohl General in Ostpreußen war. So mussten wir, als wir dort ein Privatquartier gefunden hatten, miterleben, wie im Hause nebenan von SS-Leuten Menschen zusammengeschlagen wurden, um sie zu Geständnissen zu zwingen. Was gefragt wurde, weiß ich nicht, denn man fragte sie in ihrer Muttersprache, die wir nicht verstanden.

22. November – abends waren wir wieder in Schepetowka. Wir kannten uns dort schon aus und suchten die Wehrmachts-Übernachtungsstelle auf. Wir waren kaum dort, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und einige von der Feldgendarmerie hereinkamen. „Tür zu! Keiner verlässt den Raum! Soldbücher raus, Marschpapiere vorzeigen!“ Wir hatten zum Glück für jeden Tag einen Stempel, aber es nützte uns nichts. „In 24 Stunden bei der Truppe melden! Sonst droht ein Kriegsgerichtsverfahren wegen Fahnenflucht!“ Sie notierten unsere Namen und Einheit. Wir gingen trotzdem abends noch ins Soldatenheim, um etwas zu essen zu bekommen. Und was für ein Zufall: Zwei von der Regimentsschreibstube saßen auch dort, waren aber nicht bereit uns mitzuteilen, wo sich unsere Einheit befand. Ganz am Schluss hieß es, morgen um sieben Uhr fährt der Trossaus Schepetowka! Alles klar, keiner wusste Bescheid! Am nächsten Morgen standen wir beizeiten auf und wollten nochmal zum Soldatenheim. Es war in der Nacht überfallen und ausgeräumt worden, alles war schwarz verbrannt! Wir gingen einfach Richtung Osten aus der Stadt und siehe, dort standen gerade die Reste unserer Stabskompanie zum Abmarsch bereit! Wir meldeten uns bei Stabsfeldwebel Viola und berichteten von unserer Verwarnung durch die Feldgendarmerie! Ach, was war das nur noch ein armseliger Haufen, kein Militärfahrzeug mehr, nur Bauernkarren! Wir zogen bis zum 28. November mit dem Rest der Stabskompanie. Dann hieß es plötzlich: „Slawinski, Sie fahren in Urlaub. Mit anderen Kameraden aus dem Pionierzug müssen Sie etwa 20 Kilometer bis zum nächsten Bahnhof losziehen. Einige kennen den Weg dorthin.“ Bevor man in einen Urlaubszug durfte, musste man sich einer Entlausung unterziehen. Wir mussten uns am ganzen Körper mit einer schwarzen Salbe einschmieren, besonders die behaarten Stellen, die wegen der Körperwärme gern von Läusen aufgesucht werden.

22 Uhr Abfahrt von Rowno-Kowel über Warschau, Berlin Friedrichstraße, Hannover. Vor Hannover gab es Fliegeralarm. Der Zug war total überfüllt. Statt acht waren sechzehn Menschen im Abteil, unter anderem Blitzmädels11, die aus der Schule plauderten. Sie sagten, sie wollten nicht OM12 spielen, sondern lieber den Landsern eine Freude machen.