Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner - E-Book

Wenn alles in Scherben fällt E-Book

Wolfgang Kirchner

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Beschreibung

Seit in der Ost-Ukraine geschossen und getötet wird, ist alles Leid wieder präsent, das Millionen Deutsche bei Kriegsende 1945 im Osten erlitten. Seit Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten in unser Land fluten, werden wir an das Schicksal deutscher Flüchtlinge erinnert, die am Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren. Traumatisiert mussten sie sich in oft feindseliger Umgebung eine neue Existenz schaffen. Kinder sind die Leidtragenden, damals wie heute. - Ein autobiografischer Bericht vom Überleben in schlechten Zeiten.

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Wolfgang Kirchner

Wenn alles in Scherben fällt

Vom Überleben in schlechten Zeiten

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Erweitertes Impressum

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

Wolfgang Kirchner

Impressum neobooks

Widmung

Erweitertes Impressum

Dies ist die Neufassung eines Buches, das unter dem Titel „Wir durften nichts davon wissen“ bei Rowohlt in der Reihe „Rotfuchs“ (Auflage: 55.000) erschien.

© Wolfgang Kirchner 2015

Wolfgang Kirchner

Bayerische Str. 8

10707 Berlin

[email protected]

Coverillustration:

Philipp Süchting

[email protected]

Dank an Klaus Ratje!

1.

„Palmsonntag, den 25. März…“

Mama sitzt im Luftschutzkeller am Tisch und schreibt Tagebuch. Eine Stalllaterne wirft flackerndes Licht auf den dicken Kalender, in den sie mit winziger, krakeliger Schrift Eintragungen macht. Ab und zu spitzt sie den Bleistift, damit die Buchstaben dünn bleiben und so viel wie möglich auf eine Seite geht. Denn es gibt viel zu erzählen.

„Freitag hat sich die Waffen-SS in unserem Haus einquartiert“, schreibt meine Mutter. „Sie sind mit zwei Raupenfahrzeugen gekommen, die haben sie in unseren Garten gefahren und dabei den Mirabellenbaum beschädigt. Die Fahrzeuge wurden bis zu den Ketten eingegraben und mit Tarnnetzen bespannt. In unserer Küche haben sie eine Funkstation eingerichtet. Klara muss jetzt auf dem Ofen in der Waschküche das Essen für uns alle kochen. Klara ist wütend auf die SS. Bei jedem Fliegerangriff kommen sie zu uns herunter.“

Ich sitze neben Mama und schaue ihr beim Schreiben zu. „Leg dich auf die Matratze unterm Tisch“, sagt sie. Später, als sie müde wird, muss ich ein wenig rücken, und sie legt sich neben mich. Wir hören das Poltern der Soldatenstiefel über uns, die fernen Abschüsse und nahen Einschläge der Granaten. Wenn es besonders laut kracht, schrecken meine jüngeren Geschwister aus dem Schlaf hoch, und aus der dunklen Ecke nahe dem Notausgang höre ich Großvater stöhnen. Der fünfzehnjährige Achim, mein ältester Bruder, liegt neben der Tür zur Waschküche und liest im Schein einer Kerze ein Buch. Wenn die Kleinen aufschrecken und sich gleich darauf schlaftrunken wieder fallen lassen, deckt er sie behutsam zu. Er lauscht auf den Artillerielärm, und sein Kopf geht mit, als folge er der Geschossbahn.

„Die Russen stehen auf den Danziger Höhen und schießen in die Stadt hinein – über uns hinweg!“ sagt er beruhigend.

Wir wohnen in einem Vorort von Danzig, der Langfuhr heißt, auf der ‚besseren’, der Villenseite von Langfuhr, am Rand des Jäschkentaler Waldes. Hier stehen viele prunkvolle Häuser, umgeben von großen Gärten. Unsere Villa ist ein Haus mit vielen Erkern, Türmchen mit Steinkugeln obendrauf, mit Balkons und Terrassen. Jetzt sind die meisten Fenster ohne Glas, und die Jalousien hängen schief herab: Der Luftdruck einer Bombe, die im Haus nebenan eingeschlagen ist, hat die Scheiben zum Platzen gebracht. Seit diesem Tag stehen die elf Zimmer unseres Hauses leer; seitdem trauen wir uns nicht mehr aus dem Luftschutzkeller.

Ehe ich einschlafe, schaue ich mich im halbdunklen Keller um. Diti, mein zweitältester Bruder, ist wieder mal nicht da. Papa hat uns verboten, nachts und besonders bei Artilleriebeschuss hinauszugehen. Aber der dreizehnjährige Diti lässt sich nichts mehr verbieten. Wahrscheinlich sitzt er auf der Treppe, die von der Waschküche in den Garten führt, und raucht heimlich eine Zigarette. Ich bewundere ihn, weil er so mutig ist. Ich bin zehn Jahre alt und der Ängstlichste von allen, gelte als das ‚Muttersöhnchen’.

Im Halbschlaf höre ich Ditis Stimme: „Ich weiß, was die Raupen geladen haben…“

Ich wache auf. Diti beugt sich über unsere Mutter und flüstert, damit Vater nicht aufwacht: „In der einen Raupe sind Maschinengewehre, funkelnagelneu, in Holzkisten, und Munition…“

„Deswegen weckst du mich?“ fragt Mama.

“Und in der anderen Raupe sind Brote! Nichts wie Brote! Eckige, schwarze Soldatenbrote, hart wie Ziegelsteine.“

“Kommissbrote?“ Meine Mutter fährt hoch. Vorsichtig kriecht sie unter dem Tisch hervor, ich krieche hinter ihr her. Sie beugt sich über Frau Duschau, unsere Nachbarin. Seit der Angriff der Roten Armee auf Danzig begonnen hat, wohnt sie mit ihren sechs Kindern bei uns im Luftschutzkeller.

Frau Duschau schreckt aus dem Schlaf auf: „Sind die Russen da?“

Meine Mutter macht ihr ein Zeichen mitzukommen. Auch Achim folgt uns.

In der Waschküche sitzt Klara und stopft unsere Strümpfe. Klara stammt aus Polen. Sie kam in unsere Familie, kurz bevor Achim geboren wurde. Nun ist sie schon über fünfzehn Jahre bei uns, hat uns alle sechs als Babys auf dem Arm gehabt, hat fünfzehn Jahre lang für uns gekocht, geputzt und gewaschen. Hitlers Untergang hat sie schon 1939 vorausgesagt. Aber dass wir alle auf dem besten Weg sind, mit Hitler unterzugehen, hat selbst sie nicht geahnt.

Sie legt das Stopfzeug beiseite und steht auf. „Hört euch das an!“ sagt sie. „Die feiern oben und saufen sich Mut an!“ Sie meint die SS-Männer.

Diti öffnet vorsichtig die Waschküchentür, nachdem wir das Licht gelöscht haben. Er schaut hinaus in den dunklen Garten.

„Feuerpause!“ flüstert er und springt die Stufen der Kellertreppe hinauf; wir folgen ihm. An einem der Raupenfahrzeuge klettert er hoch, zwängt sich unter die Plane und reicht Klara ein Brot nach dem anderen herunter. Klara reicht es mir, ich reiche es meiner Mutter, die reicht es Frau Duschau, die reicht es Achim. Der stapelt die Brote an der Kellerwand hoch wie Brennholz – eine Wand aus Brot. Die SS-Männer merken nichts. Wir hören ihr Gelächter. Einer grölt betrunken. Während sie Nazilieder singen, klauen wir ihnen die Marschverpflegung für ihre Flucht – denn das hat Diti schon herausgekriegt: Zum Kämpfen ist diese Einheit sich zu schade. Ins Reich wollen sie sich absetzen.

Ich zittere in der frischen Nachtluft, während mir ein Brot nach dem anderen zugeworfen wird: Wenn die SS dahinterkommt, werden sie uns alle erschießen...

„So“, sagt Klara, „komm runter, Diti, ist genug! Von mir aus kann die SS jetzt abhauen!“

Im Keller hängen wir Decken über die Wand aus Brot. Nun ist es bei uns noch enger geworden. Klara setzt Wasser auf und kocht Tee. Keiner will sich schlafen legen. Wir hocken am Waschküchentisch, freuen uns über unsere Beute und malen uns aus, was für dumme Gesichter die SS-Männer machen werden, wenn sie nächstens Kohldampf schieben.

Da kommt mein Vater in die Waschküche. Er ist noch benommen vom Schlaf und fröstelt. „Warum seid ihr alle auf?“ Als erster kriegt er von Klara einen Becher Tee.

„Herr Oberschulrat, Sie müssen endlich dafür sorgen, dass die SS abzieht!“

“Aber Klara“, stöhnt Papa, „was kann ich gegen die SS tun?“

Klara lässt nicht locker: „Wenn die Russen kommen und in unserem Haus ist immer noch die SS, dann gnade uns Gott!“

Aber Papa ist ganz sicher: „Die Russen kommen nicht. Ich glaube es einfach nicht.“ Weil alle schweigen, wendet er sich, ein wenig unsicher geworden, an Achim: „Was meinst du?“

Achim guckt in seinen Teebecher. Egal, was er sagt, Papa würde seine Meinung nicht gelten lassen. Während des ganzen Krieges hörte Achim – was streng verboten war – ‚Feindsender’, BBC London und Radio Moskau. Papa durfte nichts davon erfahren. Kurz bevor in der ganzen Stadt der Strom ausfiel, hat Achim über Radio London gehört, dass ein Teil der Roten Armee längst an Danzig vorbeigezogen ist, auf dem Vormarsch nach Berlin schnell vorankommt und dass Danzig von einer hoffnungslos großen Übermacht der Russen belagert wird. Als im Januar die Rote Armee in Ostpreußen einfiel, wollte Papa seinem Ältesten nicht glauben, dass es mit dem ‚Großdeutschen Reich’ zu Ende geht. Während des ganzen Krieges hat in unserer Familie nur das gegolten, was Papa für richtig hielt.

„Und du, Diti?“ fragt Papa. “Du stromerst draußen herum - wie sieht die Lage aus, was meinst du?“

Diti zieht ein Flugblatt aus der Tasche und reicht es Papa über den Tisch. Er hat es im Garten gefunden. Russische Flugzeuge haben es abgeworfen.

„Junge“, sagt Papa erschrocken, „das darfst du gar nicht lesen! Das hättest du abgeben müssen…“

Er lauscht nach oben. Jeden Augenblick können SS-Männer herunterpoltern. Halblaut liest er vor: „Aufruf des Marschalls Rokossowski an die Garnisonen von Danzig und Gdingen! Generale, Offiziere und Soldaten der 2. deutschen Armee! Meine Truppen haben gestern am 23. März Zoppot genommen und die eingeschlossene Kräftegruppe in zwei Teile aufgespalten. Die Garnisonen von Danzig und Gdingen sind voneinander getrennt. Unsere Artillerie beschießt die Häfen von Danzig und Gdingen und die Einfahrten zu denselben. Der eherne Ring meiner Truppen um euch verengt sich immer mehr. Unter diesen Umständen ist euer Widerstand sinnlos und wird nur zu eurem Untergang sowie zum Untergang von Hunderttausenden Frauen, Kindern und Greisen führen…“

Wieder setzt draußen der Höllenlärm der Artillerie ein. Das Haus bebt. Das Flugblatt zittert in Papas Händen.

„Wer sich gefangen gibt“, sagt Papa mit einem bitteren, ungläubigen Unterton, „dem garantiert er das Leben und die Belassung des persönlichen Eigentums…“ Er schüttelt den Kopf. Leise liest er weiter: „Alle Offiziere und Soldaten, die die Waffen nicht strecken, werden bei dem bevorstehenden Sturm vernichtet. Euch wird die volle Verantwortung für die Opfer der Zivilbevölkerung treffen.“

Rasch knüllt er das Flugblatt zusammen und wirft es ins Feuer. „Kommt wieder in den Luftschutzkeller! Hier sind wir nicht sicher genug!“

Da keiner von uns aufsteht, bleibt auch Papa sitzen. Er schaut meine Mutter an. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn.

„Jetzt haben wir die Bescherung!“ sagt Mama zornig. „Und ihr habt damit angefangen! Ja, du auch! Ihr habt angefangen…!“

Als am 1. September 1939 in Danzig der Zweite Weltkrieg begann, war Papas Kompanie von der ersten Stunde an dabei. Papa war Hauptmann. Er führte seine Soldaten gegen die Polen – und siegte. Vor dem 1. September 1939 war Danzig eine Freie Stadt, mitten in polnischem Gebiet.

„Warum habt ihr die Polen aus Danzig vertrieben?“ Meine Mutter ist wütend – so habe ich sie noch nie mit Papa reden gehört. „Wir sind gut mit ihnen ausgekommen! Unsere Jungen waren mit ihnen in Sportvereinen zusammen, in den Schulen. Auf der Technischen Hochschule haben deutsche und polnische Studenten zusammen studiert, wir haben beim Polen gekauft… Und wie gut haben wir mit Klara gelebt, fünfzehn Jahre lang!“ Sie schweigt eine Weile, dann sagt sie leise: „Jetzt werden sie sich an uns rächen! Die Kinder werden es zu spüren kriegen.“

Papa findet, dass Mama übertreibt. Außerdem gäbe es geschichtliche Fakten, meint er. „Danzig ist deutsch, seit Jahrhunderten! Und dass wir damals, vor fünfundzwanzig Jahren, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, vom Deutschen Reich abgetrennt wurden, war ein unnatürlicher Zustand!“

Granaten fliegen übers Haus.

„Da musste es eines Tages wieder zum Krieg kommen…“ Wenig später fügt er, nicht mehr ganz so sicher, hinzu: „Die Polen wollten Danzig immer schon einkassieren...“

„Ach was!“ fährt meine Mutter ihm über den Mund. „Wir haben mit den Polen friedlich zusammengelebt. Wollten etwa unsere Verwandten in der Kaschubei, die Koschalkes, uns einkassieren? Wir kennen unsere Polen!“

Wegen des Geschützlärms spricht meine Mutter lauter, als es meinem Vater recht ist. Er zeigt nach oben. Aber meine Mutter kümmert sich nicht mehr um die SS-Männer. „Wie ihr bloß auf diesen Hitler hereinfallen konntet!“

Papa steht auf: „Kommt sofort in den Luftschutzkeller!“

Klara legt ihr Stopfzeug zusammen und ruft Papa nach: „Das eine sage ich noch: Die SS muss aus dem Haus, und zwar bald!“

Meine Mutter kann nicht schlafen und setzt sich wieder an ihr Tagebuch: „Zurzeit leben wir von den Vorräten, die wir vom Land mitgebracht und eingeweckt haben.“ Das Tagebuchschreiben scheint sie abzulenken, zu entspannen, scheint ihr die Angst zu nehmen. „Es gab eine Zeit, da wollten wir in unserer deutschen Beamtenfamilie von den ungebildeten, halb polnisch, halb deutsch radebrechenden Verwandten bei Karthaus nichts wissen. Doch je länger der Krieg dauerte, desto wichtiger wurde es, Verwandte auf dem Land zu haben. Immer öfter fuhren wir in die Kaschubei, halfen bei der Ernte und aßen uns satt. Ich tauschte Kleider gegen Hühner, die nahmen wir lebend nach Hause mit...“

2.

Am nächsten Tag steht überraschend Fräulein Plasse, meine Lehrerin, am Kellereingang. Ein Wunder, dass sie lebend bei uns angekommen ist. Tiefflieger machen tagsüber Jagd auf jeden, der sich in den Straßen sehen lässt. Noch zitternd vor Angst hält Fräulein Plasse Mama eine große Speckseite entgegen und bettelt, wir sollen sie aufnehmen. Meine Mutter schüttelt den Kopf. „Wir können uns im Luftschutzkeller kaum noch bewegen!“

Auch Klara ist dagegen. Sie hat meine Lehrerin nie leiden können. Denn Fräulein Plasse liebt den Führer. In der Schule schwärmte sie von Adolf Hitler: „Wenn kleine Mädchen den Führer auf dem Obersalzberg besuchen, lässt er ihnen Erdbeeren mit Schlagsahne reichen, selber aber isst er nur Erbsensuppe mit Speck!“

„Quatsch!“ schrie Klara immer, wenn ich ihr berichtete, was ich in der Schule gehört hatte. „Glaubt doch den Blödsinn nicht!“

Das letzte Mal besuchte Fräulein Plasse uns kurz vor Weihnachten. Bei der Begrüßung meckerte sie: „Fräulein Klara, Sie müssen darauf achten, dass die Kinder die Händchen schön hochheben, wenn sie ‚Heil Hitler’ sagen!“ Da wurde Klara giftig: „Wozu sollen sie das lernen? Bald wird der, den sie grüßen, sowieso nicht mehr da sein!“

„Jetzt, da ihr geliebter Führer die Karre in den Dreck gefahren hat“, schimpft Klara, „will sie bei uns unterkriechen! Nein!“

Aber mein Vater bestimmt: „Fräulein Plasse bleibt!“ Er fühlt sich für sie verantwortlich. Sie darf sich im Luftschutzkeller mit Vorhängen eine kleine Ecke abteilen. Da verkriecht sie sich, wenn Klara in der Nähe ist. Steckt Fräulein Plasse mal die Nase hervor, kriegt sie von Klara prompt zu hören: „Wir danken unserem Führer!“

Fräulein Plasse erträgt Klaras Sticheleien mit scheinheiliger Geduld. Hauptsache, sie ist in der Nähe der SS. „Die werden uns beschützen!“ sagt sie. Ihr Parteiabzeichen trägt sie nicht mehr auf dem Revers ihrer Kostümjacke.

„Durch Fräulein Plasse ist in unseren Keller etwas hineingekommen, was bisher nicht da war“, schreibt meine Mutter in ihr Tagebuch, „eine gereizte Stimmung. Wenn sie von deutschen Kriegsschiffen erzählt, die in der Danziger Bucht darauf warten, uns alle im letzten Augenblick zu befreien, kocht Klara vor Wut. Dann fragt sie Fräulein Plasse, warum sie sich mit den Nazibonzen nicht längst aus dem Staub gemacht habe. Woraufhin Fräulein Plasse sich eingeschnappt zurückzieht und muffig in ihrer Ecke sitzt. Nur Ernst ist noch nett zu ihr, ganz Kavalier alter Schule, statt ihr mal kräftig die Meinung zu sagen.“ Und weil auf dem Kalenderblatt an diesem Tag noch ein wenig Platz ist, fügt Mama hinzu: „Es sieht so aus, als ob die SS bald abzieht!“

Die Russen haben angefangen, mit ihren ‚Stalinorgeln’ auch die Vororte von Danzig zu beschießen. Wenn zwanzig Raketen fast gleichzeitig gezündet werden und über uns hinweg heulen, wird es sogar den SS-Männern mulmig. Mit ihrer Funkstation kommen sie herunter in den Keller und bauen sie in der Waschküche auf. Klara soll mit ihren Töpfen und Pfannen hinausgehen. Aber Klara weicht nicht.

„Ich muss für zwölf Kinder und sieben Erwachsene kochen!“ herrscht sie die SS-Männer an. „Soll ich draußen im Garten ein Lagerfeuer machen?“ Alle Funksprüche hört sie mit, auch die geheimen. Als sie mit dem Essen zu uns in den Luftschutzkeller kommt, weint sie.

„Die Innenstadt brennt! Das kam gerade durch! Die Menschen springen in den Hafen, um den Flammen zu entkommen, ganze Familien ertrinken in der Mottlau!“ Und mit einem zornigen Blick auf die Vorhänge, die Fräulein Plasse rechtzeitig zugezogen hat, ruft sie mit bitterem Spott: „Führer befiehl, wir folgen dir!“

Ich helfe Klara abwaschen, damit ich den SS-Männern beim Funken zuhören kann. Nach dem Mittagessen kommt eine Nachricht, die ein Melder sofort zur Front bringen muss. Die Front verläuft zwischen Pietzgendorf und Langfuhr. Der ‚Iwan’ steht also vor unserer Tür… Der SS-Mann, der bei uns das Sagen hat, schaut seine Leute einen nach dem anderen streng an und bellt: „Ein Freiwilliger vor!“

Alle SS-Männer schauen auf den Jüngsten unter ihnen, der muss sich als ‚Freiwilliger’ melden. Er nimmt den Funkspruch in Empfang, beißt noch einmal in den Pfannkuchen, den er sich gerade auf dem Herd gebacken hat, und läuft hinaus zu seinem Motorrad. Ich dehne das Abwaschen und Schrubben der Töpfe besonders lange aus, um recht viel vom Funkverkehr mitzukriegen. Viel verstehe ich nicht, es ist im Kauderwelsch der Funker gesprochen oder stark gestört. Aber dann kommt ein Funkspruch ganz klar durch, und alle hören entsetzt zu: Der junge Melder, der eben noch am Herd stand und seinen Pfannkuchen durch die Luft wirbelte, ist tot. Auf seinem Motorrad wurde er von einer Granate getroffen. Alle schauen wir den schneidigen SS-Mann an, der ihn losgeschickt hat. In der Stille ist nicht zu überhören, was Klara vor sich hin murmelt: „Warum musste der arme Kerl sterben – so kurz vor dem Ende?“

Der schneidige SS-Mann baut sich vor Klara auf und brüllt: „Fräulein Klara, Sie glauben also nicht daran, dass unser Führer Wort hält und die Wunderwaffe einsetzt?“

„Hauptsache, Sie glauben daran!“ sagt Klara schnippisch und geht aus der Waschküche.

In dieser Nacht zieht die Waffen-SS endlich ab. Vorher kommen sie zu uns in den Luftschutzkeller. Alle haben sie eine mächtige ‚Fahne’, stoßen überall an und sprechen noch lauter als sonst. Einer bringt seine Maschinenpistole mit. Wir kriegen einen Schreck, weil wir denken, sie suchen die Kommissbrote, die wir ihnen geklaut haben. Aber der schneidige SS-Mann, den wir hassen, weil er den jungen Melder in den sicheren Tod geschickt hat, sagt: „Wir hauen jetzt ab und empfehlen euch mitzukommen.“

„Aha“, murmelt Klara, „die Ratten verlassen das sinkende Schiff.“

Entsetzt schaue ich den schneidigen SS-Mann an, der so tut, als habe er es überhört.

Mama dreht sich zum unserem Vater um. „Was meinst du, Ernst?“

Papa ist ratlos. „Wie wollen Sie uns alle mitnehmen? Meine Frau und mich und unsere sechs Kinder? Meine Schwiegereltern und Klara? Frau Duschau mit ihren sechs kleinen Kindern - und Fräulein Plasse?“

Großvater, der in der Ecke neben dem Notausgang mit Großmutter ein schmales Lager teilt, flüstert Mama zu: „Bloß nicht mit denen mitgehen!“

„Warum nicht?“

„Wenn erst die Russen weitergezogen sind“, sagt Großvater leise, „kommen die Polen, dann geht's uns wieder gut!“

Vor dem Krieg hat Großvater, der Bauunternehmer war, die polnische Post gebaut. Er trug einen polnischen Namen, bis die Deutschen ihn zwangen, sich eindeutschen zu lassen.

„Die Polen werden uns nichts tun, ich kenne sie!“ flüstert er Mama ins Ohr.

Der schneidige SS-Mann hat es gehört. „Bedenken Sie, wie wir mit den Polen umgesprungen sind…!“ Er wendet sich an Papa: „Ich kann Sie nicht verstehen. Ich würde meine Familie doch nicht dem Iwan ausliefern!“

„Wir bleiben!“ sagt Papa.

3.

„Seit die SS weg ist“, schreibt meine Mutter abends auf das Kalenderblatt vom 27. März, „fragen die Kinder mich, warum wir nicht längst aus Danzig geflohen sind. Warum ich nicht ohne Ernst mit ihnen ins Reich gefahren bin. Im Januar hatten wir Karten für das Flüchtlingsschiff ‚Wilhelm Gustloff’. Aber ich wollte meinen Ernst nicht alleinlassen. Er war verpflichtet, in Danzig zu bleiben. Dann wurde die ‚Wilhelm Gustloff’ torpediert und ging unter – mit Tausenden von Frauen und Kindern. Und alle aus der Verwandtschaft beglückwünschten mich, dass ich im letzten Augenblick die Schiffskarten zurückgegeben hatte.“

In dieser Nacht wird es draußen ruhig, zum ersten Mal, seit im Januar die Offensive der Russen begann. Kein Fliegerangriff mehr. Keine Granaten heulen übers Haus. Keine Luftminen explodieren in unserer Nähe. Nur Gewehrfeuer ist in der Ferne zu hören. Dann verstummen auch die MGs. Die plötzliche, ungewohnte Stille macht uns Angst. Wir sitzen im Luftschutzkeller eng aneinandergedrückt und beten. Plötzlich fällt Klara etwas ein. Rasch schickt sie Diti nach oben. „Schau nach, ob die SS etwas vergessen hat, das die Russen nicht finden dürfen!“

Als Diti wieder herunterkommt, sagt er: „Die haben vielleicht gehaust! Überall stehen leere Flaschen herum! Die müssen total besoffen abgezogen sein! Und die Klos vollgekackt! Die Schweine! Sie haben doch gemerkt, dass kein Wasser mehr läuft!“

Papa fragt: „Hast du meine Uniform gut vergraben?“ Papa hatte zwei Uniformen: die braune SA-Uniform und die feldgraue Wehrmachtsuniform eines Reserveoffiziers. Beide Uniformen hat er seit langem nicht mehr getragen. Schon 1941 ist er vom Wehrdienst befreit worden. Die SA-Uniform hat Diti vor Wochen im Ofen unserer Zentralheizung verbrannt. Die Wehrmachtsuniform hat er vor ein paar Tagen in den Jäschkentaler Wald gebracht und in einen Luftminenkrater geworfen – ein Loch so groß, dass man ein Einfamilienhaus hineinstellen könnte. Zum Vergraben kam Diti nicht mehr. Die Artillerie begann wieder zu schießen, und Diti rannte um sein Leben.

„Soll ich ein weißes Laken heraushängen?“ fragt Diti. „So wissen die Russen gleich, dass aus unserem Haus nicht geschossen wird!“

Davon will mein Vater nichts hören. „Die SS könnte zurückkommen…!“

Warnend hatte der schneidige SS-Mann erzählt: „In der Halben Allee, zwischen Danzig und Langfuhr, hängen die Bäume voll deutscher Soldaten, die die weiße Fahne geschwenkt haben, die kapitulieren oder desertieren wollten…!“

Das Rosenkranzbeten macht uns schläfrig. Einer nach dem anderen verstummt, schließlich schlafen alle, unter Tischen und Stühlen, auf Matratzen, die fast den ganzen Boden des Luftschutzkellers bedecken.

Mitten in der Nacht werden wir aus dem Schlaf gerissen: Auf der Straße fahren schwere Panzer vorbei. Das Haus dröhnt vom Rasseln der Ketten. Fräulein Plasse schaut hinter ihrem Vorhang hervor und ist ganz aufgeregt: „Unsere Truppen kommen zurück!“

Ein wenig später - Schritte über uns. Männer poltern durchs Haus. Zum ersten Mal hören wir russische Stimmen. Die Tür wird aufgerissen, die in den Keller führt. Jemand tastet die dunkle Treppe herab. Wir sitzen auf unseren Matratzen am Fußboden, beten laut und starren voll Angst in den Flur. Eine Pistole mit langem Lauf schiebt sich um den Treppenvorsprung und richtet sich auf uns. Mein Herz klopft so stark, dass ich es im Hals spüre.

Ich sitze der Tür gegenüber, die in den Flur und zur Treppe führt. Auf mich kommt der Russe zu, die Pistole in der Hand, den Finger am Abzug – mich wird er als ersten niederknallen… Aber der russische Soldat schießt nicht. Er schaut sich überrascht im Luftschutzkeller um: So viele Frauen, Kinder und alte Leute auf so engem Raum! Fröhlich ruft er: „Guten Tag! Gitler kaputt!“

„Gitler“ klingt so komisch! Dass bisher keiner auf die Idee gekommen ist, unseren geliebten Führer ‚Gitler’ zu nennen. Wir brechen in befreiendes Gelächter aus, lachen unsere Todesangst weg, und der Russe lacht mit.

„Sind hier Faschisten? Soldaten?“ fragt der Rotarmist.

„Nein! Keine Soldaten!“ rufen wir alle.

Der Russe steckt die Pistole in die Ledertasche, die an seinem Gürtel hängt, und greift nach dem Glas Wein, das Papa ihm zur Begrüßung reicht. Doch beim ersten Schluck verzieht der Soldat das Gesicht und flucht. Gleich ist bei uns die Angst wieder da. Was hat Papa falsch gemacht? Er hat die Flaschen verwechselt - versehentlich hat er dem Russen Wasser eingeschenkt. Schnell öffnet Diti eine Weinflasche. Diesmal schmeckt es dem Russen, er strahlt. Aus seiner Feldflasche bietet er Papa einen Schluck an, und Papa trinkt. „Wodka!“ sagt Papa anerkennend, ehe er die Feldflasche dem Russen zurückgibt.

Andere Soldaten kommen herunter, drängen sich im engen Keller, schauen neugierig, freundlich zu uns herein. Auch sie wollen einen Begrüßungsschluck – und kriegen ihn.

Ein Russe schlägt den Vorhang beiseite, hinter dem sich Fräulein Plasse versteckt. Verlegen lächelnd kreuzt sie die Arme vor der Brust. Dabei wird ihre Armbanduhr sichtbar. Der Russe bedeutet ihr, sie abzunehmen. Fräulein Plasse reicht ihm die Uhr, und er geht.

Der Russe, der nach ihm kommt, zerrt Fräulein Plasse aus ihrer Ecke. Sie hat das Unglück, der Tür am nächsten zu sitzen. Papa stolpert über die Matratzen, um Fräulein Plasse zu Hilfe zu kommen. Begütigend redet er auf den Russen ein. Der stößt ihn weg, zerrt weiter an Fräulein Plasses Arm. Wir schreien durchdringend. Fluchend geht der Russe aus dem Keller.

„Die Frauen nach hinten“, sagt Papa, „hinter die Pfeiler, schnell!“

Von unserem Geschrei alarmiert, kommt ein russischer Offizier die Treppe herunter, ein kleiner drahtiger Mann mit tadellos gepflegter Uniform voller Ordensspangen.

„Warum habt ihr geschrien?“ fragt er auf Deutsch. Weinend zieht Fräulein Plasse in die dunkelste Ecke des Kellers um. „Ich bin Kommandant! Ihr könnt mich immer rufen! Ich wohne oben! Wenn meine Soldaten sich schlecht benehmen…“

In dieser Nacht rufen wir ihn ein paarmal. Er kommt zwar nicht herunter, aber das durchdringende Geschrei von zwölf Kindern schlägt die Russen, die den Keller auf der Suche nach Uhren und Frauen durchstöbern, in die Flucht.

Am Morgen wage ich mich hinter Diti hinaus in den Garten. Wo vorher die Raupenfahrzeuge der SS standen, sind jetzt Panjewagen der Russen, leichte, zerbrechlich aussehende Leiterwagen, und kleine Pferde mit dreckigem Fell und struppiger Mähne sind an unsere Obstbäume gebunden und fressen Hafer aus einem Sack, der ihnen um den Hals hängt.

„Wie sind die Russen auf diesen Wägelchen den weiten Weg aus Russland gekommen?“ frage ich Diti.

„Sie haben unsere Hühner geschlachtet“, stellt Diti fest.

Auf der Wiese haben die Russen ein Lagerfeuer gemacht. Am Spieß über dem Feuer braten Hühner. Die Russen, die um das Feuer herumsitzen, springen auf, als ein Panjewagen, der Kisten, Säcke und Fässer geladen hat, in den Garten fährt. Jeder bringt einen Eimer, eine Schüssel herbei – einer hält den riesigen Meißener Teller hoch, auf dem Klara immer das Obst servierte.

„Sie haben unsere Küche geplündert!“ schimpft Diti.