Wende - Eva Ladipo - E-Book

Wende E-Book

Eva Ladipo

4,3

Beschreibung

René Hartenstein, ein junger Ostdeutscher, sucht und findet im Westen?sein Glück: Nach dem Jurastudium folgt er seiner Freundin nach Frankfurt und beginnt eine vielversprechende Karriere in der Energieindustrie. Doch dann kommt es in Fukushima zur Kernschmelze und sein bisheriges Leben versinkt in einem Strudel unkontrollierbarer Ereignisse: Deutschland steigt aus der Atomkraft aus, sein engster Kollege bringt sich um, Hartenstein verliert den Job und trifft auf eine genauso undurchsichtige wie attraktive Frau, die alt genug ist, um seine Mutter zu sein. Sie bietet ihm einen Job bei einem Investmentfonds in London an. Hartenstein sagt zu. Es wird für beide ein großartiger, berauschender Sommer. Er badet im Erfolg und gerät zunehmend in den Bann seiner Gönnerin. Neugierig und fasziniert dringt er immer tiefer in ihre Vergangenheit ein. Als er begreift, dass diese mehr birgt als ein schillerndes Stück deutsch-deutscher Geschichte, ist es zu spät. Er stößt auf Geheimnisse der Energiewirtschaft, die noch kein Außenstehender vor ihm überlebt hat. "Da ist alles drin, toller Spannungsbogen, treffende Personenführung und Charakterisierung, aktuelles Thema, geht ab, fast & furios." Matthias Matussek "Spannend und frontal gegen den Mainstream geschrieben." Hans-Ulrich Jörges, Stern

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EVA LADIPO

WENDE

Copyright © 2015 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Free Agents Limited/CORBIS

ISBN 978-3-7117-2028-3

eISBN 978-3-7117-5294-9

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Über die Autorin

Eva Ladipo, geboren 1974, studierte in Cambridge Politische Wissenschaften und wurde mit einer Arbeit über das russische Steuersystem promoviert. Begann als Journalistin bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und arbeitete zuletzt für die »Financial Times«. Lebte längere Zeit in Russland und Kolumbien und wohnt jetzt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London. »Wende« ist ihr erster Roman.

EVA LADIPO

WENDE

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

KAPITEL 1

Als Martin Jäger wieder denken konnte, begriff er, dass der Pistolenlauf an seiner Schläfe ihm recht gab. In die Todesangst mischte sich Genugtuung und belebte seine Sinne wieder. Jetzt hatte er den Beweis, nach dem er gesucht hatte. Er war kein Opfer seiner eigenen Verschwörungstheorie. Er war kein verrückter, weltfremder Einzelgänger, der sich im Labyrinth seiner dunklen Fantasien verrannt hatte. Er war kein Spinner. Nein, er war auf der richtigen Spur. Der Überfall bewies die Wahrheit.

Allerdings hatte er sich den Moment der Erleuchtung anders vorgestellt. Er schloss die Augen und stieß einen dumpfen Seufzer aus. Das Ledertuch, das sie ihm unten am Hauseingang in den Mund gestopft hatten, stieß an sein Gaumenzäpfchen. Er würgte, seine Augen begannen zu tränen. Er durfte jetzt nicht kotzen. Schon drohte sein Denken erneut auszusetzen. Schweiß löste sich vom Nacken und kroch wie eine Raupe die Wirbelsäule hinunter. Vergeblich versuchte er die Zunge zu bewegen. Er musste das Tuch verschieben, sonst würde er durch die Nase erbrechen und keine Luft mehr bekommen.

Da lockerte der Mann hinter ihm den Polizeigriff und klopfte ihm genau an der richtigen Stelle auf den Rücken. Jäger konnte das Tuch mit der Zunge nach vorne drücken. Sein Rachen war frei, der Brechreiz ließ nach. Er stolperte über die hölzerne Schwelle des Dachbodens. Staubfäden rissen auf seiner Stirn. Ohne jemandem zu begegnen, ohne gehört oder gesehen worden zu sein, hatten sie das Dachgeschoss erreicht. Der Mann mit der Pistole gab ihm einen Klaps, diesmal auf die Schulter, kumpelhaft und anerkennend. Gut gemacht.

Seine Mutter war zwei Stockwerke unter ihnen dabei, das Abendbrot zu richten. Mama!, brüllte Martin Jäger aus vollem Hals. Ruf die Polizei an! Die Kerle haben mir den USB-Stick aus der Hosentasche gerissen, sie wussten genau, wonach sie suchten. Wenn ich hier lebend rauskomme, sind sie meine Kronzeugen. Ich kann endlich alles beweisen. Mach schon, Mama, die Polizei!

Doch seine Mutter hörte ihn nicht und fuhr in aller Ruhe fort, den Küchentisch zu decken. Zwei Teller, zwei Messer, zwei Teetassen. Sie holte Käse aus dem Kühlschrank. Sie schälte Karotten und schnitt Tomaten auf. Keine Mahlzeit ohne Rohkost. Über der Küchentür hing die große Uhr, die er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Auf ihre duldsame, demütige Art hatte sie gelächelt und gefragt, ob es als Wiedergutmachung gemeint sei. Ja, Mama, für mein ewiges Zuspätkommen. Heute allerdings hatte er angerufen, dass er früher nach Hause kommen würde. Ausnahmsweise. Den Grund hatte er nicht genannt. Den hatte er ihr behutsam beim Abendessen beibringen wollen.

Dass er jetzt trotzdem nicht kam, würde sie nicht weiter beunruhigen, denn sie war seine Unzuverlässigkeit gewöhnt. Zu oft vergaß er, Bescheid zu sagen, wenn er im Büro blieb und die Stille nach Dienstschluss dazu nutzte, seinen Rechner mit riesigen Datenmengen zu füttern. Oder wenn er ein Bier trinken ging. Oder wenn er gegen alle Vernunft nach Bockenheim fuhr, durch die Dunkelheit streifte und vergeblich Trost darin suchte, in Verenas Nähe zu sein.

Dass er verschwunden war, würde seine Mutter deshalb erst morgen beim Frühstück feststellen.

Er wusste, dass bei einem Überfall alles von der Reaktion des Opfers abhing. Die ersten Sekunden waren entscheidend. Er hätte sich sofort wehren müssen. Warum hatte er nicht losgebrüllt und um sich geschlagen? Selbst mit dem Knebel im Mund hätte er im Treppenhaus Krach machen können. Sie waren ein aberwitziges Risiko eingegangen, ihn die vier Stockwerke hochgehen zu lassen, an der eigenen Wohnungstür vorbei. Warum hatte er sich nicht einfach auf den Boden geworfen? Er musste es jetzt tun. Seine Arme waren auf den Rücken gedreht, aber seine Füße waren frei. Er musste mit aller Kraft auf die alten Dielen treten. Los! Stampfen, so fest er konnte. Dann würden sie sich unten im Haus schon fragen, was da oben los war … Als ginge es um sein Leben, musste er Krach machen. Er musste die Beine vom Fußboden lösen. Jetzt!

Zielsicher fand der Mann, der ihm vorausging, eine untersetzte Gestalt mit dunkler Wollmütze, den Lichtschalter. Er schien sich hier oben gut auszukennen. Das schwache Licht dreier verstaubter Glühbirnen beleuchtete den Mittelgang des geräumigen Speichers. Auf beiden Seiten gingen Türen aus groben Brettern ab. Dahinter lagen die Abstellkammern der Mieter.

Jäger war zuletzt im Spätsommer hier gewesen, als er einen Koffer verstaut hatte. Dabei war ihm ein Packen vergilbter Flugblätter in die Hände gefallen aus der Zeit, als der Wahlkampf das Wichtigste der Welt gewesen war. Als er für die Grünen und für Verena gelebt hatte. Er hatte den Packen aus Prinzip in der Mülltonne entsorgt und nicht im Altpapiercontainer, denn die beschissene Recyclingkultur brachte nichts als falsche Selbstgefälligkeit. Als ob Müllverbrennung ein Problem wäre, dessen Lösung einen messbaren Unterschied machte. Altpapiercontainer hielten die Erderwärmung um kein Milligrad auf.

Doch jetzt musste er sich konzentrieren und die gusseisernen Füße anheben. Er hätte Alarm schlagen müssen, als er sämtliche Klingelschilder vor sich gehabt hatte. Doch statt alle Klingeln auf einmal zu drücken, war er erstarrt. Er hatte sich in eine Marionette verwandelt, die nur tun konnte, was ihr in gebrochenem Deutsch befohlen wurde. Wenn er nur den langen Weg durchs Treppenhaus, auf dem er, taub vor Angst, alle Chancen zur Flucht hatte verstreichen lassen, noch einmal zurücklegen könnte. Dann wäre er jetzt nicht darauf angewiesen, die Füße hochzukriegen. Das ging nämlich nicht. Er wollte trampeln, doch er konnte nicht. Das rechte Bein ließ sich nicht heben, das linke auch nicht.

Sie steuerten die vorletzte Abstellkammer auf der linken Seite an. Das Vorhängeschloss, das er im September wie üblich verschlossen hatte, hing offen am Haken. Die Hand seines Aufpassers legte sich auf seine Schulter. Mit der einen Hand richtete er die Pistole auf sein Ohr, mit der anderen umarmte er ihn.

Jäger konnte den Mann nicht sehen, nur riechen. Sein Aftershave roch nach Tannennadeln im Sommer, gar nicht mal unangenehm. Beide Männer strahlten große Ruhe aus. Sie bewegten sich langsam und sicher, als hätten sie so was schon hundertmal gemacht. Was hatten sie vor? Er drehte den Kopf ein paar Millimeter zur Seite, so weit es ging, ohne die Waffe zu berühren, und versuchte Blickkontakt aufzunehmen. Wenn er nicht Alarm schlagen konnte, dann blieb nur eine Möglichkeit. Sie mussten reden. Die zwei meinten bestimmt, dass er seine Nase in Dinge gesteckt hatte, die ihn nichts angingen. Er musste es ihnen erklären. Hoffentlich verstanden sie genug Deutsch.

Hört zu – falsch. Solche Typen reagierten empfindlich, wenn man ihnen nicht genug Respekt zollte. – Hören Sie mich bitte an. Ich bin nur meiner Arbeit nachgegangen. Ich bin Jurist bei der ReAG-Atom, zuständig für das juristische Nachspiel von Störfällen. Jede Unregelmäßigkeit in unseren Meilern landet auf meinem Schreibtisch.

Das heißt landete. In der Vergangenheit. Heute Vormittag bin ich nämlich entlassen worden, was Sie vielleicht schon wissen, so wie Sie ja auch sonst sehr gut informiert sind. Sie wissen, wo ich wohne, wo sich der Schlüssel für unsere Dachkammer befindet und dass ich den USB-Stick immer in der Hosentasche trage. Dort ist er sicherer als in jedem Banksafe, habe ich gedacht.

Sie haben mich beobachtet. In gewisser Weise beruhigt mich das, denn jetzt weiß ich, woher dieses Unbehagen in den vergangenen Wochen kam. Ich habe noch mehr an mir gezweifelt als sonst. Ich dachte, jetzt drehe ich ganz durch.

Seit heute bin ich also arbeitslos. Ich habe seit Längerem versucht, meine Mutter darauf vorzubereiten. Der Konzern hat zwar beteuert, dass wir wegen der laufenden Verfahren gegen die Bundesregierung und die Versicherungen noch gebraucht werden, doch das war Augenwischerei. Die Energiewende bedeutete unser Ende. Die letzten zwei Jahre waren wir damit beschäftigt, die anderen Abteilungen der ReAG-Atom abzuwickeln. Wir haben Sozialpläne verfasst, Auflösungsverträge geschrieben, Abfindungen verhandelt, Arbeitsklagen vereitelt. Weil das erledigt ist, wird nun die Rechtsabteilung selbst liquidiert.

Doch solange es uns gab, war ich zuständig für alle meldepflichtigen Ereignisse in unseren Atomkraftwerken. Ich habe die ReAG vertreten, wenn es zu Klagen kam. Verstehen Sie? Was Sie auf meinem USB-Stick finden, ist deshalb keine unlautere Einmischung meinerseits. Ich habe nur getan, was jeder in meiner Position tun würde. Zumindest jeder, der so denkt wie ich. Also vielleicht doch nicht jeder. Aber ich kann nichts dafür, dass ich so bin, wie ich bin. Es war kein einfacher Weg bis hierher. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich ihn nicht genommen.

Er drehte die Pupillen so weit er konnte nach rechts, doch alles, was Martin Jäger sah, war die Öffnung des auf ihn gerichteten schwarzen Rohrs und ein behandschuhter Zeigefinger, der sich um den Abzug krümmte.

Ich war mal durch und durch grün, müssen Sie wissen. Mein ganzes Leben war grün. Mein Denken, meine Bücher, meine Frisur, meine Art zu reden, meine Klamotten, meine Transportmittel, mein Essen, mein Vater, meine Körpersprache, meine Freunde, meine Frau. Verena hieß sie. Für andere heißt sie noch heute so. Meine Anstecker waren natürlich auch grün beziehungsweise gelb: »Atomkraft? – Nein danke!« klebte vom ersten Schultag an auf meinem Ranzen, schmückte den Kühlschrank in jeder WG, die ich bewohnt habe, und die Einladungen zu den Picknicken im Grüneburgpark, die Verena und ich jeden Sommer organisierten.

Er gab es auf. Das Gesicht des Mannes mit dem angenehmen Duft und der Pistole blieb außerhalb seines Blickfelds. Er musste seine Bemühungen auf den anderen konzentrieren, der das Licht in der Abstellkammer angemacht hatte und sich gerade gemächlich zu ihm umwandte.

Der Verschlag maß etwa zwei mal zwei Meter und war sehr hoch. Im schwachen Lichtschein konnte man die Dachbalken nur erahnen. Jäger blinzelte. Der Mann mit der Wollmütze warf ihm einen forschenden, nicht unfreundlichen Blick zu. Dann grinste er, wobei seine Lippen einen Eckzahn aus Rotgold entblößten, und sagte etwas in einer Sprache, die gut zu dem breiten Gesicht mit der zerschlagenen Nase passte. Zischende Konsonanten, kurze Vokale. Der Große hinter ihm lachte leise. Jäger schöpfte Hoffnung. Solange die beiden nicht die Nerven verloren, konnte er ihnen alles erklären. Sie mussten ihm nur den Knebel aus dem Mund nehmen.

Eines Tages habe ich dann den Fehler gemacht, ernsthaft über Kernkraft nachzudenken. Ich weiß selbst nicht mehr, wie es dazu kam, denn eigentlich war alles in bester Ordnung. Die Meiler liefen, die Atomindustrie boomte und wir hassten sie mit großer Inbrunst. Es lohnt sich eigentlich nicht, über etwas nachzudenken, was eindeutig scheiße ist. Doch ich war so unvorsichtig, es trotzdem zu tun, und danach fiel mein bisheriges Leben wie ein loses Kartenhaus in sich zusammen.

Obwohl er keine Ahnung hatte, was den Goldzahn so freute, wollte er mitlachen. Amüsiert kniff er die Augen zusammen. Die Grimasse sollte signalisieren, dass er cool war. Er würde nicht losbrüllen, wenn sie ihm das Heftpflaster vom Mund rissen. Sie konnten sich auf ihn verlassen. Er war bereit zur Vernehmung. Sollte er sich auf den alten Klappstuhl setzen, der vor ihm stand? Sie hatten alles vorbereitet. Der Stuhl, der sonst in der Ecke lehnte und Staub fing, stand aufgeklappt in der Mitte. Sobald sie ihm ein Zeichen gaben, würde er sich hinsetzen und anfangen zu reden.

Es war die Reaktion der anderen, die alles kaputtgemacht hat. Mit meinen Zweifeln wäre ich schon zurechtgekommen und hätte sie irgendwann verdrängt. Doch die Ablehnung, die mir entgegenschlug, war so aggressiv und geschlossen, dass ich mir plötzlich vorkam wie das abtrünnige Mitglied einer Sekte. Es war, als hätte ich die Seiten gewechselt, weil ich es wagte, Wissenschaftler zu lesen, die nicht zur Anti-Atomkraft-Bewegung gehörten. Weil ich mich mit Risikostatistiken auseinandersetzte, galt ich als Verräter.

Ich legte einfache Zahlen vor. Nur Zahlen, keine Argumente. Doch sie fragten entgeistert, ob ich jetzt ein Lobbyistenschwein sei. Ich gab zu bedenken, dass Klimaschutz und Atomgegnerschaft nicht zusammenpassten. Als Grüne müssten wir uns entscheiden: Entweder war uns die Abschaltung der Atommeiler wichtiger oder der Schutz des Klimas. Ihrer Meinung nach war allerdings schon die Fragestellung faschistoid.

Sogar Verena, die Wissbegierige, stellte sich taub und blind. Mir drängte sich der Eindruck auf, dass es uns beim Kampf gegen Atom nie wirklich um die Rettung der Welt gegangen war. In Wahrheit ging es nur um uns. Um ein noch bequemeres Zuhause. Sollte der Rest der Welt am Klimawandel zugrunde gehen – Hauptsache, wir waren in Sicherheit. Und dabei wollte ich nicht länger mitmachen.

Der Goldzahn war immer noch zu sehen, der Kerl hatte nicht aufgehört zu grinsen. Martin Jäger schaffte es aber nicht, seinen Blick zu kreuzen. Verdammt. So würde ihm entgehen, wie redebereit er war. Er guckte ihn zwar an, aber weiter unten. Was fixierte er denn da? Seinen Hosenstall? Himmel. Würden seine Gliedmaßen gehorchen, würde er jetzt den Arm sehr, sehr langsam senken – damit die Bewegung nicht nach Gegenwehr aussah – und mit dem Zeigefinger kontrollieren, ob der Reißverschluss offen stand. Da er aber keine Kontrolle mehr über sich besaß, ging das nicht. Stattdessen spürte er, wie die Augen gegen seinen Willen erst warm wurden, dann heiß und sich schließlich bis zum Rand mit Tränen füllten.

Ich will nur, dass Sie verstehen, wie ich in die Sache hineingeraten bin. Es war keine Absicht. Ich bin kein Schnüffler. Ich bin niemand, der sich in anderer Leute Angelegenheiten mischt. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich längst bei meiner Mutter ausgezogen und ins normale Leben zurückgekehrt. Dann hätte ich eine neue Wohnung mit einer neuen Frau, Hobbys und neuem Freundeskreis, und hätte die Nachforschungen niemals so weit getrieben. Ich wollte aufhören – wirklich, ich habe mir mehr als einmal gesagt, dass es reicht, wer verbannt sich schon freiwillig in die Einsamkeit eines Besessenen? –, aber ich konnte nicht.

Der Mann mit der Wollmütze starrte immer noch auf Jägers Hosenstall. Er hatte trockene Lippen. Die Zunge, mit der er sie jetzt benetzte, war weiß belegt. Ein Spuckefaden zog sich zum Mundwinkel. Dann bewegte er sich auf ihn zu. Die nasse Lippe reflektierte das Licht. Er streckte die in einem engen schwarzen Lederhandschuh steckende Hand nach seiner Lendengegend aus. Jägers Herz raste. Er schloss die Augen. Auf beiden Seiten liefen ihm Tränen über die Wangen, während er weiter flehte.

Als Aussteiger ist man nämlich nicht mehr der, der man einmal war. Wenn man vom Glauben abfällt, verliert man den entscheidenden Teil seiner selbst. Früher hatte man ein Ziel, für das man kämpfte, Verena, die einen liebte, Freunde, die Gesinnungsgenossen waren, Feinde, die man hingebungsvoll verachten konnte. Ohne diese Leidenschaften scheint das Leben plötzlich auf unerträgliche Weise einsam, langweilig und sinnlos. Eine große innere Leere macht sich breit.

Er presste die Augen so fest zusammen, dass es wehtat. Der Griff, mit dem ihn der Mann am Hosenbund packte, warf ihn fast um. Doch er fand sein Gleichgewicht wieder, weinte und setzte aufrecht stehend das Plädoyer fort.

So sah es in mir aus, als ich auf den ersten Zufall stieß. Zwei harmlose Störungen an der Notstromversorgung, die auf menschliches Versagen zurückzuführen waren. Sie waren beide Ende Juni passiert und hatten keine weiteren Folgen außer seitenlangen Artikeln im Sommerloch. Es gab Dutzende solcher Aufreger pro Jahr. Kleinigkeiten, die die Reaktorsicherheit nicht beeinträchtigten, aber trotzdem gemeldet werden mussten. Nach deutschem Recht muss die Öffentlichkeit über jede lose Schraubenmutter informiert werden. Dann schlagen die Atomkraftgegner in den Zeitungs- und Fernsehredaktionen rituell die Hände überm Kopf zusammen und warnen vor dem nahen Super-GAU.

Er taumelte vor und zurück, während sein Gürtel aus den Schlaufen gerissen wurde. Der Mann hinter ihm – das Aftershave mit dem Revolver – gab ihm Halt.

Ohne den Argwohn des Verstoßenen wäre ich nie draufgekommen. Ohne das quälende Vakuum in meinem Innern, das nur ein neuer Kampf gegen einen neuen Gegner füllen konnte, wäre mir der Zufall nie aufgefallen. Es war keine Absicht, hinter Ihrem Auftraggeber herzuspionieren. Ich bin da ungewollt hineingerutscht, getrieben von den Geistern der Vergangenheit. Gegen die war ich machtlos, verstehen Sie?

In den letzten, weitgehend schlaflosen Wochen hatte er manchmal geglaubt, der Lösung des Rätsels näher zu sein denn je. Er hatte Daten analysiert, die bis weit in die neunziger Jahre zurückreichten. Die Trefferquote war hoch gewesen. Er hatte den Namen eines Wartungsingenieurs gefunden, der identisch war mit dem eines Mitläufers der linken Göttinger Szene Mitte der achtziger Jahre. Er hatte sogar Kontakt zu der Frau in London herstellen können. Doch trotz dieser Fortschritte war er von einer Rastlosigkeit gequält worden, die er sich selbst nicht hatte erklären können. Er musste mehrere Kilo abgenommen haben, weshalb ihm die Hose jetzt ohne Gürtel bis auf die Pobacken rutschte.

So fing es an – den Rest finden Sie auf dem USB-Stick. Da ist alles drauf, was ich gesammelt habe. Die Schichtpläne, die technischen Abläufe, die Schwachstellenanalysen der Aufsichtsbehörden, die Sicherheitsvorschriften, die Wartungstermine, die Namenslisten, die Notfallpläne, die Listen der Störfälle, die Lagepläne – das ist alles auf dem USB-Stick, nirgendwo sonst. Es gibt keine Kopien. Auf der Festplatte im Büro habe ich die Daten nach jedem Durchlauf gelöscht. Überzeugen Sie sich selbst. Ich werde mich hüten, Sie zu belügen. Außer mir weiß kein Mensch von den Zündeleien. Wenn es kein Fukushima gegeben hätte, hätten Sie selbst eins inszeniert, stimmt’s? Zum Glück hat dann die Kernschmelze am anderen Ende der Welt gereicht, um den Deutschen den Rest zu geben. Sie hatten ja auch gute Vorarbeit geleistet.

Stopp. So nicht. Er durfte nicht ins Sarkastische abdriften. Er musste den respektvollen Ton wahren, sonst würden sie sein Angebot niemals annehmen. Das mussten sie aber. Sie mussten ihn zu Wort kommen lassen, bevor sie das, was sie mit ihm vorhatten, in die Tat umsetzten.

Hören Sie! Egal was passiert – Ihr Auftraggeber hat gewonnen. Sein Sieg ist endgültig. Also behalten Sie den USB-Stick und machen Sie damit, was Sie wollen. Die Sache ist gelaufen. Atomkraft in Deutschland ist Geschichte. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Schluss mache. Ich werde alles vergessen. Es bedeutet mir nichts mehr. Ich weiß jetzt, dass ich recht hatte, und die intellektuelle Befriedigung genügt mir. Ich habe sowieso nicht geglaubt, noch etwas ändern zu können. Die Deutschen weiten lieber die Förderung der dreckigsten Braunkohle aus, schmeißen die alten Hochöfen wieder an, pflastern das Land mit Windrädern zu, importieren Atomstrom aus Tschechien und verfehlen sämtliche Klimaziele, als ein einziges Atomkraftwerk eine Minute länger laufen zu lassen. Ich weiß, wie die ticken, und deshalb fällt mir die bedingungslose Kapitulation, die ich hiermit erkläre, auch gar nicht schwer.

Martin Jäger schlug die Augen auf. Sein Blick war verschwommen von Schweiß und Tränen. Keine dreißig Zentimeter von ihm entfernt begutachtete der Untersetzte seinen Gürtel. Die ruhigen Bewegungen warfen Schatten auf die Lattenwand. Plötzlich riss er so hart an beiden Gürtelenden, dass Jäger auch die Kontrolle über seine Blase verlor. Warmer Urin rann sein Bein hinunter. Der Aufpasser murmelte ihm von hinten etwas Begütigendes ins Ohr, und mit einem Mal fand er die Sprache gar nicht mehr so hässlich. Sie hatte etwas Erdiges, ja fast Melodisches. Sie war von einer groben Zärtlichkeit, und plötzlich erkannte er sie wieder. Dass er da nicht gleich draufgekommen war: Es war die Sprache, in der die Frau, die einmal die Woche das Treppenhaus putzte, bei der Arbeit telefonierte. Sie trug Knöpfe im Ohr und sprach in ein kleines, am Kragen befestigtes Mikrofon. Es war Russisch.

Er war nicht in der Lage, den Kopf zu senken, um nachzusehen, was der Russe von hinten in seine rechte Hand legte. Es war lang, dünn und schwer. Die behandschuhte Hand umschloss seine eigene und drückte seine Finger behutsam um das Ding, während Jäger spürte, wie seine vollgesogene Hose nach unten zog, sich vom Hintern löste und auf den Boden fiel. Er schloss erneut die Augen und nahm alle Kraft zusammen.

Außer mir ist da keiner. Das müssen Sie mir glauben. Niemand weiß, dass ich neben der Arbeit etwas laufen hatte, geschweige denn was. Meine Mutter ist das Gegenteil meines Vaters. Sein Kampfgeist, seine Wut gegen das System, Plastiktüten, Autobahnen, den Realo-Flügel, die Energieverschwendung der Hausverwaltung und ihre eigene Friedfertigkeit haben sie ausgelaugt. Wenn sie erfahren hätte, dass die Ruhe seit seinem Tod trügt, dann wäre sie verzweifelt. Ich habe sie in dem Glauben bestärkt, dass ich die Nächte durcharbeite, um der drohenden Entlassung zu entgehen. Es war völlig ausgeschlossen, sie ins Vertrauen zu ziehen. Das sehen Sie hoffentlich ein. Sie hat keine Ahnung.

Vielleicht ist Ihnen bei der Beschattung auch noch ein Kollege aufgefallen. Ich meine diesen jungen Kerl, den großen Dunkelhaarigen. Er ist der Einzige im Büro, der mich nicht als Spinner und komischen Kauz abgeschrieben hat. Aber er weiß auch nichts, das schwöre ich bei allem, was mir noch heilig ist. Letzten Endes ist er doch nur der Liebling des Chefs, der sich genauso wenig wie andere von Neugier oder Zweifeln beirren lässt.

Durch den dichten Nebel seiner Gedanken fühlte er Stoff in beiden Händen. Der Mann hinter ihm musste seinen Arm losgelassen und sich gebückt haben, um seine Hose aufzuheben. Das war nett. Er hätte ihn auch in vollgepinkelter Unterwäsche stehen lassen können. Martin Jäger gab ein dankbares Geräusch von sich. Mit sanftem Druck wurde er zum Stuhl geführt. Auf der Reise in sein Gewissen hatte er die weiteren Vorbereitungen in der Dachkammer verpasst. Am oberen Rand seines Blickfelds bewegte sich etwas. Es war eine Schlange, die hin- und herbaumelnd den giftigen Kopf nach ihm reckte. Doch der Freund klopfte ihm von hinten beruhigend auf die Schulter. Jäger entspannte sich und sah genauer hin. Ach so. Es war nur sein Gürtel, den sie da oben hingehängt hatten.

Ansonsten war mein Leben auf den Inhalt des USB-Sticks reduziert. Von den alten fallen gelassen, habe ich mir keine neuen Freunde gesucht. Die einzige Frau, mit der ich in der ganzen Zeit geschlafen habe, habe ich am nächsten Morgen aus meinen Kontakten gelöscht. Sie hatte das Zeug, eine neue Verena zu werden, und ich hatte Angst, ihr gegenüber nichts verheimlichen zu können. Ich wollte da niemanden mit hineinziehen, verstehen Sie?

Die Russen bugsierten ihn auf den Stuhl und verständigten sich dabei in dem murmelnden Tonfall von Handwerkern bei einer Routinearbeit. Als Jäger begriffen hatte, wie sie es haben wollten – dass er bei der Vernehmung nicht auf dem Stuhl sitzen sollte, sondern stehen –, half er, soweit es seine erlahmten Glieder erlaubten, mit. Bei der gemeinsamen Anstrengung überkam ihn eine Euphorie, die ihm den Atem nahm. Ihm wurde schwindelig. Seine Beine gaben nach, doch die Russen fingen ihn auf und stützten ihn. Sie hatten die Waffe weggesteckt. Sie würden jetzt reden.

Plötzlich befand er sich nicht mehr auf dem Dachboden, sondern auf einer nassen Landstraße im Regen. Er kauerte zwischen Dutzenden Leibern im Dreck. Blaulicht zuckte durchs Morgengrauen, Demonstranten sangen Friedenslieder, Hunde bellten, Krähen kreischten am Himmel. Neben ihm lag sein Vater. Auf dem Straßenstück vor ihnen wurde eine Frau mit langen Rastazöpfen von zwei Bullen abgeführt und schrie wie am Spieß. Er war zwölf Jahre alt, es war sein erster Castor-Transport.

»So sind sie, die Weiber«, flüsterte sein Vater ihm ins Ohr, »werden hysterisch und vergessen ihre Pflicht.« »Welche Pflicht?«, raunte Martin verschwörerisch zurück. »Die Pflicht zu überzeugen. Das darf man nie vernachlässigen, egal in welcher Situation. Vergiss das nicht. Worte sind unsere schärfsten Waffen. Wir müssen die Bullen dazu bringen, ihr Hirn unter den Helmen einzuschalten. Wenn die armen Schweine anfangen nachzudenken, dann wird alles gut.«

Erst jetzt nahm Martin Jäger das Rauschen wahr, das den Dachboden seit geraumer Zeit erfüllte. Es war wie ein Zeichen. Damals im Polizeikessel hatte es auch geregnet. Sie waren völlig durchnässt gewesen. Er spürte die warme Nähe seines Vaters und fasste Mut. Nach dessen Worten hatte er doch nicht alles falsch gemacht. Im Gegenteil. Er hätte seine Chance zur Aufklärung vertan, wenn er unten am Hauseingang die Nerven verloren hätte. Da war er noch gar nicht bereit gewesen. Doch jetzt war er so weit. Er wusste, was er zu sagen hatte. Sobald der Knebel draußen war, konnten sie reden.

KAPITEL 2

Etwa zeitgleich schoss ein phantomschwarzer Audi A6 am Frankfurter Kreuz in die Einfädelspur nach Norden. René Hartenstein drängte nach links, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. Er war ein Kollege von Martin Jäger und hatte seiner Freundin, die auf dem Beifahrersitz saß, gerade erzählt, dass er entlassen worden war. Die Scheibenwischer wetzten auf Hochtouren über die Windschutzscheibe, doch die Sicht blieb verschwommen. Hinter ihnen hupte ein Fiat. René Hartenstein grüßte über den Rückspiegel und zog mit der anderen Hand über die mittlere Spur auf die linke. »Und dann habe ich Arsch auch noch das Angebot für einen neuen Job abgelehnt.«

»Wieso denn das?« Cosima Wolf hielt die Hände über einem großformatigen Bildband gefaltet, der auf ihrem Schoß lag. Die Nachricht, dass ihr Freund seinen gut bezahlten Job verloren hatte, nahm sie bemerkenswert gelassen auf. Man war versucht, sie für unterkühlt zu halten. Ihre auffallende Erscheinung mit den weißblonden Haaren, den hellen Augen, schmalen Gelenken und langen Gliedmaßen verstärkten diesen irreführenden Eindruck. Doch Cosima Wolf war weder gefühlskalt noch überheblich. Sie war nur schwer aus der Ruhe zu bringen. Sie besaß ein außerordentliches Maß an Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, in die Absichten anderer Menschen und in das, was man Schicksal nennt. In den zweieinhalb Jahren, in denen sie zusammen waren, hatte René kein einziges Mal erlebt, dass sie Angst gehabt hätte vor dem, was kam. Selbst die zugemüllte Wohnung seiner Eltern hatte sie damals betreten, ohne mit der Wimper zu zucken.

Da er nicht reagierte und nur weiter düster auf das zerlaufende Rot der Bremslichter vor ihnen starrte, fragte sie nach: »Was denn für ein Angebot?«

»Ich weiß selbst nicht, was plötzlich in mich gefahren ist. Stolz oder so.«

»Wieso Stolz?«

»Es war nie schmeichelhaft, dass der Weigel glaubt, dass ich so werden will wie er. Aber er war nicht davon abzubringen. Er hat die Kündigung ausgesprochen und mich im nächsten Moment gefragt, ob ich mit ihm nach Prag gehen will. Er wechselt in den Vorstand des größten tschechischen Versorgers. Ich glaube, die Art, wie er dabei gegrinst hat, diese Mischung aus Wohlwollen und Überheblichkeit, hat mich gereizt, ihm eine reinzuwürgen.« Der Verkehr wurde zäher. Obwohl es keine Ausweichmöglichkeit gab, blinkte er einen silbernen Geländewagen vor ihnen mit der Lichthupe an und fuhr noch dichter auf. »Was natürlich Quatsch ist, denn der Einzige, dem ich eine reingewürgt habe, bin ich selbst. Ich hätte große Augen machen und Danke sagen sollen. Wenn sich später was Besseres ergibt, kann man immer noch absagen.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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