Welten Riss - Dieter Esser - E-Book

Welten Riss E-Book

Dieter Esser

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Beschreibung

Eine Dystopie, so scheint es: Die Welt ist am Äquator in zwei gleiche Teile geteilt. Bei dem Nord handelt es sich um eine technisch hoch entwickelte Gesellschaft, vieles, wovon Generationen geträumt haben, ist erreicht. Doch die Menschen finden nicht mehr zueinander, nur vordergründig ist das System intakt. Im Süd ist die wirtschaftliche Situation wesentlich schlechter, die Menschen pflegen Traditionen wie Religion, Kunst, das Lesen von Büchern und Musik - wovon sich der Nord befreit hat. Der Leser begleitet die Bio-Ethnologin Maja Forester Li als Vertreterin des Nord und den Theologen Juan Aveiro Gonzales aus dem Süd auf einer abenteuerlichen Odyssee durch beide Hälften der Erde. Ein spannender Roman und gleichzeitig eine Hommage an die Literatur.

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2024

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„Die Materie ins Reine schreiben, Die Dinge wieder richtig stellen, die von den Menschen verrückt wurden ...“

Fernando Pessoa

Welten Riss

Episode 1: Leere

Episode 2: Ödnis

Episode 3: Reise Fieber

Episode 4: Gedanken

Episode 5: Reflexion

Episode 6: Nach Spitzbergen?

Episode 7: Die Anderen

Episode 8: Handeln und Verhandeln

Episode 9: INCIPIT VITA NOVA

Episode 10: INCIPIUNT VITAE NOVAE

Episode 11: Rom – Mene ... u par ...

Episode 12: Longyearbyen – Menet ... u pars

Episode 13: Brüssel

Episode 14: Brüssel 2

Episode 15: Sejamos simples

Episode 16: Zu neuen Ufern

Episode 17: Das neue Ufer

Episode 18: Am neuen Ufer

Episode 19: After Menetekel-Day

Episode 20: Destination

Episode 1: Leere

Lautes Gelächter der vierzehn Kinder, die sich um Immo Keupers scharten. In den ersten Jahren seiner Tätigkeit hatte er selber mitlachen müssen, wenn er, so wie jetzt, in einer Kirche, oder, sagen wir, was eher der Realität entsprach, dem Rudiment einer Kirche, einer Gruppe Kinder oder Jugendlicher erklären sollte, was für Absurditäten in der voräquatorialen Zeit vom Denken der Menschen Besitz ergriffen hatten.

„Was bedeutet dieses Kreuz?“, fragte ein kleiner, nicht sehr schlanker Junge.

„Ja, das war das Symbol der sogenannten Christen. Die Person, die da an dem Kreuz hängt, war ein gewisser Jesus. Und dieser Jesus hat von sich behauptet, er sei der Sohn eines Gottes. Was die Menschen früher Gott genannt haben, hat man euch doch in der Schule erklärt, oder?“

Keupers Worte gingen in einer Kaskade von Gelächter und Gewieher unter. Zwei Mädchen skandierten „Je, je, Jesus, je, je, Jesus!“ Als Museumspädagoge war Dr. Keupers auf solche Reaktionen gefasst. Fast täglich erlebte er nicht nur Kopfschütteln, sondern blanken Hohn, wenn er bei seinen Führungen durch Kirchen versuchte, Grundzüge der Religionen zu vermitteln. Er hatte ein aufwändiges Auswahlverfahren durchlaufen und es war ihm nach zahlreichen Prüfungen gestattet worden, Texte wie die Bibel, die Thora, den Talmud und den Koran, aber auch Übersetzungen fernöstlicher Religionen zu lesen und zu studieren. Die härteste der Prüfungen hatte er bei der CONGREGATIO durchgestanden.

Gelegentlich hatte er sich bei seinen Studien dabei ertappt, den Texten einen gewissen Reiz abzugewinnen. Ja, es hatte schon Momente gegeben, in denen er sich gesagt hatte, dass es in diesen Religionen vielleicht doch etwas an Sinnhaftigkeit gegeben haben könnte. Und vielleicht war dies auch der Grund dafür, dass sich Keupers für die Arktiker interessiert hatte, die auf Spitzbergen unweit des Saatgutspeichers weitere Speicher unterhielten, einen Ewigkeitsspeicher für Literatur, einen für Musik und einen für Kunstwerke. Wie faszinierend musste es sein, so dachte er manchmal, auf alle möglichen Werke der Weltliteratur zugreifen zu können. Längst überholter Kram, klar, aber vielleicht war da doch etwas zu finden. Er hätte sich gerne selbst einmal gründlich in diesem Speicher umgesehen und hatte sich vor fünf Monaten auf eine Stelle dort beworben, hatte aber immer noch keine Antwort erhalten. Vielleicht besser so, hatte er sich gesagt, ein Leben in der Einöde und Kälte in der Nähe von Longyearbyen würde er schwerlich aushalten können. Abgesehen davon galten die Arktiker im Nord als Spinner, die sich mit nutzlosem Zeugs beschäftigten. Und dennoch – vielleicht melden sie sich noch.

Was Immo Keupers allerdings verwundert hatte, war die Tatsache, dass man sagte, die Südler würden von Jahr zu Jahr größeres Interesse an den Kulturspeichern zeigen. Er konnte das kaum glauben, denn schließlich war es noch keiner Expeditionsgruppe des Süd erlaubt worden, Spitzbergen aufzusuchen.

Wieder wurde er mit Fragen bombardiert: „Und was macht der da am Kreuz?“ – „Wo kam der denn her?“ – „Und wo steckt dieser Gott heute?“

Bei der letzten Frage brach die Gruppe wieder in ein tosendes Gelächter aus. Keupers war jetzt auf der Hut, er musste darauf achten, nicht von der Linie abzuweichen, da es nicht ausgeschlossen war, dass sich in der Kirchenruine Sankt Andreas ein Mithörer, leibhaftig oder technisch, befand. Und so gab er sich Mühe, die Kinder mit der Absurdität eines Glaubens an einen Gott oder Götter zu konfrontieren: „Diesen Gott, also den Vater dieses Jesus, hat natürlich nie jemand gesehen. Da haben damals trotzdem viele Leute dran geglaubt.“ Als erneute Unruhe aufkam, bat er die Kinder, sich seine Ausführungen ohne weitere Unterbrechungen anzuhören.

„Ihr könnt euch ja eure eigenen Gedanken machen, aber jetzt hört ihr bitte zu, lachen könnt ihr immer noch, wenn euch das alles wie ein Witz vorkommt.“

Dann fügte er zur Sicherheit hinzu: „Was es ja letztlich auch ist, zum Lachen. Aber hört zu. Also: Dieser Jesus wurde von den Römern, das war eine Großmacht so wie heute unsere CONGREGATIO, natürlich nicht annähernd so mächtig und technisch noch weit hinter uns zurück – also diesen Römern hat es nicht gepasst, dass dieser Jesus gesagt hat, er wäre der neue König der Juden, und sie haben ihn deshalb aus dem Weg geräumt, an ein Holzkreuz genagelt, was er natürlich nicht lange überlebt hat. Klingt schrecklich, aber ich denke, ihr seid schon alt genug, so eine Geschichte verkraften zu können. Die Römer haben so etwas öfters gemacht, wenn sie Leute bestrafen wollten.“

Die Kinder fanden das widerlich und wollten nichts mehr davon hören.

„Passt auf“, rief Keupers, „die Geschichte geht noch weiter. Ich weiß schon, was ihr sagen werdet, ernst bleiben kann man dabei nicht, aber ich erzähle es euch dennoch. Also: Dieser Jesus hatte angekündigt, dass er nach seinem Sterben ein paar Tage später wieder lebendig sein würde!“ Jetzt war die Kindergruppe nicht mehr zu halten. Alle schrien durcheinander. „Das kann nicht mal meine Parent und die ist die beste Ärztin in der Charité“, verkündete einer. „Angeber!“, raunten einige der Kinder.

„Wir haben noch ein wenig Zeit, bis eure Klassenlehrerin euch abholt. Wenn ihr also noch Fragen habt, dürft ihr die gerne stellen“, sagte Keupers.

Ein blondes Mädchen schaute ihn fragend an. Sie schien etwas zu beschäftigen: „Aber es gab doch diese Kirchen in fast jedem Dorf und hier in Colon hatten wir ganz viele davon. Da muss doch etwas dran gewesen sein, an diesem Jesus und an diesem ... ähm ... Gott.“

Der Museumspädagoge hatte mit weiterem Gelächter gerechnet, aber es blieb aus, auch andere Kinder schienen nachzudenken.

Keupers wusste nicht so recht, was er antworten sollte, denn genau das war ja der Punkt, der auch ihn an der Geschichte mit dem Gottessohn, der mal lebendig, mal tot und dann wieder lebendig gewesen sein sollte, irritiert hatte. Er ignorierte die Frage des Mädchens, sammelte sich einen Augenblick und forderte dann die Gruppe auf, ihm zu folgen.

„Dieser klobige Steintisch hier, den nannte man Altar. Da wurde die sogenannte Messe gefeiert, das war so eine längere Veranstaltung, bei der die Besucher, ja, wie soll ich sagen, zu diesem Gott gebetet haben. Er solle sie doch beschützen, er solle ihnen gutes Wetter schicken, er solle für gute Ernte sorgen, er solle die Kranken wieder gesund machen und so Sachen, also all das, wofür wir hier im Nord die Militia, die Secura, die Meteo, die Sanitas und andere Einrichtungen haben.“

Ungläubiges Staunen in den Gesichtern der Kinder, als Keupers ihnen erklärte, dass die Menschen des Vor-Äquators nicht in der Lage waren, das Klima, also auch Wetter und Ernten selbst zu bestimmen.

Bei älteren Schülergruppen würde nun ein Monolog folgen, in dem Keupers die Rückständigkeit des Süd in allen Einzelheiten erläuterte. Dass man im Süd noch so etwas wie Götter oder einen Gott verehrt, dass der Süd von Flutkatastrophen und Dürreperioden heimgesucht wird, dass die Menschen, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen möchte, in Armut und Not oft in schäbigen Behausungen wohnen und wesentlich früher sterben als die hochzivilisierten Menschen im Nord.

Das war heute nicht nötig. Keupers schaute auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass die Zeit rum war und dass seine erste Führung an diesem Tag ohne größere Komplikationen abgelaufen war.

Pünktlich auf die Minute erschien die recht stark übergewichtige Klassenlehrerin, Frau Ritzinger, zeigte ihr übliches Lächeln und wies ohne ein Wort zu sagen die Kinder mit einer Handbewegung an, ihr in den Belehrungsraum zu folgen, der jeder Museumskirche angegliedert war und der in früheren Zeiten als Sakristei gedient hatte.

Als alle Platz genommen hatten, forderte sie die Klasse auf, ihre Computs herauszunehmen und ihr aufmerksam zuzuhören.

Die Kinder wussten genau, was sie zu tun hatten, und drückten die Aufnahmetasten. Was sie aber auch wussten, war, dass sie am nächsten Tag über all das, was Frau Ritzinger ihnen nun präsentieren würde, abgefragt würden.

Emotionslos wie jeden Tag begann sie ihren Vortrag: „Ihr habt mich beim letzten Mal gefragt, wie wir hier im Nord es schaffen, böse Menschen aus dem Süd davon abhalten, uns hier zu überfallen. Ich glaube, das warst du, Julius Falk. Also ich zeige euch heute auf dem Screen ein paar tolle Bilder, die unser Abwehrsystem erklären.“

Julius Falk meldete sich, heftig gestikulierend. „Ja, Julius Falk, ich weiß, du willst etwas loswerden. Also gut.“

„Mein Parent arbeitet bei Skylla-Enterprise“, sagte er nicht ohne Stolz und schaute sich um, in der Hoffnung, bewundernde Blicke zu bekommen. Als sie ausblieben, fuhr er fort: „Mein Parent darf nicht alles sagen, was die da machen, aber er hat mir von zwei Ungeheuern erzählt, eines heißt Skylla, das andere weiß ich nicht mehr.“

„Charybdis!“, warf Frau Ritzinger ein.

„Ja, so ähnlich. Also die rasen aufeinander zu und zermalmen ...“

Frau Ritzinger unterbrach ihn: „Danke, Julius Falk, sehr schön. Und dein Vater hat dir das wirklich erzählt? Aber lass mich das mal lieber erklären.“

Enttäuscht sackte Julius Falk in seinen Stuhl, konnte aber sehen, dass Frau Ritzinger eine Notiz machte. Was er nicht ahnte, war, dass Frau Ritzinger die Secura über den Parent ihres Schülers informieren würde.

Nun setzte sie ihren Vortrag fort: „Also, was der Vater von Julius Falk vermutlich nicht verraten hat, das will ich euch nun erklären. Seht euch mal dieses Bild an! Über den Äquator sausen in etwa 800 Fuß Höhe die sogenannten ROVER Tag und Nacht ohne Pause herum. Die ersten, und das zeigt dieses Bild, nannte man KELVIN-ROVER, unförmige rundliche Gebilde. Aber die konnten nur Stromstöße austeilen. Die aktuellen – hier im nächsten Bild – heißen HYPER-ROVER. Sie sind perfekt rund, große thermiebetriebene Kugeln. Wie viele es davon gibt, das weiß nur der Administrator auf Hawaii. Sobald sich also ein Objekt, egal ob ein Schiff auf dem Meer oder ein Fahrzeug auf dem Land oder auch ein Fluggerät in der Luft, sich von Süd dem Äquator nähert, schlägt einer der ROVER an. So ähnlich, wie Hunde das tun. Und je nach Größe des Eindringlings rotten sich zwei oder auch ganz viele dieser ROVER zusammen und zerstören das Objekt durch Strom und auf chemischem Wege.

Das mit Skylla und Charybdis, das war eine alte Geschichte, eine Art Märchen von zwei Ungeheuern, aber das soll uns jetzt nicht weiter interessieren. Ich werde euch nun erzählen, dass es trotz des fehlerlosen ROVER-Schirms Möglichkeiten gibt, vom Süd in den Nord und vom Nord in den Süd zu gelangen. Wenn zum Beispiel eines unserer Schiffe in den Süd fährt, um Rohstoffe zu holen, bilden die ROVER eine Gasse und lassen die Schiffe durch. Das gilt natürlich auch für die Rückfahrt.

Und wie kommen nun Menschen in den Nord oder in den Süd? Es gibt genau drei Schleusen, das sind riesige Tore mit jeweils drei gut bewachten Kammern. Diese Schleusen befinden sich an der Grenze von Brasilio nach Brasília, von Kenio nach Kenia und von Indonesio nach Indonesia. Ihr wisst ja: Das sind Länder, die durch den Äquator getrennt werden, so dass der nördliche Teil zu uns gehört und der südliche zu denen. Die ROVER umfahren wie ein enges Netz diese Übergangswege.

Und wozu dienen nun diese Schleusen? Nun, für uns im Nord hat dies den Vorteil, dass wir alle bösen Menschen, also alle, die ein Verbrechen begehen, stehlen oder andere verprügeln und so etwas, durch die Schleusen in den Süd transportieren. Dort werden sie registriert, damit keiner entwischt. Das nennt man Ausschaffung. Sicherlich habt ihr euch schon gefragt, warum es so wenige böse Menschen im Nord gibt. Das liegt zum einen an der Erziehung, von der auch ihr hier profitiert, zum anderen an der sehr strengen Ausschaffung aller kriminellen Elemente. Um das einzuhalten, haben wir die Militia, unsere bewaffnete starke Bürgerschutztruppe.

Aber es gibt auch die Möglichkeit, auf friedlichem Wege vom Süd in den Nord und vom Nord in den Süd zu kommen. Dies dürfen nur Forscherinnen und Forschern. Unsere Regierung hier im Nord hat großes Interesse daran, den Kontakt zum Süd aufrecht zu halten. Denn der Süd ist es schließlich, der uns nicht nur die Kriminellen abnimmt, sondern auch, wie ich eben gesagt habe, Rohstoffe hat, die wir hier im Nord dringend brauchen. Dass die Südler ansonsten ziemlich unzivilisiert sind, das brauche ich euch ja nicht zu erklären.“

Auf ein Zeichen der Lehrerin hin drückten die Kinder die Stopptaste. Frau Ritzinger forderte die Kinder auf, die Nummern 12-21 zu löschen, da sie nicht wollte, dass der Beitrag von Julius Falk verbreitet wurde. Dann setzte sie sich bequem aufs Pult.

Das war für die Kinder das Zeichen, dass nun der harmlosere Teil begann. Was sie nicht wussten, war, dass ihre Lehrerin natürlich jeden ihrer Beiträge auf einem Gerät aufzeichnete.

„So, nun erzählt mal, was eure Parentes so machen. Ich weiß natürlich, dass nur zwei von euch bei euren Leibesparentes wohnen, aber auch eure Fosterer behandeln euch gut, wie ich gehört habe. Also los, nur keine Scheu! Wer erzählt uns etwas?“

Nach kurzem Zögern meldete sich ein dicker, braunhaariger Junge: „Mein Parent ist auf dem Mars, da suchen sie nach Bathium, ich weiß nicht genau, was das ist, aber es ist wohl wichtig für die Fliegerapparate und die ROVER, damit sie leise in der Luft schweben können oder so.“

Die Lehrerin bedankte sich und hörte sich noch weitere Schüleräußerungen an. Sie notierte sich, dass zwei Mädchen den Wunsch geäußert hatten, wenn sie groß seien, den Süd zu besuchen; sie wollten sehen, wie die dort leben. Sie schaute auf die Uhr und wartete auf weitere Schüleräußerungen.

Ein dunkelhaariges Mädchen meldete sich: „Frau Ritzinger, warum lernen wir nur Englisch und Spanisch? Es gibt doch noch andere Sprachen.“

Die Lehrerin kannte das Problem im Parenthaus dieses Mädchens: „Ja, Svetlana, die gibt es, aber du weißt doch, dass Englisch alle verbindet. Deshalb sprechen wir im Nord alle Englisch. Und die im Süd müssen alle Spanisch sprechen, damit man sofort ... also, na ja ... das Gewirr von Sprachen haben wir zum Glück aufgelöst. Stell dir vor, jede Gegend im Nord würde eine andere Sprache sprechen. Das wäre das reinste Chaos.“

Das Mädchen gab sich nicht damit zufrieden: „Meine Parentes sprechen mit mir Russisch. Sie meinen, damit würde ich meinen Horizont erweitern.“

„Schluss jetzt!“, fuhr die Lehrerin sie an. „Davon will ich nichts hören.“

Sie notierte sich den Namen des Mädchens und hoffte auf angenehmere Beiträge.

„Ja, Kilian! Bitte!“

Kilian räusperte sich, wagte nicht, der Lehrerin in die Augen zu schauen, doch dann sagte er: „Meine Parentes sprechen auch eine andere Sprache. Sie sind vor vielen Jahren aus Simbabwe in den Nord gekommen. Da gab es die gefährlichen ROVER noch nicht. Sie sind mit vielen anderen durch die Sahara gelaufen, das war damals nur Sand und Wüste, und dann haben sie in Libyen ...“

„Das reicht, Kilian“, unterbrach ihn die Lehrerin, „ihr solltet nicht von früher erzählen, sondern sagen, was eure Parentes heute machen.“

Kilian schwieg und ein Mädchen mit sehr kurzem Haar meldete sich. Frau Ritzinger erteilte ihr das Wort, sichtlich erleichtert, dass Kilian schwieg.

„Mein Fosterer ist total nett. Er erzählt mir immer Geschichten. Meistens abends, wenn die Frau in den Dienst muss. Die beiden streiten oft, aber ich weiß nicht worüber. Vielleicht, weil ihr Sohn sich ... also er lebt nicht mehr. Egal. Also, vorgestern hat mein Fosterer mir erzählt, dass es im Süd noch viel mehr Tiere gibt als im Nord. Auch giftige und ganz wilde. Eins heißt Krokodil.“

Frau Ritzinger hörte aufmerksam zu, versicherte sich, dass ihr Record-Gerät funktionierte, und bat das Mädchen fortzufahren.

„Ja, und im atlantischen Südmeer, hat er gesagt, gibt es Wassertiere, die so groß sind wie große Schiffe. So gaaaanz große, die Wale, glaube ich. Die pusten Wasserstrahlen aus“ – Gelächter der Kinder unterbrach das Mädchen. Doch es fuhr unbeirrt fort: „Stimmt das, Frau Ritzinger? Und warum haben wir im Nord keine Krokodile und Wale?“

„Nun, liebe Annika, das müsste dir und den anderen doch klar sein. Aber ich will es euch gerne erklären. Also, all die unnützen Bestien wurden systematisch ausger ...“ Sie stockte kurz „entfernt, damit sie keinen Schaden anrichten. Ich meine, stellt euch doch mal vor, so ein Krokodil greift euch an. Du hast keine Chance. Es frisst dich einfach auf!“

Entsetzen in den Augen der Kinder.

„Alles, was nicht gebraucht wird, wird entfernt. Das gilt auch für ganz kleine Tiere, die die Menschen krank machen. Moskitos zum Beispiel.“

Nun unterbrach Annika die Lehrerin: „Und warum entfernen die Südler sie nicht einfach?“

„Weil, ja, weil, weil die das einfach nicht können, die sind technisch so weit zurück, dass sie ...“

„Dann müssen wir ihnen doch helfen!“, sagte Annika. Aber ein anderes Mädchen rief: „Vielleicht wollen sie die gar nicht entfernen. Vielleicht mögen die diese dicken Fische.“

Frau Ritzinger brach die Diskussion ab. So viele unbequeme Fragen wie heute hatte sie selten. Sie bat den kleinen Olof, von seinem Parent zu berichten. Sie wusste, dass Olof nur unproblematische Beiträge lieferte. Erleichtert hörte sie Olof sagen: „Meine Parent ist CHEMROVER-Ingenieurin. Sie produziert immer neues Material für die ROVER.“

„Das ist gut für uns alle, Olof. Aber leider bleibt keine Zeit mehr, davon zu erzählen, wir müssen für heute Schluss machen.“

Die Kinder verließen den Lehrraum. Frau Ritzinger notierte noch einige Namen, dann verließ auch sie schwerfällig die Museumsruine. Um 16 Uhr würde ihre Therapiesitzung beginnen.

Episode 2: Ödnis

Der EURO-ASIA-Rat hatte sich zum achten Mal in diesem Monat zusammengefunden, um über die drängenden Fragen der N- und S-Politik zu beraten. Melina Jorgens wurde nach der Begrüßung der zugeschalteten Delegation des AMERI-Rats und des Beobachters der CONGREGATIO als erster das Wort erteilt.

Gemessenen Schrittes begab sie sich zum Redner:innenpult. Sie strich sich über den im Grunde faltenlosen schwarzen Rock, legte beide Hände auf das Pult und begann:

„Lassen Sie mich ohne Umschweife zum Punkt kommen. Es geht nicht an, dass monatlich Forscher:innengruppen aus dem Nord in den Süd und in weit größerer Zahl aus dem Süd in den Nord aufbrechen. Ich erinnere nur ungern an die Vorfälle in Kalkutta, Irkutsk, Brüssel oder“, sie warf einen Blick auf die Monitore mit den zugeschalteten Amerikaner:innen, „Dallas und Bakersfield. Wir hätten die Ausbrüche religiösen Wahnsinns in diesen Gegenden von vornherein unterdrücken müssen. Und ich fordere den Rat auf, unsere eigenen Forscher:innen noch intensiver durch Militia zu beschützen, damit es nicht wieder zu Übergriffen, Verletzungen und, ja, sogar Tötungen wie in Sydney und in Windhuk kommt. Ich plädiere außerdem dafür, noch exakter zu prüfen, wer und vor allen Dingen warum jemand aus dem Süd hierher kommt.

Ich höre schon die Bedenkenträger:innen, denen die Durchlässigkeit der Schleusen schon immer wichtig war. Aber ich sage es ganz deutlich: Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass die Vorstellung, Kennenlernen und Gedankenaustausch würden zu gegenseitigem Respekt führen, brandgefährlich ist. Der Traum ist aus, das alles muss ein Ende haben!“

Applaus brandete auf und nur wenige blieben still und regungslos. Melina Jorgens strafte die in ihren Augen liberalistischen Parlamentarier:innen mit einem verächtlichen Blick. Sie und ihre Kampfgenoss:innen waren es, die sich in der Behinderten-Frage rigoros für Ausschaffung eingesetzt hatten. Sie war es auch, die gemeinsam mit der Repräsentantin des Altenpflegerats auf die Idee verfallen war, dem Süd Prämien zukommen zu lassen für jeden Altmenschen, den sie dem Nord abnehmen. Auch bei diesen Beratungen war Gegenwind von der Berlin-Lyon-Fraktion gekommen – und doch hatte sie recht behalten: Sowohl das Behinderten- als auch das Altenprojekt hatten sich als durchaus erfolgreich erwiesen.

Aus Gründen der Ausgewogenheit erteilte die Vorsitzende Hedda Strindberg einem Vertreter der Berlin-Lyon-Fraktion, Justus Grotewohl, das Wort.

„Verehrte Anwesende! Es muss doch jeder und jedem auffallen, wie inkonsequent unser Handeln im Grunde ist. Ich möchte ein altes Wort benutzen, um ihnen deutlich zu machen, wie absurd die Forderungen sind, die wir auch gerade wieder aus dem Munde meiner Vorrednerin hören mussten. Sie und ihre Mitstreiter:innen, ja, ich weiß, es sind mehr als 90 Prozent aller Mandatsträger:innen, wollen allen Ernstes die Zugbrücken hochziehen, aber nicht ganz. Sie wollen Forscher:innenteams aus dem Nord in den Süd schicken, aber umgekehrt am liebsten jeden Kontakt von Südler:innen mit dem Nord verhindern. Wenn unsere Teams ihre Forschungsreisen durchführen, werden selbstverständlich die Zugbrücken heruntergelassen, um sie danach möglichst schnell wieder hochzuziehen. Das Unlogische besteht für mich darin, dass man zwar alle Kontakte blockieren, aber unsere Altmenschen weiterhin dem Süd überlassen will, gegen finanzielle Entschädigung natürlich. Das erinnert mich daran, dass vor langer Zeit Rentner:innen zum Beispiel aus Germanio ihren Lebensabend in Hungario oder Rumanio verbrachten oder vielmehr verbringen mussten, weil sie weder die Mieten noch die sonstigen Lebenshaltungskosten ihres Heimatlandes stemmen konnten. Statt uns des Wissens und der Erfahrung der Altmenschen zu bedienen, wollen wir sie loswerden, zahlen auch noch Geld dafür und – hier wird es noch unlogischer – riskieren, dass diese Menschen voller Wut auf den Nord genau dieses Wissen und diese Erfahrung dem Süd zukommen lassen.

Nun frage ich Sie, Melina Jorgens: Wollen Sie das? Sie betonen immer wieder, wie unzivilisiert, barbarisch und einer genaueren Betrachtung unwürdig der Süd ist. Und gleichzeitig verkaufen Sie dem Süd unser Menschen-Potenzial! Das passt nicht zusammen!