Was Kinder können - Wolfgang Kirchner - E-Book

Was Kinder können E-Book

Wolfgang Kirchner

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Beschreibung

Drei Erzählungen über Kinder, die eigentlich nur Liebe wollen und damit die Erwachsenen zur Verzweiflung treiben: Ein Elfjähriger schafft die Wende vom Krieg zum Frieden nicht, kann nicht aufhören zu stehlen. Ein Zwölfjähriger verliebt sich in Zwillinge und setzt als Lockvogel eine Elster ein, während ein Pastor seine Mutter bedrängt... Ein Fünfzehnjähriger schläft mit einer Süßspeisenköchin und stürzt seine Eltern ins Chaos... Tragödien nicht ohne Humor. Die Erzählung "Familiengericht" inszenierte ich als Hörspiel für den SFB unter dem Titel "Eine Sitzung des Familienrats" - mit dem unvergessenen Otto Sander in der Hauptrolle. "Vera oder Maria" erhielt in Wien den Otto-Stoessl-Preis des Österreichischen Schriftstellerverbandes. "Gottes Geschenk für den Mann" wurde unter dem Titel "Erste Liebe" verfilmt. Im Anhang eine Leseprobe aus meinem ebook "Wenn alles in Scherben fällt". Der autobiografische Roman erzählt von einem 13jährigen, der 1945 bei Kriegsende seine Familie vor dem Verhungern bewahren will und dabei von einem riskanten Abenteuer ins andere schlittert.

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Seitenzahl: 124

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Wolfgang Kirchner

Was Kinder können

Drei Erzählungen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Familiengericht

Vera oder Maria

Gottes Geschenk für den Mann

Leseprobe aus „Wenn alles in Scherben fällt“

Leserstimmen

Wolfgang Kirchner

Impressum neobooks

Familiengericht

Mai 1946

Im heißen Frühsommer des Jahres Eins nach dem Krieg schleiche ich mich jeden Morgen kurz vor sieben, bevor die Familie aufsteht, aus Irenes Haus in Kölns Nobelvorort Frankenforst, überquere den Vorgarten der pompösen Villa in der Hoffnung, dass meine von Schlaflosigkeit geplagte Großmutter nicht am Fenster Ausschau hält, und laufe hinüber zur Eichenhainallee, an deren Ende sich die Kantine der belgischen Besatzungssoldaten befindet. Ein Schild mit der Aufschrift Off Limits soll Deutsche auf Abstand halten. Vor der Kantine stehen meist schon ein paar Jungens aus Refrath und Bergisch Gladbach, auch Erwachsene warten hier manchmal. Gegen sieben kommen die ersten Belgier. Einen letzten tiefen Zug saugt jeder Soldat aus seiner Zigarette, ehe er sie vor Betreten der Kantine in hohem Bogen auf die Straße wirft. Die Wartenden stürzen sich auf die meist noch qualmende Kippe. Glücklich, wer ihr am nächsten steht oder über genügend Kraft verfügt, den Nächststehenden mit unsanftem Rempler beiseitezudrücken. Der von allen Beneidete raucht die von Spucke aufgeweichten Tabakreste so lange weiter, bis Fingerspitzen oder Lippen die Glut nicht mehr ertragen.

Wenn ich eine Kippe erkämpft habe, pflücke ich mit den Fingernägeln behutsam die Glut ab, um den verbleibenden Rest zu anderen Kippen in eine leere Streichholzschachtel zu legen. Beim Frühstück stecke ich sie meinem Bruder Diti unterm Küchentisch zu. Mama darf uns dabei nicht ertappen. Sie fürchtet, das Gift, das sich in Zigarettenresten ansammelt, werde die Lunge des vierzehnjährigen Kettenrauchers über kurz oder lang ruinieren. Doch Diti ermuntert mich, mehr und mehr vom Lungengift für ihn aufzutreiben.

Zum Dank informiert er mich über die Schwarzmarktgeschäfte eines athletisch gebauten jungen Mannes, der in Irenes Haus aus- und eingeht und den wir ‚Onkel’ nennen müssen, obwohl er genau genommen nicht zu unserer Familie gehört. Er heißt Erich, ist Irenes Schwager und der zukünftige Erbe einer Hustensaft- und Hustenpillen-Fabrik im benachbarten Neufrankenforst. Diti nennt ihn einen rücksichtslosen Draufgänger – es klingt respektvoll. „Erich verschiebt zentnerweise den Zucker, den die Besatzungsmacht ihm für seine Medikamente zuteilt!“ Wenn mein Bruder von Erichs Gaunereien erzählt, vergisst er nie hinzuzufügen: „So muss man sein, wenn man es heutzutage zu etwas bringen will!“

Wenn ich mal Glück vor der Kantine hatte und die Streichholzschachtel ist bis zum Rand mit Kippen gefüllt, lässt Diti mich teilhaben an Geheimnissen, die für einen Elfjährigen eigentlich off limits sind. Aus belanglosen Details wie dem Kommen und Gehen von ‚Onkel’ Erich, harmlos-zärtlichen Reibereien mit Mamas jüngster Schwester Irene, aus abgebrochenen Gesprächen und alltäglichen Geräuschen hinter geschlossenen Türen zieht der frühreife Diti Schlüsse, die er lustvoll ausschmückt, wenn er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, was seine Phantasie erregt: Das Liebesleben unserer schönen Gastgeberin.

„Einmal überraschte ich die Beiden in der Waschküche“, erzählt er. „Erich half Irene, Feuer unterm Bottich zu machen...“

„Was ist schon dabei?“ unterbreche ich ihn. „Wie oft habe ich Mama beim Feuermachen geholfen!“

„Das Feuer brannte längst“, zwinkert Diti mir zu, „und immer noch hockte Irene dicht neben Erich vor der Ofenluke...“ Jede der unansehnlichen Kippen, die ich vor der belgischen Kantine dem Zugriff der übrigen Sammler entzogen habe, prüft Diti genau. „Ein andermal platze ich in die Küche herein, als Erich ihr eine Zigarette wegnimmt, die sie gerade anzünden will. Irene lässt die Zigarette nicht los, aber gegen seine Stärke kommt sie nicht an. Schließlich gibt sie mit einem tiefen Seufzer nach...“

„Er sorgt sich um sie – wie Mama sich um dich sorgt!“

Aus Mamas Gebet- und Gesangbuch pflegt Diti, was ihm strengstens verboten wurde, heimlich hauchdünne Seiten herauszureißen und als Blättchen zu verwenden. Diesmal ist es ein Marienlied, auf dem er sorgfältig die Tabakkrümel verteilt. „Irene ist verheiratet“, sagt er.

In den letzten Kriegstagen war bei uns im Luftschutzkeller überraschend ein junger Offizier aufgetaucht – Franz, Irenes Mann. Er riet uns, wir sollen schleunigst aus Danzig verschwinden, solange die Rote Armee die Stadt noch nicht eingekesselt hat. Wir waren die Letzten, die Franz sahen.

„Möglicherweise ist Irenes Mann gefallen, sagt Mama.“

„Möglicherweise hat Franz sich in Hela aufs letzte Schiff gerettet, das nach Deutschland fuhr, oder er lag in Dänemark lange besinnungslos in einem Lazarett.“ Das mit Kippentabak gefüllte Seidenpapier rollt Diti zwischen den Fingern. Seine Zungenspitze befeuchtet den Rand mit gerade so viel Spucke, dass es klebt, ohne sich aufzulösen. „Plötzlich steht er vor Irenes Tür. Was dann?“

„Dann müssen wir eben alle zusammenrücken...“

„Stell dich nicht dümmer, als du bist!“ sagt Diti, ärgerlich, weil ein Streichholz nach dem anderen sich weigert, Feuer zu spenden.

„Es ist Irenes Haus. Sie kann tun, was sie will.“

„Hast du beim Religionsunterricht geschlafen?“ Endlich gelingt es ihm, die Zigarette in Brand zu setzen. „Sechstes und neuntes Gebot...!“

Mama, die bei uns Kindern nicht die kleinste Sünde durchgehen lässt - drückt sie bei ihrer Schwester beide Augen zu?

„Ehebruch ist eine Todsünde“, sagt Diti. „Allerdings eine von der Sorte, die Spaß macht, anders als Diebstahl oder Mord.“

In einem Haus voller Ostflüchtlinge - Mama, sechs Kinder, die Großeltern – wo kann man da ungestört sündigen?

„Wie willst du beweisen, dass die Beiden Ehebruch begehen?“

Genussvoll saugt Diti die Lungen voll mit dem, was andere wegwarfen, und bläst mir den Rauch ins Gesicht – es riecht nach Fäulnis, nach Gift. „Liefere Kippen“, sagt er, „dann liefere ich Beweise!“

Im morastigen, von Gräben durchzogenen Wald zwischen Alt- und Neufrankenforst soll es spuken, vor allem bei Nacht. Soldaten treffen sich hier mit Refrather Mädchen, die hinterher mit belgischer Schokolade reich beschenkt den Heimweg antreten. Wenn wir am Sonntag in die Kirche gehen, macht Mama einen Bogen um diesen Forst. Manchmal bekomme ich von Irene den Hinweis, dass in Erichs Hustensaftfabrik, die an den Wald grenzt, ein Teller Suppe auf mich wartet. Dann suche ich mir durchs Gestrüpp und über umgestürzte Bäume hinweg den möglichst kürzesten Weg.

Eines Tages habe ich in diesem Wald eine Begegnung, die - an sich harmlos und sogar erfreulich - weitere Ereignisse anstößt, die von weniger erfreulicher Art sind und mich eine Zeitlang daran zweifeln lassen, ob die Erwachsenen es wirklich gut mit uns Kindern meinen:

Ein belgischer Soldat ist mit seinem Motorrad im Morast steckengeblieben. Er winkt mir, ich soll ihn aus einem sumpfigen Graben herausziehen. Ich packe den Lenker, und es dauert nicht lange, da haben wir die schwere Maschine aus dem Schlamm gehievt. Hinterher sind wir beide über und über mit Dreck bespritzt. Wir lachen. Er redet auf mich ein. Ich verstehe kein Wort. Er bedeutet mir, ich soll warten. Warum? Er zeigt auf die Uhr, will in ein paar Minuten zurück sein, und braust davon. Ich glaube ihm kein Wort, aber warte. Nach einiger Zeit habe ich keine Lust mehr, will gehen, und hungrig bin ich auch. Da rattert er heran, bremst scharf neben mir – ich denke, gleich rutscht er wieder in den Graben – und reicht mir ein Päckchen Zigaretten, in Originalverpackung, noch nicht angebrochen. Wenn ich diese Zigaretten Diti gebe und er fährt nach Köln auf den Schwarzen Markt und verkauft sie, sind wir reich.

Im Keller von Irenes Haus treffe ich Diti beim Schreinern an. Mit einem Hobel bearbeitet er ein Brett und fügt es ohne Nägel mit anderen Brettern zusammen zu einem Regal, das Irene bei ihm in Auftrag gegeben hat - mit vierzehn Jahren ein perfekter Zimmermann. „Wo hast du sie geklaut?“ fragt er, als ich ihm die Packung reiche. Er zündet sich eine belgische Zigarette an. Sie schmeckt ihm, und der Rauch, den er ausstößt, kommt mir vor wie frischer Seewind, verglichen mit dem üblichen Kippenqualm. „Kannst du mehr davon besorgen?“

Zum Dank erzählt er mir eine neue Geschichte von Erich: Vor ein paar Wochen wurde nachts in der Hustensaftfabrik eingebrochen. Aus dem unübersichtlichen Dickicht des Frankenforstes sollen die Einbrecher über die Mauer geklettert und später mit Säcken voll Zucker in der ihnen offenbar wohlbekannten Finsternis des Waldes verschwunden sein. „Die Polizei hat die Täter nicht gefunden“, sagt Diti. „Da haben Erich und seine Brüder die Sache selber in die Hand genommen! Als sie mal durch den Wald gehen, kommt einer der Einbrecher ihnen entgegen. Den haben sie grün und blau geschlagen!“

„Woher wussten sie, dass er einer der Einbrecher war?“

„So etwas weiß man, wenn man aus Frankenforst stammt!“ meint Diti. Die belgische Zigarette hat ihn in gute Stimmung versetzt.

„Es war Nacht, als in die Fabrik eingebrochen wurde“, wende ich ein, „und Erich war nicht dabei!“

„Grün und blau!“ lacht Diti. „Dem ist die Lust aufs Einbrechen vergangen!“ Aus Sparsamkeitsgründen raucht er die kostbare Zigarette nur halb. Von der Kippe streicht er behutsam die Glut ab. „Du könntest öfter mal in den Wald gehen und belgischen Soldaten helfen!“ Den Zigarettenrest voller Gift hebt er für schlechtere Zeiten auf.

Neuerdings kann ich ausschlafen, muss vor der belgischen Kantine nicht mehr lauern auf das, was nicht ohne Grund weggeworfen wird. Morgens ein wenig länger im Bett liegen, von Mama geweckt werden und mit ihr und den Kleinen frühstücken ist gemütlich, aber auf Dauer langweilig. Es fehlt das aufregende Gefühl, das sich jedesmal einstellte, wenn unterm Frühstückstisch Ditis Hand meine Hand suchte, wenn eine Streichholzschachtel, von Mama unbemerkt, den Besitzer wechselte, wenn ein dankbares Funkeln in den Augen meines Bruders mich belohnte.

Seit dem Tag, an dem ich dem Motorradfahrer aus dem Sumpf geholfen habe, klingt Ditis Husten des Nachts nicht mehr so röchelnd. Mama ist überzeugt, ihr Lieblingssohn hat endlich Vernunft angenommen und raucht weniger. Sie lobt mich, dass ich aufgehört habe, Kippen zu sammeln, und ringt mir ein heiliges Versprechen ab, es nie, nie wieder zu tun. Falls Diti gesund bleibe, sagt Mama, sei dies auch mein Verdienst, und drückt mich an sich. Sie spürt, wie spannungslos mein Leben geworden ist, seit ich mit Refrather Jungens nicht mehr um belgische Kippen kämpfe. Wenn ich im Haus herumhänge und nicht weiß, womit ich die Zeit totschlagen soll, rät sie mir, in die Bensberger Stadtbücherei zu fahren und Sigismund Rüstig auszuleihen oder ein paar Bände Karl May, obwohl sie dessen Romane für Aufschneiderei hält.

Sobald Mama mit den Kleinen zum Einkaufen gegangen ist und Diti sich aus dem Staub macht, um am Baggerloch nach Mädchen Ausschau zu halten, zieht es mich in der Garage, die ich unter keinen Umständen betreten darf. Da steht ein verstaubter Maybach aus der Vorkriegszeit, viertürig, mit geschlossenem Verdeck, aufgebockt, ohne Räder. Ich setze mich hinters Steuer, betätige die Hupe, schalte die Gänge auf und nieder, trete auf die Bremse. Aus Regalen im Keller habe ich mir Gläser mit Eingemachtem besorgt, die stelle ich neben mich auf den Beifahrersitz, und während der Maybach lautlos Fahrt aufnimmt und und mit mir sanft über Frankenforsts Kopfsteinpflaster schwebt, schlinge ich hinunter, was Irene für Zeiten der Not eingeweckt hat: Hühnerfleisch, Mohrrüben und Pflaumenmarmelade.

Mehr noch als der alte Maybach lockt mich Irenes Fahrrad, das nahe der Garagentür an der Wand lehnt, blank geputzt, mit prall aufgepumpten Reifen und einer mächtigen Klingel am sportlichen Lenker. Am besten, ich entführe es nachts, wenn alles schläft, ziehe Runde um Runde durch den schlafenden Frankenforst und komme erst am frühen Morgen zurück. Das Risiko, hinterher ausgeschimpft zu werden, will ich gern auf mich nehmen. Wo versteckt Irene den Fahrradschlüssel?

Nicht lange, da ertönt auf Neue Ditis nächtliches Röcheln. Mama verdächtigt mich, dass ich wieder auf Kippenjagd gehe, zumal ihr Gebet- und Gesangbuch fast jeden Tag um einige Seiten schmaler wird. Auch von Diti höre ich heftige Vorwürfe: Ich solle mich endlich wieder mal bei der Kantine blicken lassen. Die belgischen Zigaretten sind aufgeraucht.

Wütend ist Diti auch wegen meines verbotenen Ausflugs auf Irenes Fahrrad. Das ist jetzt mit einer dicken Kette gesichert. Vorher war da nur eine leichte Verriegelung. Bevor ich das Rad heimlich aus der Garage holte, hatte ich den Riegel, der die Speichen blockierte, nach außen gebogen, was Kratzer verursachte. Ich fürchtete, es würde Ärger geben, aber die Vorfreude war stärker als alle Angst. Unter Irenes Fenster, dicht an der Hauswand entlang, schob ich das Rad durch den Vorgarten. Würde sie mich entdecken, wenn ich den Platz vor dem Haus überquerte? Würde sie mich zurückrufen? Würde ich umkehren...?

Alles ging gut. Ich raste über die Matschwege des Waldes zur Kirche, stürzte ein-, zweimal, da war der Lenker verbogen, aus dem hinteren Reifen entwich langsam die Luft, und in den Kettengliedern knirschte Sand. Unter peitschenden Ästen hindurch und über Wurzeln hinweg flog ich dahin, als sei Erich im räderlosen Maybach hinter mir her, auf der Rückbank aus brüchigem Leder die ganze mich verwünschende Verwandtschaft. Während der heiligen Messe betete ich, die Gottesmutter möge das Fahrrad, das ich unverschlossen ans Volksmissionskreuz gelehnt hatte, für Diebe unsichtbar machen.

Überraschenderweise hatte der verbotene Fahrradausflug für mich keine schlimmen Folgen - außer dass Erich, als ich von einer Kirchenchorprobe heimkam und er vor dem Haus das Rad reparierte und putzte, mir schon von weitem zuwinkte. Ich winkte zurück und hoffte, alles ist verziehen und lief auf ihn zu. Da sah ich, dass er mir mit der Luftpumpe drohte...

„Unterlass in Zukunft alles, was uns bei den Verwandten Ärger machen könnte!“ ermahnt Diti mich. „Sorg lieber für Tabak-Nachschub, egal wie!“

Juni 1946

Im ganzen Haus stöbern die Frauen nach mir. Ihre Stimmen kommen bedrohlich näher, entfernen sich wieder. Immer, wenn ich denke, jetzt haben sie die Suche aufgegeben, geht das Rufen von vorn los.

„In der Gartenlaube brauchst du nicht nachzusehen!“ ruft Großmutter. „Da war ich schon!“

„Soll es so weitergehen, dass er Schande über unsere Familie bringt?“ Scharf und zugleich weinerlich klingt Ännes Stimme - Mamas älteste Schwester. Sie ist zu Besuch gekommen. Dauernd wackelt Änne mit dem Kopf, als ob sie alles ablehnt, das Gesagte und das noch nicht Gesagte. „Wie lange willst du ihn noch beschützen?!“ wirft sie Mama kopfschüttelnd vor.

„Wahrscheinlich hat er sich in der Garage verkrochen!“ ruft Großmutter.

Ich klammere mich ans Steuer von Erichs aufgebocktem, räderlosem Vorkriegs-Maybach, schalte die Gänge hektisch hinauf und hinunter, betätige den Winker, drücke aufs Horn. Gleich geht das Garagentor von allein hoch, ohne Räder bewegt die edle Karosse sich dann ins Freie, und ich fahre davon. Vorräte sind vorhanden, eingemachtes Fleisch aus Irenes Regalen, schon leicht schimmelig - eigentlich schmeckt’s nur noch, weil es geklaut ist.

Oben öffnet sich die Tür zum Keller. „Wirst du auf der Stelle heraufkommen, oder müssen wir dich holen?“ ruft Änne in die Garage.

„Bitte, lass mich das machen!“ höre ich Mama. Ihre Schritte kommen die Holztreppe herunter.

„Nicht hinauszuprügeln ist er aus dem Auto!“ jammert Änne und ruft: „Warte, wenn Erich dich da unten erwischt…“

Mama steht vor dem Maybach, öffnet die Beifahrertür, streckt mir die Hand entgegen und zieht mich heraus. „Tante Irene möchte dich sprechen. Kommst du bitte herauf?“

„Wir haben ihn gefunden!“ ruft Änne, mit dem Kopf stärker wackelnd als sonst, als stehe ihr Urteil über mich fest. „Sollen wir ihn ins Wohnzimmer bringen?“