6,00 €
Unter dem Druck weltweiter Krisen steht die Menschheit am Scheideweg. Lösungen sind nicht in Sicht. Sind die tiefsten Ursachen möglicherweise noch nicht ausgelotet? "Weltformel Seele" stellt elementare Fragen. Mit Hilfe aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse werden die tiefsten Wurzeln der so unheildrohenden Entwicklung offengelegt. Nach der evolutionären Ausbildung eines Selbstbewusstseins wird der Mensch nun vor seine Selbstverantwortung gestellt, mit dem Ziel, bewusst selbstschöpferisch tätig zu werden. Dazu wird ihm aber eine sehr tiefgreifende Selbsterkenntnis abverlangt, denn er wird den gestellten Anforderungen nur genügen können, wenn er von der biologisch bedingten, oberflächlichen Selbstbezogenheit zu seinem Seelenkern durchzudringen vermag, der Anteil hat an der Welt der Einheit. Es ist der Quell seiner Sehnsucht und der Geburtenschoß der Ideale, der Geistfunke, den C. G. Jung als "Nicht-Ich-Zentrum" charakterisiert, die Bibel als "Samenkorn Christi" und Schiller als "Götterfunken". Als Anknüpfungspunkt der Einheit ist dieser die Basis allen wahrhaft menschlichen Werdens. Was Dichter und Denker, Märchen, Mythen und Religionen der Menschheit von jeher ans Herz legten, das bezeugt jetzt auch die Wissenschaft. So erschließt sich dem nüchternen Bewusstsein des modernen Menschen wieder der rote Faden des Lebendigen und weist ihm einen Weg zurück, zur verlorenen Einheit allen Seins. Als Ingenieur im naturwissenschaftlich-physikalischen Bereich zu Hause, hat sich der Autor über 30 Jahre im Rahmen einer modernen Philosophenschule ernsthaft in Theorie und Praxis mit den elementaren Lebensfragen der Menschheit auseinandergesetzt. Die nüchterne Denkweise fordert dabei mit der Wissenschaft vereinbare Aussagen, das fühlende Herz zugleich - und auf Augenhöhe mit dieser - eine ganzheitliche Sichtweise und einen praktikablen Weg für jedermann.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 602
Veröffentlichungsjahr: 2015
www.tredition.de
Ronald Kahle
Weltformel Seele
Quantensprung der Evolution
www.tredition.de
© 2014 Ronald Kahle
Umschlag, Illustration: Saskia Schulte, Mainz
unter Verwendung einer Zeichnung von Leonardo da Vinci, Proportionsstudie nach Vitruv (Accademia, Venedig) Lektorat: Horst Niebuhr, Buxtehude
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7323-1185-9
Hardcover
978-3-7323-1186-6
e-Book
978-3-7323-1187-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Ein mysteriöses Etwas
Seelenvorstellungen
Körper und Seele
Östliches Kollektiv
Westlicher Individualismus
Selbsterkenntnis
Auf der Suche nach dem mysteriösen Etwas
Glaube und Erkenntnis
Geschichtlicher Abriss
Hirnforschung – oder: Wie frei ist der Mensch?
Der gesteuerte Mensch
Bewusst wird, was bearbeitet werden soll
Das Ich als Erfahrungsplattform
Das Nicht-Ich-Zentrum als steuerndes Element
Disponible psychische Energie als verwirklichender Faktor
Drei Willensaspekte
Der Mensch am Steuer
Sinnesorgane: Der Mensch als Weltenschöpfer
Der Wille, ein abgeschlossenes Ganzes zu sein
Drei Bewusstseinszustände
Resümee
Kann die Physik Geltung für die Seele haben?
Grenzen der Physik
Ein Hilfsmittel zum Verständnis
Quanten – Physik der Einheit
Teil und Einheit
Feld
Feldbegriff
Wechselwirkung
Aufhebung des Objekt- und Raumbegriffs im Feld
Bewegung
Lebensfelder
Gravitation
Chemische Prozesse
Elektromagnetische Sensibilität biologischer Systeme
Nervenzellen als Empfänger und Sender elektromagnetischer Wellen
Aufhebung der Lokalisierung der Individualität
Eine unbestimmte Welt
Ich und Du im Feld
Sinnesorganische Begrenzung
Unbestimmtheit
Der Beobachter bestimmt, was geschieht
Ein quantenphysikalisches Objekt ist Eines
Seele
Organisationsfelder
Keine tote Materie
Evolutionäre Entwicklung als Bewusstwerdungsprozess
Hierarchische Seelenstruktur
Eine verschränkte Welt
Zwei Daseinsebenen: Erscheinungsebene und Seelenebene
Nichtseparierbarkeit
Das Bell’sche Theorem
Geist
Freiheit und Determination – Einheit und Trennungsbewusstsein
Teilung des Einen
Trennungsidee als Antithese zum Einen
Entwicklung und Aufhebung der Trennungsidee
Geist und Seele in zwei Welten
Freiheit und Determination
Eine komplementäre Welt
Polarität und Einheit
Komplementarität: Aufhebung von Scheinwidersprüchen
Relativität – Physik der Trennung
Komplementär zur Quantenphysik
Wirklichkeitsverzerrungen in Raum und Zeit
Einheit im Jetzt
Energie
Was ist Materie?
Die verwischte Individualität
Entwicklung der Erscheinungswelt
Das „Ich-bin-Element“
Geburt der Erscheinungswelt
Fall in den Brunnenschacht
Polarisierung – Gravitation und Elektromagnetismus
Raumbildung und Zeitfluss
Eine endliche Welt
Schwarzes Loch
Unterwelt und Totenreich
Überwindung der Trennungsidee
Eine vierdimensionale Welt
Eine relative Welt
Bezugssystem: Jedem seine Welt
Ich-Vorstellung und Trennungsgeist
Ein wichtiger Punkt
Der Bezugspunkt als latenter Bewusstseinsbrennpunkt
Realitätsverzerrung durch Verlagerung des Bezugspunktes
Bewusstseinszustände
Das neutrale Persönlichkeitsbewusstsein als Hilfsmittel
Bewusster Eingang in die Einheit
Ein regelrechtes Chaos
Eine geregelte Welt
Zeitsymmetrie und Polarität
Die Gegenwart der Zukunft
Selbstbestimmung: Ursache und Wirkung in Auflösung
Die Lücke in der Determination
Rückkopplungssysteme
Innere Steuerung: Eine Frage der Einstellung
Eine chaotische Welt
Im Keim angelegte Entwicklung und steuerndes Umfeld
Das deterministische Chaos
Die Unbestimmtheit der Steuerungsgesetze
Synergetik
Zwei unvereinbare Ordnungsstrukturen
Evolution – wohin?
Entropie
Evolution
„Offene“ Systeme
Molekulare Evolution
Soziale Systemeigenschaften
Sozialverhalten als Systemeigenschaft
Soziale Fähigkeit und ihre Anwendung
Krisispunkt
Weltkrise und Globalisierung
Der „menschliche Geist“
… und seine Organisation
Wendepunkt
Ideale, Basis eines erhabeneren Evolutionsbogens
Mutation als Hypothese
Das menschliche Lebenssystem, ein Mikrokosmos
Ein überpersönlicher Informationsträger
Ein individueller Entwicklungsprozess
Informationserhalt und Tod
Informationserhalt und Geburt
Der Mensch als Mikrokosmos
Informationsverarbeitung
Persönlichkeit und Individualität
Abgrenzung nach außen
Abgrenzung nach innen
Archetypus und archetypische Vorstellungen
Christus als Archetypus und Ordnungsstruktur
Krise als Folge der Informationsverwirrung
Zwischen Innen und Außen
Wirksamkeit des Herzens notwendig
Aufgabe der Persönlichkeit
Vom Schein zum Sein
Distanzierung
Von der Form zum Inhalt
Frage nach dem Selbstverständnis
Spiegelneurone
„Kopernikanische Wendung“
Verantwortung
Unterscheidung
Objektivierendes Bewusstsein
Evolution als selbstschöpferischer Prozess
Selbstbelügung – Die Götter des Olymp
Kultivierung
Auflösung der verworrenen Strukturen
Wahl und Opfer
Eine unabweisbare Grenze
Archetypus: Elementarer Inhalt in formaler Erscheinung
Die Wahrheit zwischen Erscheinung und Idealität
Willensumkehr
Evolution
Neues Bewusstsein
Transformation
Transfiguration
Ein elementarer Verbrennungsprozess
Persönlichkeit
Heldentum
Notwendigkeit
Eine zweite Ebene
Schule des Lebens
Lehrplan
Zwei Methoden
Aufstieg zur Einheit
Quo vadis
Wissenschaft
Mystik
Krise
Der ideale Staat
Anhang
Bildnachweis
Literaturverzeichnis
Index
„Kein Ding sieht so aus, wie es ist, am wenigsten der Mensch, dieser lederne Sack voller Kniffe und Pfiffe.“
Wilhelm Busch
„Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern.“
Friedrich Schiller
„Auch ist das Gefühl eigener Hilflosigkeit zu allen Zeiten das Wahrzeichen wirklich großer Menschen gewesen, ist überdies ein feines Gefühl und vielleicht der Hafen, aus dem man auslaufen muß, um die Nordwestpassage zu entdecken.“
Matthias Claudius
Vorwort
Der Wissenschaft scheint das Herz abhanden gekommen und damit die Einheit der Natur – das beweist die globale Weltkrise eindringlich. Infolgedessen wühlt die Sehnsucht nach Einheit und wahrhaft menschlicher Gemeinschaft nun im Inneren der Menschen und drängt zur Verwirklichung. Zunehmend mit den Folgen eigener Handlungsweise konfrontiert, sensibilisiert sich das Bewusstsein für die Grenzen selbstbezogener Gesinnung. Die Reaktionen könnten verschiedener nicht sein: Mit Macht wird hier versucht, die verlorene Einheit nach eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, während dort auf erhabene Ideale und spirituelle Methoden gesetzt wird. Die Kontroverse gipfelt in einer grundlegenden Sinnfrage, welche sich mit diffusen Vorstellungen und oberflächlichen Annahmen nicht länger verantwortlich beantworten lässt. Im Selbstverständnis des Menschen und in seinem Verhältnis zur Einheit der Natur liegt die Ursache der Problematik und auch der Schlüssel zu ihrer Überwindung verborgen; so viel kann aus der sich zuspitzenden globalen Entwicklung sicher abgelesen werden.
Um die elementaren Werte offenzulegen, ist tiefe Einsicht erste Pflicht. Es gilt den Blickwinkel zu weiten. Der kühle Verstand muss dem warmen Herzen unterstellt werden. Nichts verlieren die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse an Wert, wo sie ernsthaft vom Herzen erwogen werden. Im Gegenteil, sie gewinnen gleichsam eine Dimension hinzu, weil sie nun in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wo der Verstand zerteilt und Informationsflut schafft, da eint das Herz und fügt zusammen, was unvereinbar schien. Nach diesem Brückenschlag steht die Wissenschaft auch nicht länger im Widerstreit zur Bilderwelt der Religionen, Märchen, Mythen und Legenden. Der rote Faden des Lebens kann endlich wieder ans Licht treten. Und nur so, an der Hand des Lebens, werden wir der vor uns gestellten Aufgabe gerecht werden.
Mein Dank gilt all den vielen, die an der Entstehung des vorliegenden Werkes mitgewirkt haben, sei es durch tatkräftige Unterstützung, hilfreiche Worte oder die Fülle der inspirierenden Impulse, die mir als stille Begleiter stets hilfreich zur Seite gestanden haben und ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Mit diesem Beitrag für eine mögliche Lösung der so unheildrohenden Entwicklung hoffe ich, ihrer Unterstützung gerecht zu werden.
Bremen, im November 2014
Ronald Kahle
Ein mysteriöses Etwas
Es ist schon einige Zeit her, da hatte ich das Vergnügen, mich einer Jugendgruppe anschließen zu dürfen, die Prof. Oschwitz1 von der Hochschule Bremen gebeten hatte, ihr über die damals aktuellen Voyager-Missionen zu berichten. Nun, was die Voyager-Missionen betrifft, habe ich von dem Vortrag nicht viel behalten. Beeindruckt haben mich aber seine einleitenden Worte, die ich hier, soweit ich sie erinnere, sinngemäß wiedergebe:
„Wenn wir gleich von kosmischen Dingen sprechen, dann werden wir auch mit astronomischen Zahlen konfrontiert. Wir sagen dann etwa: ‚Die Sonne ist von der Erde ca. 150 Millionen Kilometer entfernt, der nächste Fixstern 40 Billionen Kilometer, das sind ca. 4,26 Lichtjahre’, oder: ‚Unsere Galaxie hat einen Durchmesser von ca. 90.000 Lichtjahren’.
Wir nicken dann mit dem Kopf und glauben zu wissen, um was es sich handelt.
Zum Beispiel Tausend!“
Indem er „1000“ an die Tafel schrieb fuhr er fort:
„Das ist Tausend —” oder? —” Nein, das ist eine Eins mit drei Nullen! Das ist ein Sinnbild für Tausend! Zählen sie mal bis Tausend, jede Sekunde eine Zahl! Das braucht eine viertel Stunde, bis sie fertig sind. Das ist Tausend! – Oder eine Million:“
Er fügte noch drei Nullen an die „1000“ an.
„Das ist schnell hingeschrieben, nicht wahr? Aber zählen sie mal bis Eine-Million, acht Stunden pro Tag, also ein Arbeitstag, Samstag und Sonntag durchgezählt! Da brauchen sie über einen Monat. Das ist eine Million!
Weil wir etwas benennen können, glauben wir zu wissen, was dieses ist. Neulich fragte ich meine Studenten:
‚Was ist Kraft?’
Die haben mich erst einmal groß angeguckt, wie ich so eine dumme Fragen stellen könne. Schließlich stand einer auf, malte einen Pfeil an die Tafel, wie im Physikunterricht üblich, wenn eine Kraftwirkung dargestellt werden soll, und sagte:
‚Das ist eine Kraft!’
‚Das ist ein Pfeil’, erwiderte ich, ‚keine Kraft.’
Ein anderer drückte einen Schwamm zusammen und sagte:
‚Das ist eine Kraft!’
‚Nein, das ist ein zusammengedrückter Schwamm, keine Kraft.’
Schließlich warf einer sein Radiergummi in hohem Bogen durch den Hörsaal, meinend, das sei nun eine Kraft. Aber es war ein fliegender Radiergummi, keine Kraft.
Es zeigte sich also, dass wir wohl Wirkungen einer Kraft beschreiben können, die Kraft selbst sich aber unserem Verständnis entzieht. Und wenn wir lange genug über etwas reden, meinen wir schließlich zu wissen, was das Ding an sich sei.
So wie es dem Ingenieur mit der Kraft und der Energie geht, so geht es dem Biologen mit dem Leben, dem Psychologen mit der Seele und dem Theologen mit Gott.“
Damit zeigt Prof. Oschwitz: Was wir konkret beschreiben können, sind letztlich Phänomene, Wirksamkeiten von „Etwas“. Diesem „Etwas“ geben wir dann einen Namen wie Kraft, Energie, Leben, Seele, Gott oder Zufall und glauben, so die Welt verstanden zu haben.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, vor einem Mysterium zu stehen, und das trotz all unserer wissenschaftlichen Erfolge. Sobald wir von den Phänomenen an den Kern der Dinge stoßen, greifen wir ins Leere. Diese Leere ist jedoch kein „Nichts“. Eben weil wir es nicht als „Nichts“, sondern als ein „Etwas“ erfahren, benennen wir es ja. Was heißt in diesem Zusammenhang „erfahren“? Ist es nicht letzten Endes ein kindliches Staunen über einen wahrgenommenen Vorgang und ein wissendes Ahnen von etwas Verwandtem hinter dem Geschehen? Denn, wer erfährt das wirkende „Etwas“?
Der Körper? – Der Körper erleidet die Einwirkung oder nimmt äußere Reize als Einwirkungen wahr. Er bleibt damit auf der Ebene der Phänomene.
Die Psyche oder Seele? – Diese Begriffe sind, wie Prof. Oschwitz zeigt, Platzhalter für das „Etwas“ in uns. Dem inneren „Etwas“ steht folglich ein äußeres „Etwas“ gegenüber, getrennt durch eine Mauer der Erscheinungen.
Vor diesem Hintergrund ist jeder Widerstand nur allzu verständlich, der sich erhebt, wenn versucht wird, seelische Aspekte wissenschaftlich oder gar physikalisch zu erklären. Insbesondere die Physik beschreibt doch nur Phänomene, während die Seele dem unfassbaren „Etwas“ entspricht. Andererseits sind aber alle wahrnehmbaren Erscheinungen die Offenbarungen eines wirkenden „Etwas“. Sind wir im Alltagsleben gewohnt, den Ball als Ursache für das Zerbrechen der Fensterscheibe anzusehen, weist die Physik auf die im Ball konzentrierte Bewegungsenergie hin, die auf die Glasscheibe einen Kraftstoß ausübt, der die innere Struktur des Glases auseinanderreißt.
Namentlich die Physik sucht das allgemein Wirkende, das geistige Prinzip zu erfassen, das uns hinter der Vielzahl der Erscheinungen entgegentritt. Sie fand: Energien und Kräfte, und entdeckte, dass dieses „Etwas“ nicht willkürlich, sondern berechenbar, zuverlässig und unbestechlich ist.
Aber wer staunt heute noch über Naturgesetze? Schon als Kinder werden wir vollgestopft mit den Erkenntnissen der Menschheit; Zeitungen, Fernsehberichte und Wikipedia tun ein Übriges. Wir ertrinken in einer Flut von Informationen. Erfahrungen lassen sich nicht vermitteln, und so verbleibt alle Kenntnis auf der Ebene der Erscheinung. Oder ist es nicht so, dass wir letztlich an die Kräfte und Energien glauben, wie vorher an den fliegenden Ball und wie Naturvölker an Geister und Dämonen glauben mögen? Dem Materialisten mag es egal sein, schließlich ist die Glasscheibe sowieso kaputt.
Allein, wem es nicht genügt, nur für wahr zu halten, was andere behaupten, Skeptiker, wie Prof. Oschwitz, die selbst erfassen wollen, die ein Hunger nach Wahrheit treibt, diese vermögen sich dem Kern der Dinge zu nähern, die Begegnung mit dem „Etwas“ auszuhalten, denn diesem stehen wir allein, gleichsam nackt gegenüber. Um dieses zu vermeiden, unsere gänzliche Unwissenheit vor uns selbst zu verbergen, neigen wir nur allzu leicht dazu, Theorien, Autoritäten, Traditionen und Gewohnheiten zu huldigen und verbleiben so in der Welt der Erscheinungen, im tiefsten Grunde jedoch ahnend, dass dies keine Lösung ist.
Nun gibt es natürlich auch Himmelsstürmer, Idealisten und Romantiker, denen das sogenannte Geistige und Ideelle als Wesentliches gilt. Ihre Liebe gehört der eigentümlich, tief innerlich wahrgenommenen Verbindung zum geheimnisvollen Unnennbaren. Darum empfinden sie die ausschließlich objektbezogene, nur Messbares anerkennende Forschung als zu kurz greifend. Infolgedessen kleiden sie das unfassbare „Etwas“ als ein „Mysterium“ in die Form hehrer Ideale und erhabener Mythen. Wenn im Namen dieses „Mysteriums“ aber Andersdenkende als Ungläubige, Ketzer oder Heiden gebrandmarkt werden, als Untermenschen gar, wenn ihnen vielleicht mit Gewalt zum rechten Bekenntnis „verholfen“ wird, dann offenbart sich eine Denkart, welche über die Mystifikation das „Mysterium“ in seiner Reinheit offenkundig aus den Augen verloren hat.
Auf was zielen diese Enthusiasten hin? Suchen sie ihr „Mysterium“ zu schützen? Wenn dieses sich aber bereits jedem Versuch entzieht, es auch nur begrifflich zu fassen, und wir darum nur andeutungsweise darüber zu sprechen vermögen, wovon sollte es dann bedroht sein?
Sehen sie ihre Passion darin, eine innere Erfahrung weiterzugeben? Doch wie soll das geschehen? Wenn das „Mysterium“ sich der Begrifflichkeit entzieht, verschlägt es uns die Sprache. Wovon sich nichts sagen lässt, kann nicht gelehrt werden. Offensichtlich will dieses mysteriöse „Etwas“ von jedem selbst entdeckt werden.
Wozu also all diese Kämpfe um Glauben und Ideologie? Ist da eine tiefe Angst, das „Mysterium“ könnte entmystifiziert werden? Zweifellos empfinden nicht alle Menschen dieses „Etwas“ in gleicher Weise. Sie benennen es anders, und manch einem ist jedes Denkbild bereits Hirngespinst und Träumerei. Aber gerade deswegen, weil die Meinungsverschiedenheiten in der Domäne des Begrifflichen verbleiben, vermögen sie das „Mysterium“ nicht zu entmystifizieren. Es gehört einer völlig anderen Ebene an. Was entmystifiziert werden kann, sind Mystifikationen, Vorstellungen und Ideologien, Formen, in die wir das tief Empfundene gießen. Doch diese Formen gehören der Welt der Erscheinungen an, wie die Theorien und Kenntnisse der Pragmatiker. Außer darin, dass die einen primär die Empfindung, die anderen das Verständnis ansprechen, besteht zwischen beiden kein wesentlicher Unterschied.
Hat es dann überhaupt einen Sinn, zu versuchen, diesem mysteriösen „Etwas“ auf die Spur zu kommen? Sicher, eine eindeutige Begriffsbestimmung, die uns das Mysterium in seiner Nacktheit sehen ließe, wird sich nicht finden lassen. Wir können aber, wie Prof. Oschwitz, Phänomen und Form vom unnennbaren „Etwas“ unterscheiden. Zwar wissen wir dann immer noch nicht, was eine „Kraft“ ist, aber wir verwechseln sie nicht länger mit einem Pfeil, einem zusammengedrückten Schwamm oder einem fliegenden Radiergummi. Statt einer Vielzahl widersprüchlicher Definitionen erhalten wir eine Fülle einander ergänzender Bilder, durch die das „Etwas“ zu uns spricht. Indem wir den Knäuel unserer Begriffsverwirrung auflösen, schieben wir den Schleier der Mystifikation beiseite. So kann die hinter den Phänomenen wirkende Kraftlinienstruktur zum Vorschein kommen, mit deren Hilfe wir uns der Wirklichkeit zu nähern vermögen.
1 Name geändert.
Seelenvorstellungen
Körper und Seele
Wo wollen wir ansetzen, um uns dem mysteriösen „Etwas“ zu nähern? Was liegt näher, als den Menschen selbst zum Objekt der Betrachtung zu wählen? Nur hier haben wir, neben der äußeren Erscheinungsform, auch Zugang zur Innenwelt. Allerdings verbleibt auch hierbei eine Diskrepanz, denn während wir uns selbst aus der Innenperspektive heraus begreifen, vermögen wir vom anderen Menschen nur dessen äußere Erscheinung wahrzunehmen. So zeigt sich stets nur ein halber Mensch: Im eigenen Wesen das Innenleben, im Mitmenschen das äußere Wirken. Beide Teile lassen sich nicht ohne weiteres zusammenfügen, denn unser Gegenüber hat nur hypothetisch die gleichen Beweggründe wie wir selbst, was spätestens in Konfliktsituationen offen zu Tage tritt. Hier macht sich das mysteriöse „Etwas“ bemerkbar. „Etwas“ leidet daran, getrennt zu sein. Das „Etwas“, welches uns im Außen als „lederner Sack voller Kniffe und Pfiffe“ (Wilhelm Busch) entgegentritt, bringen wir mit dem „Etwas“ in uns nicht zusammen. Schon sind wir mitten drin im Knäuel der Begriffsverwirrung: Wer sind wir, denen sich das Leid mitteilt, was ist das leidende „Etwas“, und wo müssen wir die Seele ansiedeln, die ja auch in uns wohnen soll? Schauen wir uns darum zunächst einige Vorstellungen an, die über die Seele existieren, um diesen nebelhaften Begriff etwas zu umreißen.
Von dem, was die Seele sei, haben wir wohl alle unsere persönlichen Auffassungen. Die kindliche Vorstellung, uns gefühlsmäßig vielleicht am nähesten, sieht den Körper als Seelenhaus, in dem die Seele wohnt. Die Augen, als Fenster der Seele, gestatten ihr, einen Blick hinauszuwerfen. Sie ist im Körper eingeschlossen und vermag sich nur während des Schlafes zeitweilig von ihm zu lösen. Erst mit Eintritt des Todes verlässt sie den Körper, verliert damit aber auch ihr Werkzeug, um sich in der Welt ausdrücken zu können. Streng trennen wir Seele und Körper. Wir wollen die Seele nicht mit ihrem Haus identifizieren. Der Körper ist Werkzeug! Wäre er mehr, stände mit seinem Tod auch der Tod der Seele zur Diskussion.
Nach unserem Befinden befragt, unterscheiden wir dann auch gerne zwischen unseren körperlichen Gebrechen und unserer Seelenverfassung. Letztere meint dann zumeist unsere Gemütslage oder emotionale Stimmung. Wir übersehen dann gerne, dass Gemütsregungen nicht unabhängig von körperlichen Zuständen sind. Denken wir nur an Ärger und Wut, die auf den Magen schlagen, an Situationen, die uns Herzklopfen bereiten, Peinlichkeiten, die die Schamröte ins Gesicht treiben oder den kalten Schweiß auf die Stirn. Auch die körperlichen Bedürfnisse spiegeln sich im Seelenleben. Ein voller Bauch macht nicht nur den Körper träge und ein schmerzender Zahn lässt auch der Seele keine Ruhe. Langsam gewinnt die psychosomatische Bewertung von Krankheiten auch in der Medizin an Bedeutung. So ist beispielsweise der Einfluss psychischen Stresses auf die Körperfunktionen inzwischen unstrittig.
Wir verbinden die Seele mit etwas Unstofflichem, Ewigen, vielleicht gar Göttlichem. Sobald wir aber ihre Wirkungen betrachten, lässt sie sich vom Erscheinenden, den wahrnehmbaren Phänomenen, kaum mehr unterscheiden. Zwar können Gefühlen und Emotionen keine stofflich nachweisbaren Atome zugeordnet werden, als Zustände der Materie sind sie aber sehr wohl wahrnehmbar. Das führt dann zu dem erbitterten Dauerstreit darüber, ob der Körper den Zustand der Seele widerspiegelt oder die körperlichen Umstände die entsprechenden Seelenzustände hervorrufen. In Anbetracht der engen Wechselwirkung zwischen Körperzustand und psychischem Befinden, Gemütslage und körperlicher Verfassung, erscheint eine getrennte Sichtweise heutzutage sehr problematisch. Vorstellungen vom ewigen Seelenleben oder einem Leben nach dem Tod scheinen da nicht mehr recht hineinzupassen.
Dieses immer funktionalistischer werdende Bild des Menschen beginnt die Züge eines Golems anzunehmen. Nach der jüdischen Legende ist der Golem jener künstliche Mensch, den der kabbalistische Weise Rabbi Löw einst aus Lehm und Ton erschaffen haben soll. Zum Schutze der Gemeinde sollte dieser verschiedene Aufgaben verrichten. Zu diesem Zweck hauchte er ihm Leben ein. Nach vollbrachtem Werk entnahm der Rabbi seinem Geschöpf den ihm eingepflanzten Lebensfunken wieder und bettete ihn unter dem Dach der Altneusynagoge in Prag zur Ruhe.2
Mit dem Weisen kommt das Element des Geistes hinzu, der über seinen Hauch (die Seele) seinen Willen in der Körperform zum Ausdruck bringt. Was ist nun „Geist“? Handelt es sich hier um einen Kunstgriff, der das Weiterleben der Seele nach dem Tode sicherstellen soll, indem er sie zu sich emporhebt? Im Buch Genesis (1. Mose 2,7) formt Gott der Herr den Menschen aus einem Erdenkloß und bläst ihm den lebendigen Odem ein, wodurch der Mensch zu einer lebendigen Seele wird. Hier ist zweifellos der göttliche Geist tätig. Mit dem Begriff der „Einheit von Körper, Seele und Geist“ wird aber auch der Mensch mit dem „Geist“ in Verbindung gebracht. Im primitiven Ahnenkult werden die Verstorbenen zu Geistern, die aus dem Verborgenen heraus Einfluss nehmen und durch rituelle Opfer günstig gestimmt werden können. In der neuzeitlichen westlichen Welt wird „Geist“ dagegen oft im Sinne von Verstand gebraucht. „Streng mal deinen Geist an!“ ist dann auch die Aufforderung, einmal geordnet nachzudenken. In Unterscheidung zur „Knochenarbeit“ wird „geistige“ Tätigkeit denn auch als mentale Aktivität verstanden. Gegenüber der Gefühlszustände wahrnehmenden und erleidenden Seele wird Geist darum gerne als begriffliches Erkenntnis- und gestaltendes Willensvermögen gesehen.
Aber nur auf den ersten Blick scheint eine Zuordnung von Seele und Geist – entsprechend Fühlen und Denken – zweckmäßig. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Grenzziehung hier ebenso schwierig wie die zwischen Körper und Seele: Sind Gefühle denn frei von Denkbildern? Wenn wir enttäuscht, frustriert, vielleicht ärgerlich und wütend sind, haben wir dann nicht doch offensichtlich eine von der Wirklichkeit abweichende Vorstellung? Denkmuster bestimmen unsere Hoffnungen, Freuden und Ängste. Umgekehrt treiben Gefühlswallungen unseren Verstand an, nach Lösungen zu suchen. Wir machen uns Gedanken, entwickeln vielleicht abstrakte Ideen und verändern unseren Blickwinkel – aber im Hintergrund treibt das seelische Begehren. Die liebende Seele wie der philosophierende Geist: Beide werden durch eine Sehnsucht getrieben. Mit den gebräuchlichen Begriffspaaren Seele und Geist oder Fühlen und Denken wird praktisch ein psychisches Arbeitsfeld aufgespannt. Verstrickungen im Gefühl können vom Denken durchschaut, starre Denkstrukturen von der Gefühlsseite her aufgebrochen werden. Wahrnehmung und Bearbeitung sind somit wechselseitig.
Im westlichen Kulturkreis ist derzeit eine recht raumgreifende Verstandesorientierung zu beobachten. Die Seele scheint ihrer Gebundenheit an den Körper entfliehen zu wollen, indem sie ihren „Geist“ in immer abstraktere Höhen treibt. Dadurch entstehen seltsame Verknüpfungen materialistischer Weltanschauungen mit virtuellen Daseinssphären. Denken wir hierbei nicht nur an harmlose Computerspiele, sondern beispielsweise auch an volks- und betriebswirtschaftliche Abstraktionen, die, streckenweise computergesteuert, die weltweiten Finanzströme dirigieren. Das bleibt natürlich nicht ohne Einfluss auf die reale Welt, und es stellt sich die ernsthafte Frage, ob der Mensch noch die Entwicklung vorantreibt oder ob er nicht längst selbst zum Getriebenen geworden ist.
Wie die Neurobiologen zeigen, findet auch die „geistige“ Arbeit ihren Niederschlag in den neuronalen Verknüpfungen der Hirnareale. „Geistige“, seelische und körperliche Aktivitäten lassen sich darum nur äußerst schwer gegeneinander heraus differenzieren. Das mysteriöse „Etwas“ entzieht sich unserem Zugriff. Jeder Versuch, das Ewige und Unsterbliche für uns sicherzustellen, wird unweigerlich mit „Du bist Erde und sollst zu Erde werden“ (1. Mose 3,19) beantwortet.
Es gibt keinen Grund, irgendeine Körper-, Gefühls- oder Gedankenform auf ewig mit dem „Etwas“ zu verbinden. Es ist frei von aller Form. Aber ist nicht, was wir Seele nennen, im Wesen dieses unnennbare „Etwas“?
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.“3
So gibt Goethe in seinem Faust dem Seelenringen Ausdruck: hier die Welt mit sinnlichem Reiz und flüchtigem Schein, dort die ewige Harmonie, alles durchdringend und doch nicht zu fassen. Es sieht aus, als ständen wir in einem Kraftfeld einander widerstreitender, sich gegenseitig ausschließender Denkbilder, innerlich getrieben, einen Standpunkt zu beziehen.
Östliches Kollektiv
Liegt die Ursache unserer offenbar unzureichenden Erwägungen vielleicht in der abendländischen Denkweise, welche die Seele als Einzelwesen auffasst; schließlich sprechen wir doch von „meiner“ Seele und „deiner“ Seele? Ist die Seele überhaupt als Einzelding beschreibbar, oder ist ihr Wesen nicht gerade das Verbindende? Die Ostasiaten beispielsweise verstehen sich selbst primär als „in der Beziehung Seiendes“. Nicht dass sie keine Individualität kennten, aber Individualität macht ohne Beziehung zu anderen keinen Sinn. Darum ist ihnen das Zwischen-Menschliche wichtiger als das Individuelle und definieren sie sich aus der Gemeinschaft. Disziplin und Pflichterfüllung gegenüber Familie und Staat stehen im Vordergrund. Die persönliche Individualität tritt dahinter zurück, muss dahinter zurücktreten, um einen Gesichtsverlust gegenüber ihrem Umfeld zu vermeiden. Im Mittelpunkt steht die Einheit des Seienden. Ihr hat sowohl die menschliche Gemeinschaft als auch der Einzelne zu dienen.
Neben dieser konfuzianisch geprägten extrovertierten Ansicht steht im indischen Kulturraum die ergänzende introvertierte Perspektive. Hier ist die individuelle Seele ein abgeirrter Teil des Weltenschöpfers. Um sich wieder mit ihm zu vereinigen, muss sie sich über einen Kreislauf von Geburt und Tod in einer Welt der Täuschung von aller irdischen Befleckung reinigen. Hierzu gehört auch die Vorstellung einer von anderen getrennten Einzelexistenz.
Im Zusammenwirken mit dem Sinologen Richard Wilhelm erkannte C. G. Jung, dass die östliche Seelenlehre auf eine tiefere Seelenebene Bezug nimmt. Jung unterscheidet denn auch die der Individualität zugehörige Psyche von der wesentlich umfassenderen Seele, die auch kollektive Seeleninhalte und archetypische Urbilder in sich fasst, die allen Menschen gemein sind. Für diese Ebene existentiellen Eins-Seins hat C. G. Jung den Begriff des kollektiven Unbewussten in die Psychologie eingeführt. Es ist eine Art kollektive Atmosphäre, über die er 1935 in der Londoner Tavistock-Klinik sprach, als in Deutschland die Nationalsozialisten zwei Jahre an der Macht waren:
„Wenn man in Deutschland leben oder sich dort nur für eine gewisse Zeit aufhalten würde, so würde man sich wohl in den meisten Fällen vergeblich zu wehren versuchen. Es geht einem unter die Haut.“4
Wenn das Kollektiv sich durch mich ausdrückt, wenn ich durch das Kollektiv gelebt werde, wer bin dann ich?
Nehme ich das Kollektiv als Ausgangspunkt, dann ist sein Wohl wichtiger als das meine. Das Wohl des Kollektivs ist mein Wohl. Geht es meiner Familie und meiner Firma gut, dann geht es mir auch gut. Solange alle funktionieren ist die Welt in Ordnung und alles läuft – auf eingefahrenem Gleis. Treten interne Störungen auf, fällt jemand aus seiner Rolle, dann ruft das Kollektiv die Störenfriede zur Ordnung, zuerst durch psychische Spannung, reicht das nicht, durch persönliche Einflussnahme. Mit anderen Worten, die kollektive Seele wirkt, so sie den betreffenden Menschen nicht direkt zu erreichen vermag, nun von außen – durch Aktivierung ihrer Glieder – auf ihn ein. Es hat etwas Gespenstisches, nicht wahr? Das Individuum scheint in einer Art Spinnennetz gefangen. Kaum gelingt es ihm, einen Faden zu zerreißen, ist schon die Spinne des kollektiven Unbewussten auf dem Plan.
Westlicher Individualismus
Für das Selbstverständnis des westlichen Menschen ist das ein völlig unakzeptabler Zustand. Für ihn steht die Individualität im Mittelpunkt. Sie sucht er auszubilden und ist bereit, sie gegen alles und jeden zu verteidigen. Freiheit bedeutet ihm alles. Dabei geht er dann selbstverständlich von einer irgendwie homogenen Identität aus, die er „Ich“ nennt. Dieses „Ich“ kann als eine Ansammlung verschiedenster Gedankenverbindungen aufgefasst werden, die dann den Ich-Komplex bilden. Als Komplexe bezeichnet C. G. Jung Zusammenballungen von Assoziationen, deren entsprechendem Bild ein intensiver Gefühlswert zugeordnet wird (Beispiel: Geltungsdrang, Angst-Komplexe, persönliche Ansprüche u. ä.). Ihres emotionalen Charakters wegen wirken sie bis in die organischen Körperfunktionen hinein und lassen sich darum als unabhängige Teilpersönlichkeiten deuten.
„Wenn Sie zum Beispiel etwas sagen wollen und unglücklicherweise ein Komplex mit dieser Absicht zusammenstößt, dann sagen Sie etwas ganz anderes, als Sie im Sinn hatten. Man wird einfach unterbrochen, und die beste Absicht wird durch den Komplex zunichte gemacht, genauso wie wenn man durch ein menschliches Wesen oder äußere Umstände gestört worden wäre. Aus diesen Gründen können wir nicht anders, als von den Komplex-Tendenzen so zu sprechen, als seien sie mit einem gewissen eigenen Willen ausgestattet.“5
Dieser setzt sie in die Lage, sich in schizophrenen Zuständen der bewussten Kontrolle zu entziehen.6 Für Jung ist deshalb die sogenannte Einheit unseres Bewusstseins eine Illusion:
„Wir sind tatsächlich nicht Herrn im eigenen Haus. Es befriedigt uns, an unseren Willen, unsere Energie und an all das zu glauben, was wir vollbringen können; wenn es aber wirklich einmal darauf ankommt, stellen wir fest, daß uns das, was wir wollen, nur zu einem kleinen Teil gelingt, da wir durch jene kleinen Teufel, die Komplexe, daran gehindert werden. Komplexe sind autonome Assoziationsgruppen mit der Tendenz, sich selbständig zu bewegen, ihr eigenes Leben unabhängig von unseren Absichten zu leben. Nach meiner Auffassung besteht sowohl unser persönliches Unbewusstes wie auch das kollektive Unbewusste aus einer unbestimmten, da unbekannten Anzahl von Komplexen und Teilpersönlichkeiten.“7
Und so wie wir dem Zentrum des Ich-Komplexes selbstverständlich ein Bewusstsein zusprechen, so könnten wir, laut Jung, mit gleicher Berechtigung allen anderen Komplexzentren ebenfalls ein Bewusstsein zusprechen.
Selbsterkenntnis
In der westlichen Anschauung zerfließt die Individualität bei genauerem Hinsehen also ebenso, wie vom asiatischen Blickwinkel aus betrachtet. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass sich die Individualität des Asiaten gleichsam im Außen auflöst und der Abendländer sich durch die scheinbare Unauffindbarkeit der Seelenachse im Inneren verliert. Möglicherweise beschreiben beide Phänomene tatsächlich den gleichen Sachverhalt, der nur durch die jeweils gewählte Perspektive in einem anderen Licht erscheint.
Kennzeichnend ist in beiden Fällen das Entgleiten der Individualität, obwohl die Menschen beider Kulturen davon überzeugt sind, eine Individualität zu besitzen. Der östliche Typus benötigt im Grunde Selbsterkenntnis als Kenntnis seiner Andersartigkeit, um durch ein verantwortungsvolles, bewusstes Leben gestaltend in der Gemeinschaft mitwirken zu können und sie so vor Verknöcherung zu bewahren. Der Abendländer benötigt Selbsterkenntnis, um die Andersartigkeit seiner Seelenachse von seinen Komplexen zu unterscheiden.
Selbsterkenntnis im hier gemeinten Sinne geht nicht in Charakterkenntnis auf. Sie erschöpft sich nicht darin, einflussnehmende Komplexe aufzuspüren und ihr Zusammenwirken zu ergründen. Selbst eine „Entschlüsselung des Genoms des Ich-Komplexes“ ginge nicht tief genug und verbliebe bei den Phänomenen.
Nein, es geht um die Kenntnis der Seelenachse, den Wesenskern, das, was sich der Beschreibung im Grunde stets entzieht, um das „Etwas“ in uns. C. G. Jung nennt diesen zentralen Punkt der Psyche „Nicht-Ich-Zentrum“8 und bringt damit zum Ausdruck, dass es der Punkt der Psyche ist, der ihre Individualität begründet, aber nicht ihr Ich ist, denn dieses ist lediglich das Zentrum des Ich-Komplexes, der zwar groß und bestimmend ist, aber eben nicht alles.
Mit dem Spannungsfeld zwischen Ich und Nicht-Ich-Zentrum ist der faust’sche Konflikt, sind die zwei Seelen in der Brust benannt. Die Problematik dieses Konflikts ist darum so kompliziert, weil unser Bewusstsein naturgemäß schwerpunktmäßig ein Ich-Bewusstsein ist. Aus diesem heraus lässt sich ein Nicht-Ich-Zentrum natürlich bestenfalls nur ahnen. Die Situation ist vergleichbar mit der des Kopernikus, der aufgrund gewissenhafter Beobachtung der Sternenläufe zu dem Schluss kam, dass außer der Erde noch ein anderes Zentrum im Universum existieren könnte und dieses möglicherweise das wirkliche sei. Der Umstand, dass die sinnesorganische Wahrnehmung dem von ihm vertretenen heliozentrischen Weltsystem widerspricht, hat die Anerkennung seiner Lehre lange Zeit erschwert. Ein vergleichbarer Kraftakt ist es für das Ich-Bewusstsein, die Existenz eines anderen Zentrums in der Psyche zu erkennen. Dazu muss es eingestehen, nicht alles unter Kontrolle zu haben. Das aber macht Angst. Das Ich wäre nicht mehr unumstößlicher Herrscher im Hause. Es kann doch nicht zugelassen werden, dass irgendwelche Komplexe das Zepter übernehmen! Folglich wird jede aufkeimende zarte Regung in der Psyche dem Ich-Komplex unterstellt, indem sie den entsprechenden Denk- und Gefühlsmustern angegliedert wird. Wo dies nicht gelingt, da wird sie außer Landes verwiesen, also verdrängt und als ein anderes, äußeres Nicht-Ich gedeutet.
Kann das Bewusstsein der Existenz eines Nicht-Ich-Zentrums dennoch Fuß fassen, dann ist dieses für das Ich-Bewusstsein etwas Mysteriöses, das sich seiner Fassbarkeit entzieht. Eben weil das Ich den Anspruch erhebt, der Repräsentant der ganzen Psyche zu sein, kann es das Nicht-Ich-Zentrum nicht erkennen. Seine Selbstdefinition schließt die Möglichkeit zur Erkenntnis aus. „Es kann nicht sein, was nicht sein darf!“
Wie können wir trotzdem von der Existenz eines Nicht-Ich-Zentrums wissen? Nun, der Ich-Komplex ist eben nur ein Komplex, wenn auch ein sehr bestimmender. Das Bewusstsein kann ja auch Empfindungen, Gedanken und Triebe wahrnehmen, mit denen das Ich sich nicht identifizieren will. Verdrängte Seeleninhalte, oder abgelehnte Wirklichkeitsbereiche des Menschen, können ja auch wieder bewusst gemacht werden.
Wer oder was ist aber das, welches dieses wahrnimmt und die Arbeit ausführt?
Nun, – Sie!
Und wer oder was sind Sie?
Ja, das ist die Frage, nicht wahr?
2 Frank, Eduard: Nachwort zu: Gustav Meyrink: „Der Golem“.
3 Goethe: „Faust I“, Vor dem Tor, Zeile 1112 – 1117.
4 Jung, Carl Gustav: „Über Grundlagen der analytischen Psychologie – Die Tavistock Lectures 1935“, Abs. 93.
5 Ebd., Abs. 149.
6 Ebd., Abs. 150.
7 Ebd., Abs. 151.
8 Ebd., Abs. 379.