Weltfrau - Mareile Onodera - E-Book

Weltfrau E-Book

Mareile Onodera

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Beschreibung

"Sie ist eine Weltfrau" – ehrt der Wiener eine Frau mit diesem Kompliment, findet er definitiv alles an ihr gut: Charakter, Haltung, Ansichten, Lebenserfahrung, Umgangsformen und fast immer natürlich auch das Aussehen. Nie verknüpft der Wiener den Begriff "Weltfrau" aber nur mit der Schönheit einer Frau. Mareile Onodera kennt nicht nur Wien, sie ist auch eine "Weltfrau" im allerbesten Sinn. Die gebürtige Rheinländerin und studierte Bauingenieurin aus München lebt 28 Jahre in Japan – eingezwängt zwischen erzkonservativen Traditionen und ihrem unbändigen Drang nach Freiheit. Als Frau eines japanischen Diplomaten lernt sie die politische Welt von Syrien bis Bonn kennen. Als Schülerin des Phantastischen Realisten Ernst Fuchs spannt sie den künstlerischen Bogen von Wien nach Tokio und von Sibirien über Moskau bis in den Bayerischen Wald. Als Mutter erzieht sie zwei Kinder, lernt Schmerz und Verlust kennen und findet schließlich über die Auseinandersetzung mit buddhistischer Ästhetik zu ihrer ganz eigenen Ausdrucksform. Ihre Bilder haben längst einen Platz in internationalen Galerien. Die unverblümt offene Autobiografie von Mareile Onodera ist die Geschichte einer rastlos Suchenden. 2004 kommt sie nach Viechtach in den Bayerischen Wald. Sie restauriert, saniert und liebt das "Nebenhaus des Schulbäck-Anwesens". 2017 ist auch dieser Lebensabschnitt zu Ende. Neue Erfahrungen rufen.

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© edition Lichtland

edition Lichtland

Stadtplatz 4, 94078 Freyung

Deutschland

Bilder Umschlag: Mareile Onodera

Gestaltung: Edith Döringer

Satz: Heinz Lang

1. Auflage 2018

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags

zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

Übersetzungen und die Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronischen Systemen.

eISBN: 978-3-942509-84-8

ISBN der gebundenen Ausgabe: 978-3-942509-66-4

www.lichtland.eu

Mareile Onodera

Weltfrau

edition lichtland

Ich bin fehl am Platz in dieser Welt der feinen Leute.

Nach jedem Diplomatenempfang oder einer Feier wird mir übel.

Ich kann nicht mehr schlafen, denn die Gesichter der vielen neuen Menschen, die ich nun kennenlernen muss, geistern in meinem Kopf herum und umtanzen mich wie ein böser Wiener Walzer. Ich werde selbst zum Geist und wandere nachts in der nun stilgerecht dekorierten Villa herum. Joshi versteht mich nicht. Mir geht es doch so gut wie nie. Akikosan putzt, kocht und kümmert sich um Toru. Ich erlebe Kultur in höchster Form, Oper, Theater und speise im „Sacher“.

Was will ich denn noch?

Im Sommer fahren wir in die Dolomiten. Glücklich besteigt Joshi jeden Tag einen anderen Gipfel und ich sitze mit Toru auf einer Blumenwiese, schaue den ganzen Tag auf die drohenden Felsen und sorge mich, ob Joshi wieder heil herunterkommt. Mein „Diplomatendurchfall“ hört auch nach diesen erholsamen Ferientagen nicht auf und dazu kommen Schmerzen im Unterleib.

Ich gehe zum Frauenarzt. Einen Wiener Frauenarzt muss man beschreiben. Elegant in einem Biedermeiersalon sitzend, schaut er mich genüsslich von unten bis oben an. Sein Blick verharrt einige Minuten auf meinem Busen, er zieht die Luft durch die Nase wie ein brünstiger Bulle, dann ein Seufzer: „Wissen´s, meine Gnädigste, Sie sind frustriert.“

„Was bedeutet frustriert, Herr Doktor?“ Wahrhaftig, ich kenne das Wort nicht.

„Wie alt sind Sie?“

„Ich glaube, so um die 27 Jahre.“

„Haben Sie normalen oder abnormen Sex mit Ihrem Gatten?“

„Normalen, glaube ich.“

“Träumen Sie von Orgien oder streicheln Sie sich im Bett?“

„Wenn ich nicht schlafen kann, dann reise ich in unbekannte weite Welten, in denen ich herumfliege.“

„Kaufen Sie sich ein Auto oder ein Flugzeug.“

Sein Interesse an mir ist verflogen und er verschreibt mir Valium. Ich brauche es nicht, denn ich mache den Führerschein und kaufe mir einen alten Morris Cooper. Jeden Tag bin ich unterwegs. Zuerst durch den Wienerwald, dann durchs Burgenland, immer weitere Kreise ziehe ich durch das schöne Österreich mit meinem kleinen roten Auto. „Kummer“ heißt das Geschäft für Künstlerbedarf und dort kaufe ich mir einen Aquarellkasten, Pinsel und einen Malblock.

Ich schäme mich, verbeuge mich öfters, denn alle Kunden sehen wirklich wie echte Wiener Künstler aus.

Ich male Landschaften oder altes Gemäuer. Was ich da hinpinsele, ist so scheußlich, dass die meisten Aquarelle sogleich zerrissen werden und als kleine bunte Schnipsel von Bergkuppen flattern wie Blütenblätter. Wenn ich nicht in der Gegend herumfahre, übe ich beim Hetzendorfer Friedhof mit meinem Cooper.

In dieser Einöde von Gärtnereien und Grabsteinen steht eine Kirche. Das Altarbild zeigt eine Kreuzigung auf Ziegenleder, so ausdrucksstark und farbenvoll, wie ich es noch nie gesehen habe. Die Maltechnik ist mittelalterlich, aber das Bild neu. Wer ist der Künstler? Das Bild gibt mir Mut. Ich gehe in die Akademie für Bildende Künste.

„Kann ich hier Malerei studieren?“

„Was haben Sie denn vorher gemacht?“ Dem Professor ist die Sache sichtlich peinlich, vermutlich kommen jeden Tag frustrierte Diplomatenfrauen zu ihm. Nachdem er sich mit Grausen die detaillierte Beschreibung meiner künstlerischen Tätigkeit bei „Triumph krönt die Figur“ anhören musste, hat er eine rettende Idee.

„Für Sie, gnädige Frau, habe ich den Richtigen. Professor Willi Bahner von der Hochschule für Angewandte Kunst, Fakultät Schriftgraphik.“ Der gute alte Professor Bahner! Er ahnt nicht, was auf ihn zukommen sollte. Im Heiligenkreuzerhof in der ehemaligen Wohnung von Heinrich Johann Maria von Coudenhove-Kalergi sitzen einige wenige Studenten, die unter den süßen Blicken der Putten und Engel der Deckenmalerei feinste Buchstaben malen und Schriften gestalten.

Manchmal fällt ein Stückchen Stuck aufs Zeichenblatt, es stört niemanden. Meine Ankunft muss ein Schock für alle Beteiligten gewesen sein. Dem Professor verschlägt es die Sprache, als ich ihm meine letzten Burgenländer Aquarelle und Photos der besten Schaufensterdekorationen sowie meine Busenweiberzeichnungen vor die Nase halte. Ein Keuchen:

„Weg mit dem Kitsch!“ Dann studiert er meine Unterlagen:

„Japanerin oder Deitsche? Was sind Sie nun? Ich nehme Sie als Gasthörer für ein Semester, weil ich nicht möchte, dass wieder so ein Piefke, nur weil er von unserer Akademie gewiesen wird, den Hitler spielen will.“

(Hitler war durch die Aufnahmeprüfung der Wiener Kunstakademie gefallen und aus Wut hatte er seine künstlerische Laufbahn beendet, die andere ist bekannt.)

„Vielen Dank, Herr Professor Bahner, ich bringe Ihnen dafür auch japanische Schriftzeichen bei.“ Diesmal lächelt er schon etwas. „Ihr chinesischer Pinselkram interessiert mich nicht im Geringsten. Von jetzt ab, Gnädigste, sage ich nur: „Signet“ ist bei mir Devise.

„Signet“ ist die Abstraktion von allem. In der Zukunft werden sich die Analphabeten in der Welt so sehr vermehren, dass die Menschen keine Buchstaben mehr lesen können, sie werden nur noch Zeichen verstehen.“

Kindheit.

Ich wurde in den Krieg hineingeboren.

In Straßburg, im November 1943, als arisches Kind, gezeugt im Glauben an eine neue Herrenrasse. Jetzt war das nur noch Belastung, denn da Straßburg wieder französisch wurde, musste die Familie fliehen.

Es gibt die Geschichte, dass Hans Wilhelm Wagner nur zum Anlass meiner Geburt „Urlaub aus dem Krieg“ bekam. Als er als glücklicher Vater wieder an die Ostfront wollte, konnte man sein Kommando nicht mehr finden oder es hatte sich aufgelöst. Er war damals 21 Jahre alt und wollte unbedingt für sein Vaterland an der russischen Front weiterkämpfen, aber man wusste nicht, wohin mit ihm.

Er wurde nach Dänemark versetzt, geriet dort in Gefangenschaft und kam unbeschadet aus dem Krieg zurück. Also hatte ich, das kleine Mareile, schon etwas Gutes getan, obwohl diese Tatsache schnellstens vergessen wurde. Die nächsten drei Jahre verbrachte das unnütze Baby meistens auf Reisen.

Im Kinderwagen durch den Odenwald, auf Güterzügen den Rhein entlang, immer unterwegs. Es wurde meistens irgendwie herumgeschoben und herumtransportiert. Von der französischen Besatzungszone zur amerikanischen, hin und her. Eine Oma in Auerbach an der Bergstraße und ein Opa und eine Oma in Koblenz. Manchmal wohnten auch alle zusammen oder wanderten wieder woanders hin. Mir wurde später erzählt, dass aus wärmetechnischen Gründen Goethes „Faust“ oft als Unterlage im Kinderwagen lag.

Vielleicht prägten diese frühen Erfahrungen mein ganzes späteres Leben, denn ich bin immer noch unterwegs, kaum an einem Ort zu Hause und schon wieder weg.

Zu essen hatte die Kleine ja auch nicht genug und litt immerzu Hunger. Sie lutschte nicht wie normale Babys am Daumen, nein, sie nagte ihre ganze Faust systematisch ab. Irgendwann müssen die ewige Faustesserei oder Vitaminmangel sie so geschwächt haben, dass sie Mundfäule bekam und nun gar nichts mehr zu sich nehmen konnte. Medizin gab es nicht. Man gab diesem kleinen Leben noch einen Tag und niemand konnte etwas ändern. Zu dieser Zeit hatte aber die Patentante Anne Marie in Auerbach die Pflege übernommen. Sie hatte gerade ihr eigenes Kind verloren und so gab man ihr das Mareile als armseligen Trost. Tagsüber arbeitete sie bei den Amerikanern in einer Gärtnerei, denn sie sprach Englisch.

Obwohl Mareile sehr krank und pflegebedürftig war, musste die Tante arbeiten und weinte ständig vor sich hin. Ein schwarzer Offizier kam böse auf sie zu, aber Tante Anne konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Dieser schwarze „Feind“ aber hörte sich ihren Kummer an und gab ihr Medizin, Kekse, Trockenmilch und Geld, sodass sie für einige Zeit nicht mehr arbeiten musste und mich pflegen konnte. Das Wunder geschah und ich wurde gesund.

Mit einer geretteten Blumenvase aus Meißner Porzellan wollte sie sich bedanken, aber niemand wusste, wo der schwarze Offizier hingegangen war oder wie er hieß. Es war wohl ein Engel auf der Durchreise gewesen. Endlich hörte die Reiserei auf, ich kam nach Koblenz. Oberwerth, ja, da wohnt man.

Es ist nach Omas Meinung der feinste Stadtteil von Koblenz.

Eine Insel eigentlich, die mit einem toten Rheinarm, der Laache, mit Weiden und wuchtigen Platanen an den Promenaden die romantische Seite bildet. Auf der anderen Seite der Rhein mit seinen Lastkähnen und den Rheindampfern aus ganz Europa, der den Geruch der weiten Welt und Fernweh mitbringt. Oberwerth war immer die Residenz hochrangiger Militärs gewesen, sei es vor dem Ersten Weltkrieg, unter Hitler, bei den Besatzern oder heute bei der Bundeswehr. Koblenz war und ist eine Militärstadt. Oma Wagner hatte viele Jahre eisern gespart, um auf dieser Insel der feinen Leute das Haus ihrer Träume zu bauen. Gerade als es fertig geworden war, wurde es bombardiert und zerstört, aber die französischen Besatzer bauten es wieder auf. Und das Haus in der Uhlandstraße 3 gibt es heute noch.

Familiengeschichten und Prinzessinnen.

1948

Ich sehe mich im Spiegel. Ein blasses Gesicht, mit großen, graugrünen Augen, dünne blonde Zöpfe stehen borstenartig über den großen Ohren ab. Mami kommt ins Zimmer, eine wunderschöne Frau mit braunen Haaren und grünen Augen, aber diese funkeln wütend: „Ach, wie ich Weihnachten hasse! Diese Kocherei und Putzerei und die Frau, sie macht mich noch wahnsinnig mit ihrem Schulmeister-Gehabe!“

Mit der Frau ist die Oma Wagner gemeint. Sie hat die Heirat ihres einzigen Sohnes mit meiner Mutter nie richtig verwunden. Sie kann es nicht glauben, dass diese Schwiegertochter einfach keinen Spaß am Kochen, Putzen oder der Kindererziehung hat und es nie haben wird. Mami knipst das Licht aus und ich sitze im Dunkeln.

“Jetzt sei mal ganz still und warte auf das Christkind! Wenn du dich richtig konzentrierst, dann hörst du die Glöckchen klingeln.“

Sie sagt es und schließt die Tür zu. Keine Glöckchen sind zu hören, nur die wütende Stimme von Mami, die mal wieder alles satt hat. Papi versucht der Oma zu erklären, dass es nur die Nerven seien in ihrem Zustand. Dann knallt eine Tür. Nach einer Weile höre ich den Opa: „Kinder! Es ist doch Weihnachten und die Kleine sitzt doch schon so lange in dem dunklen Zimmer.“

Dann klingelt es endlich. Papi spielt „Oh du Fröhliche“ auf dem Klavier und alle singen mit. Die Tür geht auf und Kerzen brennen hell am Weihnachtsbaum. Alle sind versammelt. Opa ist groß und stattlich, hat eine schimmernde Glatze und riecht nach Seife. Oma ist zierlich und hellblond, sie trägt ein blaues Kleid mit einem weißen Spitzenkragen, rennt aber alle fünf Minuten an den Ofen, um die Gans zu wenden.

Papi sitzt am Klavier und hat einen voll gefüllten Aschenbecher mit einer rauchenden Zigarette auf den Tasten stehen. Mami lehnt am Klavier und ist wunderschön. Geschenke gibt es nicht viele, nur Nützliches. Opa singt noch sein Lieblingsweihnachtslied. Darin werden alle möglichen Weihnachtsgeschenke besungen: eine Tröte, eine Schingderassassa, Hoppepferd, Pauken und Soldaten. Dann gibt es die Gans zu essen und sie schmeckt köstlich. „Ich habe doch gewusst, ich hätte die Gans nicht essen sollen.

Oh, mir geht es schlecht, ich habe solche Blähungen. Wie kann denn diese Frau in solchen Zeiten so einen Luxus von einer Gans auf den Weihnachtstisch bringen und für uns hat sie nie Geld übrig.“

Mami schimpft mal wieder. In der Nacht ein Stöhnen und die Matratzen der Ehebetten von Oma und Opa knarren und quietschen erschreckend, wenn sich Mami schwerfällig von einer Seite zur anderen dreht. Ich versuche auf der „Ritze“ der Betten einzuschlafen und wundere mich. Warum schlafen wir in den Ehebetten von Oma und Opa? Wir haben doch in der Nähe ein neues Zuhause, eine Mansarde, und ich habe dort ein schön bemaltes Bauernbett. Warum stöhnt die Mami und jammert so furchtbar und stößt eigenartige Schreie aus? Ich denke mich weg, an den Rhein mit den Lastkähnen, die mich in die weite Welt mitnehmen.

Es ist Morgen und Papi steht am Bett, mit der Zigarette in der Hand: „Mareile, du hast noch ein Geschenk vom Christkind bekommen, rate mal!“

„Einen Roller? Einen Kaufladen? Eine Puppenstube?“

„Das Christkind hat dir ein Schwesterchen gebracht und du bist jetzt ein großes Mädchen.“

Papi erklärt das so ernst, dass ich mich ehrfürchtig für das Geschenk bedanke. Am Nachmittag geht das große Mädchen mit Oma und Opa ins Krankenhaus, um das Schwesterchen zu sehen. Oma murmelt die ganze Zeit etwas von: „Noch nicht einmal einen Sohn kann sie auf die Welt bringen.“

Im Krankenhaus singt ein Kinderchor „Stille Nacht“ und ich gehe respektvoll über die glänzend gebohnerten Korridore, in Erwartung eines kleinen Weihnachtsengels als Schwesterlein. Es sieht aber gar nicht wie ein Engel aus, eher wie Opa mit seiner Glatze, nur viel kleiner. Oma hat mittlerweile ganz vergessen, über die Mami zu schimpfen, dass es kein Junge geworden ist, denn sie ist mit Nachdenken darüber beschäftigt, wen sie von der Verwandtschaft zur Taufe einladen solle und was sie kochen würde. Verwandtschaft: Damit meint die Oma Wagner zuerst einmal ihre eigene, die Lennepers, den Onkel Albert und Tante Lieschen und noch eine Tante Lieschen und einen Onkel August, alles dicke, gemütliche Metzgersleute mit dem schönen Namen Wüstenhagen, die einen großen Mercedes fahren und reich sind.

Die andere Verwandtschaft ist die von Opa: Viele Onkel und Tanten gibt es da, sie sind Winzer aus Enkirch an der Mosel, sie arbeiten außerdem noch bei der Post oder sonst wo und sind einfache Leute. Die Tanten ähneln mit ihren dicken schwarzen Haarknoten und steifen Gewändern italienischen Matronen und sie können die ganze Wohnung mit ihrem Gelächter füllen. Als ich das erste Mal als junge Braut nach Enkirch kam, fühlte ich mich wie eine Orchidee unter Feldblumen. Oma erwähnt das immer wieder.

Diese Feldblumen sind die Verwandtschaft zweiter Klasse. Aber es gibt noch eine Verwandtschaft dritter Klasse. Und das ist die von Mami. Die Schneiders! Früher, als Oma Hitler noch inbrünstig verehrte, war der Obersturmbannführer Wilhelm Schneider von der Gestapo in Straßburg mit seiner Tochter Margret gerade der Richtige für ihren Sohn.

Bessere Leute sozusagen.

Jetzt lag Wilhelm Schneider in einem Massengrab, denn man hatte ihn zum Tode verurteilt. Oma Wagner geht noch einmal im Geiste die Gästeliste durch und dann entscheidet sie sich doch, Anne Marie, die älteste Schwester von Mami, einzuladen. Die war noch am normalsten, war Kriegerwitwe und eine anständige Lehrerin. Das Weihnachtsengelschwesterlein wird am Dreikönigstag in der evangelischen Kapelle des Krankenhauses auf den Namen Eveline getauft. Mit der Zeit bekommt sie die schönsten goldigen Locken und wird das süßeste Baby in der Nachbarschaft.

Da Mami kein sonderliches Interesse an Windelwaschen und Hausputz hat, sind immer irgendwelche Putzfrauen oder Freundinnen in der Mansarde, reden viel und putzen wenig. Die Mansarde ist eine winkelige Drei- oder Zwei-Zimmerwohnung, die Papi selbst in einem zerbombten Dachstuhl ausgebaut hat. Es ist nicht so weit weg von Omas Haus, das wieder aufgebaut wurde und von den französischen Besatzern bewohnt ist.

Oma und Opa können im Obergeschoss weiterhin wohnen bleiben und sich um das Haus kümmern. Ich verbringe die letzten herrlichen Jahre bis zum Schulbeginn mit meinen Lieblingsbeschäftigungen: Trümmer durchsuchen, den Franzosen Blumenstauden aus den Gärten stehlen oder in den unverschlossenen Kellern der Besatzer zu stöbern.

Dann kommen Pakete aus Amerika, von Mamis Schwester Lies und anderen Verwandten. Zigaretten liegen darin und andere wichtige Sachen. Die erste Dose Ananas kann ich nicht essen, es schmeckt so ungewohnt scheußlich, aber Schokolade und Kaugummi gibt es und ein Buch von „Cinderella“ und „Rapunzel“ auf Englisch. In den Makkaronis stecken fein gerollte Dollars. „Ich habe die Zigaretten gut auf dem schwarzen Markt verkauft.

Jetzt habe ich genug Geld zusammen, um in Mainz das Studium abzuschließen“, erklärt Papi eines Tages, ungeachtet der Windeln, die in der Küche zum Trocknen hängen, und des Geschreis seiner zwei Töchter und der Mami, die mit dem Abwasch kämpft.

„Ich werde es schaffen und Tiefbauingenieur werden. In den Semesterferien kann ich an der Moselstaustufe arbeiten und etwas Geld verdienen. Der Gürtel muss halt noch enger geschnallt werden.“

Ich habe das mit dem Gürtel schon so oft gehört, dass es mir eigentlich nichts mehr bedeutet. Essen gibt es in der Mansarde sowieso fast nie. Mami hat eine seltene Gabe, Geld, was man in ihre Finger legt, schon am ersten Tag verschwinden zu lassen.

Es verflüchtigt sich in Form von Kleidern, Lippenstiften, Kinokarten oder Putzfrauen. „Mareile, du bist doch so ein vernünftiges Mädchen, nimm Eveline auf den Arm und gehe zum „Runte“ anschreiben!“

Der Lebensmittelhändler Runte weiß immer, was auf ihn zukommt, wenn er die beiden Kinder kommen sieht, und von dem Gewünschten, was das Mareile da auf ihrem Zettel geschrieben stehen hat, sind aus unerfindlichen Gründen immer nur noch Milch und Brot da. Aber es gibt ja die Oma Wagner, die hat immer etwas zu essen, vor allem Marmeladenbrote oder Zwieback aus Lennep.

Im September geht der Papi auf die Ingenieurschule nach Mainz zum Studieren und es liegen auf dem Küchentisch Papiere und Bleistifte, Lineal und Radiergummi. Papi hat ein kopiertes Statikbuch, Lichtpausen nennt er das, die Blätter sind zusammengeheftet und er lernt daraus. Da denke ich: “Er liest ja nur von der beschriebenen Seite, aber die Rückseite, die braucht er bestimmt nicht.“

Endlich will ich alles, was ich mir ausdenke, meine Phantasiewesen, immer bei mir haben und sie betrachten können, denn ich hatte schon die ganze Uhland-Straße, wo die Oma wohnt, mit einem Schiefer vollgemalt und noch dazu die Bürgersteige, aber dann regnete es und all die Prinzessinnen, Burgen, Traumvögel und Blüten waren weggewaschen worden. Sonntags liegen Papi und Mami immer lange im Bett und haben die Tür abgeschlossen. Eveline spielt in ihrem Bettchen mit einer Rassel. Papi hatte die ganze Nacht gelernt und daher liegt das Buch offen auf dem Tisch. Ich nehme seinen Bleistift und schon geht es los: Prinzessinnen, viele, viele Prinzessinnen, jede mit einer anderen Krone und dann die Prinzen und ein Schloss und ein Berg. Das erste Rückseitenblatt ist voll gekritzelt, aber das macht ja nichts, es gibt genug davon. Weiter, schneller, weiter! Es müssen noch Ritter und Pferde gezeichnet werden. Dann gehen alle auf Abenteuerfahrt in ferne fremde Länder mit bizarren Landschaften und unbekannten Vögeln und Drachen. Die Prinzessinnen werden von Riesen und Dämonen gefangen und wieder gerettet. Dann die Heimreise auf dem Meer mit Ungeheuern und in der Ferne leuchtet das Schloss…

„Ich drehe dir den Hals um, du fürchterlicher Wicht! Wie soll ich all das wieder wegradieren, es ist doch nur geliehen, das Statikbuch, und wie werden mich meine Mitstudenten auslachen, ich halte es nicht mehr aus in diesem Haus. Ich will Ingenieur werden, hast du verstanden, du kleines Aas?“

Die erste Ohrfeige ist noch erträglich, aber dann kommen Schläge, die überallhin treffen. Die ganze Frustration eines Mannes, der so jung schon so viel Leid gesehen hat und so viel Verantwortung tragen muss und doch noch seine Träume verwirklichen will. Ich versuche, es heute zu verstehen. Er schlägt mich, und das immer wieder. Meine leicht gekrümmte Nase wird übersehen und einmal schlägt er mit meinem liebsten Stofftierkamel so lange auf mich ein, bis das arme Tier alle Beine verloren hat. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wurden die Zeichnungen nie wegradiert und wie es der Zufall will, lernte ich viele Jahre später, als ich selbst Bauwesen studierte, auch aus diesen Blättern mit den Prinzessinnengeschichten auf der Rückseite meine Statikaufgaben. So schlimm, wie ich bin, bekomme ich oft drei Wochen Hausarrest bei Oma. In der kleinen Mansarde hatte ich alle Anwesenden aber wohl so sehr genervt, dass ich schon einen Tag später wieder in Freiheit war. Mit Hausarrest, ja, da kann man mich wirklich quälen, denn nicht in der Gegend herumstöbern zu können, im nahen Wäldchen herumzulaufen oder am Rhein zu sitzen, das ist eine echte Strafe. Bei Oma drei Wochen Hausarrest bedeutet arbeiten, Unkraut jäten, das Parkett mit Stahlwolle abschmirgeln, die Treppe wachsen und bohnern oder Marmelade einkochen helfen.

Oma ist was Besseres, sie war in einem feinen Mädchenpensionat erzogen worden und lebt auch so. Der Tisch wird immer fein gedeckt und ich muss lernen, die Teller genau einen Zentimeter von der Tischkante entfernt hinzustellen und exakt die Reihenfolge der Löffel, Gabeln, Messer und Gläser aus Kristall auswendig zu lernen. Bei Oma gibt es immer Wein zum Essen.

Jede neue Flasche wird vom Opa feierlich geöffnet und vorgekostet und dann lobt oder tadelt er den jeweiligen Erzeuger, einen Bruder oder einen Cousin aus Enkirch. Die Wohnung ist fein eingerichtet, und da das Haus auch neu aufgebaut ist, kann man dort vergessen, dass es jemals Krieg gab. Oma hatte alle ihre guten Sachen in einen Keller einer Villa ausgelagert und daher überstanden das feine Porzellan, die Kristallgläser und ein Tisch mit Löwenfüßen und ebensolche Sessel den Krieg, auch das Nussbaumschlafzimmer. Die Bettwäsche und die Nachthemden sind weiße und rosa Spitzenträume. Das hat einen besonderen Grund, denn Oma und Opa lieben sich.

Sie küssen sich beim Erwachen, beim Frühstück, beim Mittagessen, wenn einer das Haus verlässt oder zurückkommt, aber vor allem liebkosen sie sich in ihren Daunenbetten. Die Geschichte der Romanze ihres ersten Treffens ist außergewöhnlich und muss erzählt werden. Wilhelm Wagner war ein schmucker Offizier gewesen, so einen Meter neunzig und mit untadeliger, strammer Haltung. Er war als armes Winzerkind aufgewachsen, aber schon in der Schule fiel den Lehrern auf, dass er eine wunderschöne Handschrift hatte. Er liebte es, Buchstaben zu schreiben, und wurde ein echter Künstler darin.

Also holte der Bürgermeister von Enkirch ihn in sein Amt, wo er allerlei Dokumente fein säuberlich in deutscher Schrift erstellte. Er nahm die Chance wahr, verpflichtete sich zum Militär für zehn Jahre und wurde Offizier. Den Ersten Weltkrieg hatte er auch nicht sehr gefährlich verbracht, da er in den Ämtern wegen seiner begnadeten Handschrift gebraucht wurde.

Oma Hedwig hatte ihre Verfeinerung im Mädchenpensionat zu Ende gebracht und lebte unglücklich mit ihren Metzgerseltern und Brüdern, die von feiner Lebensweise nicht so viel hielten. In dieses trostlose Leben kam ein kleiner Lichtblick, als eine Freundin aus dem Mädchenpensionat sich verlobte und Hedwig zur Feier einlud. Als sie dann glücklich an der schön geschmückten Verlobungstafel saß und elegant mit Gabel und Messer speiste und geziert mit gespreiztem kleinen Finger das Weinglas an die Lippen hob, bemerkte sie den Blick des Verlobten, der sie schmachtend voller Liebe ansah. „Das darf nicht sein! Nein, nur das nicht“, dachte sie noch, aber es war schon zu spät. Beim Dessert verkündete Wilhelm Wagner, indem er sich von seinem Stuhl erhob, in voller Länge stramm da stand und sich förmlich in Richtung seiner Braut verbeugte: „Ich erkläre diese Verlobung hiermit für gelöst und halte um die Hand von Fräulein Hedwig Wüstenhagen an.“

In der peinlichen Stille muss Hedwig auch aufgestanden sein. Vielleicht hatte Wilhelm sich in die sitzende Hedwig verliebt. Oder hatte er es schon vorher gewusst? Sie war 1 Meter 58 klein. Wenn sie nebeneinander gingen, kitzelten ihn nur die Federn ihres Hutes. Ihr Gesicht bekam er meistens nicht zu sehen.

Er fand eine Lösung: In Zukunft ging er nur im Rinnstein und Hedwig schwebte auf der Bürgersteigkante neben ihm her.

Opa ist Beamter in irgendeiner Regierungsbehörde der Stadt. Er steht früh morgens auf, badet lange, massiert das Gesicht mit Mousson-Mandelcreme und rasiert sich die Glatze mit wohlriechender Lavendelseife. Dann zieht er die gestärkten und tadellos gebügelten Hemden an und bindet sich umständlich die Krawatte. Auch wenn sein Anzug um ihn herumschlottert und zu kurz scheint, weil er von einem der Metzgerverwandten stammt, so ist er doch ein schöner Mann und passt genau zu Oma, die alles Pingelige und Saubere verehrt. Die beiden lieben es auch sehr, jeden Samstagnachmittag über das Haushaltsgeld Buch zu führen. Opa schreibt dann unter den entzückten Ausrufen von Oma wie „Wilhelm, wie schön du nur schreiben kannst!“

Jede kleinste Ausgabe fein säuberlich in ein Vokabelheftchen.

Ach, was für eine große Liebe! In meiner Hausarrestzeit denke ich mir in dieser Atmosphäre des Glücks die romantischsten Liebesgeschichten aus. Oma und Opa wohnen im dritten Stock, daher habe ich einen weiten Blick auf die Nachbarhäuser und auf die Uhlandstraße. In jeden französischen Offizier, der vorbeigeht, verliebe ich mich und in den nächsten Stunden erlebe ich mit ihm in meiner Phantasie ein ganzes Leben voller Harmonie, bis der Nächste gesichtet wird. Gegenüber, in einer imposanten Villa, wohnt ein älterer französischer General mit einer wunderschönen, zierlichen Frau. Sie hat langes, pechschwarzes, glänzendes Haar und schräge, dunkle Augen. Diese beiden küssen sich in der Dämmerung auf dem Balkon, bei fremdländischer Musik wiegen sie sich dabei hin und her.

„Dass in unserer Straße und auf dem Oberwerth schon die Asiaten wohnen, ist schlimm genug, aber dass die beiden gar nicht verheiratet sind, ist wirklich abstoßend!“

Oma zieht mich vom Fenster weg und schließt die Vorhänge. In meiner Vorstellung aber ist dieser alte General ein Dämon, der sich dieses zarte Wesen aus dem Fernen Osten geraubt hat. Tagsüber schmachtet sie in Ketten und abends muss sie mit ihm tanzen und sich küssen lassen und kein Retter in Sicht.

Der General ist zuständig für die marokkanische Garnison. Abenteuerliche Gestalten mit grünen Turbanen, roten Pluderhosen und krummen Säbeln am Gürtel bewachen sein Haus und bedienen, wenn er Gäste hat, oder sie kommen mit Trommeln und Schellenbäumen und bringen ihm ein Ständchen. In Omas Haus wohnen auch Franzosen. Im ersten Stock sogar ein jüdischer Major mit einer weißen Angorakatze.

„Die Franzosen werden auch wieder nach Hause gehen“, tröstet sich die Oma. Dann sind wieder drei Wochen vergangen. Papi kommt mit einigen Freunden, holt mich ab und auch das Klavier.

„Hans Wilhelm, du hast auch mit fünf Jahren angefangen Klavier zu lernen, und du warst so gut, dass ich dachte, du würdest ein großer Pianist werden. Der dumme Krieg, er hat alle meine Träume zunichte gemacht und aus dir wird nur ein einfacher Ingenieur. Aber es gibt ja die Mareile. Bringe ihr alles bei, was du kannst, ich weiß, sie hat dein Talent.“

Oma ruft dies dem Papi noch hinterdrein, als er mit den Männern das Klavier die Treppen hinunter wuchtet. Papis Klavierunterricht am Sonntagnachmittag läuft so ab: Zuerst wird eine Zigarette gedreht und der Rauch zieht über die Tasten. Nach 10 Minuten oder noch früher kommen die ersten bösen Worte und dann die Ohrfeigen. Kaum habe ich meine kleinen Finger auf die Tasten gelegt, werde ich angebrüllt und mache alles falsch. Üben kann ich auch nicht, weil dann Eveline schreit oder die Mami in ihrem Migräneschlaf gestört wird. Meistens endet der Unterricht damit, dass ich als unfähig erklärt und vom Klavier vertrieben werde, Papi seinen Aschenbecher auf die Tasten stellt und die „Ungarische Rhapsodie“ hämmert. Mami kommt am Abend, lehnt sich an ihn und singt: „Wenn in Capri die rote Sonne im Meer versinkt.“

Klavier spielen habe ich nie gelernt. Meine Zöpfe werden abgeschnitten und die “Schnittlauchlocken“, wie Mami den neuen Pagenhaarschnitt nennt, bringen mich dazu, überhaupt nie wieder in den Spiegel zu schauen. Denn was ist da zu sehen? Ein runder Wasserkopf mit hervorquellenden Augen, eine große, leicht schiefe Nase und dünne, aschfarbene, kurze Haare, die nicht einmal die abstehenden Ohren verdecken. Das macht Angst vor der Schule.

Karneval in Koblenz.

Ein wichtiges und ernstes Ereignis, das man nur verstehen kann, wenn man dort gelebt hat. Kostüme müssen genäht und Kräppele gebacken werden. Getanzt wird auch, in allen möglichen Wohnungen und auf der Straße.

Mami hat sich für dieses Jahr ein Flamenco Kostüm ausgedacht, mit unzähligen Rüschchen. Bei dieser wichtigen Arbeit stört sie alles und jedes und sie ist ein Nervenbündel. Da klingelt es, und ein Polizist mit einer Fürsorgerin steht im Zimmer. „Sie haben Ihre Töchter Eveline und Mareile nicht gegen Pocken impfen lassen. Wir haben Ihnen schon drei Verwarnungen geschickt. Das ist strafbar und Sie müssen für einige Tage ins Gefängnis, die Kinder nehmen wir derweil in Verwahrung.“ „Gut“, denkt sich Mami. „Dort habe ich endlich Ruhe, mein Kostüm fertig zu nähen.“ Sie packt ihre Sachen, aber als die Fürsorgerin ihr das Nähzeug entwendet und meint, es sei verboten, im Gefängnis ein Karnevalskostüm zu nähen, ja, da kann Mami schreien. Ihre Kinder nähme man ihr weg und überhaupt wären diese Impfungen zu gefährlich und würden die Oberarme verunstalten.

„Meine Töchter werden einmal berühmte Nackttänzerinnen und mit solchen Narben auf den Armen geht das nicht, nein, das lasse ich nicht zu!“ Sie schreit so lange, bis Oma geholt wird und erst einmal die Strafe bezahlt. Mami aber weigert sich immer heftiger.

Da erscheint ein Doktor aus der Nachbarschaft. „Man kann die Pockenimpfung auch unterhalb der Brust machen. Wenn die kleinen Damen dann einen großen Busen haben, was ich bestimmt annehme“, er schaut wohlgefällig auf Mamis Prachtstücke, „dann sieht man die Narben niemals.“ Ich wurde zwar nie eine Nackttänzerin, aber unter meinen Prachtstücken muss man lange suchen, bis man die Pockennarben findet.

Das Frühlingshochwasser ist am Abklingen, überall liegt Schlamm auf der Straße und es riecht faulig. Die Schule beginnt, unabänderlich. Mir wird zum ersten Mal bewusst gemacht, dass es evangelische und katholische Menschen auf der Welt gibt. So werde ich zum Außenseiter, zu einer Ketzerin, denn ich bin evangelisch. Die katholischen Kinder der Nachbarschaft lieben es, mir von nun an dieses böse Wort zuzurufen. Die wenigen Erstklässler evangelischen Glaubens werden am Nachmittag in der katholischen Schule unterrichtet. Wer den Geruch kennt, den viele kleine Kinder in muffigen Schulräumen verströmen, kann sich vorstellen, wie stark der Mief ist, der mich jedes Mal mit aller Wucht trifft, wenn mein Unterricht um 13 Uhr beginnt.

Noch viele Jahre verband ich das Wort katholisch automatisch mit diesem Geruch. Die Situation wird noch schlimmer, als viele evangelische Ostaussiedler nach Koblenz kommen. Damit ist die Schulklasse so überfüllt, dass ich mich eigentlich nicht mehr sonderlich um den Unterricht kümmere, denn bei dem Lärm hätte ich sowieso nichts verstanden. In der Pause gibt es Schulspeisung von der Caritas.

Da ich noch eine kleine Schwester habe, bekomme ich eine extra Ration Kakao, Gulasch, Suppe oder Ähnliches mit nach Hause. Mit einer scheppernden Milchkanne und einem zerbeulten Essenskanister aus dem Krieg muss ich dann zwei Kilometer sehr vorsichtig gehen, damit ich ja nichts verschütte. So kann ich nicht mit den anderen Kindern raufen oder spielen. Außerdem haben die katholischen Kinder längst ihre Hausaufgaben gemacht und sind schon lang genug herumgetobt. Sie langweilen sich und ich bin daher eine beliebte Zielscheibe für Fußballerjungens, die meine Milchkanne treffen wollen. Jeden Sonntagmorgen gehen alle katholischen Kinder in die Kirche, denn sonst kommen sie in die Hölle. „Vielleicht ist da etwas Wahres dran“, denke ich und gehe auch jeden Sonntag in die Kirche. Der Weg in die evangelische Kirche ist weit, am Rhein entlang, und im Winter friere ich in der ungeheizten Kirche entsetzlich. Ich gehe immer alleine, denn keiner in der Familie, weder Opa noch Oma oder Mami und Papi, haben Lust, aus ihren warmen Betten zu steigen.

Der Pfarrer hat viele Kinder und immer sind Neffen und Nichten zu Besuch. Sie haben die Aufgabe, sich während des langweiligen Gottesdienstes um die quengelnden Babys und Kleinkinder zu kümmern und ihnen im Gemeindesaal Geschichten von Jesus, aus dem Alten Testament oder aus Bilderbüchern vorzulesen. Da ich oft da bin, werde ich in den Kreis aufgenommen und lerne viele Geschichten auswendig. Ich kann sie dann so herzzerreißend oder so lustig vortragen, dass das Gelächter der Kinder aus dem Gemeindesaal die Gläubigen in der Kirche stört.

„Die Kinder haben viel zu wenig zu lachen in dieser schlimmen Zeit! Sollen sie es doch in der Kirche tun“, spricht der Pfarrer von der Kanzel. So vergehen die nächsten zwei Jahre. Das Oberwerth wird wieder aufgebaut, überall liegen Ziegelsteine herum, die man stehlen kann, um damit Häuschen zu bauen. Neue Menschen ziehen ein oder alte Nachbarn kommen zurück. Eine Straßenbahn gibt es auch wieder und sie fährt direkt am Haus vorbei.

Sie klingelt ununterbrochen oder es kreischen die Bremsen, denn die Menschen, Kinder und Hunde haben ja längst vergessen, dass so ein Ungetüm einstmals dort gefahren ist, und beachten es nicht sonderlich. Auch die Eisenbahn fährt wieder über die Rheinbrücke und donnert mit Getöse hinter unserem Haus vorbei. Der reparierte Bahndamm ist für uns zum Spielplatz geworden.

Ich bin in dieser Zeit öfter im Bett gewesen als in der Schule. Keine Grippe, keine Epidemie, keine Kinderkrankheit blieb mir erspart. Bin ich gesund, dann nerve ich. Vor allem habe ich mir angewöhnt, mich dank der guten evangelischen Erziehung in die Streitereien von Mami und Papi mit moralischen Ratschlägen einzumischen, was dazu führt, dass beide gemeinsam auf mich einschreien, sich dann zusammen in ihr Zimmer einschließen und für einige Stunden nicht zu stören sind. Papi macht sein Diplom und sofort arbeitet er an der ersten Moselstaustufe und erfindet auf dem Küchentisch Fischtreppen oder zeichnet Pläne. Ja, die Nerven aller Mansardenbewohner sind zum Zerreißen gespannt. Häufig knallen Türen und es wird viel herumgeschrien.

Die Witwe des Konditors.

Sommerferien!

Wir Kinder vergessen sofort, dass es zwei Religionen gibt, und sind wieder die guten Freunde wie früher. Ich will endlich mein eigenes Haus am Bahndamm bauen. Genug Ziegelsteine habe ich ja schon beiseite geschafft und Zement auch. Die Jungen sind mittlerweile anderweitig beschäftigt. Sie haben Fußbälle oder üben, über die Bahngleise zu springen, und zwar im letzten Moment, bevor ein Zug kommt, oder sie klettern die Baukräne hoch, die überall herumstehen. Mareile hat zwei Freundinnen, Mariechen und Gigi.

Mariechen ist groß, hat rosige Wangen und einen dicken Zopf um den Kopf geflochten. Sie hat keinen Funken Phantasie, aber ist gut im Organisieren von Kuchen und anderem Essbaren aus der Nachbarschaft. Gigi ist auch blond und „so zart wie ein Rosenblatt“, wie sie selbst von sich sagt. Gigi war als Baby in den Trümmern einige Tage verschüttet gewesen und diese Geschichte wurde ihr so oft erzählt, dass sie immer noch die Schwache und zu Beschützende spielt und sie dieses Trauma ihr ganzes Leben nicht überwinden wird. Wir bauen ein Haus mit zwei Zimmern und einem Blechdach. Endlich können wir in Ruhe Puppenmutter spielen. Nur Eveline stört. Sie wird oft, wenn es niemand beobachtet, an einen Baum gebunden und ein bisschen gemartert. Ein Junge mit einem Hund, einem Irischen Setter, kommt ans Haus.

“Darf ich mit euch spielen?“, fragt er. „Die anderen Jungs mögen mich nicht, denn ich höre schlecht“.

Er zeigt auf ein unförmiges Hörgerät an beiden Ohren.

„Wenn du mit uns spielen willst, musst du eine von uns heiraten, dann kannst du der Vater sein“, entscheidet Mariechen, praktisch wie sie ist. „Welche von uns willst du denn?“ Schüchtern deutet er auf mich, denn ich sehe mit den kurzen Haaren, den Jeans und dem karierten Flanellhemd aus amerikanischen Geschenkpaketen vermutlich noch am ehesten wie ein Junge aus.

Die „Hochzeitsfeier“ wird geplant. Das Essen muss vorbereitet werden, aus Sand, bunten Steinen und Blumen. Die Gäste sind Puppen und Stofftiere. Endlich ist es so weit. Mariechen hat eine Brokatdecke mit langen Fransen von zu Hause mitgehen lassen – und die Bibel. Sie ist der Bischof. Gigi schmückt sich mit Rosen und ist die Brautjungfer. Mareile hat ein Nachthemd von der Oma entwendet und Tomas, der Bräutigam, eine Jacke vom Vater an.

Die Trauung findet ohne große Zwischenfälle statt, nur muss jetzt auch noch der Hund zusammen mit der Eveline an den Baum gebunden werden. Sie stören mit Gebell und Geschrei die feierliche katholische Zeremonie. Tomas liebt seine Frau, er zaubert die schönsten Torten aus Sand und Blumen, putzt das Haus und hält immer verliebt ihre Hand.

Wenn seine Mareile krank ist, und das ist sie ja öfters, sitzt er an ihrem Bett, knetet ihr Torten aus Plastilin und erzählt ihr, wie der gemeinsame Konditorladen in Zukunft aussehen wird. Da sein Vater der Direktor der städtischen Bibliothek ist, bringt er ihr Bücher und wieder Bücher. Zusammen sitzen sie im Bett und lesen die spannendsten Abenteuergeschichten aus aller Welt.

An einem nebeligen Herbstabend spielen wir alle zusammen Nachlaufen vor dem Haus, die Fußballer, die Mädchen, egal ob katholisch oder nicht, und auch die großen Jungen. Einer hat ein Stöckchen, das man ihm abjagen muss, und dann dem, der das Stöckchen hat, auch und so weiter. Es wird immer dunkler und das Spiel immer wilder.

Plötzlich ein Kreischen von Bremsen und ein Schrei.

Die Straßenbahn!

Tomas hat sie nicht hören können und sie zieht ihn knirschend unter die Räder. Wir Kinder stehen da und begreifen nicht, was geschehen ist. Mami zerrt Eveline und mich weg von der Straßenbahn, bringt uns hoch ins Bett und hält uns die Ohren zu, damit wir nicht hören können, wie die Straßenbahn mit einem Kran hochgehoben wird. Aber ich mache mich von ihr los, renne ans Fenster und sehe alles. Wie erstarrt stehe ich da, viele Stunden.

„Die Mareile isst überhaupt nichts mehr, sie sitzt nur da und sagt nichts, sie ist krank oder verrückt. Ich weiß wirklich nicht mehr weiter.“ Mami jammert den Doktor an. „Das ist Vitaminmangel, geben sie ihr jeden Tag einen Bund Petersilie, dann ist sie gleich wieder munter.“

Oma aber hat eine bessere Idee: „Wir schicken sie nach Lennep.“

„Ich kann sie nicht dorthin bringen, wegen der Eveline, und der Hans Wilhelm hat ja auch keine Zeit“, widerspricht Mami.

„Kein Problem. Es gibt eine neue Art von Bahnreisen für Kinder. Man hängt ihnen einen Zettel um, mit genauer Anschrift der Eltern und der Adresse, wo sie hin sollen, und die Bahnbeamten kümmern sich auch noch beim Umsteigen um sie.“ Oma ist nicht von ihrer Idee abzubringen. „Die Gigi soll auch aufs Land zu einer Tante, denn die ist ja auch so blass, da können die beiden gleich zusammen reisen.“

Da sitzen wir nun, mit einem Zettel an einer Schnur um den Hals, im Zug und sind schrecklich aufgeregt. Wenn der Zug an einem Bahnhof anhält, schnappt uns gleich der Schaffner und sperrt uns in sein Dienstabteil, damit wir nicht abhauen können.

In Wuppertal steht Tante Lieschen, die Schwester von Oma, in einem schicken Kostüm mit Hut am Bahnsteig und nimmt mich in Empfang. Gigi fährt weiter. Im Mercedes sitzt Onkel August, ein mächtiger Mann mit Zigarre, und klopft mir bewundernd auf den Rücken. „Na, Reisedame, jetzt fahren wir nach Hause und es gibt Panasch, den habe ich extra für dich gemacht.“ Die Metzgerei von Onkel August befindet sich im Kellergeschoss. Alles blau-weiß gekachelt. Die Wohnung im ersten Stock ist vollgestopft mit Möbeln und Kristall. Der Panasch ist eine rote Masse, die ekelig aussieht, aber irgendwie gut riecht. Ich will nichts essen, aber Onkel August nimmt einen großen Schöpflöffel und häuft den Brei auf meinen Teller. Ich will nicht unhöflich sein und koste ein bisschen von diesem roten Zeug.

Es schmeckt wunderbar! So unbeschreiblich gut! Nie gefühlter Genuss auf der Zunge. Ich esse und esse, nie wieder will ich aufhören.

Es ist Blutwurst mit Hafergrütze, in der Pfanne gebraten. Lieschen und August schauen sich triumphierend in die Augen. Sie haben es ja gewusst: „Gute Hausmannskost tröstet jeden Kummer.“

Ich darf mit der Schwebebahn fahren und sie kaufen mir einen Lodenmantel mit Kapuze und Schuhe. Aber es soll ja weitergehen nach Lennep, dort sei die Luft besser. Das Wüstenhagener Haus ist ganz mit Schiefer bedeckt, groß und schwarz steht es an der Straße. „Metzgerei Wüstenhagen“ prangt auf dem Schild über der Tür und es ist verziert mit einem weißen Rinderkopf aus Porzellan. Blau-weiß ist alles gekachelt und Onkel Albert, Omas Bruder, mit seiner riesigen Frau, wieder eine Tante Lieschen, stehen an der Theke in gestärkten weißen Schürzen. Ich bekomme ein eigenes Zimmer mit wuchtigen Möbeln, einem riesigen Bett, über dem ein Bild hängt: Jesus geht mit seinen Jüngern über ein blühendes Lilienfeld, darunter steht: „Sehet die Vögel auf dem Feld, sie säen nicht, sie ernten nicht, aber der himmlische Vater ernährt sie doch.“

Ja, ernährt wurde ich. Wie viel ich in mich hineinstopfen kann, das hatte ich nicht geahnt. Die Wüstenhagens haben nicht nur eine Metzgerei, hinter dem Haus gibt es noch eine kleine Wurstfabrik, in der die Gesellen und der Sohn Hans unter lustigen, ordinären Späßen Därme abfüllen und sie sich vor den Hosenschlitz halten, wenn ich vorbeikomme. Onkel Albert hat auch einen Mercedes mit Anhänger. Er hält eigene Kühe und Schweine auf den Wiesen der Umgebung und wenn sie geschlachtet werden sollen, fährt er aufs Land, kneift ihnen prüfend in die Flanke, treibt sie auf den Anhänger und ich darf mitfahren. Auf der Hinfahrt beliefert er die Landgasthöfe mit seiner Wurst, Panasch und Schinken. Wenn er sein Bier trinkt, darf ich die Spielautomaten ausprobieren und es gibt eine Fanta.

Mittlerweile bin ich so pummelig und munter geworden, dass auch kein noch so freundlicher Hausarzt irgendeinen Vitaminmangel feststellen könnte. Und der traurige Moment ist nun gekommen: Ich muss wieder nach Hause und in die Schule.

„Wir fahren dich am Sonntag nach Köln und setzen dich dort in den Zug. Wir wollen auch mal wieder den Dom besuchen“, spricht Onkel Albert und packt noch einige Würste und Schinken in meinen Koffer. In Köln angekommen, geht es aber nicht in den Dom, sondern in das Restaurant am Dom. Feine Kellner fahren die Speisen auf Wägelchen an den Tisch und stellen sie dann in glänzenden, silbernen Schüsseln auf Wärmeöfchen.

Tante Lieschen trägt eine dicke Perlenkette auf ihrem mächtigen Busen und Onkel Albert eine seidene Krawatte mit einer Krawattennadel und einem leuchtend roten Stein. Ich schäme mich schrecklich, denn mein einziges feines Kleid ist zu klein geworden. An der Seite fängt die Naht an zu platzen, und schon bei der Suppe bildet sich ein Riss und wandert weiter und weiter. Verzweifelt versuche ich den Arm darüber zu halten, damit es niemand bemerkt, als wir zum Bahnhof gehen. Ein Mann steht auf dem Bahnsteig und macht ein Photo von uns. Es ist Papi. Bei der stürmischen Umarmung geht das Kleid endgültig kaputt. „Wir haben sie wieder zum Leben erweckt, deine Tochter, hier siehst du das Resultat“, lachen Onkel Albert und Tante Lieschen. Sie winken fröhlich zum Abschied. Papi war in Köln gewesen, um bei einer großen Baufirma vorzusprechen. „Hochtief. Ist das nicht ein passender Name? Dort wird dein Vater in Zukunft arbeiten und er wird die Wiedbachtal -Autobahnbrücke bauen.“

Die Baustelle und die Zucht von Tauben.

Papis Fahrrad steht am Bahnhof in Koblenz und er fährt, mit mir auf der Stange, aufs Oberwerth. Er hält aber nicht vor unserem Haus, sondern biegt in die Uhlandstraße ein. „Warum fahren wir nicht nach Hause? Muss ich denn bei der Oma wohnen?“ Da öffnet sich die Eingangstür und aus der Parterrewohnung kommen Mami, Eveline und ein gestreifter Kater namens Peter. „Wir wohnen jetzt hier. Die Franzosen sind weg und zwar für immer.“

Diese Überraschung ist gelungen. Es ist nicht zu glauben!

Eine richtige Wohnung mit Bad und einem Garten. Die Zimmer sind neu tapeziert, es gibt helle Möbel und luftige Vorhänge. So ein Luxusleben könnte so schön sein, wenn nicht…? Ja wenn… Es leben nun die Oma und Mami unter einem Dach zusammen.

Oma plant gemeinsame Waschtage in der Waschküche und gemeinsames Unkrautjäten und Marmeladeeinkochen. Die beiden starten sofort einen Nervenkrieg, der niemals endet. Manchmal gibt es Waffenstillstand, zu Weihnachten oder wenn jemand krank ist oder wenn andere Familienmitglieder zu Besuch kommen. Papi hat mit diesem Krieg nicht mehr so viel zu tun, denn er ist die Woche über im Westerwald und auch an den Wochenenden kommt er selten. „Eine Brücke ist wie eine komplizierte Frau. Sie braucht Aufmerksamkeit Tag und Nacht“, sagt er und Mami schlägt die Tür zu, geht ins Kino oder liegt mit Migräne im Bett. Ich versuche mich wieder in Tagträume zu flüchten, aber es geht irgendwie nicht mehr. Nachts aber werde ich wach und bin nicht im Bett.

Ich finde mich im Garten wieder oder an einer Wand in der Küche stehend. Jedes Mal erwache ich mit unbegreiflicher Angst. Niemand scheint es zu bemerken. Nur manchmal schimpft die Mami, wer denn schon wieder vergessen habe, die Küchentüre zum Garten zuzumachen. „Das Kind ist mondsüchtig, ich habe es genau gesehen. Sie macht die Rollläden auf, öffnet die Tür und geht kerzengerade durch den Garten bis an den hinteren Zaun. Da bleibt sie stehen und rührt sich nicht.“

Mami ist zu Oma und Opa nach oben gerannt und sitzt heulend auf ihrem Ehebett, denn es ist mitten in der Nacht. „Ich gehe ihr nach und will sie schimpfen, aber sie schläft. Steht da, die Augen halb geschlossen wie ein Huhn.“

„Was weiter?“ Oma und Opa sitzen nun hellwach da in ihrem Spitzenbettzeug.

„Ich rüttele sie wach, und sie schreit, sie schlägt um sich und zittert.“

„Mondsüchtige darf man niemals wecken“, sagt Opa. „Wo ist sie denn jetzt?“

„Ich habe ihr einen Kamillentee gemacht und sie schläft ganz ruhig. Ich weiß nicht weiter mit dem Kind. In der Schule lernt sie nicht, sie macht den Klassenclown und stört den Unterricht und nach der Schule treibt sie sich am Rhein herum.“

„Schicken wir sie doch zurück nach Lennep.“ Oma will hilfreich sein. „Geh mir weg mit deinen doofen Lennepern, sie mästen mir das Kind doch nur wie ein Schwein!“

Und schon fangen sie wieder an zu streiten. Vom Hundertsten bis zum Tausendsten werfen sie sich ihre Probleme an den Kopf.

Die Mondsüchtige aber schämt sich. Es ist wahr. Es treibt mich um. Der Rhein übt einen immer stärker werdenden Zauber auf mich aus. Ich stehe stundenlang auf der Brücke und die Spiralen der Wasserstrudel ziehen mich wie böse Saugnäpfe immer näher und näher heran. Dann kommt ein Lastkahn durch die Brücke unter mir vorbei und der muss an gespuckt werden. Die Spucke soll genau treffen. Da hat man die Windrichtung zu berechnen und die Geschwindigkeit des Kahns. Treffe ich dann noch dazu einen Matrosen aus Belgien, sind sie bösen Wasserstrudel vergessen.

Papi hat nun ein Motorrad, eine BMW, vielleicht sogar mehrere. Denn einmal kommt er total verletzt nach Hause und hat nur noch den Lenker in der Hand. Ein anderes Mal hat er nicht einmal mehr den Lenker dabei. Papi ist farbenblind, er sieht rot als grün oder als irgendeine andere Farbe. Er kann es schwer erklären. Was das aber bedeutet, erfahre ich in den nächsten Sommerferien, als er beschließt, mich auf seine Baustelle mitzunehmen.

Ich sitze hinten und das Motorrad rast los. Meine Magenwände ziehen sich zusammen und im Rücken rieselt es kalt. Ich halte mich mit aller Kraft an Papi fest, aber seine Lederjacke ist hart und glatt, sie gibt keinen Halt. Da hilft es nur, die Augen fest zuzumachen. An jeder Ampel oder an Bahnübergängen dreht sich der Papi zu mir um und schreit: „Ist grün oder rot?“

Wie soll ich das denn wissen, wenn ich mit geschlossenen Augen doch nichts sehen kann! Als Papi gerade noch eine Katastrophe vermeidet, indem er die Maschine zur Seite schleudert und wir beide neben dem vorbeifahrenden Güterzug auf dem Schotter liegen, da weiß ich, dass es besser ist, mit offenen Augen auf seinem Motorrad zu sitzen. Die Wiedbachtal-Brücke fängt gerade an, sich in elegantem Bogen über das tiefe Tal zu spannen. Streben, Gerüste und Betonpfeiler, alles ein chaotisches Gewirr für mich. Papi, der sich in diesem Labyrinth auszukennen scheint, ist der Bauleiter und wenn irgendein Arbeiter fragend vorbeikommt, weiß er ganz genau, was zu tun ist.

Ich sehe zum ersten Mal, wie er wirklich ist.

Nicht der Verlierer in der Schlacht mit Mami oder Oma, oder der wütende Vater, der hart zuschlagen kann, sondern ein Mann, der endlich eine wichtige Aufgabe gefunden hat. Die Baustelle ist so groß und unübersichtlich, dass man Papi geschickt aus dem Weg gehen kann, um die Eisenbieger bei ihren Flechtarbeiten zu stören oder ein Blatt Papier und einen Bleistift aus dem Polierbüro zu stehlen, um Prinzessinnen zu malen, die ihren Rittern zuschauen, wie sie eine Brücke bauen. Ein Zimmerer gibt mir einen Hammer, Nägel und Holzreste. Tagelang nagle ich alles Mögliche zusammen, es entstehen Kästen oder hockerartige Gebilde. Er bringt mir auch bei, wie man mit einer Säge umgeht, und das Sägen macht Spaß. Mittlerweile säge ich schon sehr gut.

Da entdeckt mich Papi hinter einem Stapel Bauholz. „Du willst wohl hier den Meister spielen, was? Meine Arbeiter reden nur noch von dir, wie du überall fachmännische Ratschläge gibst und ihnen mit Bibelsprüchen verbietest, Bier zu trinken oder unanständige Witze zu machen. Ich schicke dich gleich morgen zu der Schwester deines geliebten Pfarrers. Die wohnt in Hamm an der Sieg, und es geht ein Autobus dorthin.“ Es ist ein altes Fachwerkhaus, in dem der Raiffeisen geboren wurde, eine schöne Plakette ist neben der Tür angebracht und dort wohnen die drei Kinder der Schwester des geliebten Pfarrers. Ich freue mich, sie wieder zu sehen, denn wir kennen uns ja schon vom Kindergottesdienst. „Komm, wir gehen in den Taubenschlag“, sagt Ekkehard. Er ist einige Jahre älter als ich. Wir sitzen zwischen diesen schönen Tieren der verschiedensten Gattungen und es gurrt und flattert um uns herum.

Es sind keine normalen Tauben, sondern Brieftauben, die er immer mit seinem Fahrrad irgendwohin bringt und dann die Zeit aufschreibt, wann sie wieder zurückkommen. Auch züchtet er und kreuzt sie miteinander. Endlos kann er mir erklären, wie sie sich paaren und was ein Täuberich in seiner Brunft tut. Ich verstehe überhaupt nichts. „Kein Problem“, denkt sich Ekkehard, „es gibt ja noch den Karnickelstall.“ Er ist ein echter Wissenschaftler und ich bekomme den ausführlichsten Sexualunterricht. Manchmal fragt er mich wie ein Lehrmeister ab, ob ich auch alles kapiert habe.

Dann zeichnet er noch eine Tabelle mit den Mendelschen Gesetzen, die ich lernen muss, aber da sind die Ferien leider zu Ende. Mit dem Autobus, einem Zettel um den Hals und einer großen Kiste voll gurrender Brieftauben fahre ich nach Neustadt an der Wied. Ich sitze neben dem Fahrer und während der Bus über den Westerwald schleicht, erkläre ich den Fahrgästen peinlichst genau, was ich von Ekkehard gelernt habe. Die Fahrgäste krümmen sich vor Lachen, ich verstehe nicht, was an so einer wichtigen Angelegenheit wie Paaren und Züchten so lächerlich sein soll. „Herr Wagner, ihre Tochter ist ne Nummer!“ Der Busfahrer wischt sich noch eine Lachträne aus den Augen und händigt mich meinem Vater aus. „Papi, wir müssen die Tauben genau um 7 Uhr abends von einem hohen Punkt in der Landschaft losfliegen lassen, das habe ich dem Ekkehard versprochen. Es sind nur noch einige Minuten.“

Da stehen wir zusammen auf der unfertigen Brücke und lassen die Tauben frei. Wie ein Schwarm Engel fliegen sie in Kreisen und drehen dann nach Norden ab in den Abendhimmel. Hand in Hand stehen wir noch lange da. Beide fühlen wir, wie es ganz tief im Inneren warm wird. Vielleicht das erste Mal spüren wir, dass wir zusammengehören. Lachend schlägt mir Papi auf die Schulter: „Komm Kumpel, jetzt fahren wir mit der BMW nach Hause. Und ich verspreche dir, diesmal nicht zu rasen.“ „Und ich verspreche dir, auf die Bahnübergänge aufzupassen.“

Die Eiserne Hand und der Schinderhannes.

Zuhause ist der Familienkrieg immer noch mit großer Heftigkeit im Gange, aber es gibt eine glückliche Wendung in der Person von Anna Bohr. Anna war als junges Mädchen im Hause Schneider Dienstmädchen gewesen. Sie hatte geheiratet und zwei Kinder, die aber schon groß genug waren, sodass Anna wie ein guter Geist dreimal in der Woche die Wohnung putzt, Essen kocht, mit der Oma Waschtag hält und Unkraut jätet ohne Murren. Tante Anna hat Humor und wie ein kleiner, geduldiger Hamster hört sie sich alle unsere Nöte an und weiß immer Rat. Tante Anna hat auch einen Mann, der schaufelt irgendwo Kohlen, vermutlich auf der Eisenbahn.

„Ich habe den Krieg am Nordpol verbracht“, sagt er, aber in Wirklichkeit hatte er die ganze Zeit in der nördlichen Tundra von Norwegen gesessen, um seinen Lieblingsbeschäftigungen zu frönen: Pilze sammeln und Beeren pflücken.

Er sieht aus wie ein kleiner, dunkler Troll. Am Samstagnachmittag, wenn Anna mit dem Putzen fertig ist, warte ich sehnsüchtig auf den einen Satz: „Frau Wagner, ich erlöse Sie für das Wochenende von dieser Gewitterhexe, dann haben Sie Ruhe.“ Die Bohrs wohnen in einer ganz kleinen Wohnung in einem Vorort von Koblenz, aber es ist der gemütlichste Ort auf der Welt. Es gibt immer Hasenbraten zu essen. Zwei Varianten: echten oder falschen Hasen. Der falsche ist Hackfleisch mit Semmelbrösel und der echte ein Karnickel aus Onkel Bohrs Zucht, in einer phantastischen dunklen Soße.

In der Küche schlafe ich dann auf dem alten Sofa ein. Die vielen Geschichten vom Nordkap, den Lappen und den Rentieren wiegen mich in den Schlaf. Der ist aber meistens kurz, denn schon um 6 Uhr weckt mich Onkel Bohr. Ich murmle schlaftrunken: „Ich muss doch in die Kirche.“

„Der Wald, das ist die richtige Kirche! Alles, was die Pfaffen dir erzählen, ist gelogen. Im Wald, ja da spürst du Gott und wenn du dich nicht mit dem Aufstehen beeilst, haben schon andere die Pilze und Brombeeren geholt!“

Der Onkel besitzt einen undefinierbaren Promenadenmischlingshund und wir drei wandern sonntags bei jedem Wind und Wetter in den Hunsrück. „Sie ist nicht mehr mondsüchtig, aber dafür malt sie dauernd so scheußliche Dinge: kahle Berge mit Geiern und zerstückelte Menschen im Schnee an einem Stacheldrahtzaun oder dürre Monster mit riesigen Augen, ich habe richtig Angst davor.“

Mami hat mal wieder Waffenstillstand und weint an Omas Schulter.

„Der Mann meiner Freundin ist Kunstmaler, er malt so schöne Bilder, sie kann ihn ab und zu besuchen und ihm zuschauen.“

Oma hat wie immer eine gute Idee. Der Kunstmaler ist ein alter Herr.

Er sitzt mit seinem Samtjackett und Barett vor einer kunstvoll geschnitzten Staffelei und malt Grazien in italienischer Landschaft oder Weintraubenranken oder Rosen in antiken Vasen. Die Leinwände stehen, obwohl die Bilder noch nicht fertig sind, in goldenen Barockrahmen überall herum. Ich kann mir das Lachen kaum verbeißen über die in künstlichen Posen schamhaft mit Blätterwerk verdeckten Schönheiten, aber ich versuche, so gut es geht, ein ernsthaftes Gesicht zu machen. Toll ist der Geruch von Terpentin und dann noch die vielen bunten Ölfarben auf einer riesigen Palette.

Eines Tages stirbt der Künstler. Seine Frau schenkt mir eine große Leinwand, ohne Goldrahmen, und den Malkasten mit den vielen Tuben, Terpentin und noch Pinsel dazu. Es ist Allerheiligen oder Heldengedenktag oder sonst so ein typisch trüber Tag im November. Die Leinwand steht da und das Radio spielt ein Konzert mit trauriger Musik. Das ist der richtige Moment, mein Bild zu malen. Ein Garten im Mondlicht entsteht, mit einem finsteren Wald und einem See im Hintergrund. In einem moorigen Teich spiegeln sich phantastische Gewächse. Immer mehr Blumen und Schlingpflanzen scheinen im Garten wachsen zu wollen, und immer neue Farbtuben müssen auf der Leinwand ausgedrückt werden und der Himmel ändert die Farbe von blau in leuchtendes Violett. Ein kleines verwunschenes Häuschen steht da, dunkel und nur zu erahnen, aber die Fenster sind hell erleuchtet. Als alle Farbentuben leer sind, stehe ich weinend vor dem fertigen Bild. Ein Rausch ist zu Ende.

„Heul du nur, das geschieht dir recht! Jetzt hast du die schönen Farben dieses großen Künstlers verschmiert und dein Kleid noch dazu!“

„Was soll aus dem Kind noch werden?“

Eine interessante Frage. „Konzertpianistin wird sie nicht!“ Das weiß der Papi ganz bestimmt. „Tänzerin“, meint Mami. „Aber ich kann doch gar nicht tanzen, weil ich keine Ballettschuhe habe und auch niemand auf die Idee kommt, mir Unterricht zu geben.“

„Schauspielerin!“ Ja, das würde ich gerne werden, aber in all den Theateraufführungen, die meine Mami in der letzten Zeit auf einem Dachboden in der Nachbarschaft organisiert hat, werde ich immer als Rumpelstilzchen, Hexe oder Knecht Rupprecht eingeteilt. Das kann ich zwar sehr überzeugend spielen, aber es macht überhaupt keinen Spaß, immer die Böse zu sein, während die Eveline ein Engelchen ist oder ein kleiner Prinz. „Das Mareile wird bestimmt einmal Theologie studieren wollen, sie kennt ja jetzt schon die ganzen Psalmen und Propheten auswendig, es ist nicht auszudenken. Ein Glück, dass wir evangelisch sind und sie keine Nonne werden kann“, sagt die Oma zum Opa bei einem trauten Zusammensein. Aber der meint, praktisch wie er ist:

„Die Mareile wird Gärtnerin. Sie kann schon die Spalierobstbäume richtig schneiden, Rosen aufpfropfen und ist eine Meisterin im Unkrautjäten. Sieh doch, wie sie wieder unsere Hecke an der Straße so akkurat geschnitten hat, und die vom Nachbarn auch noch. Ich habe ihr fünfzig Pfennige dafür gegeben. Denk daran, dass wir den Betrag ins Haushaltsbuch einschreiben.“

Opa beendet damit die ewige Fragerei ein für allemal. „Ihre Tochter stört den Unterricht, sie redet ununterbrochen, macht dumme Witze und kritzelt ungehörige Monster auf die Bank. Sie kann keinen deutschen Satz fehlerlos schreiben, aber sie weiß immer alles besser.“ Das ewige Gejammer des gequälten Lehrkörpers, wenn wieder mal ein blauer Brief ankommt und jemand von der Familie zum Lehrer gehen muss. Mami und Papi teilen sich diese lästige Aufgabe, denn dieser Zustand änderte sich in meiner ganzen Schulzeit nie.

Mami geht zu den Lehrern und flirtet mit ihnen und Papi geht, so schön männlich wie er ist, zu den Lehrerinnen. Da eine Gärtnerin keine akademische Ausbildung benötigt, denkt auch keiner an die Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung ans Gymnasium.

Ein sehr strenger Herr mit Glatze, der mich ab und zu auf der Straße anspricht und Fragen stellt, wohnt einige Häuser weiter. Meistens will er etwas über Heimatkunde von Rhein und Mosel wissen. Ich erkläre ihm dann die verschiedensten Weinsorten, die in Enkirch wachsen, die Namen der Burgen von Koblenz bis Mainz und wie die Achate heißen, die ich in meiner Manteltasche habe. Als ich ihm noch als Zugabe die Namen des Unkrauts nenne, das in seinem Vorgarten wächst, schüttelt er nur den Kopf. „Ich möchte, dass Ihre Tochter die Höhere Mädchenschule, die Hilda-Schule, besucht. Sie soll doch versuchen, die Aufnahmeprüfung zu machen. Ich glaube nicht, dass sie dumm ist, sie hatte nur keine Lust zum Lernen, bei diesen Schulverhältnissen kein Wunder, wirklich!“

Der Herr mit Glatze ist der Direktor der Hilda-Schule, er sitzt im Wohnzimmer bei einem Glas Wein: „Ah! Gewürztraminer, halbtrocken, Enkirch, Herrenberg Spätlese“, murmelt er genüsslich, denn das weiß er ja von mir. Enkirch, ja, das ist ein Ort wie im Märchen und dort bin ich immer in den Herbstferien während der Weinlese. Da gibt es Vettern und Cousinen, die alle schon älter sind, einen Freund oder eine Geliebte haben und auf Weinfesten singen, Wein aus dem Brunnen verkaufen oder mit besäuselten Urlauberinnen aus dem Ruhrpott schmusen. Überhaupt gibt es immer Wein zu trinken, warm während der Arbeit auf dem Wingert und kalt mit Jahrgang am Feierabend. Die Weinpresse ist noch nicht automatisch und am Abend messen die Vettern ihre Kräfte beim Keltern. Ich bin überall und höre alles und immerzu wird gelacht. Frieda ist neu verheiratet und erzählt ausführlich, wie das so ist, und alle lachen und erzählen ähnliche Geschichten. Wenn sie mich sehen, dann geht es um den Schinderhannes. Denn das ist mein Lieblingsfreiheitskämpfer, der Robin Hood vom Hunsrück. Jeder weiß eine neue Geschichte um den großen Goldschatz des Bischofs von Köln, den der Schinderhannes gestohlen und in einer Höhle in der Nähe vergraben haben soll, wobei er aber nicht mehr in der Lage gewesen war, ihn abzuholen. Jeder weiß ganz genau, wo die Höhle ist, und jeder gibt mir eine genaue Beschreibung der verschiedensten Örtlichkeiten.

Ich aber nehme die Sache ernst, stelle mehrere Nachforschungen an, tanze beim Weinfest mit dem Oberlehrer und ein anderes Mal mit dem Bürgermeister und frage eine alte Oma am Ende des Dorfes. Es ist ein sonniger Tag und schon spät im Herbst, alle weiblichen Wagners stehen bereits frühmorgens am schrägen, steilen Hang und schnipseln die Trauben, während die männlichen mit ihren Kiepen den Berg hochsteigen, um dann schwerfällig, mit all den vielen Trauben auf dem Rücken, hinunter zu steigen.

Niemand achtet darauf, dass ich nicht mehr da bin. Sehr lange und mit einem genauen Ziel vor Augen wandere ich in Richtung Hunsrück-Höhenstraße.

Und nach einigem Suchen finde ich eine Höhle. Halb verschüttet ist der Eingang, aber ich krieche hinein und fühle mich eins mit dem großen Räuber. Aber der schweigt sich aus und verrät mir nicht, wo der Schatz im Geröll liegt. Lange suche ich und stöbere herum, aber außer einigen Zähnen, vermutlich von Wildschweinen, finde ich nichts und mache mich im Dunklen enttäuscht auf den langen Heimweg nach Enkirch.

Es ist finster im Wald und die Käuzchen schreien. Das ganze Dorf hat mittlerweile die Suchaktion abgeblasen, denn jeder Weinkeller und jede Scheune waren durchsucht worden, keine Spur einer Mareile war zu finden gewesen. Als ich in die Dorfstraße einbiege und an Onkel Heinis Haus vorbeikomme, sehe ich durchs Fenster, wie viele Enkirchner am Tisch sitzen und Wein trinken und gar nicht, wie sonst, lustig und heiter sind. Ich winke ihnen durch die Glasscheibe zu und sie starren mich an wie einen Geist.

Nach einiger Diskussion über verschiedenste Straf – und Foltermethoden, die ich mit Recht verdient hätte, einigt man sich, dass die Schuld an der Geschichte bei allen Beteiligten liegt. Denn wer hat sie denn erfunden, die Geschichten vom Schinderhannes und seinem Goldschatz? Das ist ein guter Anlass, eine Flasche Eiswein von 1943 zu öffnen, der eigentlich der beste Jahrgang ist, und ich bekomme auch ein kleines Glas von meinem Geburtsjahrtropfen.

Kilian und sein Moped.