Welche Schule brauchen wir? - Mireille Guggenbühler - E-Book

Welche Schule brauchen wir? E-Book

Mireille Guggenbühler

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Beschreibung

Wie man Schule macht -Ein Buch, das sich in die Debatte um die Schule einmischt -Interviews mit Schulexperten und -expertinnen zu den drängenden Schulfragen -Lehrerinnen und Lehrer sagen, was für sie bewährter Unterricht ist Was sagen Noten über Schülerinnen und Schüler wirklich aus? Wie kann Unterricht in heterogenen Klassen gelingen? Was will die Wirtschaft von der Schule? Wie frei sind Schulen wirklich? Wann sind Hausaufgaben sinnvoll? Warum gibt es in Kindergärten immer weniger Zeit zum Spielen? Und wie lernen Kinder eigentlich am besten? In Interviews mit Bildungsexperten sucht die Journalistin Mireille Guggenbühler nach Antworten zu Themen, die in der gesellschaftlichen und politischen Debatte rund um die Volksschule immer wieder auftauchen. Demgegenüber stehen Gespräche mit Lehrerinnen und Lehrern, die tagtäglich unterrichten und für sich schon lange Antworten auf viele dieser Fragen gefunden haben. Guggenbühler führt die Gespräche themenbezogen, und so entstehen kenntnisreiche und prägnante Beiträge zu den Bildungsaspekten. Interviews u.a. mit: Etienne Bütikofer, Damian Gsponer, Walter Herzog, Daniel Hunziker, Hans Joss, Winfried Kronig, Inge Schnyder, Margrit Stamm, Elsbeth Stern.

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MIREILLE GUGGENBÜHLER

WELCHE SCHULE BRAUCHEN WIR?

 

Mireille Guggenbühler

WELCHE SCHULE BRAUCHEN WIR?

© 2016 Zytglogge Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Angela Fessler

Cover: Adrian Moser

 

ISBN: 978-3-7296-0924-2

eISBN (ePUB): 978-3-7296-2102-2

eISBN (mobi): 978-3-7296-2103-9

 

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

 

www.zytglogge.ch

 

Für meine Kinder

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

LERNEN

Elsbeth Stern: «Kinder sollen nicht nur Wissen erwerben, sondern die Dinge auch verstehen»

Luzia Hedinger: «Meine Schülerinnen und Schüler sollen sehen, dass Mathematik einen Bezug zu ihrem Alltag hat»

KOMPETENZORIENTIERUNG

Daniel Hunziker: «Lehrerinnen und Lehrer müssen lernen, die Kinder ihr Wissen anwenden zu lassen»

Mandy Knopf, Michael Gasser: «Wir schauen mehr in die Welt hinaus statt in die Schulbücher»

WIRTSCHAFT

Hans Hess: «Reines Fachwissen genügt nicht, um im Beruf erfolgreich zu sein»

Christoph Wildberger: «Ich forderte Leistung, Leistung, Leistung»

BEURTEILUNG

Winfried Kronig: «Der Glaube an die Noten ist an den Schulen und bei Eltern ungebrochen»

Cornelia Grossniklaus: «Die Note 4 oder 4,5 ist für viele Schüler und Eltern schlimm»

HAUSAUFGABEN

Inge Schnyder Godel: «Hausaufgaben müssen zum Denken anregen»

Armando Carboni: «Wir richten uns nicht nach einem Normschüler aus»

SPIELEN

Margrit Stamm: «Spielen ist zu einer Randerscheinung geworden»

Brigitta Anliker: «Jede Projektmanagerin würde sich über so engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter freuen»

SPEZIALUNTERRICHT

Sonja Lienert Wolfisberg: «Nicht alle Kinder können zum selben Zeitpunkt dasselbe leisten»

Iris Bättig: «Vor der Mathstunde jonglieren wir»

INTEGRATION

Caroline Sahli Lozano: «Die Schule muss einen Paradigmenwechsel vollziehen»

Petra Schmidt, Rita Obergfell: «Die Vielfalt betrachten wir nicht als Problem, sondern als Chance»

BILDUNGSSTANDARDS

Walter Herzog: «Eine Schule kann nicht wie ein Industriebetrieb eingerichtet werden»

Christina Berger: «Mit Tests wird man der Individualität der Kinder nicht gerecht»

FINNLAND

Hans Joss: «Eine öffentliche Schule kann ohne Selektion funktionieren»

Kathrin Hüppi: «Finnische Lehrpersonen sind auf das Positive und nicht auf das Negative fokussiert»

FREIHEIT

Etienne Bütikofer: «Kein Gesetz schreibt 45-Minuten-Lektionen vor»

Susanne Schläfli: «Ich gestalte den Unterricht den Kindern entsprechend und nicht nach irgendwelchen Vorgaben»

ZUKUNFT

Damian Gsponer: «Die Schule ist heute zu sehr vom Leben, von der Realität, vom Alltag entfernt»

Bettina Schnyder-Giachino: «Wer sich selber helfen kann, wird diese Fähigkeit ein Leben lang brauchen können»

EINLEITUNG

Der Föhn bläst an diesem Nachmittag durchs Tal. Es ist warm für die Jahreszeit. Oben, an den Hängen, auf welchen sich schon bald die Gäste tummeln, liegt der erste Schnee. Unten im Tal, in welchem die Einheimischen wohnen, hat sich der Schnee der Wärme wegen gar nicht erst richtig festgesetzt. Sarah hat sich dennoch die dicke Jacke angezogen. Am Rücken trägt sie einen Rucksack. Sie kommt direkt von der Schule. Von jener, welche sie heute besucht. Sarah setzt sich an den Tisch auf der Terrasse des Restaurants, in welchem ihr Vater arbeitet. Er ist auch da und setzt sich auf die andere Seite des Tischs. Die Jugendliche nippt an ihrer Cola, sie hebt und senkt ihr Glas stets mit der rechten Hand. Unter der Jacke sieht man nicht, dass ihre linke Seite gelähmt ist. Sie lehnt sich einen Moment in ihrem Stuhl zurück, dann fährt sie sich mit dem Handrücken über die Augen. «Das passiert ihr immer, wenn sie sich an ihre Schulzeit oben auf dem Berg erinnert», erklärt der Vater ruhig, als seine Tochter einen Moment ins Stocken gerät. Der Tränen wegen. Sarah legt ihre beiden Arme auf den Tisch, zuckt mit den Schultern und redet, obwohl ihr die Tränen über die Wangen laufen. «Es ist einfach so, dass er mich zu der gemacht hat, die ich heute bin. Er war ein super Lehrer. Der beste», sagt sie. Er. Das ist ihr langjähriger Lehrer, der entlassen worden ist. Einen Drittel ihres Tages verbrachte Sarah an der Ganztagesschule oben auf dem Berg, die «für mich wie eine grosse Familie war», wie sie sagt. Und wie in einer Familie fühlte sich ihr Lehrer verantwortlich dafür, der unterschiedlichen Entwicklung der einzelnen Kinder gerecht zu werden. «Mein Lehrer entwickelte mit jedem Kind ein individuelles Lernprogramm. Auch deshalb bin ich so weit gekommen, wie ich jetzt bin», sagt Sarah.

Mireille Guggenbühler, «Ein Lehrer kämpft gegen den Staat», in: Der Bund (22.12.2010).

Sarah, ihre Klassenkameraden und ihr Lehrer – das ist die Geschichte um die Entlassung eines Mannes, der, zusammen mit anderen Lehrerinnen und Lehrern, aus einer kleinen staatlichen Schule eine Modellschule, ja eine Vorzeigeschule machte. Immer wieder besuchen andere Lehrerinnen und Lehrer die Schule – um sich Ideen und Inspiration zu holen.

Die Entlassung des Lehrers gibt zu reden. Unter anderen Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern, den Eltern und im Dorf. Am Ende ist die Entlassung auch Thema in Bern – Lehrer, Schulleiter und Schulkommissionspräsident sind bereit, zu reden – im Zusammenhang mit einem Zeitungsartikel (siehe andere Seite). Sie zeichnen einen Konflikt nach, in welchem es vor allem um die Frage ging, wie eine Schule sein sollte, wie weit ein Lehrer staatliche Vorgaben erfüllen muss und was Bildung bedeutet. Sie zeigen im Gespräch das Spannungsfeld auf, in welchem sich eine Schule heute bewegt: Da sind der Kanton, die Gemeinde, die Schulkommission, die Eltern, das Lehrerkollegium und irgendwo auch noch die Kinder. Und da sind die unterschiedlichsten Vorstellungen, Ideen, Überzeugungen, Philosophien und Lebenswelten. Mit dieser Vielfalt zurechtzukommen, ist eine der Herausforderungen, die heute jede Schule bewältigen muss. Das ist nicht einfach. Der damalige Schulkommissionspräsident beschreibt die beiden Pole, zwischen denen er und alle anderen Verantwortlichen der Schule sich bewegen: «Was ist ein guter Lehrer? Ist es derjenige, der die meisten Kinder in die Sekundarschule bringt, oder der, der den Kindern eine hohe Sozialkompetenz vermittelt?»

Am Bildungsverständnis und den Aufgaben einer Schule reibt man sich mitnichten nur in kleinen Gemeinden. Bereits nach der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 hat eine grössere Bildungsdebatte eingesetzt, die sich nun, mit der geplanten Einführung des Lehrplans 21, fortsetzt. In verschiedenen Kantonen wehren sich Eltern, Lehrkräfte und weitere Bevölkerungskreise gegen die Einführung des neuen Lehrplans mittels Volksinitiativen. Gegner und Befürworter diskutieren darüber, was Wissen ist, über Kompetenzen, Inhalte und Rahmenbedingungen, didaktische Herausforderungen, das Lern- und Lehrerverständnis und Anforderungen der Wirtschaft und Gesellschaft an die Schule. In Frageform ausgedrückt: Was sollen Schülerinnen und Schüler eigentlich noch lernen und wie sollen sie dies lernen? Wie kann eine Schule Benachteiligten und Begabten gleichermassen gerecht werden? Wie sollen Kinder beurteilt werden? Was bringen Hausaufgaben? Welche Erwartungen hat die Wirtschaft an die Schulabgängerinnen und Schulabgänger?

Ob nun also der Schulleistungstest «Pisa», die Modellschule in einer Berggemeinde oder der Lehrplan 21: Immer wieder tauchen in den Diskussionen ähnliche Fragen und ähnliche Themen auf. Die Nutzniesser oder Leidtragenden der gesamten Diskussion – je nach Standpunkt – sind die Kinder. Der Schule können sie nicht entfliehen. 23 Lektionen oder rund 17 Stunden verbringt ein Erstklässler im Kanton Bern pro Woche an der Schule – je nach Kanton sind es zwischen 19 und 26 Lektionen. Die Anzahl Stunden, die ein Kind in der Schule verbringt, steigt nach der 1. Klasse kontinuierlich an – am höchsten ist sie in den Deutschschweizer Kantonen zwischen der 7. und 9. Klasse. Bis zu 34 Lektionen können beispielsweise im Stundenplan eines Siebtklässlers eingetragen sein. Das sind 25,5 Stunden – etwas mehr als ein 60-Prozent-Pensum eines Arbeitnehmers. Die Stunden, die ein Kind zusätzlich für die Schule arbeitet, sind darin nicht inbegriffen.

Im Leben eines Kindes dreht sich ab dem Kindergarteneintritt während mindestens elf Jahren also vieles um die Schule. Sogar die Tagesabläufe der Kinder leiten sich aus den Zeiten, aber auch Anforderungen, der Schule ab. So gesehen ist eine breite Diskussion über die Schule nicht nur wichtig, sondern unerlässlich. Was für ein Ort soll die Schule denn sein, an dem Kinder und Jugendliche einen grossen Teil ihrer Lebenszeit verbringen?

Auf viele Fragen rund um die Schule haben Experten Antworten. Aus zahlreichen Studien lassen sich Erkenntnisse für den Unterricht ziehen. Deshalb kommen in diesem Buch Wissenschaftler, aber auch Fachleute zu Wort, die sich zu den wichtigsten Themen äussern.

Allerdings: Den Expertenmeinungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen immer auch Lehrpersonen gegenüber, die in ihrem Berufsalltag einen Weg zwischen diesen wissenschaftlichen Befunden, den veränderten Anforderungen der Gesellschaft und den Vorgaben des Staats finden müssen. Deshalb äussern auch sie sich in diesem Buch. Es sind Lehrerinnen und Lehrer, die im Unterricht ihren eigenen Weg gehen. Es sind Lehrerinnen und Lehrer, die immer wieder über ihren Unterricht nachdenken. Und es sind Lehrerinnen und Lehrer, die sich den Herausforderungen stellen, welche das 21. Jahrhundert für die Schule bereithält.

Wie die Zukunft der Schule aussieht, hängt von denen ab, welche die Schule gestalten, und von jenen, welche am Ende über die Rahmenbedingungen der Schule bestimmen. In diesem Sinn soll dieses Buch dazu dienen, Ideen zu bekommen oder über Visionen nachzudenken. Wie könnte die Schule von morgen gestaltet sein?

Manchmal braucht es vielleicht aber nicht einmal Grosses, um im Kleinen etwas zu bewegen. Für den Vater von Sarah ist klar, dass der Schulbesuch auf dem Berg seiner älteren und auch der jüngeren Tochter nur gutgetan hat: «Weil der Lehrer mit dem Herzen unterrichtet hat. Und das war entscheidend.»

Thun, im Juni 2016

Mireille Guggenbühler

LERNEN

Guter Unterricht an der Schule zeigt sich für Lernforscherin Elsbeth Stern darin, wenn Schülerinnen und Schüler den Schulstoff nicht nur bloss wiedergeben können, sondern die Inhalte auch wirklich verstanden haben. Schülerinnen und Schüler sollten deshalb dazu gebracht werden, sich aktiv mit dem Schulstoff auseinanderzusetzen. Gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern sei dies zentral. Dennoch: Die Lernforscherin ist nicht generell gegen das Auswendiglernen.

In der Debatte um das Fach Frühfranzösisch beklagen sich viele Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, dass die Kinder nicht mehr richtig Französisch lernen würden, nicht mehr so, wie sie es taten: mit Verbenkonjugieren, mit Wörterlernen. Offensichtlich verstehen viele Erwachsene unter Lernen Auswendiglernen? Ist das Lernen?

Ja natürlich, das gehört dazu. Man kann nicht gut Französisch lernen, wenn man die Vokabeln und die Regeln der Fremdsprache nicht beherrscht. Diese Dinge muss man irgendwann auswendig können, indem man sie repetiert. Natürlich muss man eine Fremdsprache dann auch praktizieren. Aber alleine durch Zuhören und Radebrechen lernt man keine Fremdsprache.

Wie sinnvoll ist denn repetitives Lernen?

Für manche Fertigkeiten ist es sehr sinnvoll. Für solche, die man einfach können muss, ohne dass man sie erklären kann. Es gibt aber Sachen, die kann man nicht durch Repetieren lernen. Physik beispielsweise verstehe ich nicht durch Repetieren. Und wenn ich in Mathematik nicht weiss, was ich mit dem X in der Gleichung soll, dann habe ich ein Problem. Für die Logarithmen gilt dasselbe: Diese sollten Schülerinnen und Schüler eigentlich besser beherrschen, als dies zurzeit der Fall ist. Wenn ich aber nicht weiss, wie Logarithmen entstehen, wie soll ich diese dann anwenden können? Zur Mathematik und den Naturwissenschaften gehört zwar auch Übung, aber erst einmal muss man die Konzepte überhaupt verstanden haben. Dieser Grundsatz gilt aber nicht nur für naturwissenschaftliche Fächer: Es ist zum Beispiel auch nicht sinnvoll, alle Hauptstädte Europas auswendig zu lernen, wenn ich kein Gefühl dafür habe, wo diese und die entsprechenden Länder liegen. Es macht also keinen Sinn, Dinge auswendig zu lernen, die ich verstehen müsste, Dinge, die ich verstehen kann, die ich aber noch nicht verstanden habe.

Kann man denn in wenigen Sätzen sagen, wie Schülerinnen und Schüler am besten lernen?

Nein, das kann man eben nicht. Ausser, dass man viel Zeit dafür verwenden muss und eines wissen sollte: Alles, was ich verstehen muss, kann ich nicht durch Auswendiglernen kompensieren. Man könnte es auch so sagen: Schülerinnen und Schüler lernen dann am besten, wenn sie sich auf die Aufträge der Lehrerinnen und Lehrer einlassen, und diese sollten gut sein.

Was ist denn ein guter Auftrag?

Das hängt immer vom Lernziel ab. Lehrerinnen und Lehrer sollten sich deshalb stets überlegen, welches Ziel sie haben und mit welcher Methode sie dieses am besten erreichen. Wenn ein Lehrer will, dass etwas verstanden wird, dann unterrichtet er anders, als wenn er will, dass die Schülerinnen und Schüler etwas üben und auswendig lernen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wenn es im Physikunterricht beispielsweise um die Frage geht, weshalb ein Schiff aus Stahl schwimmt, während ein kleines Stück Stahl untergeht, und der Lehrer will, dass die Schüler verstehen, weshalb das so ist, dann muss er die Schüler aktiv einbeziehen und ihre Erklärungen dazu anhören. Es bringt nichts, den Kindern einfach Erklärungen dazu vorzugeben, die Kinder sollten die Erklärungen selber entwickeln. Die Aufgabe des Lehrers ist es dann, den Kindern Widersprüche aufzuzeigen oder ihnen zu zeigen, wo sie an Grenzen stossen. Ein Lehrer muss die Schüler dazu bringen, sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen.

Die Kinder sollen also selbständig denken lernen?

Ja sicher. Verstehen kann man sich nur aktiv erarbeiten, das kann nicht passiv verlaufen.

Sollten denn bereits kleinere Kinder damit anfangen, Wissen zu erwerben?

Ja natürlich. Aber die Kinder sollten eben nicht nur Wissen erwerben, sondern die Dinge auch verstehen. Darauf sollte man bereits in der Primarschule achten. Und um etwas wirklich zu verstehen, braucht es Zeit.

Stimmt denn generell der Grundsatz: je früher, desto besser?

Nein, nicht unbedingt. Vieles kann man zum Beispiel im Kindergarten vorbereiten, etwa dass Kinder gut lesen oder schreiben lernen. Das bedeutet aber nicht, dass Kindergärtnerinnen und Kindergärtner mit Kindern lesen und schreiben sollen. Sinnvoller ist es, mit den Kindern vorbereitende Übungen zu machen. Sprachspiele zum Beispiel, damit Kinder lernen, die Buchstaben b und p auseinanderzuhalten, damit sie diese später auch besser schreiben können. Die Kinder entwickeln dadurch die sogenannte phonologische Bewusstheit. Je früher desto besser heisst also nicht, etwas vorzuverlegen, sondern sich zu überlegen, ob es spielerische Vorbereitungsübungen gibt, die den Kindern erst noch Spass machen und später das Lernen in der Schule erleichtern.

Dann sollten Kinder also nicht schon vor der Schule lesen und schreiben lernen?

Nein, das muss nicht sein, aber sie sollten zum Beispiel durch Singen für die akustische Struktur der Sprache empfänglich werden. Fürs Zählen und Rechnen gilt dasselbe: Kinder müssen nicht vor der Schule bis zehntausend zählen können. Aber sie sollten spielerisch an die Zahlen herangeführt werden, indem sie zum Beispiel aufzählen, wie viele Leute beim Mittagessen sitzen, und sich dann überlegen, wie viele Teller sie aufdecken müssen.

Kann man Kinder beim Lernen auch überfordern?

Man überfordert Menschen, wenn sie nicht wissen, was sie mit gewissen Dingen machen sollen, und wenn sie Dinge nicht einordnen können. Man kann Menschen immer überfordern, wenn sie keinen Sinn in dem sehen, was sie machen.

Welche Rolle spielen denn die Lehrerinnen und Lehrer beim Lernen?

Eine ganz entscheidende. Die Lehrerinnen und Lehrer haben die Aufgabe, Lernsettings herzustellen und Aufträge zu formulieren, mit denen die Kinder etwas anfangen können.

Nun haben Lehrerinnen und Lehrer heute aber sehr heterogene Klassen mit unterschiedlich intelligenten und begabten Kindern. Viele sagen, unter diesen Umständen sei es nicht einfach, stets Aufgaben für alle zu finden.

Natürlich ist das nicht einfach. Es handelt sich um einen anspruchsvollen Beruf, der hohe Wertschätzung verdient. Deswegen werden Lehrerinnen und Lehrer ja auch gut bezahlt. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man der Heterogenität gerecht werden kann. Zum Beispiel, indem man den Kindern verschiedene Aufträge gibt und ihnen sagt, sie sollen sich erst einmal selber einen aussuchen. Wenn man dann sieht, dass sich ein Kind zu schwere oder zu leichte Aufgaben aussucht, versucht man dieses zu beraten. Was aber nicht heisst, dass man für jedes Kind ein individuelles Süppchen kochen muss. Man stellt vielleicht drei Gerichte zur Verfügung, aus denen die Kinder wählen können. Als Lehrerin oder Lehrer muss man auf unterschiedliche Begabungen eingestellt sein, und es kann sinnvoll sein, für sich selbst Minimalstandards zu formulieren. Das bedeutet, sich zu überlegen, was alle Kinder können sollten. Auch für besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler sollte man Lernziele formulieren und entsprechende Angebote machen.

Das bedingt aber eine sehr gute und intensive Vorbereitung des Unterrichts.

Guter Unterricht zeigt sich nicht nur in der Vorbereitung, sondern auch in der Nachbereitung. Damit ich die nächste Unterrichtsstunde vorbereiten kann, sollte ich als Lehrerin oder Lehrer wissen, was die Kinder in der aktuellen Stunde überhaupt verstanden haben. Ich kann nun zum Beispiel Zettel verteilen, auf denen ich die Schülerinnen und Schüler frage, was sie verstanden haben. Diese Rückmeldung muss nicht einmal namentlich erfolgen. Wenn ich mir die Zettel dann anschaue, weiss ich, worauf ich in der nächsten Stunde achten muss, was ich noch einmal wiederholen oder anders erklären sollte.

Wenn Lehrerinnen und Lehrer nun aber 25 Kinder in der Klasse haben und einige Schülerinnen und Schüler besonders schwierig sind, dann wird auch das Lernen für alle anspruchsvoller. Was raten Sie diesen Lehrerinnen und Lehrern?

Ich war einmal in einer Klasse, in welcher mehrere Kinder eine Aufmerksamkeitsstörung hatten und entsprechend verhaltensauffällig waren. Die Lehrerin ist sehr gut damit zurechtgekommen. Die Kinder durften aufstehen, und sie konnten, wann immer sie wollten, zum Wasserhahn gehen. Die anderen Kinder haben sich wenig daran gestört. Wenn diese Lehrerin die verhaltensauffälligen Kinder aber jedes Mal ermahnt hätte, dann hätte es wohl eine Szene gegeben. Wenn einem als Lehrerin oder Lehrer bewusst ist, dass nun mal auch verhaltensauffällige Kinder die Schule besuchen müssen, aber man an diese nicht dieselben Ansprüche stellen darf wie an alle anderen, dann kann der Unterricht klappen. Das hat diese Klasse gezeigt. Natürlich wäre es für diese Lehrerin einfacher gewesen, wenn diese auffälligen Kinder nicht Teil der Klasse gewesen wären. Aber ich habe an diesem Beispiel gesehen, dass man als Lehrerin oder Lehrer mit einer solchen Situation umgehen kann, ohne dass man gleich eine Katastrophe daraus macht.

Gibt es auch Grenzen?

Ja, die gibt es schon. Wenn Kinder zum Beispiel dauernd rumschreien würden, dann wäre das sicher sehr problematisch. Man muss sich als Lehrerin oder Lehrer auch darauf verlassen können, dass man Hilfe bekommt, wenn die Störungen in einer Klasse schlimm werden. Aber an den Gang zum Wasserhahn kann sich eine Klasse wirklich gewöhnen.

Sie sagten einmal in einem Interview, in Deutschland werde noch Unterricht wie vor fünfzig Jahren gemacht. Wie sieht es eigentlich in der Schweiz aus?

Man muss diesen Satz jetzt nicht nur negativ verstehen, denn es muss nicht alles schlecht gewesen sein vor fünfzig Jahren. Aber: Man hat vor fünfzig Jahren in Deutschland, und auch in der Schweiz, noch gemeint, dass man durch Auswendiglernen das Verstehen kompensieren kann. Dem ist aber nicht so. Wenn man heute als Schule keinen Wert aufs Verstehen legt, dann ist das schlechter Unterricht wie vor fünfzig Jahren. Andererseits finde ich es seltsam, wenn es heisst, man dürfe keinen Frontalunterricht mehr machen, weil diese Unterrichtsform als veraltet gilt. Darum geht es nicht, sondern darum, dass Lehrerinnen und Lehrer eine Unterrichtsmethode wählen, mit welcher sie erreichen, dass Schülerinnen und Schüler etwas lernen. Natürlich ist es nicht sinnvoll, die Kinder im Frontalunterricht zuzutexten, wenn sie dem Inhalt nicht mehr folgen können. Andererseits kann man mit Frontalunterricht manchmal auch sehr effizient arbeiten. Es gibt übrigens auch moderne Unterrichtstrends, die ich nicht als sinnvoll erachte.

Welche denn?

Zum Beispiel, dass es an gewissen Schulen keine Stundenpläne mehr gibt und Kinder sich selber einteilen sollen, woran sie gerade arbeiten.

Weshalb finden Sie das nicht sinnvoll?

Weil das viele Kinder nicht ohne Unterstützung schaffen. Wenn Kinder, die von ihren Eltern keine Hilfe erwarten können, nun auch noch vom Lehrer keine Unterstützung mehr bekommen, dann fallen viele ganz hinten runter. Bei diesem Unterrichtsmodell spielt die soziale Herkunft eine grosse Rolle. Am sinnvollsten finde ich, wenn Lehrerinnen und Lehrer ihre Klasse an der langen Leine führen. Gute Lehrerinnen und Lehrer machen das, aber früher musste man sich darauf verlassen, dass sie Naturtalente sind.

Inwiefern?

Es war ein Glücksfall, wenn Lehrerinnen und Lehrer gute fachliche Kompetenzen mitbrachten und gleichzeitig wussten, wie man Kindern Wissen vermittelt.

Sie finden, dass es Lehrerinnen und Lehrern heute manchmal daran mangelt?

So würde ich das jetzt nicht sagen. Wir haben heute gut fundierte Lehrerbildungsprogramme, in denen man vieles, was später im Beruf wichtig ist, lernen kann. Aber es werden heute manchmal etwas zu oft Leute Lehrerinnen und Lehrer, die sich das vorher zu wenig überlegt haben. Damit jemand feststellen kann, ob er oder sie als Lehrperson geeignet ist, fände ich es wichtig, dass es viele Praktika gibt und diese in der Ausbildung so früh wie möglich angesetzt würden.

Wie ausschlaggebend ist eigentlich die Intelligenz für eine Schulkarriere?

Wenn es gut läuft in einem Land, dann ist diese sehr wichtig; wenn es schlecht läuft in einem Land, dann werden intelligente Kinder ausgebremst.

Wie sieht das in der Schweiz aus?

In der Schweiz läuft es nicht schlecht, kann aber sicher noch optimiert werden. In einer Studie zum Physik-Lernen haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass intelligente Mädchen im konventionellen Unterricht ihr Potenzial häufig nicht optimal nutzen können.

Weshalb ist das so?

Die Art des Unterrichts spricht sie nicht an. Sie wollen Physik verstehen, während die Lehrerinnen und Lehrer eher auf Routinen Wert legen. Physik muss man begreifen, man muss verstehen, was zum Beispiel Kraft im physikalischen Sinne ist oder dass Kraft und Druck etwas Unterschiedliches sind. Wenn man auf das Verstehen gar keinen Wert legt, dann finden viele: Weshalb soll ich alle diese komischen Formeln auswendig lernen? Ich mach es halt, aber was hab ich denn davon?

Das heisst, es gibt vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern Verbesserungspotenzial?

Diese Fächer werden am besten erforscht. Wenn ich in Französisch nicht gut bin, kann ich mich immerhin noch etwas unbeholfen unterhalten, auch wenn ich die Zeitformen falsch anwende. In den naturwissenschaftlichen Fächern dagegen liege ich ein ganzes Leben lang daneben, wenn ich die Inhalte nicht verstanden habe. Von anregendem und gutem Unterricht, bei welchem Wert auf das Verstehen gelegt wird, profitieren alle Schülerinnen und Schüler.

Zur Person:

Elsbeth Stern ist Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich und Leiterin des Instituts für Verhaltenswissenschaften. Sie hat verschiedene Bücher verfasst, unter anderem zu Themen wie lernwirksamem Unterricht, Intelligenz oder Begabungsförderung.

Luzia Hedinger, Mittelstufenlehrerin, Schule Lindenfeld, Burgdorf (BE)

«Meine Schülerinnen und Schüler sollen sehen, dass Mathematik einen Bezug zu ihrem Alltag hat»

«Weil ich eine Mehrjahrgangsklasse mit Viert- bis Sechstklässlern unterrichte, arbeite ich in der Mathematik meist mit drei Schweizer Zahlenbüchern an drei verschiedenen Themen gleichzeitig. Ich bin ein Fan des Zahlenbuchs und seiner Didaktik. Das Zahlenbuch bietet viele Zugänge zu mathematischen Aufgaben, es fördert das aktive und entdeckende sowie das soziale Lernen. Im Zahlenbuch finden sich viele Aufgaben, die einen Bezug zum Alltag haben und handlungsorientiert sind. Und genau das ist mir wichtig: Ich wünsche mir, dass meine Schülerinnen und Schüler nicht nur theoretisch, sondern vor allem auch durch das Tun lernen und sehen, dass Mathematik einen Bezug zu ihrem Alltag hat. So kann es sein, dass wir in einer Mathematikstunde gemeinsam eine Grafik im Migros-Magazin studieren und uns dabei überlegen, wie diese Zahlen zu deuten sind und was die Grafik mit ihrem Leben zu tun hat. Ich finde Mathematik ein super Fach und möchte, dass meine Schülerinnen und Schüler ebenfalls Freude an dieser mathematischen Welt bekommen.

Auch wenn ich mich darum bemühe, zwischen der Mathematik und dem Alltag einen Bezug herzustellen, gelingt mir das nicht immer gleich gut. Kürzlich hat mich ein Mädchen gefragt, warum es eigentlich lernen müsse, was der grösste gemeinsame Teiler sei? Ich musste einen Moment überlegen, was ich antworten soll. Ich hatte tatsächlich Mühe, eine Alltagssituation zu finden, in der es wichtig ist, zu wissen, was der grösste gemeinsame Teiler ist, und anhand derer ich dem Mädchen den Sinn des Erlernens hätte erklären können. Mir ist dann zum Glück eine Situation eingefallen, in der die Schülerinnen und Schüler beispielsweise gleich lange Leisten zuschneiden müssen, so dass keine Resten entstehen. In der Mathematik hängt fast alles vom Vorstellungsvermögen ab. Und an diesem kann man arbeiten.