29,99 €
Von Alexander dem Großen bis Konstantin, von Buddha bis Jesus: Die erste vergleichende Universalgeschichte der Antike »Das ist die ganz, ganz große Leistung, die erzählerische und auch die methodische Leistung: Diese Fülle an Material, die in der alten Geschichte auch immer hergeleitet werden muss […] auf eine so kompakte Weise erzählen zu können, [ist] wirklich sehr bewundernswert.« Hans von Trotha, Deutschlandfunk Kultur Von Rom bis China, von Athen bis Indien, von den Kelten bis zu den Arabern: Das bahnbrechende Panorama von Raimund Schulz bietet Globalgeschichte, wie sie noch nie erzählt wurde. Wir erleben mehr als zwei Jahrtausende wechselvolle Menscheitsgeschichte und betreten Kulturräume voller verblüffender Gemeinsamkeiten und Besonderheiten – ihren Einfluss können wir bis in die Gegenwart spüren. Die Welten Eurasiens haben Anfänge, die weit in die Vergangenheit zurückreichen: Unwirklich mutet an, dass viele große Kulturen und Reiche durch nomadische Eroberer begründet wurden, die schon in der Antike globale Handelsverbindungen über riesige Distanzen knüpften, von der Ostsee bis ans Chinesische Meer, von der Sahara bis nach Sibirien. Menschen bewegten sich auf den großen Pfaden der Welt hin und her, errichteten und zerstörten Städte und Großreiche. Herrscher und Imperien kämpften um Einflusszonen und Reichtümer. Doch auch die großen Weltreligionen nehmen ihren Anfang in der Antike. Sie sind Ausdruck einer in ganz Eurasien lebendigen Überzeugung, dass es jenseits der Welt der Menschen Mächte gibt, die man beeinflussen, aber auch fürchten musste. Asien und Europa waren bei allen Katastrophen von einem Optimismus geprägt, der dem Westen jetzt verloren geht, im Osten aber immer neue Dynamiken entfesselt. Warum ist das alles in der Antike entstanden? Wie hingen die Großreiche und Kulturen zusammen? Und inwiefern prägen uns diese Entwicklungen bis heute? Der Globalhistoriker Raimund Schulz bietet hierauf überraschende Antworten und schärft gleichzeit unser Verständnis für die Welt von heute.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 881
Veröffentlichungsjahr: 2025
Raimund Schulz
Welten im Aufbruch
Eine Globalgeschichte der Antike
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart
Fragen zur Produktsicherheit: produktsicherheit@klett-cotta.de
2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte inklusive der Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung von Abbildungen von © akg-images und © mauritius images/ART Collection/Alamy/Alamy Stock Photos
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-608-98803-1
E-Book ISBN 978-3-608-12414-9
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung
I
. Menschen und Tiere in Bewegung – Das nomadische Abenteuer
1. Topik und Wirklichkeit
2. Magische Nächte des Nordens – Die bronzezeitliche Sintaschta-Kultur
3. Junge Helden unterwegs
4. Erfolge im Nahen Osten
5. Das indische Abenteuer
6. Reiterkrieger auf dem Weg nach Süden
7. Die Skythen-Könige am Schwarzen Meer
8. Nomadische Könige als Großunternehmer
9. Festungsherren von der Ungarischen Tiefebene bis zur Mongolei
10. Unruhige Bergnomaden – Die Hebräer
11. Herren der Wüste – Arabische Stämme und ihre Chiefs
II
. Geballte Energie – Der Aufstieg der Städte
1. Uruk und die mesopotamischen Stadtstaaten
2. Geld und Meer – Die phönikischen Hafenstädte
3. Spanische Paradiese und Karthago
4. Vom Außenseiter zum ehrgeizigen Mitspieler – Die Griechen
5. Stadtbildung und Politik in Bewegung – Die Ausbreitung der Polis
6. Das etruskische Rätsel
7. Die Kelten zwischen mediterraner Stadtkultur und Reiternomaden
8. Der indische Weg zur Stadt
9. Residenzen der Mächtigen – Urbane Anfänge in China
10. Der Aufstieg der Regionalstaaten
III
. Im Kreißsaal der Macht – Wie Imperien entstehen
1. Der Nahe Osten und das Weltreich der Assyrer
2. Aus dem Widerstand zur Supermacht – Das persische Weltreich
3. Imperiumsbildungen im Schatten der Perser – Athen, Skythen und Makedonen
4. Das indische Experiment – Die Großreiche von Magadha bis zu den Mauryas
5. Gigant aus dem Nichts? – Roms Expansion im Mittelmeerraum
6. Riese des Ostens – Das chinesische Imperium der Qin und Han
7. Zwillingsgeburt oder gelehrige Schüler? – Das Steppenimperium der Xiongnu
IV
. Lockruf des Geldes – Wirtschaft und Handel in einer globalisierten Welt
1. Bausteine wirtschaftlichen Handelns
2. Zentrale Initiativen – China vom 6. Jahrhundert bis zu den Han
3. Handel und Handwerk im Land der Fülle – Indiens Wege zum Reichtum
4. Fremdherrscher und Geldwirtschaft – Der Aufschwung der hellenistischen Königreiche
5. Vom Räuberstaat zur Wirtschaftsmacht – Rom
6. Augustus und der Aufbruch in eine globalisierte Handelswelt
7. Der Indische Ozean als antiker Wirtschaftsraum
8. Die Welt wächst zusammen – Die Seidenstraßen und das Spätere Han-Reich
9. Nomadische Traditionen und urbaner Glanz – Das Kushana-Reich
V
. Wege ins Glück – Religiöse und philosophische Weltdeutungen bis ins 2. Jahrhundert n. Chr.
1. Grundformen religiöser Welterfahrung
2. Das indische Ringen um das Schicksal der Seele
3. Schutz vor den Reiterkriegern? – Zarathustra/Zoroaster und seine Lehren
4. Bürger als Herren der Religion – Der griechische Siedlungsraum
5. Seelenwanderung in (und von) Ost und West
6. Ethische Heilslehren und ihre politische Instrumentalisierung
7. Chinas Suche nach Unsterblichkeit
8. Unsterblichkeit, Magie und Moral – Daoismus und Buddhismus
9. Eine Welt der Götter – Ägypten und der Nahe Osten
10. Karriere eines Kriegergottes – Wege zum hebräischen Monotheismus
11. »Heil euch Armen, denn euer ist die Gottesherrschaft« – Jesus und seine Botschaft in der Zeit der Krise
12. Kompensation der Ohnmacht – Geburtswehen des Christentums und die Theologie des Paulus
13. Ausbreitung und Abwehrkämpfe einer Weltreligion
Was hielt antike Welten zusammen und trieb sie an? – Eine Bilanz
Dank
Tafelteil
Anhang
Anmerkungen
Einleitung
I
. Menschen und Tiere in Bewegung – Das nomadische Abenteuer
II
. Geballte Energie – Der Aufstieg der Städte
III
. Im Kreißsaal der Macht – Wie Imperien entstehen
IV
. Lockruf des Geldes – Wirtschaft und Handel in einer globalisierten Welt
V
. Wege ins Glück – Religiöse und philosophische Weltdeutungen bis ins 2. Jahrhundert n. Chr.
Was hielt antike Welten zusammen und trieb sie an? – Eine Bilanz
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Abbildungen im Tafelteil
Personenregister
Länder- und Ortsregister
Sachregister
Meiner lieben Frau Susanne gewidmet
»Geschichte ist ihrem Wesen nach universal.«
Alexander Graf Schenk von Stauffenberg, Die großen Wanderungen und das Hethiterreich, in: Das Imperium und die Völkerwanderung, München o. J., 177.
Marcus Licinius Crassus(1) war der reichste Römer(1) seiner Zeit, mächtig und erfolgreich. Was ihm fehlte, war ein großer Sieg auf dem Schlachtfeld, so wie es Caesar(1) gelungen war, der gerade Gallien(1) erobert hatte. Doch Gallien(2) war nichts gegen den Osten, wo einst Alexander(1) seinen Eroberungszug begonnen hatte. Die Gelegenheit schien günstig, es ihm nachzutun, und das Reich der Parther(1) eine lohnende Beute. Und so bewegte sich im Frühjahr 53 v. Chr. eine Armee von rund 40 000 Mann, mehrheitlich Legionäre, aber auch Kelten und andere Hilfstruppen aus den westlichen Reichsteilen von Nordsyrien(1) auf den Gegner zu; auch der armenische(1) König hatte sich mit 6000 Reitern eingestellt und versprach weitere 40 000 Mann.[1]
Die Parther(2) wichen zurück, und Crassus(2) wurde ungeduldig. Auf Anraten eines arabischen(1) Stammeshäuptlings, der behauptete, die Feinde seien auf der Flucht zu den Skythen(1) nördlich des Schwarzen(1) und in ihre alte Heimat östlich des Kaspischen Meeres(1), wählte er den Marsch durch die Wüste, die einst der Patriarch Abraham durchzogen hatte, heute durch das Wasser des Atatürk-Staudamms(1) ein künstlicher Garten, damals eine Hitzehölle aus Sand und Stein, zumal im Sommer. Bei Harran(1) (lateinisch Carrhae(2)) stellte sich endlich der Gegner wie ein Dämon aus einer anderen Welt: Schlachtenreiter mit wilden, ins Gesicht fallenden Haaren, gepanzert und mit Helmen aus schimmerndem Eisen und Standarten, die im gleißenden Sonnenlicht auf wundersame Weise durchsichtig glänzten.[2] Die Schlacht wurde für die Römer(2) zur Katastrophe. Am ersten Tag fielen 10 000 Mann, 4000 Verwundete blieben zurück. Der Rest schleppte sich durch die Wüste. Am Ende starben weitere 10 000, unter ihnen der unglückliche Feldherr(3). 10 000 gerieten in Gefangenschaft. Rom(3) hatte seine größte Niederlage seit dem Gemetzel von Cannae(1) gegen Hannibal(1) erlebt.
Das Reich ächzte, aber wankte nicht. Die Schlacht von Carrhae(3) hatte keine gravierenden außenpolitischen oder militärischen Folgen, sie setzte lediglich dem imperialen Vorwärtsdrang Roms(4) am Euphrat(1) vorläufig ein Ende, ähnlich wie eine Generation später im Westen die Niederlage des Varus(1) gegen die Germanen(1) des Arminius(1). Dennoch steht das Ereignis für ein Phänomen, das uns die Antike in ungewohnten Dimensionen zeigt: Carrhae(4) war ein Zusammentreffen von Ethnien aus allen Teilen der Welt: Kelten aus dem transalpinen Europa(1), Römer(5) aus dem mediterranen(1) Westen, Araber aus dem heißen Süden, Parther(3) aus dem mesopotamisch(1)-iranischen(1) Osten, die enge Kontakte zu den Skythen(2) der asiatischen(1) Steppe pflegten.
Hinter den militärischen Konflikten und politischen Kontakten standen weitreichende wirtschaftliche Verbindungen: Das schimmernde Eisen der parthischen(4) Rüstungen stammte – so erklärt der griechische(1) Gewährsmann – aus der Margiana(1), dem heutigen Turkmenistan(1) östlich des Kaspischen Meeres(2); es kam ursprünglich aus China(1), dem damaligen Hauptproduzenten hochwertigen Metalls, genauso wie die Seide(1), welche die Standarten so magisch-durchsichtig glänzen ließ. Die 10 000 römischen(6) Gefangenen wurden nach der Schlacht ebenfalls in die Margiana(2) geschafft, um in der einst von Alexander(2) angelegten gleichnamigen Grenzfestung, besser bekannt unter dem Namen Merv(1), Dienst zu tun. Merv(2) war einer der wichtigsten Knotenpunkte der großen Handelswege, der sogenannten »Seidenstraßen(1)«, die Syrien(2) und den Mittelmeerraum(2) mit Indien(1), den Steppengebieten nördlich des Kaspischen Meeres(3) und China(2) verbanden. Siebzehn Jahre nach Carrhae(5) eroberte der stellvertretende Han(1)-chinesische(3) »Kommandant der westlichen Länder« die Residenz der Xiongnu(1), eines der mächtigsten Steppenreiche der Antike, vielleicht Vorgänger der Hunnen(1).[3] Nach chinesischen(4) Aufzeichnungen stellte sich ihm unter anderen eine rund 150 Mann starke Einheit vor den Toren entgegen, die sich in einer bis dahin unbekannten »Fischschuppen-Formation« gruppierte. Es gab in der Antike nur eine Armee, die das konnte, nämlich die römische(7) mit ihrer auch in Carrhae(6) angewandten Schildkrötentaktik (testudo), bei der die rechteckigen Schilde seitlich und über Kopf zu einer zusammenhängenden »Panzerwand« eng aneinandergefügt wurden.
Bis heute hält sich der Verdacht, es könnte sich dabei um Abkömmlinge der Carrhae(7)-Kämpfer gehandelt haben, die von ihrem Garnisonsdienst in Merv(3) abgeworben und in den Dienst der Steppennomaden getreten waren. Nach dem Sieg des chinesischen(5) Kommandeurs sollen die überlebenden Fischschuppenkämpfer hier am westlichen Grenzbereich des Han(2)-Imperiums (heute: Provinz Gansu(1)) für ihre neuen Herren eine Stadt angelegt haben. Sie ist unter dem Namen Liqian(1) bekannt. Noch heute schlüpfen ihre Einwohner gerne in römische(8) Rüstungen, um Touristen anzulocken.
Wir wissen nicht, ob es sich bei den Erbauern von Liqian(2) wirklich um Römer(9) handelte (DNA-Untersuchungen konnten immerhin europäide(2) Spuren unter den heutigen Bewohnern identifizieren), und es lässt sich auch nicht beweisen, dass Gefangene der Crassus(4)-Armee eine Odyssee bis nach China(6) erlebten – doch möglich ist es allemal. Es widerspricht in keiner Weise den historischen, politischen und militärischen Rahmenbedingungen einer Epoche, die viel mehr war als Griechenland(2) und Rom(10): nämlich eine von der Ostsee(1) bis ins Chinesische Meer(1), von der nördlichen Taiga(1) bis in die arabischen(2) Wüsten verbundene Welt, die miteinander kommunizierte, voneinander wusste und die Verbindungen auf vielfältige Weise nutzte, eine Welt, in der eine Schlacht chinesischer(7) Truppen gegen die Residenz der Nomadenkrieger mindestens die gleiche Bedeutung hatte wie der Eroberungszug Caesars(2) in Gallien(3) oder die Niederlage des Crassus(5) im Wüstensand von Carrhae(8). Archäologische, philologische und historische Forschungen der letzten fünfzig Jahre zeichnen ein Bild der Antike, das sich nicht mehr mit dem liebgewonnenen Inselwissen westlicher Provenienz deckt, das Antike nicht mehr nur mit römischer(11) und griechischer(3) sowie etwas persischer(1), karthagischer(1) und keltischer Geschichte gleichsetzen kann, sondern vertraute Ereignisse in viel größere Dimensionen einer eurasischen(1) Geschichte einordnen muss. Das ist das Ziel dieses Buches. Es will die Antike als eine bedeutende historische Epoche beschreiben, die den gesamten eurasischen(2) Kontinent als einen großen Interaktionsraum umfasste, und es will die Impulse herausarbeiten, die seine Geschichten antrieben, verbanden und bedeutsam machten. Da diese Interaktionsdynamiken damals (noch) nicht über den Atlantik reichten, bleiben die altamerikanischen Kulturen außerhalb der Betrachtung.
Doch was soll man tun, um nicht im Strudel der Ereignisse unterzugehen? Wie das Wesentliche des Weges finden, wenn das wuchernde Gestrüpp der Geschichten das Licht der historischen Erkenntnis nur allzu oft verdunkelt? Sicher ist: Eine durchgehende chronologische Erzählung, die alles abzudecken verspricht, also eine Art »Meistererzählung« nach Art des 19. und 20. Jahrhunderts, ist heute angesichts der Fülle an neuen Erkenntnissen und veränderten Fragestellungen nicht mehr möglich (wahrscheinlich war sie es nie);[4] sie widerspricht ohnehin dem Selbstverständnis des Historikers, der darauf zu achten hat, sich nicht im Detail zu verlieren, sondern wesentliche Strukturen und Zusammenhänge herausarbeiten will. Knappe Gesamtdarstellungen jüngeren Datums konzentrieren sich denn auch auf wesentliche politische und kulturelle Entwicklungen und integrieren diese in kompakte Überblicke einer »antiken Welt- oder Globalgeschichte«.[5] Sie müssen dabei aber meist auf eine tiefergehende und vergleichende Analyse struktureller Phänomene verzichten.
Eine oft gewählte Alternative besteht darin, die Geschichte der bekannten, nach traditionellen sprachlichen, politischen und kulturellen Kriterien markierten Zivilisationsräume wie die von China(8), Indien(2), dem Vorderen Orient(1), Rom(12) und Griechenland(4) separat zu erzählen und sie irgendwie aneinanderzureihen und miteinander zu verbinden. Doch auch dieser Zugriff hat seine Tücken. Natürlich sind moderne Geschichten einzelner Großräume und Kulturen auch im Rahmen einer modernen »Weltgeschichte« unverzichtbar.[6] Nur sie sind in der Lage, die Fülle aktueller Erkenntnisse zu den jeweiligen Räumen und Kulturen zu vermitteln und in eine wissenschaftlich seriöse Gesamtinterpretation einzufügen. Allerdings muss sich eine solche Perspektive auf ihre jeweils eigenen und durch die Disziplingrenzen vorgegebenen Objekte (Indologie = Indien(3); Sinologie = China(9); Klassische Altertumswissenschaften/Classics = Griechenland(5) und Rom(13) etc.) konzentrieren. Sie kann Überschneidungen und Verschränkungen, Außenimpulse sowie bedeutende Mitspieler anderer Räume, wie etwa die halbnomadischen und nomadischen Formationen der Steppe und der arabischen(3) Wüsten, meist nur soweit berücksichtigen, wie diese das eigentliche Untersuchungsobjekt direkt beeinflussten oder mit ihm in folgenreiche Kontakte traten. Das für den eurasischen(3) Raum so wichtige Phänomen, nämlich die intensive Verbindung der Großräume und ihrer Geschichten, wird auf einige wenige Anknüpfungspunkte beschränkt.[7]
Umgekehrt ist es aber auch mit einer reinen, fast immer exemplarisch verfahrenden Interaktions-, Transfer- oder Verflechtungsgeschichte (entangled history) nicht getan. Auch sie brauchen eine Basis und Ausgangspunkte, ein Formations- und Ereignisgerüst, um die zahllosen Kontaktszenarien an politische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Grundkonstellationen anzubinden und ihre Wirkungen zu verstehen. Es ist heute en vogue, die gesamte Geschichte in einem Geflecht regionaler und transregionaler Verbindungen aufgehen zu lassen; man berauscht sich daran, immer neue Verästelungen und Beeinflussungen nachweisen zu können; ja man meint mitunter, eine moderne Weltgeschichte der Antike müsse sich als »Globalgeschichte« zuvörderst oder gar ausschließlich der Darstellung solcher »Interaktionen« und ihrer Verdichtung widmen, gleichsam als Vorläufer der modernen Globalisierung. Weltgeschichte sei eine erweiterte Interaktionsgeschichte von Gemeinschaften, Staaten und Weltregionen, die miteinander verschränkt waren.
Niemand wird einer solchen Perspektive ihre Berechtigung absprechen. Aus der Analyse neuzeitlicher Entwicklungen erwachsen, hat sie auch die Sicht auf die Antike enorm erweitert, Denkblockaden gelöst und überraschende Erklärungen für historische Phänomene bereitgestellt, über die man sich früher wenig Gedanken machte. So stand und steht man – um nur ein Beispiel zu nennen – staunend vor der berühmten Terrakottaarmee des ersten »Kaisers« und Reichsbegründers(1) von Qin(1). Doch es dauerte lange, bis man gewahr wurde, dass vollplastische Figuren wie diese überhaupt hier zum ersten Mal in der chinesischen(10) Geschichte wie aus dem Nichts auftauchten. Nun kennt Geschichte aber kein Nichts, und so liegt der Schluss nahe, dass Anregungen aus dem griechisch(6)-hellenistischen Westen im Spiel waren, und zwar vermittelt über die gleichen Wege, über die umgekehrt chinesisches Eisen und Seide(2) in den Westen gelangten. Warum soll ein griechischer(7) Bildhauer aus Merv(4) oder anderen, von hellenistischen Königen gegründeten Städten des nördlichen Afghanistan(1) nicht den Weg nach China(11) gefunden haben? Fünfzehn Skelette nahe dem Grabhügel des Qin(2)-Kaisers weisen ein westeurasisches(4) genetisches Profil auf, das auf Westasien(2) oder Europa(3) deutet.[8] Was ist mit den Nachfahren der Crassus(6)-Armee geschehen? Könnten nicht auch sie und ihre Familien weitergewandert sein und ihre Spuren hinterlassen haben? Und was bedeutet das für die Geschichte beider Kulturen? Wurden Nachrichten ausgetauscht? Gibt es Parallelen, oder waren es Einzelfälle? Bildeten das Seidenstraßengeflecht und seine Akteure einen eigenen historischen Großraum, der andere tiefer und längerfristiger beeinflusste, als man bisher dachte?
Einmal angetippt, evoziert so die Öffnung des Blickes weitere Fragen, die nach Antworten verlangen. Bei aller Faszination »globaler« Verbindungen und Perspektivveränderungen vergisst man freilich leicht, dass ihre Erklärung nicht ein, sondern stets zwei miteinander verwobene Verhaltensmuster zu berücksichtigen hat: das der Öffnung und Aufnahme von Fremdem und Neuem und das des Bewahrens und Konservierens von Eigenem und Altem. Es wäre naiv zu glauben, dass in der Antike alles mit allem zusammenhing und alle mit allen kommunizierten. Schon immer gab es Phasen und Gemeinschaften, die sich Kontakten entzogen und solitär blieben (sie waren wahrscheinlich in der Mehrheit), in denen sich Verbindungen wieder lösten, Entwicklungen entschleunigten und Verflechtungen »entknäulten«. Geschichte besteht auch und gerade in globaler Perspektive aus beidem: aus Nähe und Ferne, aus Kontakt und Zurückgezogenheit, aus Beharrung und Veränderung. Deshalb reicht es nicht aus, Kontakte und Verbindungen zu beschreiben und über deren Reichweite zu staunen. Es ist notwendig, auch den weiterführenden Erkenntnisertrag einzufahren, also zu fragen, was denn aus diesen Verbindungen geworden ist, welche Effekte sie hatten, wie sie sich gegenüber retardierenden Gemeinschaften verhielten und vor allem: wie sie die Geschichte der Akteure und ihrer Heimat beeinflusst haben und wie sich das Wechselspiel von Nähe, Kontakt und Zurückgezogenheit auf die Entwicklung im Einzelnen und auf die Geschichte Eurasiens(5) in der Antike insgesamt auswirkte. Die Althistorie ist in Deutschland(1) und Europa(4) immer noch durch den exklusiven Blick auf die griechische(8) und römische(14) Zivilisation geprägt. Es ist an der Zeit, diese in den Gesamtkontext der eurasischen(6) Geschichte einzuordnen – wie das bereits in anderen Ländern getan wird[9] –, nicht nur um sie selbst, sondern auch die übrigen Kulturen der Antike besser zu verstehen. Der Vergleich von Einzelphänomen, Strukturen und Prozessen ergänzt und unterstützt als methodische Option die Analyse historischer Makroentwicklungen, und er wird uns auch in der Folge immer begleiten.
Doch wo soll man ansetzen, wo die Pflöcke einschlagen und Schneisen durch das Dickicht der Ereignisse finden, um dem Ganzen Konturen abzugewinnen, die vielleicht sogar über die Antike hinausreichen? Hinweise bietet erneut die Schlacht von Carrhae(9). In ihr wirkten historische Formierungskräfte, die – so die These dieses Buches – für die Beschreibung der gesamten eurasischen(7) Antike wesentlich sind.
Zunächst die Akteure: Die Armeen des Crassus(7) und ihrer Gegner repräsentieren zwei Lebensformen, die sich in der Praxis überschnitten, aber dennoch die Geschichte Eurasiens(8) grundlegend und gerade in ihrer ständigen Interaktion miteinander geprägt haben: die Parther(5) als eine einst nomadische Großgruppe (1.), die sich im Lauf ihrer Festsetzung im Iran(2) von ihrer mobilen Lebensweise gelöst hatten, aber wie die verwandten Skythen(3) vornehmlich auf Viehzucht setzten und in ihrer Kampfesweise als Reiter diese Traditionen fortführten; die Römer(15) als Bewohner von Städten, deren Grundlage der Ackerbau (2.) war und die deshalb Infanteristen als entscheidenden Kern ihrer Armeen und ihres militärisch-politischen Selbstverständnisses ansahen. Von den Parthern(6) und Römern(16) geschieden waren solche nomadischen Verbände, die nach wie vor die Steppe und Wüsten der Welt durchzogen. Die keltischen Siedlungen jenseits der Alpen(1) und die arabischen(4) und nordiranischen(3) Oasen- und Karawanenstädte bildeten (auch räumlich) eine zwischen beiden changierende und von beiden beeinflusste Zwischenform.[10]
(3.) Römern(17) und Parthern(7) war es gelungen, durch Krieg, Eroberung und Diplomatie größere Gebiete zu einer machtpolitischen Einheit zusammenzufügen, die wir gemeinhin als Reich oder – orientiert am römischen(18) Vorbild – als Imperium bezeichnen. Solche machtpolitischen Großformationen gab es auch außerhalb des mediterran-vorderasiatischen(3) Raumes. Die Skythen(4) schufen eine solche im nördlichen Schwarzmeergebiet(2), die genannten Xiongnu(2) in den Steppen und Grasländern Innerasiens(4) und die Chinesen(12) in dem großen Gebiet, das sich von der Taklamakan(1) (den »Westländern«) über das chinesische(13) Lössplateau bis zur Tiefebene und dem Chinesischen Meer(2) erstreckte. Dazwischen und daneben gab es viele kleinere und mittlere Reiche. Sie alle einte eine Tatsache: Sie kamen nie gänzlich ohne urbane Zentren und Anknüpfungspunkte von Herrschaft aus. Auch die nomadischen Xiongnu(3), Skythen(5) und Parther(8) besaßen solche, während umgekehrt die urbanisierten Agrarreiche der Römer(19) und Chinesen(14) wie auch die berühmten Reiche des Vorderen Orients(2) in der Konfrontation und Kooperation mit nomadischen Formationen existierten und manche ihrer Errungenschaften übernahmen, ohne sie jedenfalls nicht denkbar sind. Wie entstanden diese Reiche, und warum haben andere Gemeinschaften, wie zum Beispiel die Kelten, diesen Schritt nicht getan? Imperien sind nicht das Ziel und die Essenz antiker Weltgeschichte, aber sie bilden einen wesentlichen Faktor auch dort, wo es sie nicht gab.
(4.) Nomadische Gruppen, Oasen, Festungen, Städte und die aus ihnen gebildeten oder sie integrierenden Reiche standen schließlich in einem permanenten wirtschaftlichen Austausch miteinander. Sie waren durch Handel verbunden, initiierten ihn und profitierten von ihm. Das ist der vierte große Faktor der eurasischen(9) Geschichte (nicht nur) der Antike. Parthien(9) bezog – wie die Carrhae(10)-Schlacht zeigt – Seide(3) und Eisen über Afghanistan(2) und die Seidenstraßen(2) aus China(15). Das römische(20) Kaiserreich importierte ebenfalls hochwertiges Eisen aus China(16) und Nordindien(4).[11] Bereits Jahrhunderte zuvor ist Seide in keltischen Gräbern und in Athen(1) nachweisbar, während der »Westen« eigene Produkte in die Gegenrichtung entsandte; hinzu kamen die Erzeugnisse des hohen Nordens und tiefen Südens, unter anderem Weihrauch, Felle und Gold(1), die in ganz Eurasien(10) über Wasser und Landwege zirkulierten.
(5.) Mit den Waren und Produkten wanderten Menschen, Techniken sowie religiöse Denk- und Kultformen, die sich aus urbanen bzw. nomadischen Lebensumständen entwickelten und von den Imperien und ihren Herrschern adaptiert wurden. Religiöse Rituale(1) beeinflussten das Leben der Menschen in der Antike in einem weitaus größeren Ausmaß als heute. Kaum eine staatliche Aktion, keine Reise, kein Fest, kein familiäres Ereignis und kein Krieg, die nicht durch religiöse Handlungen eingeleitet, beendet oder begleitet wurden. Plutarch(1) bemerkt, Crassus(8) habe vor dem Wüstenmarsch das übliche Reinigungsopfer vollzogen und Wahrsagern die Eingeweide gezeigt.[12] Das waren Rituale, die allen Soldaten und auch anderswo vertraut waren; keine antike Gemeinschaft ohne Opfer(1) an die Götter oder ohne religiöse Feiern. Auch die heute in einem weithin profanen Ambiente aufgeführten griechischen(9) Tragödien gehörten dazu, was nicht verhinderte, dass ihre Inhalte weite Verbreitung fanden: Als dem Parther(10)-König die Siegesbotschaft von Carrhae(11) und der Kopf des Crassus(9) übermittelt wurden, soll er gerade den Bakchen des Athener(2) Tragödiendichters Euripides(1) gelauscht haben. Das Stück handelt vom Triumph des Dionysos über seinen Widersacher Pentheus, den die vom Rausch der Gottheit ergriffenen Frauen in Stücke reißen und dessen Kopf als Jagdbeute präsentieren.[13]
Wenn sich ein Parther(11)-König an solchen – transkulturell verständlichen (?) – Erzählungen berauschte (ihm wurde zeitgleich der Kopf des Crassus(10) überbracht), so wundert es nicht, dass jeder Händler und Soldat, jeder Kolonist und Kapitän seine Mythen(1) und Götter mit im Gepäck hatte, und nicht nur das. Ob im Lager, im Garnisonsdienst, in den Hafenspelunken oder im Feld – überall trafen sie auf fleißig schwadronierende Kollegen und Reisende, auf Wanderprediger und Magier(1), die ihre Geschichten, heiligen Geräte, ihre wundersamen Künste und beschwörenden Gesänge zum Besten gaben. Religion war ein vibrierendes Gewirr von Ritualen und Geschichten, die von Stadt zu Stadt, von Oase(1) zu Oase und von Lagerfeuer zu Lagerfeuer wanderten und in einem dauernden, erstaunlich friedlichen Austausch miteinander verbunden waren.
Deshalb bildet Religion in ihren unterschiedlichen Praktiken und Ausdrucksformen den fünften großen Faktor, den jede Weltgeschichte der Antike zu erklären und in das Ensemble nomadisch-urbaner Lebensweise, imperialer Politik und raumgreifenden Handels einzuordnen hat. Wahrscheinlich ist er der folgenreichste. In der Antike, die heute gerade wegen der vielfachen Verflechtungen und Umformungen bis ins 7. und 8. nachchristliche Jahrhundert ausgedehnt wird, entstanden alle wirkmächtigen »Weltreligionen« und religiösen Gedankengebäude, vom iranischen(4) Zoroastrismus über den Hinduismus und indischen(5) Buddhismus, das Judentum und Christentum bis hin zum chinesischen(17) Daoismus, nicht zu vergessen die in der Antike überall praktizierten Formen der Ahnenverehrung(1), die noch heute das Leben vieler Gemeinschaften des Globus auf die eine oder andere Weise bestimmen. Die folgenden Epochen haben das institutionelle Gefüge erweitert sowie Dogmen und Glaubenssätze differenziert, Varianten und Abspaltungen produziert (ein Prozess, der schon in der Antike einsetzte) und immer neue Heilige hervorgebracht; sie haben aber am Kernbestand antiker Religionen nichts Wesentliches geändert und auch keine gänzlich »neuen« Religionen entwickelt. Spirituelle und esoterische Bewegungen, wie etwa der Neo-Schamanismus, keltischer Okkultismus usw., scheinen heute eher Altes wiederbeleben zu wollen als Neues zu denken. Die Faszination, die Dämonen(1), Engel und jede noch so abstruse These über den Tod Jesu(1) bis heute im Kino und in den Printmedien ausüben, spricht im wahrsten Sinne des Wortes Bände.
Gerade in diesem Bereich kommt man offenbar von der Antike nicht los, auch wenn oder vielleicht gerade weil sich unsere westliche Gegenwart so fortschrittlich areligiös versteht. Und das wundert auch nicht. In der Antike lag der Beginn der Religionen. Doch warum? Ich kenne bis heute keine Theorie, welche die Genese und den Primat der Religionen in der Antike im welthistorischen Kontext bündig und überzeugend erklärt. Gerne, und neuerdings wieder verstärkt im angloamerikanischen Bereich, verweist man auf die sogenannte »Achsenzeit«, ein Konzept, das der deutsche(2) Philosoph Karl Jaspers(1) kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte. Es beruht auf einer sehr viel älteren, bereits in der Epoche der Aufklärung gemachten Beobachtung: In einem überschaubaren Zeitraum von ca. 800 bis 200 v. Chr. begannen einzelne Menschen ganz unterschiedlicher und weit auseinanderliegender Kulturräume damit, traditionelle Auffassungen von der Welt des Übernatürlichen zu kritisieren. Sie wagten ein rational-philosophisches Denken, formulierten neue Konzepte des Transzendenten und erzielten »Transzendenzdurchbrüche«, wie man heute gerne sagt. In China(18) wirkten Konfuzius(1) und Laozi (Laotse(1)), in Indien(6) der Buddha(1), im sogenannten Alten Orient Gestalten wie Zarathustra(1)[14] im Iran(5) und die Propheten(1) im Alten Israel(1), in Hellas(1) die Dichter, Philosophen und Gelehrten von Homer(1) bis Archimedes(1). Das Achsenzeitmodell wurde seitdem vielfach modifiziert, kritisiert und zeitlich gedehnt, doch es konstatiert und beschreibt letztlich mehr, als es erklärt. Jüngere Publikationen suchen deshalb, das Phänomen noch stärker mit den genannten Formierungskräften der Antike, insbesondere dem Aufkommen von Imperien, neuen Techniken und ökonomischen Chancen zu verbinden und es als Teil der Dynamiken zu verstehen, die sich aus dem Zusammenspiel von urbaner, nomadischer Lebensweise, imperialer Eroberung und Intensivierung von Handel und Wirtschaft ergaben.[15]
Jeder der genannten fünf Bereiche ist für sich intensiv erforscht worden und wird weiter erforscht. Die Literatur zu antiken Nomaden, Städten, Imperien, Wirtschaft und Religion wächst stündlich. Es gab und gibt wichtige Arbeiten, die sich nicht nur auf einzelne »Zivilisationsräume« konzentrieren, sondern mehrere vergleichend miteinander in Beziehung setzen.[16] Was aber fehlt oder bisher nur in Ansätzen vorexerziert wurde, ist das Unterfangen, Einzelstudien zu allen fünf Bereichen zu verbinden und diese als zentrale Formierungskräfte einer Geschichte der eurasischen(11) Antike zu nutzen.[17] Dieses Buch wagt den Versuch. Es folgt den nomadischen und urbanen Heldinnen und Helden, den Herrschern, Händlern und Heiligen auf ihren abenteuerlichen Wegen, um dadurch die Essenz der antiken Geschichte zu ergründen. Ihre Geschichten nehmen einerseits das Phänomen eigenständiger historischer Formierungen und »globaler« Verbindungen in sich auf und binden sie an konkrete historische Ereignisse. Andererseits lassen sich an ihrem Wirken Gemeinsamkeiten und Besonderheiten bestimmter Kulturen und Großräume vergleichend herausarbeiten, was eine separate Analyse allein nicht hinreichend vermag.[18] Nomadische und urbane Lebensweise, imperiale Politik, Wirtschaft, Handel und Religion bildeten zusammen die Fundamente und Säulen einer historischen Tektonik, die das Gesamtgebäude und seine Einzelelemente erklären kann. Das heißt nicht, dass damit alle möglichen historischen Phänomene abgedeckt werden. Doch das kann auch nicht der Anspruch des Historikers sein, wenn er die wesentlichen Charakteristika einer Großepoche bestimmen und erklären sowie behutsam Folgen für spätere Zeit ableiten möchte.[19]
Doch wann beginnen und wann enden? Die Zeit ist ein genauso tiefer Strudel wie die Ereignisse, die sie umspannt. Die Geschichte kennt weder Anfangs- noch Endpunkte, sondern nur Entwicklungen, die sich phasenartig verdichten und beschleunigen, dann wieder verzweigen und neue Impulse aussenden. Eine solche Phase bildeten die Jahrhunderte von ca. 1200 bis 1000 v. Chr., vielfach als Ende der Bronze- und Übergang zur Eisenzeit bezeichnet. Dieses Label bedeutet nicht, dass schlagartig und überall die Menschen Eisen statt Bronze verwendeten. Richtig ist aber, dass viele Gemeinwesen Eurasiens(12) sukzessive dazu übergingen, das leichter zu beschaffende und zu verarbeitende sowie kostengünstigere Eisen zu nutzen, um Waffen und qualitativ bessere Werkzeuge in größerer Zahl herzustellen. Das war eine wichtige Voraussetzung, um Wälder zu roden, neue Ackerflächen zu erschließen, Städte zu gründen, aber auch größere Heere zu bewaffnen sowie stabilere Schiffe zu bauen, die seit der Erfindung des Segels größere Strecken auch über das offene Meer zurücklegten. Natürlich gab es bereits vorher Städte und Heere, Reiche, Schiffe und Handel. Doch nun verbreiterten sich die Möglichkeiten und Chancen für Menschen in einem vorher nicht gekannten Ausmaß auch jenseits der alten Zentren und Paläste(1). Länger angelegte Entwicklungen gewannen an Dynamik, größere Menschengruppen überwanden weitere Wege und stießen Veränderungen an, die in den nächsten Jahrhunderten auch auf dem Gebiet der Religion Neues hervorbrachten: Man wagte Kritik an den Göttern und suchte Alternativen, die dem Menschen neue Verantwortlichkeiten und Handlungsräume eröffneten, kurzum: ein echter Aufbruch, getragen von Optimismus, aber auch nachdenklicher Reflexion, eine Zeit, die neue Helden gebar und die eurasische(13) Antike zu einer der faszinierendsten Epochen der Menschheitsgeschichte machte. Es ist die Zeit, in der nicht mehr nur Priester(1) und Schriftgelehrte, sondern auch Dichter phantastische Erzählungen formten, über die Welt und ihre Wandlungen nachdachten und Antworten auf das Geheimnis des Lebens formulierten, die uns bis heute elektrisieren.
In diese Welt einzutauchen und ihre Antriebskräfte freizulegen, das ist das Ziel dieses Buches. Es möchte die Phänomene herausarbeiten, die der eurasischen(14) Antike ihr unverwechselbares Antlitz verliehen, so unverwechselbar, dass sich hieraus auch wieder Knotenpunkte der Geschichte ableiten lassen, die auf ihr Ende und auf den Beginn von etwas Neuem verweisen. Das passiert, wenn bestimmte Kernelemente ausfallen oder sich so gravierend wandeln, dass sie sich in das Gesamtgebäude der vorangegangenen Zeit nicht mehr recht einfügen lassen, sondern es Schritt für Schritt zum Einsturz bringen oder neue Anbauten erfordern.
Ein solcher Wandel setzte in der Zeit zwischen 200 und 300 n. Chr. ein.[20] Die wirtschaftliche Hochblüte des römischen(21) Kaiserreichs ging vielerorts ihrem Ende entgegen, wahrscheinlich beschleunigt durch eine Verschlechterung des Klimas(1) und eine seltsame Ballung von Epidemien, gewissermaßen die Kehrseite der globalen Vernetzung.[21] Gleichzeitig drangen hochmobile Kriegergemeinschaften aus dem Nordwesten und Nordosten der europäischen(5) Peripherie über Land und See plündernd in die mediterranen(3) Kerngebiete des Römischen(22) Reiches vor, während im Fernen Osten(1) mit dem Reich(1) der Späteren Han(3) das zweite große Imperium und ein wesentlicher Stabilisierungsfaktor der eurasischen(15) Welt zerfiel. Ein Jahrhundert zuvor war das mächtige Reich der Kushanas(1) in Afghanistan(3) und Indien(7) untergegangen.
Das Römische(23) Imperium wurde parallel zum wirtschaftlichen Niedergang im Westen und dem massiven Eindringen »barbarischer« Angreifer durch Machtkämpfe seiner eigenen Feldherren und »Soldatenkaiser« erschüttert. Es konnte sich zwar wie durch ein Wunder noch einmal aus der großen Krise befreien, doch seine innere und äußere Struktur hatten sich erheblich gewandelt, vor allem ging es bald das Bündnis mit einer einzigen Religion ein, dem Christentum. Das hatte es in dieser Form vorher nicht gegeben. In gewissem Sinne leitete es das staatlich dekretierte Ende der so viel beschworenen religiösen Vielfalt der Antike zumindest im westlich-europäischen(6) und nordöstlichen Mittelmeerraum(4) (später Byzanz(1)) ein und prägte die kommenden 1000 Jahre (gemeinhin als Mittelalter bezeichnet), bis heute.
Der strukturelle, machtpolitische und religiöse Wandel konnte freilich nicht verhindern, dass schon bald neue Kriegerverbände mit ihren Familien in immer größerer Zahl und Kompaktheit die Grenzen überschritten, bis sie schließlich den Westteil des (24)Römischen(25) Reiches eroberten. Im Osten standen die Anhänger Mohammeds(1) bereit, um von Arabien(5) aus den gesamten Nahen Osten(1) zu überrennen. Nur eine Generation später setzte der Berber-General Tariq(1) von Nordafrika(1) nach Spanien(1) über. Die machtpolitische und kulturelle Einheit des Mittelmeers(5) zerbrach. Es begann die Epoche der nomadischen und halbnomadischen Krieger, die von den alten Mächten lange im Zaum gehalten, militärisch instrumentalisiert und nicht selten verachtet, aber meist nur ungenügend integriert worden waren, nun aber nicht nur dem Mittelmeerraum(6), sondern auch der Geschichte Fern- und Zentralasiens(5) ihren Stempel aufdrückten.
Das älteste Epos der Menschheit beginnt mit List und Gewalt. Um Gilgamesch(1), dem anmaßenden König von Uruk(1), Einhalt zu gebieten, erschaffen die Götter Enkidu(1), einen Urmenschen, der, von den Tieren der Steppe großgezogen, wie die Gazellen Gras frisst, nackt, wild und dicht behaart am ganzen Leibe. »Auf den Bergen wandert er den ganzen Tag umher. / Beständig drängt mit Herdentieren er sich an der Wasserstelle.« Als Gilgamesch von dem Wesen hört, befiehlt er der Dirne Schamchat(1), sich Enkidu zu nähern und ihn durch die Kunst der Liebe seiner Wildheit zu berauben. Der Plan gelingt. Nach sieben Tagen und Nächten der Vereinigung hat sich Enkidu von seiner Herde gelöst. Er besitzt nun Verstand und versteht die menschliche Sprache. Und er erliegt der Verlockung der Stadt, wo er dem Plan der Götter folgend Gilgamesch zum Zweikampf herausfordert. Doch beide erweisen sich als gleichstark – hat Enkidu im Zuge seiner »Zivilisierung« einen Teil seiner urtümlichen Kraft verloren? – und werden Freunde. Vom Urwesen zum Kampfgenossen des Königs gewandelt, bestehen die beiden gewaltige Abenteuer, bis Enkidu(2) überraschend stirbt und sich der erschütterte Gilgamesch aufmacht, das Geheimnis der Unsterblichkeit(1) zu ergründen. Am Ende haben beide eine Wandlung erfahren: Der zu früh verstorbene Sohn der Wildnis war zum Städter gereift, der halbgöttliche König lernt, das menschliche Los der Sterblichkeit zu akzeptieren.[1]
Die Geschichte von Enkidu(3) und Gilgamesch(2) hat die Menschen über Jahrtausende fasziniert. Die Freundschaft der Helden bildet das Urmodell aller Blutsbrüder (Enkidu wird von der Göttin Ninsun zum »Bruder« des Gilgamesch gemacht), die über den Zweikampf zueinander finden, gewaltige Aventüren bestehen und schließlich den einen, über den Tod des anderen trauernd, zurücklassen. Gilgamesch und Enkidu stehen aber auch für zwei Biosphären, deren Zusammenspiel das Leben der eurasischen(16) Antike tief geprägt hat: die Welt der Städter und die Welt der Wildnis, deren Bewohner mit ihren Herden umherziehen, wie Enkidu natürliche Tränken aufsuchen und die Berge durchstreifen. Die Griechen(10) nannten solche Menschen – und ein Mensch war Enkidu zweifellos – »Nomades«. Davon ist unser Begriff Nomade abgeleitet. »Nomas« bezeichnet denjenigen, der umherzieht, um seiner Herde Weideflächen zu sichern; es meint in der Mehrzahl Gruppen von Menschen, die ihr Leben um das Vieh herum organisieren und ständig unterwegs sind, um es zu versorgen.
Nun präsentieren große Epen(1) Weltsichten stets in überzeichneter Form, und ihre Lehren sind ambivalent: Auf der einen Seite erinnerte das nomadische Leben an uralte Zeiten, in denen das Gute so nah war und das Schlechte so fern, dass man es gar nicht kannte. Der nackte Enkidu(4) wird in dieser Perspektive zum edlen Wilden, der frei von den Einflüssen der Stadt ein Leben in völliger Harmonie mit der Natur führt, so wie Adam im Paradies(1): unwissend und unschuldig, aber zufrieden und konfliktfrei. Die Steppe ist Rückzugsort und Freiraum, Wüsten sind Orte der Läuterung und Gottesnähe, die das städtische Treiben mit ihren protzenden Tempeln(1) und zersetzendem Luxus längst verloren hat. »Selig seid ihr Bewohner der Steppe«, so dichtete noch im 5. Jahrhundert ein syrischer(3) Christ, »die ihr zwischen den Felsen und in Höhlen wohnt, denn ihr seid fern von den Verbrechen, die in den Städten begangen werden, und niemand begeht Ungerechtigkeit und Unterdrückung an den Orten, die ihr bewohnt.«[2] Doch wie Enkidu laufen die Wüstenmönche Gefahr, von den Dämonen(2) urbaner Sünde ergriffen zu werden. Wer in die Welt der Städte zurückkehrt, erliegt ihren Lastern, so wie Enkidu, der während der Abenteuer mit Gilgamesch(3) zeitweise so überheblich wird wie sein Freund und für seine götterverachtenden Taten mit dem frühen Tod im ruhmlosen Bett bestraft wird.
Das andere Extrem sah die Wildheit als Bedrohung. Hier sind Wüste und Steppe Orte der Dämonen(3) und Geister, der Unordnung und des Chaos, dem die Ordnung urbaner Sesshaftigkeit gegenübersteht. Das eröffnet Herrschern und Helden die Möglichkeit für erste Großtaten, für Bewährung in der Bekämpfung des Bösen. Doch stets prägen Verachtung, Abgrenzung und Abscheu die Sicht der Städter, insbesondere in offiziellen Dokumenten. Ungebundenes Umherziehen steht für die Unberechenbarkeit von Barbaren, die sich wie Bestien von rohem Fleisch ernähren und grausame Riten vollziehen, ungezügelt und gefährlich, vor allem dann, wenn sie hervorbrechen:[3] »Vor dem Ruf ›Reiter und Bogenschützen‹ / Fliehn alle Städte. / Man birgt sich im Dickicht. / Man klettert auf Felsen. / Jede Stadt ist verlassen. Niemand wohnt mehr darin« – so der Prophet Jeremias (4,29) im 7. Jahrhundert.
Hinter alldem verbergen sich uralte Extremerfahrungen, und zwischen diesen gab es Abstufungen. Seit dem 8. Jahrhundert wurde der Vordere Orient(3) durch Reiterscharen bedroht, die aus dem Kaukasus(1) in das Zweistromland(2) vordrangen. Gleiches berichteten chinesische(19) Chronisten über die Nordgrenzen ihres Reiches. Man wusste, dass sich die Reiternomaden vom Fleisch und den Produkten ihrer Herden ernähren, aber nicht nur gefürchtete Krieger, sondern auch geschickte Metallhandwerker waren. Ähnliches gilt für die »barbarischen« Bergbewohner, episch stilisiert im Bild der homerischen(2) Kyklopen, die vor Menschenfleisch nicht zurückschrecken, aber wohlgenährte Schafherden besitzen und nach einer anderen Version hilfreiche Schmiede der Götter sind. Nomadische Schmiedekunst kennt auch die hebräische Bibel(1); vielleicht geht Jahwes(1) »brennender« Zorn auf das Bild von Schmelzöfen zurück.[4] Tatsächlich waren Hirtenvölker, die mit Schafen und Ziegen die Berge des Zagros(1) und Palästinas(1), die Hügel der griechischen(11) und italischen(1) Halbinsel sowie der nordchinesischen(20) Ebenen durchstreiften, unverzichtbare Spieler auf dem Turnierfeld der Geschichte. So wie die Bewohner der Wüsten und Wüstenrandgebiete, die in Zelten lebten und sich auf Kamelen(1) den Städten näherten, um ihre Produkte gegen Werkzeuge und Getreide(1) einzutauschen. Und schließlich gab es weit entfernte Menschen, von denen man glaubte, dass sie ein unschuldiges Leben nahe den Göttern genossen, so wie die Aithiopen(1) im Süden und die Hyperboreer im Norden.
All das waren tastende Versuche, die vielfältige Welt jenseits des Vertrauten zu ordnen und zu verstehen. Schon die Geschichte von Enkidu(5) zeigte, dass Veränderungen möglich waren. In einem frühen mesopotamischen(3) Text heiratet eine Städterin einen »barbarisch-rohen« Nomadengott. Selbst die wildesten Nomaden konnten also »zivilisiert« werden, indem man sie mit urbaner Kultur vertraut machte. Diese schließt vernünftiges Sprechen, vorausschauendes Denken und ein kontrolliertes Sexualleben(1) ein, während man Nomaden freizügigen Sex »wie das Vieh« bescheinigte.[5]
Heute wissen wir jedenfalls: Reiternomaden entwickelten sich wie die Kamelreiter(2) der Wüsten aus sesshaften Lebensformen, sie konnten sich ihnen aber auch wieder annähern und in sie übergehen. Städtische Schriftsteller betonten gerne die Gegensätze, doch in der Realität beeinflussten sich beide Lebensformen beinahe permanent und waren teilweise symbiotisch miteinander verbunden. Dass die nomadische Lebensweise eine evolutionäre Durchgangsstufe auf dem Weg zur urbanen Zivilisation gewesen sei, glaubt heute niemand mehr. Sesshaftigkeit und Mobilität bildeten vielmehr Pole, zwischen denen verschiedene Gruppen je nach politischen, ökonomischen und natural-ökologischen(1) Umständen changieren (mussten).
Ebenso unstrittig ist: Keine Gesellschaft, die sich auf Viehzucht und Weidewirtschaft konzentriert, kommt ohne ein Mindestmaß eigener Agrarproduktion aus. Die Pflege des Viehes ließ genügend Freiräume, um sich sogar dem Bergbau, der Metallverarbeitung oder der Keramik- und Textilherstellung(1) zu widmen. Ob man dauerhaft an einem Ort lebte oder den Bewegungen des Viehs folgte, war das Ergebnis von Entscheidungen, Lebenschancen unter wechselnden ökologischen(2) Bedingungen mehr auf die eine oder andere Weise zu nutzen. Diese Entscheidungen haben die eurasische(17) Geschichte geprägt.
Es muss ein beeindruckendes Schauspiel gewesen, das sich den Menschen vor rund 4000 Jahren an den südöstlichen Ausläufern des Ural(1) bot. Fackeln verbreiteten eine gespenstische Stimmung. Dunkle Sprechgesänge durchtönten die Nacht. Die Luft war geschwängert vom Blut der Opfertiere(2): sechs Pferde, vier Rinder und zwei Widder. Ihr Fleisch reichte aus, um 1000 Gäste zu bewirten, die gekommen waren, um dem Begräbnis des großen Herrn beizuwohnen. Seine Grabkammer zeigte alles, was das Leben ausmachte: zwei Pferde, Teile von Pferdegeschirr, Räder eines Streitwagens und die Leiche des Streitwagenlenkers, ferner Speerspitzen und Wurfspeere. Nachdem das Opferfleisch(3) verzehrt war, entzündete man ein Feuer über dem Grab(1). Erde wurde aufgeschüttet, bis sich ein stattlicher Hügel ergab. Dazu wurde den Gästen ein aus fermentiertem Honig gerührtes Getränk gereicht; man nannte es madhu; die Griechen(12) kannten es als Ambrosia, den Trank der Götter. Dichter sangen vom Ruhm des Verstorbenen.[6]
Was sich hier in einer Sommernacht nahe der heutigen Stadt Magnitogorsk(1), unweit der Ortschaft Sintaschta (Sintashta)(2) abspielte, hat kein Augenzeuge überliefert. Nur die Überreste und Kombinationskunst der Forscher erzählen die Geschichte einer Kultur, die den eurasischen(18) Kontinent revolutionieren sollte. Das Gebiet zwischen Ural(2) und den Flüssen Tobol(1) und Ishim(1) ist Teil der Graslandschaft, die sich von der Ungarischen Tiefebene(1) über die weiten Flächen nördlich des Schwarzen(3) und Kaspischen Meeres(4) und des Kaukasus(2), von Kasachstan(1) bis zu den östlichen Ausläufern der Mongolei(1) am Fluss Amur(1) erstreckt. Am Rand der Wüsten und Gebirge bildet es ein geschlossenes hydrologisches System ohne Zugang zum Meer. Heiße Sommer von bis zu plus 35 Grad und minus 30 Grad im Winter lassen nur kurze Vegetationsphasen im Herbst und Frühling zu. Trotz der Fruchtbarkeit des Bodens gab es nur eine schmale Palette von Büschen und Bodenpflanzen, die dem Wind kaum Einhalt boten. Das Russische nennt diese Landschaft stepj, was »ebenes Grasland« bedeutet. Davon ist der Begriff der »Steppe« abgleitet.
Ackerbau konzentriert sich auf die Gebirgsrandzonen und tiefer gelegenen Flussebenen und Marschgebiete, wie es auch in Sintaschta(3) der Fall war. Immerhin gab das saftige Grün den Tieren genug zu Fressen. Einige konnten die Herren von Sintaschta(4) für Opferungen(4) entbehren. Was allerdings die Ausgräber überraschte, war die herausragende Bedeutung des Pferdes. Bislang hatte man das im 4. Jahrtausend v. Chr. domestizierte Pferd zur Ernährung, mitunter zum Transport von Waren und vereinzelt zum Reiten benutzt. Der Herr von Sintaschta(5) spannte seine Rösser vor einen leichten Kampfwagen. Das war revolutionär und furchteinflößend.[7]
Speichenräder erlaubten viel größere Geschwindigkeiten als die von Ochsen gezogenen Vollholzräder der kastenartigen Transportwagen. Streitwagen(1) werden zu einer tödlichen Waffe, wenn sie auf die Fußkämpfer zuschießen und von Männern gelenkt werden, die von der Kampfplattform ihre Speere abfeuerten, die Zügel um die Taille geschnallt. All das erforderte intensives Training und den Einsatz von Spezialisten, die sich auf den Bau und die Instandhaltung der Wunderwaffe verstanden. Nur eine kleine Elite war in der Lage, Menschen und Ressourcen für diese Zwecke einzuspannen.
Häufig spricht man von chiefdoms (»Häuptlingstümern«) an der Spitze von Stämmen, die ohne formelle Institutionen, ohne einen Beamten- und Kontrollapparat sowie ohne schriftliche Gesetze(1) auskommen, aber eindeutige Hierarchien der Macht kennen. Manche Forscher verweisen darauf, dass »Stämme« fluide, schattenhafte und oft erst im Nachhinein konstruierte Gebilde waren und dass man mit ihnen abschätzige Vorstellungen einer primitiv-vorstaatlichen Organisation verbindet. Sie sprechen lieber von »aristokratischen« Eliten.[8] Unbestritten ist: In allen nomadischen Kulturen, deren Grundlage Pferd, Kamel(3) und Viehzucht war, bildeten verwandtschaftliche Bindungen (kinship) die Basis der Vergemeinschaftung und Machtbildung. Sie reichten von der Kernfamilie über die durch Heirat(1) hergestellte Verbindung mehrerer Familien bis zu größeren Einheiten, sogenannten Clans, die sich auf einen gemeinsamen Urahn zurückführten und als Abstammungsgruppe in einem Territorium verstanden. Verwandtschaftsverbände organisierten den Alltag der Gesellschaft, die sich aus Teilen (Segmenten) gleicher Struktur, den Familien, zusammensetzte und durch diese ohne eine politische Zentralinstanz strukturiert und gelenkt wurde.[9] Die Oberhäupter der reichsten Familien besetzten den Ältestenrat(1), schlichteten Streit, stifteten Ehen und arrangierten religiöse Zeremonien. Nicht etwa durch Ämterzuweisungen ließen sich Rang und Autorität erwerben, sondern durch Familienzugehörigkeit sowie besondere Taten, die von den übrigen Familien anerkannt wurden. Wenn einzelne Akteure Führungsansprüche anmeldeten, Anhänger um sich scharten und zu Clanführern (»Khanen«) aufstiegen, blieben verwandtschaftliche Strukturen gewahrt oder wurden im Nachhinein konstruiert, um die neue Machtposition zu begründen. Man sprach vom »Haus des X« oder der »Familie des X«, wobei die Namensgebung auf den Mann, die Familie oder auf einen gemeinsamen Ahnherrn zurückging.
Solche Verhältnisse herrschten sicherlich auch in Sintaschta(6). In den Weiten der Steppe waren verwandtschaftliche Verbindungen die effektivste Form, eine große Zahl von Arbeitern und Anhängern zu mobilisieren und zu kontrollieren, wie es der zu Grabe getragene Herr vermochte. Sein Einfluss zeigte sich aber nicht nur in der prunkvollen Begräbniszeremonie, den Gesängen der Priester(2) und dem Opferfleisch(5), das Tausende von Gästen verspeisten. Wie den Grabfunden zu entnehmen ist, nutzten die Herren von Sintaschta neben den zum Kampf geeigneten Streitwagen(2) ein kleineres Modell zu Repräsentationszwecken, um sich als Anführer einer Kriegergesellschaft auch in Friedenszeiten zu inszenieren.
Dies offenbarte sich auch in den Festungen, die man im Norden so nicht erwartet hätte: 21 Anlagen, bewehrt mit Lehmziegeln, Erde und Steinen, Graben und Palisaden und mit einem Durchmesser von bis zu 140 Metern, verteilten sich entlang der Flussufer über ein Gebiet von rund 30 000 Quadratmetern, umgeben von Dörfern.[10] Einige hatten eine runde, andere eine ovale, wenige eine rechteckige und trapezartige Form. Ringförmig angelegte Häuser mit Wohn- und Arbeitsbereich sowie Wasserversorgung lagen in konzentrischen Kreisen um einen Hof und boten wohl bis zu 1600 Bewohnern Platz. Die standardisierten Anlagen bildeten während der Schneeschmelze Inseln inmitten des Marschlands. Ihre Befestigungen schützten die Reichtümer der Eliten und der abhängigen Familien: Metalle, Pflanzen und Tiere. In jedem Haus fanden sich Reste metallurgischer Aktivitäten wie Schlacke, Öfen und Feuerstellen. Wahrscheinlich wurden Kupfer und Gold(2) aus den Minen des Altai(1) verarbeitet und weitergehandelt.[11]
Derartige Anlagen waren wie der Streitwagen(3) und die Opferung(6) ganzer Pferde ein Novum der Steppe(6) und Steppenrandgebiete. Wahrscheinlich entstanden sie als Reaktion auf eine durch Klimaveränderungen hervorgerufene Krise.[12] Pollenanalysen belegen, dass das Klima(2) Eurasiens(19) seit rund 2500 v. Chr. kühler und trockener wurde. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt zwischen 2200 und 2000 und führte zu einem spürbaren Rückgang essbarer Pflanzen. So waren Hirtennomaden einem wachsenden Konkurrenzkampf um die besten Nahrungsgründe ausgesetzt. Wie Szenarien aus anderen historischen Räumen zeigen, sichern sich in solchen Krisen die militärisch erfolgreichsten Gruppen strategisch-ökologische(3) Schlüsselpositionen und suchen sie durch festungsartige Siedlungen zu verteidigen.
Genau das war den Herren von Sintaschta(7) gelungen. Sie fanden in den von meterhohem Schilf und Rohrkolben bewehrten Marschlanden am Rand des Ural(3) ausreichend Wintergetreide(2) sowie Rückzugsorte vor den eisigen Winterwinden. Von hier aus konnte man aber auch weiträumig operieren, um die Nahrungsgrundlagen zu erweitern und sich Metalle zu beschaffen, beides zentrale Voraussetzungen erfolgreicher Nomadenkulturen der asiatischen(7) Steppen. Die Metallurgie sicherte den Reichtum der Eliten und ermöglichte militärische Innovationen wie den Streitwagen(4).
Die Herren von Sintaschta(8) bildeten mit anderen nahegelegenen Gruppen (Petrovka und Arkaim) eine Kultur, die fast 500 Jahre Bestand hatte. Dennoch wäre sie wohl nur eine Episode geblieben und – wie viele andere Steppenkulturen – im Strudel der Geschichte verschwunden, wenn sie nicht eine weitere Besonderheit aufgewiesen hätte, die sie zum Ausgangspunkt eines der größten Abenteuer der Antike machte: Genetische Analysen machen es in Kombination mit linguistischen Forschungen und archäologischen Abgleichungen sehr wahrscheinlich, dass sich die Bewohner von Sintaschta(9) einer Sprache bedienten, die man als Protoindoiranisch(6) (IIr) bezeichnet. Von ihr haben sich über verschlungene Pfade indoiranische Sprachen im Osten und die indoeuropäischen(7) Sprachfamilien im Westen herausgebildet, auf die unsere Sprache und ihre Grammatik zurückgehen. Die ältesten Textzeugnisse der indoiranischen(7) Sprache sind Formel- und Spruchsammlungen, die von Clanpriestern um 1800 gesammelt und erst im Lauf der Zeit verschriftlicht wurden: das Avesta und der in Nordwestindien zusammengestellte Rigveda(1). Ihre ältesten Vorstellungen reichen vielleicht noch in die Endphase der Sintaschta(10)-Kultur zurück.
So enthält der Rigveda(2) eine Reihe von Begriffen, Beschreibungen und Erzählungen, die den Verhältnissen der Sintaschta(11)-Kultur ähneln, so die hohe Verehrung, die Streitwagenkämpfer genossen; der Streitwagen(5) dient sogar als Gefährt der Götter und der Sonne bzw. des Sonnengottes. Auch die archäologisch belegte Hierarchie der Viehopfer von Pferd, Ochsen und Schaf findet sich im Rigveda.[13] Hier wird der Gott Agni(1) angerufen, um die Verstorbenen mit Feuer zu reinigen. Danach wird die Erde aufgefordert, einen Hügel zu bilden, um als letzte Ruhestätte des Helden zu dienen.[14] Manche Forscher glauben, dass der zu Grabe getragene chief von Sintaschta(12) vom rigvedischen Gott Varuna(1) versinnbildlicht wurde, der die kosmische Ordnung garantierte und durch Opfer(7) gestärkt werden musste. Das Avesta erzählt von Yima(1), dem ersten Herrscher der Welt und des Viehes, der auf Geheiß des Hochgottes Ahura Mazda(1) die kreisförmige Stadt Var (vara) errichtete, um die Reinen und Gesunden vor dem Winter zu bewahren.[15] Ist das eine Erinnerung an die runden und gegen die Kälte geschützten Festungssiedlungen von Sintaschta(13) und die Grabhügel der Steppe (Kurgane(1))?
Wenn es im Iran und nordwestlichen Indien(8) solche Erinnerungen an die ferne Heimat nördlich im Gebiet von der Wolga(1) bis zum Ural(4) gab, wenn ferner Genanalysen erste, auf 1350 zu datierende Spuren von Steppen-DNA in Südasien nachgewiesen haben, dann bleibt die Frage, wie und weshalb in der Bronzezeit Gruppen von Steppenkriegern den Weg bis in diese Räume fanden. Das ist die nächste, nicht minder faszinierende Geschichte des Nordens. Es ist das große Epos der Wanderung von Kriegergruppen durch die Weiten und über die verschneiten Gebirge Asiens(8), bis sie sich unter dem Namen Aryas (Arier)(1) in Nordindien(9) festsetzten und eine Weltkultur begründeten.
Die Siedlungen von Sintaschta(14) sind auf egalitär angeordnete Wohngemeinschaften hin ausgerichtet, ohne Zitadelle und Palast(2). Sehr wahrscheinlich wurden sie demnach nur saisonal und zu religiösen Anlässen, als Fluchtburg und Verteilungs- und Sammelzentrum von Ressourcen genutzt; die Hälfte des Festungsinneren war unbebaut.[16] Die Anordnung der Häuser erinnert eher an eine Wagenburg als an einen Herrschersitz. Offensichtlich hatte sich der in den Begräbnissen dokumentierende Führungsanspruch der Elite noch nicht soweit etabliert, dass er sich in einem exponierten Areal manifestiert hätte. Schließlich finden sich keine Hinweise auf eine Familiendynastie – die Gräber wurden nicht als Familiengruften benutzt –, sondern nur auf einzelne Mächtige, die sich als Besitzer größerer Herden und Streitwagen(6) in aufwendigen Begräbniszeremonien posthum feiern ließen und hierfür eine große Zahl von Freunden und Abhängigen aktivieren konnten. Das deutet auf eine für indoeuropäische(8) Gesellschaften typische Art von Patron-Klient-Verhältnis hin, das durch Geschenke in Gang gehalten und durch Opferzeremonien(8) inszeniert wurde.[17]
Ein solches System fügt sich gut in die nomadische Lebensweise und passt zur arbeitstechnischen Differenzierung der Häuser. Und es erklärt die Militarisierung der Eliten: Fast alle Männer wurden im Gegensatz zu früheren Grablegungen mit Waffen beigesetzt. Dennoch hatte die Gemeinschaft mit einem strukturellen Problem zu kämpfen, und dieses Problem betraf die Heranwachsenden. Für sie gab es keine vorgezeichneten Aufstiegs- und Karrierewege, wenn eine begrenzte Zahl von Familienoberhäuptern die besten Weidegründe sowie die technisch anspruchsvollen Streitwagen(7) monopolisierte. Selbst wenn man zur Familie eines Mächtigen gehörte, blieb nur die Möglichkeit, sich in das vorgefundene System einzugliedern und auf die Gunst der Chiefs zu hoffen. Doch diese war nie gewiss. Der Erbfall begünstigte in der Regel den Erstgeborenen, die Jüngeren mussten sich fügen. Führungspositionen waren ihnen verwehrt.
Für die jungen Männer – und ihre Zahl muss erheblich gewesen sein – blieb oft nur die Flucht ins Abenteuer: Man tat sich mit Gleichgesinnten, meist mit Leuten, die ihr Vieh verloren oder sonstige Statuseinbußen erlebt hatten, zu Kriegerbanden oder Brüderschaften von meist fünfzig Mitgliedern zusammen, um in der Fremde die Aufstiegschancen zu suchen, die ihnen das heimatliche Familien- und Patronagesystem versagte. Anführer solcher Banden wurden wahrscheinlich durch besondere Rituale(2) (zum Beispiel Würfelspiele) ermittelt, mit einem bunten Gürtel ausgestattet und einer religiösen Aura als Vertreter des die Gruppe schützenden Gottes (altindisch: Rudra(1)) umgeben. Sie bildeten eine Ersatzautorität gegenüber der alten Familienstruktur, die eine Weitergabe des väterlichen Hausgottes nur an den Erstgeborenen vorsah. Indem die Mitglieder untereinander Eide schworen, befreiten sie sich von den angestammten Bindungen. Wolfs- oder hundeartige Bekleidung (Felle), wildwachsende Haare, Tattoos und Narben aus selbst oder gegenseitig zugefügten Verletzungen im Gesicht (man vergleiche die Rituale der »schlagenden Verbindungen«) dokumentierten ihre Neugeburt in einer nur sich selbst verpflichteten Schicksalsgemeinschaft von Männern, die mit ihrem Anführer viel enger als in der »alten« Familie zusammenlebte, mit ihm durch dick und dünn und in den Tod ging, um bis an die Zähne bewaffnet den Kampf im nächsten Leben fortzusetzen.[18] Um sich in Stimmung zu bringen und die Angst vor dem Sterben zu dämpfen, schlürfte man einen »Zaubertrank«, anfangs das bei väterlichen Festen verabreichte Gebräu. Doch bald lernte man an den Hängen des Pamir(1) einen bitteren Trank kennen, den der Rigveda(3) »Soma« (* Sauma), das Avesta »Haoma« nennt, wahrscheinlich gepresst aus dem Fliegenpilz oder der Pflanze ephedra.[19] Er hatte eine euphorisierende, die Müdigkeit unterdrückende Wirkung. In einem ausgefeilten Ritual der Zubereitung brachte er die Krieger in Ekstase den Göttern nahe, stärkte sie im Kampf und – wie es im Rigveda (X,83,7) heißt – belebte den gesunkenen Mut.
Viele nomadische Gemeinschaften haben die Abspaltung solcher Gruppen toleriert, um sich vom Druck der Versorgung und innerer Konkurrenzkämpfe zu entlasten und um neue Ressourcen zu erschließen. Kriegerbanden mit ihrer eigenen Ethik(1) und Solidarität bildeten Horte einer brodelnden Dynamik – sie mussten ja permanent Alternativen finden und waren zum Erfolg verdammt. Aus diesem Stoff wurden Helden geboren. Ihre Abenteuer, ihre Kämpfe und ihre bedingungslose Loyalität (»Treue«) untereinander wurden von Lagerfeuer zu Lagerfeuer getragen und zum Kernbestand der großen Heldenlieder weit über die Antike hinaus. Natürlich idealisieren diese Gesänge die Vergangenheit, je mehr sie sich von ihr entfernen. Und doch verbirgt sich hinter ihnen ein folgenreiches historisches Phänomen. Kriegergruppen wurden aufgrund ihrer verwandtschaftlich ungebundenen Zusammensetzung und ihrer martialischen, auf Raub und Töten konzentrierten Ethik zur Speerspitze mobiler Kämpfer, welche die Steppen in stupender Schnelligkeit in alle Richtungen durchqueren konnten. Das macht einen Teil ihres geisterhaften Schreckens aus. Dass sie auf ihren Zügen zeitweilig die heimatliche Hügelbestattung aufgaben, zeigt ihre neue Qualität.
Doch wohin wandten sich solche Kriegerbanden? Zum einen gegen Nachbarstämme; Viehraub wurde in allen indoeuropäischen(9) Gesellschaften zur gefeierten Bewährungsprobe des jugendlichen Heros(1); er konnte von den Erwachsenen (wie Herakles(1)) als Auftragsarbeit wiederholt werden. Im Rigveda(4) verschaffen sich junge Krieger auf diese Weise mit Billigung des Stammes ihr Startkapital, um den weiteren Weg zum Erfolg zu finden. Selbst die Kultur von Sintaschta(15) hatte mit solchen Überfällen zu rechnen, wie sich an der Befestigung ihrer Zentren erkennen lässt. Viele Steppenkämpfe dürften auf solche Überfälle zurückgehen; sie mündeten in einer nicht endenden Kette von Racheaktionen und konnten ganze Stämme zur Abwanderung zwingen.
Raub war der heroische, Handelsaustausch der pragmatische Weg, den nicht nur junge Krieger einschlugen. Die Herren der Sintaschta(16)-Kultur und ihrer Umgebung (wie die Nomaden der sogenannten Andronovo-Kultur) pflegten enge Handelsbeziehungen entlang der Weidegründe der Flüsse sowie der Wüsten und Gebirge nicht nur zu anderen Viehzüchtern; auch zu den sich zwischen dem Steppengürtel und den urbanen Kulturen bildenden Agrargemeinden im Donau-Gebiet(1) und zu den Oasenkulturen am nördlichen Rand des iranischen(8) Hochlands bestanden rege Kontakte.[20]
Bewegung indoeuropäischer Stämme und Verbände im 3. und 2. Jt. v. Chr.
Die bedeutendste war die Oxus(1)-Zivilisation im heutigen Turkmenistan(2) (Nordafghanistan(4)), benannt nach dem größten Fluss. Ihr Zentrum bildet die Oase(2) Margiana(3) (Merv(5)) im Delta des Murghab(1) nördlich des Kopet(1)-Dag-Gebirges. Da sich ihre Siedlungen in einem weiten Bogen von West- bis ins nordöstliche Afghanistan(5) erstrecken, spricht man auch vom »Bactria(1)-Margiana(4)-Complex«. Die Festungsanlagen mit ihren rechteckigen und quadratischen sowie monumentalen Architekturformen und Außensiedlungen lagen in den Flussdeltas nahe der Wüste.
Die Oxus(2)-Zivilisation ist wie die Anlage von Sintaschta(17) ein Novum in der Geschichte Eurasiens(20). Ihre Blüte fiel in die Zeit zwischen ca. 2250 bis 1700 v. Chr. Sie steht gleichrangig neben den bronzezeitlichen Zivilisationen am Indus(1), im Zweistromland(4), in Ägypten(1) und in der Ägäis(1), mit einem Unterschied: Sie hat zwar beeindruckende Architektur- und Kunstformen sowie ausgefeilte Bewässerungstechniken(1) hervorgebracht, aber keine Schrift. Dennoch besaß sie weitreichende wirtschaftliche Kontakte: Insbesondere das Tal des in den Oxus(3) mündenden Flusses Zerafshan(1) mit seiner Oase(3) Samarkand(1) bot nicht nur Weideflächen, sondern auch reiche Abbaustätten von Kupfer, Zinn, Silber und Bleimetallen. Es wurde zum »dreamland« der Steppenvölker. Von hier aus verliefen Wege in alle Teile der Welt: über das ostiranische(9) Hochland bis nach Indien(10) und den Arabischen Golf(1), vielleicht über eine bronzezeitliche Seidenstraße(1)(3) bis nach China(21). Anfangs gelangte Steppenkeramik in das Gebiet des heutigen Nordwestiran; in einer zweiten Phase folgten große Mengen an Zinn und Kupfer, die aus dem Norden über die Oxus(4)-Kultur in die nach Mineralien dürstenden Kulturen des Zweistromlands(5), Ägyptens(2) und des östlichen Mittelmeerraums(7) (Mykene(1)) geliefert wurden.[21]
Was die Oxus(5)-Kultur selbst am dringendsten brauchte, waren militärische Verbündete. Und da kamen ihnen die Kriegergemeinschaften des Nordens gerade recht. Einige dürften sich als Söldner(1) angedient haben. Manche hofften auf die Hand einer einheimischen Prinzessin, und nicht wenige der potenziellen Schwiegerväter waren bereit, sie ihnen zu geben. Denn eine einmalige Mitgift war preiswerter, um sich die Loyalität der Krieger zu sichern. Diesen öffnete sich ein verlockender Karriereweg, der ihnen zu Hause verwehrt war. Einige stiegen in die Elite der Oxus(6)-Kultur auf. Vielleicht konnten sie sogar eine über den Familien stehende Machtposition erringen. Grundlage waren ihre militärische Expertise und die Geschenke, die sie mitbrachten, vor allem das in etwa zeitgleich mit dem »baktrischen(2) Kamel(4)« eingeführte domestizierte Pferd und der Streitwagen(8). Auch wenn die Kunst, ihn zu beherrschen, zunächst ihr Privileg blieb, so verbreitete sie sich mit den Jahren, wie es meist mit militärischen Innovationen geschieht, in alle Himmelsrichtungen, in den Nahen Osten(3), nach Ägypten(3) und Mykene(2) ebenso wie nach Nordchina(22), wo der Streitwagen seit der Shang-Dynastie(1) belegt ist (s. u. S. 144).[22]
Die Krieger des Nordens erlebten so zum ersten Mal den süßen Geschmack ortsfester und agrarbasierter Herrschaft. Im Zuge von Einheirat und Söldnerdienst fügten sich Begriffe wie die für »Pflugschar«, »Samen« oder »Garbe« in ihren Wortschatz ein. Kinder nahmen Sprachtraditionen beider Eltern auf, und so differenzierte sich während des Aufenthalts in der Oxus(7)-Kultur die protoindoeuropäische(10) Sprache in die Gruppen des Altindoarischen und des Iranischen(10), die Hauptgruppen des Indoiranischen. Im religiösen Bereich tauchten Vorstellungen auf, wie die von der Schwarzen Magie(2) sowie Götter und Dämonen(4) wie Indra(1) oder Gandharva(1), die fortan zum iranisch-vedischen Kanon gehörten.[23] Und man fand Vorbilder, die beide Welten verbanden, etwa den legendären Gilgamesch(4), der in der Oxus(8)-Kultur als halbgöttlicher König und Herr der Tiere verehrt wurde.[24] Er wurde zum Archetyp aller eurasischen(21) Helden, die allein oder mit ihren Gefährten gegen die Ungeheuer der Natur kämpften und sich außerhalb festgefügter Familien- und Klientelstrukturen einen Namen machten. Der jugendliche Drachentöter(1) stand für den Sieg über die Wildheit und die todbringende Unterwelt, symbolisiert durch die Schlange. Gleichzeitig bildete der erfolgreiche Kampf gegen wilde Tiere oder mythische Ungeheuer wie den Drachen eine initiatorische Hürde, die zu bewältigen Voraussetzung dafür war, in die Gemeinschaft der vollwertigen Krieger aufgenommen zu werden.
Bergnomadische Stammes- und Urbangesellschaften wie die Spartaner(1) und Lusitaner (auf der spanischen(2) Halbinsel) haben diesen Test später vergemeinschaftet, indem sie ihre Jugendlichen regelmäßig für einen gewissen Zeitraum in die Wildnis und Einöde der Berge schickten, um als Räuberbanden zu überleben und Mitglieder unterworfener oder konkurrierender Bevölkerungsgruppen zu töten. Ähnliches geschah bei den frühvedischen Gruppen in Nordindien(11) (s. u. S. 49). Die Übergabe vollwertiger Waffen (bei den Germanen(2) Schild und Spieß, bei den Kelten mitunter Pferd und Streitwagen(9), bei den Spartanern(2) Waffen und schwere Rüstung) als Siegespreis machte die Mannwerdung und den Übergang zum Heldenstatus sinnfällig. In Vorderasien(9) war sie ein Bestandteil der Königsinvestitur.[25]
An solchen und ähnlichen Schnittpunkten nomadischen Kriegertums und sesshafter Lebensweise wurde schließlich auch die Idee geboren, dem Krieger nicht nur eine männliche, sondern auch eine weibliche Schutzgottheit (wie Athena(1)) und Streitwagenführerin zur Seite zu stellen, die als »Muttergottheit(1)« ursprünglich der bäuerlichen Sphäre entstammte und das Bündnis mit der Steppe symbolisierte.[26] Ein goldenes Trinkgefäß aus Krasnodar(1) (4. Jahrhundert n. Chr.?) zeigt eine auf dem Thron sitzende Göttin, der sich ein köcherbewehrter Reiter nähert, offenbar der Beginn einer Heiratszeremonie, wie sie Herodot(1) bei den Massageten(1) schildert. Vergleichbare Szenen finden sich auf einem Filzteppich aus den Kurganen des skythischen Pazyryk(1).[27]
All diese Erzählungen bilden Realitäten nicht unmittelbar ab. Meist idealisieren sie alte Traditionen. Gesellschaften hielten umso hartnäckiger an ihnen fest, je mehr sie sich in ihrer realen Gegenwart von ihr entfernten. Und doch suchen solche Geschichten, ein Kernphänomen der eurasischen(22)
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: