Wenn Apfelbäume tanzen könnten - Lisa Torberg - E-Book
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Wenn Apfelbäume tanzen könnten E-Book

Lisa Torberg

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Beschreibung

Ein Roman über unglaubliche Zufälle, den langen Atem der Liebe und die Buntheit des Lebens. Seitdem Bertl Kofler begriffen hat, dass seine Freundin aus Kinderzeiten nicht seine große Liebe ist, lebt er für seinen Bauernhof. Sein einziger Mitbewohner ist Zeus, sein Schäferhundmischling. Doch immer wieder holt ihn die Erinnerung an die Lehrerin aus dem Pustertal ein, die vor zwei Jahren kurz in Mela unterrichtete. Aber nicht nur er denkt oft an die junge Frau – auch jemand auf dem nahen Apfelhof tut es … Sabine Holzer leitet seit dem Unfalltod ihrer Eltern das Familienunternehmen im Pustertal. Nicht einmal sich selbst gesteht sie ein, wie sehr ihr das Unterrichten fehlt – und das beschauliche Mela mit seinen Apfelwiesen. Ihr Leben ist geprägt von Pflichtbewusstsein und ihrer Liebe für ihren Großvater Johann. Dennoch spukt ein gewisser Bertl Kofler ständig in ihrem Kopf herum. Nach der Filmaufführung von "Apfelblüten im Regen", der auf dem Apfelhof in Mela gedreht wurde, erzählt Johann Holzer seiner Enkelin Unfassbares aus seiner Vergangenheit. Als ihre ehemalige Vermieterin sie kurz darauf nach Mela einlädt, trifft Sabine eine Entscheidung, die nicht nur ihr Leben komplett auf den Kopf stellt. Dieser in sich abgeschlossene Roman spielt vor der atemberaubenden Kulisse Südtirols. In "Wenn Apfelbäume tanzen könnten" gibt es ein Wiedersehen mit Charakteren und Schauplätzen aus "Wenn Apfelbäume sprechen könnten". Beide Romane können jedoch ohne Vorwissen unabhängig voneinander gelesen werden.

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Ein Roman über unglaubliche Zufälle, den langen Atem der Liebe und die Buntheit des Lebens.

 

Seitdem Bertl Kofler begriffen hat, dass seine Freundin aus Kinderzeiten nicht seine große Liebe ist, lebt er für seinen Bauernhof. Sein einziger Mitbewohner ist Zeus, sein Schäferhundmischling. Doch immer wieder holt ihn die Erinnerung an die Lehrerin aus dem Pustertal ein, die vor zwei Jahren kurz in Mela unterrichtete. Aber nicht nur er denkt oft an die junge Frau – auch jemand auf dem nahen Apfelhof tut es …

Sabine Holzer leitet seit dem Unfalltod ihrer Eltern das Familienunternehmen im Pustertal. Nicht einmal sich selbst gesteht sie ein, wie sehr ihr das Unterrichten fehlt – und das beschauliche Mela mit seinen Apfelwiesen. Ihr Leben ist geprägt von Pflichtbewusstsein und ihrer Liebe für ihren Großvater Johann. Dennoch spukt ein gewisser Bertl Kofler ständig in ihrem Kopf herum.

Nach der Filmaufführung von "Apfelblüten im Regen", der auf dem Apfelhof in Mela gedreht wurde, erzählt Johann Holzer seiner Enkelin Unfassbares aus seiner Vergangenheit. Als ihre ehemalige Vermieterin sie kurz darauf nach Mela einlädt, trifft Sabine eine Entscheidung, die nicht nur ihr Leben komplett auf den Kopf stellt.

 

Dieser in sich abgeschlossene Roman spielt vor der atemberaubenden Kulisse Südtirols. In "Wenn Apfelbäume tanzen könnten" gibt es ein Wiedersehen mit Charakteren und Schauplätzen aus "Wenn Apfelbäume sprechen könnten". Beide Romane können jedoch ohne Vorwissen unabhängig voneinander gelesen werden.

Inhaltsverzeichnis

Wenn Apfelbäume tanzen könnten

Einleitung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Als der Wind die Träume fing

Die Autorin

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

Südtirol hat für viele Ausländer, vor allem Deutsche, etwas Faszinierendes, aber auch für Italiener aus südlicheren Regionen – aufgrund des stark ausgeprägten alpenländischen Charmes. Kein Wunder, ist doch die Mehrheit der Bevölkerung deutscher Muttersprache, die Italienisch nur als Fremdsprache in der Schule lernt. Italienisch ist die Muttersprache von etwa einem Viertel der Bewohner der Autonomen Provinz Bozen, das rätoromanische Ladinisch von knapp fünf Prozent. Es ist also nicht verwunderlich, dass italienische Lebensart nur als leiser Hauch zu spüren ist – und dennoch Südtirol dieses einzigartige Flair anhaftet, das aus der nördlichsten Provinz Italiens etwas Besonderes macht.

 

Dieser Roman spielt teils in Toblach im Hochpustertal, das für die Dolomiten-Gipfel Drei Zinnen berühmt ist. Der nicht weit entfernte atemberaubende Pragser Wildsee spielte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle. Die damaligen Ereignisse beeinflussten das Leben eines Protagonisten dieser Geschichte und somit die Handlung. Der zweite Ort ist, wie bereits im Roman "Wenn Apfelbäume sprechen könnten", Mela. Ich liebe diese im Etschtal gelegene und von Apfelwiesen und dem Hausberg dominierte Gemeinde, die mir wie Rom, Sizilien und London eine Heimat wurde, seitdem ich vor Jahren aus beruflichen Gründen für einige Zeit nach Südtirol zog.

Einige besondere Menschen durfte ich hier kennenlernen, die ich wie versprochen auch in meinem zweiten Südtirol-Roman in den Personen der Geschichte auf die eine oder andere Art verewigt habe.

 

Widmen will ich diesen Roman jedoch der einzigartigen Medi Sellitsch, der meine Romanfigur Filomena Pinker sehr viel verdankt – nicht nur das beispiellose Altern! Danke, dass es dich in meinem Leben gibt, Medi!

 

Allerdings weise ich mit Nachdruck darauf hin, dass sämtliche in diesem Roman beschriebenen Ereignisse meiner Fantasie entsprungen sind.

Sollten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nun Mela auf der Landkarte suchen, so werden Sie es nicht finden. Mela ist das italienische Wort für Apfel und war somit meine naheliegende Namenswahl für den Ort, in dem Äpfel seit dem Mittelalter eine wichtige Rolle spielen. Die Beschreibungen stimmen nicht hundertprozentig mit der Realität überein – aber wer das wahre Mela kennt, wird unschwer erraten, wo sich der meiner Fantasie entsprungene Apfelhof befindet.

Bleibt mir nur noch, zu hoffen, dass ich Ihnen mit dieser Südtiroler Geschichte kurzweilige, intensive und zugleich entspannende Lesestunden bereiten kann. Falls Sie sich zwischen den Zeilen in diesen wundervollen Ort und den Apfelhof verlieben sollten und mehr wissen wollen, so können Sie mir jederzeit schreiben. Und nun wünsche ich Ihnen viel Freude bei der Lektüre,

 

Ihre Lisa Torberg

KAPITEL 1

Toblach, Pustertal

»Entspann dich, Nonno!« Sabine Holzer legte eine Hand auf den Rücken ihres Großvaters und schubste ihn vorwärts.

Er reagierte eigenartig. Zum einen antwortete er nicht, zum anderen ließ er sich von ihr in den Gustav-Mahler-Saal schieben wie eine Fetzenpuppe. Überhaupt. Seitdem er das Plakat entdeckt hatte, das vor drei Wochen überall in Toblach aufgehängt worden war, benahm er sich komisch. Zuerst hatte er von ihr wissen wollen, was denn Public Viewing bedeutete. Die latent vorhandene Lehrerin in ihr hatte innerlich den Kopf geschüttelt, aber nicht der Frage wegen, sondern weil sie nicht begriff, weshalb man hier bei ihnen einen englischen Ausdruck verwendete, den eh kaum einer verstand. Im Hochpustertal waren sie zwar nicht am Ende der Welt – aber so gut wie, und von den dreitausenddreihundert und ein paar Zerquetschten Einwohnern im Dorf waren viele schon froh, wenn sie auch die andere Landessprache ein bisserl reden konnten. Ihr Großvater sprach beide perfekt, immerhin hatte er ja eine Frau mit italienischer Muttersprache geheiratet – vor mehr als sechzig Jahren. Doch Englisch hatte er nie gelernt. Wozu denn auch? Holzer-Holz exportierte zwar seit Jahrzehnten über die Grenze hinweg, aber die nach Österreich war ja nur fünfzehn Kilometer weit weg und dort sprach man genauso deutsch wie auf dieser Seite. Sabine hatte ihm also erklärt, dass man im Kulturzentrum den Film Apfelblüten im Regen gratis anschauen konnte. »Da gehst mit mir hin, Sabinchen«, hatte er gesagt – und den Rest ihr überlassen.

Sie hatte auf der Gemeinde die Karten besorgt, obwohl sie alles dafür gegeben hätte, heute nicht hier zu sein. Doch wie hätte sie das dem Großvater erklären sollen? Er war zweiundneunzig und derart gut beisammen, dass er fast immer ablehnte, wenn ihm jemand helfen oder etwas mit ihm unternehmen wollte. Sogar den Führerschein hatte ihm der Amtsarzt erst vor ein paar Wochen wieder erneuert – wie alle zwei Jahre, seitdem er achtzig war –, und so fuhr er weiterhin mit seinem Mercedes-Benz Baujahr 1987, den er seit der Zulassung vor vierunddreißig Jahren nur SL nannte. Zwar nicht allzu weit, aber seine wenigen noch lebenden Freunde und ein paar Kunden in den umliegenden Gemeinden besuchte er regelmäßig – so wie früher. Alte Gewohnheiten legt man eben nicht so leicht ab, würde die Nonna jetzt sicher sagen und seinem geliebten Auto hinterherschauen, bis die Rücklichter an der Kurve zum letzten Mal aufleuchteten, bevor er verschwand. Stunden später würde sie wieder am Küchenfenster stehen und auf die Rückkehr ihres Mannes warten, wie sie es ihr ganzes gemeinsames Leben lang bis zu ihrem Tod gemacht hatte.

Johann Holzer war ein unabhängiger Freigeist, einer, der sich von niemandem jemals hatte irgendwas sagen lassen, und das hatte sich bis heute nicht geändert. Wenn der Nonno sie also schon einmal von sich aus um etwas bat, dann konnte Sabine es ihm nicht ausschlagen.

Nur hatte sie seit Tagen wegen des heutigen Abends ein mulmiges Gefühl im Bauch, das jetzt zunahm. Während man ihnen von allen Seiten zunickte oder einen Gruß zurief, behielt sie die Hand auf Großvaters Rücken und vergrub ihre Finger in dem Stoff seiner Jacke. Nicht um seinetwillen, sondern weil der Kontakt ihr Sicherheit gab.

»Na, das ist aber eine Freude, dass du dich einmal bei einer Kulturveranstaltung blicken lasst, Johann Holzer.« Der Bürgermeister kam mit zum Gruß ausgestreckten Arm auf den Großvater zu.

»Geh, jetzt tua net so überrascht, Bürgermeister. Hast ja gwusst, dass die Sabine die Karten für uns vom Gemeindeamt abgeholt hat.«

»Die andere hätt ja auch für ihren Freund sein können«, erwiderte Luis Walder mit einem Lacher und zwinkerte ihr zu. Dabei wirkte er paradoxerweise selbstsicher und zugleich unsicher, vor allem aber erreichte das aufgesetzte Lächeln seine Augen nicht.

Sabine mochte ihn nicht. Nicht mehr. Früher, als sie Kinder waren, war das anders. Der zwei Jahre ältere Bub hatte sie nie von oben herab behandelt und sogar mit ihr gespielt, obwohl sie ein Mädel war. Später hatte der Luis dann alles darangesetzt, wichtig zu werden. Im Schützenverein, beim Dartspielen in der Gastwirtschaft und in der Politik. Kein Wunder, dass er im letzten Jahr mit nur zweiunddreißig zum Bürgermeister gewählt worden war – auch von ihr.

Aber mit dieser plumpen Frage bewies er, dass er längst nicht so abgebrüht war, wie er zu sein vorgab. Wieder einmal, denn dass er immer alle ausfragte, ob sie denn einen Freund hätte, hatte sie früher prompt am Wochenende erfahren, sobald sie in Toblach war. Und jetzt erfuhr sie es schon nach wenigen Stunden. Das war lästig, aber nicht so sehr wie die Tatsache, dass sie dem Luis fast täglich über den Weg lief. Als ob er es drauf anlegen würde, sich immer dort herumzutreiben, wo sie gerade war. Vor der Post, in der Bank oder wenn sie sich rasch einen Kaffee in der Patisserie holte, er war immer in der Nähe. Dass der Ort klein war und das Rathaus eben auch im Ortszentrum lag, hatte aber nichts damit zu tun. Als Bürgermeister sollte er doch arbeiten – und zwar in seinem Büro – und nicht draußen herumlaufen. Sabine versuchte, den kalten Schauer zu ignorieren, der die Härchen in ihrem Nacken und die auf ihren Armen aufstellte, und zwang sich zu einem verkrampften Lächeln.

»Den hätte ich auch mitgebracht, wenn er hier wäre«, antwortete sie ihm jetzt mit einem Achselzucken auf die dumme Andeutung, die ja eigentlich eine Frage war. Er wollte wissen, ob sie einen Freund hatte? Klar hatte sie – für ihn!

Den Luis schockiert zu sehen, tat ihr gut. Ein so ein Depp! Scheinbar hatte er in all den Jahren, in denen er sie immer wieder um ein – wie er es nannte – Date gebeten hatte, immer noch nicht kapiert, dass er sie einfach nur in Ruhe lassen sollte. Seitdem sie wieder in Toblach lebte, hatte er sie zwar nicht mehr direkt gefragt, nicht zuletzt, weil die Pandemie begonnen hatte, die ihrer aller Leben beeinträchtigt hatte. Doch nachdem schrecklichen letzten Jahr hatte er das lästige Stalken wieder aufgenommen.

»Du hast an Freund?«

»Warum sollt sie denn keinen haben, Walder?« Der Nonno kam ihr zuvor und sprach weiter, während Sabine die angehaltene Luft zwischen halb geschlossenen Lippen lautlos ausstieß. »Ich sag’s jetzt nicht, weil sie meine Enkelin ist, sondern weil das sowieso jeder erkennt, der Augen im Kopf hat. Die Sabine ist was Besonderes. Sie ist hübsch anzuschauen und außerdem a gscheits Madl, die ihr Hirn net nur dafür verwendet, sich zu überlegen, wie sie sich einen Mann aufreißen soll.«

»Was moansch denn damit, Johann?«

Ihr Großvater streckte den Rücken durch und schaute die paar Zentimeter auf den Bürgermeister runter, da er trotz seines Alters immer noch größer war als die meisten Männer in der Gemeinde. Wo er seine beachtliche Statur herhatte, wusste niemand, denn der Überlieferung nach war keiner seiner Vorfahren überdurchschnittlich groß gewesen. Rote Haare und grüne Augen hatte auch keiner gehabt – zurück bis zu seinen Großeltern, an die er sich noch selbst erinnern konnte. Fotos aus der Vergangenheit gab’s ja nicht so viele. Jetzt hob er eine Hand und fuhr sich durch das immer noch dichte, mittlerweile silbrigweiß glänzende Haar und machte einen Schritt auf den Luis zu, der irritiert die Stirn runzelte, sich jedoch nicht vom Fleck bewegte.

»I bin zwar alt, aber i bin weder taub noch blind, Walder. Es gibt genug Weiber bei uns in der Gemeinde und rundum, die sich für einen wie dich alle zehn Finger abschlecken. Solche, die gern sagen täten, dass sie die Frau von irgendeinem Bürgermeister sind, auch wenn’s net der von Bozen ist. Aber die Sabine gehört net dazua. Meine Enkelin braucht kan Mann, über den sie sich identifiziert, weil sie selber Eier in der Hose hat – im Gegensatz zu so manchem Mannsbild.«

Luis Walder schnappte hörbar nach Luft. »Damit meinst aber net mi, Johann?«

»Grad di moan i, Bua! Du schleichst um die Sabine herum, lauerst ihr auf und hast immer no net begriffen, dass du ka Chance bei ihr hast.«

»Aber ...« Luis machte einen Schritt zurück und wandte seinen Kopf, um Sabine anzuschauen. »Ich hab geglaubt, du magst mich!«

Anklagend klang er.

Beleidigt wie ein kleiner Bub, dem ein anderer die Lieblingslokomotive geklaut hat. Oder den Fußball. Ihr fielen auf Anhieb Hunderte Beispiele ein. Sie hatte seit ihrem Studienabschluss immerhin vier Jahre lang unterrichtet. Ihre Schüler waren zwischen sechs und elf gewesen, doch jetzt schaute sie den Luis an und plötzlich kam ihr sogar der größte Lausbub erwachsener vor als dieser Kindskopf. Sie atmete tief ein und wieder aus, bevor sie ihm antwortete.

»Nicht so, wie du das gern hättest, Luis.«

Der Blick, den ihr der Großvater zuwarf, fühlte sich an wie ein Streicheln. Er nickte ihr zu, ergriff ihre Hand und zog sie an dem stumm erstarrten Bürgermeister vorbei zu ihren Plätzen in der zweiten Reihe. Sabine schloss ihre Finger noch einmal fest um die langen ihres Nonno, bevor sie die Jacke auszog und sich setzte. Er sank neben ihr auf seinen Stuhl und sie beugte ihren Kopf in seine Richtung, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte und wie dankbar sie ihm war – und wahrlich nicht nur, weil er dem Luis Walder den Kopf zurechtgerückt hatte. Aber dazu kam es nicht, da das Licht im Saal ausging und leise Musik einsetzte. Sabine hob das Kinn und schaute zur riesigen Leinwand.

Ein Ort war aus der Luft zu sehen. Die Kamera zoomte und holte einen Punkt in der Bildmitte immer näher heran. Es war ein typisches Bauernhaus mit hölzernen Balkonen im oberen Stock und einem Giebeldach. Nichts Außergewöhnliches in Südtirol – und dennoch schlug ihr Herz ein bisserl rascher. Aber das hatte nichts mit dem Haus zu tun, sondern mit den drei riesigen Apfelbäumen, deren weit gespannte Äste mit den frühlingsgrünen Blättern und rosaweißen Blüten miteinander eine Einheit bildeten und sich sachte im Wind bewegten. So, als ob sie die alte Holzbank darunter beschützen wollten.

Sabine presste die Lippen aufeinander und starrte geradewegs auf einen Punkt des erdigen Bodens neben der Bank. Dort hatte Chris Bergmann, der Produzent des Films, die Urne mit der Asche seiner Mutter begraben – und sie war anwesend gewesen. Fast zwei Jahre waren seither vergangen. Eine halbe Ewigkeit, um genau zu sein, seitdem sie den Bertl Kofler zuletzt gesehen und seine Stimme gehört hatte. Dabei ... Sabine verhakte die Finger beider Hände in ihrem Schoß und grub die Zähne in ihre Unterlippe. So hätte es nicht kommen sollen. Ganz und gar nicht. In ihren Träumen hatte sie sich alles ganz anders vorgestellt, nach ihrer Ankunft in Mela, wo sie den Turnunterricht der Kollegin übernommen hatte, die sich ein Bein gebrochen hatte. Bis zum Schulschluss vor den Sommerferien hatte es geheißen – und dann hatte das Schicksal ihr Leben auf den Kopf gestellt.

Sie merkte den feuchten Schleier, der ihren Blick trübte, aber die Schrift, die sich über das Bild auf der Projektionswand legte, war riesig. Apfelblüten im Regen. Ihre Augen wanderten von einem Buchstaben zum nächsten, bevor sich jeder davon in Tausende kleine Apfelblüten verwandelte, die davonflogen.

Sabine hörte den Nonno laut seufzen. Sie wandte den Kopf und musste zweimal blinzeln, um in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. Er fixierte die Leinwand. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Blick starr. Genauso wie damals, als sie ihm von Mela und den Menschen, die sie kennengelernt hatte, erzählt hatte – Wochen, nachdem sie so überstürzt heimgekehrt war.

Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran. Ausgerechnet jetzt ... während die Vergangenheit sie einholte und sich in ihren Kopf drängte. Sie senkte die Lider, wischte sich mit beiden Händen die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln, wandte den Kopf wieder der Leinwand zu – und seufzte erleichtert auf.

Der Apfelhof und die drei großen, alten Apfelbäume davor wurden ausgeblendet und vor ihren Augen erschienen im Hintergrund die Drei Zinnen, im Vordergrund ein Mann, der wie ein Bergführer gekleidet war und auf die hoch aufragenden Berge zeigte. »Das Gebirgsmassiv der Sextner Dolomiten, zu denen das UNESCO-Welterbe Naturpark Drei Zinnen gehört, bildet die Grenze zwischen der Provinz Belluno im Süden und unserem Südtirol hier im Norden.« Man hörte zwar sofort, dass er ein Deutscher und nicht Südtiroler war, aber er sah wirklich gut aus, der Hauptdarsteller des Films. Sabine erinnerte sich an die Bemerkungen von Gitti und Traudl während ihrer Zeit in Mela, als sein Name fiel, lehnte sich zurück und beschloss, sich ausschließlich auf Apfelblüten im Regen zu konzentrieren.

Sie war nur mit dem Nonno hergekommen, weil er den Film sehen wollte, der heute kostenlos in nahezu allen Südtiroler Gemeinden gezeigt wurde – noch vor der offiziellen Premiere. Das war der einzige Grund. Sonst gab es keinen. Und störende Gedanken daran, was hätte sein können, wenn nicht was anderes passiert wäre, hatten in ihrem Kopf nichts verloren. Weder hier und heute noch sonst irgendwann. Basta.

KAPITEL 2

Zeitgleich in Mela

Da saßen sie nun alle nebeneinander in der ersten Reihe im großen Saal im Kulturhaus von Mela und schauten auf die Leinwand. Geschniegelt und gestriegelt waren sie, sogar der Bertl. Der hatte seine schweren Schuhe, die er sonst immer trug, gegen seine Sonntagsschuhe eingetauscht, obwohl heute nicht Sonntag war, und statt eines seiner karierten Hemden trug er zu ebenfalls ziemlich neu aussehenden Jeans ein einfarbiges hellblaues. Zwar hatte er keine Krawatte umgebunden, was ja nun wirklich nicht zu ihm passen würde, aber immer wieder fuhr er mit einem Finger unter den Hemdkragen, als ob er ihn lockern wollte, obwohl die oberen zwei Knöpfe offen waren. Liesi tauschte mit Traudl, die rechts neben ihr saß, einen schmunzelnden Blick. Reden mussten sie nicht. Wenn man sich faktisch von Geburt an kannte, verstand man sich auch so.

»Bis vor zwei Jahren hätten den Bertl keine zehn Pferde in den Saal gebracht, nicht einmal zu einem Konzert der Bürgerkapelle«, murmelte Gitti ihr prompt ins linke Ohr.

Liesi unterdrückte das aufsteigende Glucksen, bevor sie ihr antwortete. »Damals hätt auch niemand gedacht, dass ausgerechnet er irgendwann einen Sitz im Gemeinderat haben würde.«

Traudl Gruber schnaubte wie ein Fohlen, bevor sie sich die Hand vor den Mund schlug und offenbar darauf entsann, dass sie nicht nur Hausärztin war, sondern ein großer Teil ihrer Patienten hinter ihr saß.

»Sch«, zischte prompt jemand weiter hinten. »Wir wollen den Film sehen und net euch quatschen hören«, raunte eine Frau. »Weibsbilder«, kam es zugleich von einem Mann verächtlich.

Aber erst als der Produzent des Films einerseits und der Regisseur andererseits den drei Frauen in der ersten Reihe mahnende Blicke zuwarfen, verstummten sie. Liesi Thaler jedoch nicht, ohne ein Luftbusserl über ihre Handfläche hinweg in Chris Bergmanns Richtung zu hauchen, während Traudl ihrem Marcus zuzwinkerte. Nur die Gitti Gufler blieb verschont, da ihr Mann Leon damit beschäftigt war, nach der Hand seines besten Freundes zu greifen, weil der Bertl damit schon wieder am Hemdkragen spielte.

Filomena Pinker, Liesis Großmutter, merkte hingegen nichts von all dem, was rundum passierte. Mit hocherhobenem Kopf saß sie am ersten Platz gleich beim Mittelgang und schaute auf die riesige Leinwand. Ein dichtes Netz kleiner Falten durchfurchte ihr Gesicht, das von schlohweißen Haaren umrahmt wurde. Wie immer hatte sie sie zu einem Zopf geflochten und am Hinterkopf zu einer Art Schnecke zusammengerollt und aufgesteckt. Der farbliche Kontrast ließ ihre vom Alter und der Sonne braun gegerbte Haut noch dunkler erscheinen, als sie war, was nicht an dem gedimmten Licht im Saal lag, wie Liesi wusste. Nur die erstaunlich wachen, nahezu farblosen wasserblauen Iriden stachen daraus hervor. Ihr Blick drückte Verwunderung und gleichzeitig Zufriedenheit aus. Bis heute hatte sich die Großmutter geweigert, den Film anzuschauen, obwohl Chris es ihr dutzendmal angeboten hatte. Nicht, weil er der Produzent von Apfelblüten im Regen und der Apfelhof, auf dem so viele Szenen gedreht worden waren, ihre und Liesis Heimat war. Auch nicht, weil er vor zwei Jahren erfahren hatte, dass seine Mutter, die ein Leben lang nie über ihre Heimat gesprochen hatte, ebenfalls auf dem Apfelhof aufgewachsen war, und sie nach allen möglichen Verwirrungen alle gemeinsam die Urne mit Elisabeth Bergmanns Asche unter den Apfelbäumen vergraben hatten, was ihr letzter Wunsch gewesen war. Und auch nicht, weil ausgerechnet Chris und sie sich ineinander verliebt hatten und sie nun gemeinsam mit Filomena auf dem Apfelhof lebten, den deren ungarische Großmutter Erzsebet Pinkasz vor mittlerweile hunderteinunddreißig Jahren begründet hatte.

Nein. Trotz ihrer zweiundneunzig Jahre hatte die Großmutter einen Dickschädel wie ein Kleinkind und hatte sich auch nach dem mehrmaligen Verschieben der Erstaufführung des Films aufgrund dieser unsäglichen weltweiten Pandemie nicht davon abbringen lassen, darauf zu warten. Filomena sah also den Film heute zum ersten Mal – im Gegensatz zu ihr und Traudl, aber auch Gitti, Leon und Bertl, denen Chris und Marcus bald nach dem Abdrehen eine Rohkopie gezeigt hatten. Liesi schaute immer noch hinüber zu ihrer Großmutter, als die Musik intensiver wurde. Die Bögen strichen rascher über die Saiten der Violinen und ein anfangs leiser Trommelwirbel steigerte sich zu einem lauten Crescendo. Sie wandte den Kopf genau in dem Moment, in dem die beiden Protagonisten auf der Bank unter den Apfelbäumen ihren Kuss vertieften. Mit einem Paukenschlag endete die Geschichte der beiden so ungleichen Menschen, die einander gefunden hatten und sich ewige Liebe schworen. Das an sich war schon wirklich kitschig, doch als dann auch noch Tausende Apfelblüten von oben auf das Liebespaar rieselten und die Worte Happy End formten, lachte Liesi auf – und sie war nicht die Einzige. Im ganzen Saal nahm das Lachen zu, allerdings konnte es das Schniefen nicht überdecken.

Traudl stieß Liesi an. »Schau dir das an. Die heulen alle.«

Sie wandte sich um. Ältere Frauen wischten sich über die Augen, jüngere tupften mit Taschentüchern mit Mascara vermischte Tränen von den Wangen, während die Männer entweder die Augen verdrehten oder unangenehm berührt zu Boden schauten. Es war ein Bild für Götter, dachte Liesi, bevor ihr Blick zu ihrer Großmutter schweifte – und sie schockiert den Mund öffnete. Lautlos, denn selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte kein Wort über die Lippen gebracht.

Filomena Pinker, die Frau, der man nachsagte, dass sie nichts aus der Ruhe brachte, weinte. Sie starrte auf die Leinwand, über die vor einem Standbild der drei Apfelbäume vor dem Apfelhof immer noch die Schlusscredits liefen. Liesi sprang auf, ging an den mittlerweile leeren Plätzen von Marcus und Chris vorbei, die im Mittelgang von unzähligen Menschen umrundet wurden, die dem Produzenten und dem Regisseur die Hand schütteln wollten. Vor ihrer Großmutter ging sie in die Knie, bis ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren.

»Was ist denn los, Filomena? Geht’s dir nicht gut?«

Die alte Frau blinzelte mehrmals und schaute sie endlich aus ihren hellblauen Augen an. »Bringst mich bitte nach Hause, Liesi?«, bat sie leise. »Ich bin so schrecklich müde.«

Zur selben Zeit im Hochpustertal

Der Gustav-Mahler-Saal im Kulturzentrum von Toblach glich einem Bienenstock im Frühjahr. Jeder der vierhundertfünfzig Plätze war besetzt gewesen, aber jetzt, während die Schlusscredits über die Leinwand liefen, saß so gut wie niemand mehr. Alle waren aufgestanden. Die Frauen wischten sich die Rührungstränen weg, die Männer bildeten Grüppchen und taten so, als ob sie der zu Ende gehende Film nichts anginge – während sie darüber sprachen. Sabine bekam das alles unterbewusst mit, als sie sich erhob und ihrem Großvater zuwandte. Nur war sein Gesicht nicht vor ihrem, wo sie es erwartet hatte. Sie senkte den Blick und erschrak. Er wirkte wie versteinert. Nicht, dass seine Gesichtsfarbe anders war als sonst, denn die vielen Jahrzehnte an der frischen Luft hatten ihre Spuren hinterlassen. Seine sonnengebräunte Haut gab ihm ein gesundes Aussehen und die vielen Falten, die sie durchzogen, vor allem aber die unzähligen außerhalb seiner leicht schräg stehenden Augen zeugten von seinem Alter. Nur wirkte er normalerweise zufrieden, ja, sogar irgendwie glücklich, weil seine Mundwinkel so gut wie immer nach oben zeigten. Aber nicht jetzt.

Sabine ging vor ihrem Großvater in die Knie, bis ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren.

»Was ist denn, Nonno? Geht’s dir nicht gut?«

Johann Holzer atmete tief ein, senkte dabei die Augenlider, bevor er sie wie in Zeitlupe wieder öffnete, und fokussierte ihren Blick. »Bringst mich bitte nach Hause, Sabine?«, bat er leise. »Ich muss dir was erzählen.«

Er stand unerwartet auf, sodass sie fast nach hinten fiel. Doch er packte sie an den Armen und hielt sie, bevor er sie abrupt losließ und durch den Mittelgang davonstürmte. Er reagierte nicht auf die Zurufe der anderen Dorfbewohner, sondern bewegte sich in Schlangenlinien zwischen ihnen hindurch, bis er den Ausgang des Saals erreichte. Sabine tat es ihm gleich. Im Vorbeigehen bemerkte sie den Bürgermeister, der ihr offenbar etwas sagen wollte, es dann aber doch nicht tat. Gut so. Sie hatte jetzt wirklich was anderes im Kopf als den Luis, der ohnehin nur wieder irgendeine unnötige Bemerkung loswerden wollte. Dennoch waren ihre Gedanken noch bei ihm, als sie plötzlich an ihrem Arm gepackt und zur Seite gezogen wurde. Sie musste gar nicht den Kopf drehen, um den Griff zu erkennen.

»Sabine, kommst noch mit uns in die Speckstube? Wir müssen uns unterhalten.« Karin verzog den Mund zu einem Grinsen.

»Worüber?« Die Frage stellte sie reflexartig, denn es war ohnehin klar, was ihrer besten Freundin im Kopf herumspukte.

»Na über Männer natürlich.«

»Natürlich.« Sabine nickte und konnte sich das Schmunzeln nicht verbeißen. »Im Allgemeinen oder über einen im Besonderen?«

Karin seufzte tief, hob eine Hand an ihre Haare und wickelte sich eine ihrer – zurzeit – schwarzen Strähnen um den Zeigefinger. »Der Hauptdarsteller ist der absolute Wahnsinn.« Sie blinkerte mit den Augenlidern.

»Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, müsste ich jetzt denken, dass du ein hirnloses Pupperl bist.«

Karin seufzte noch einmal – diesmal tiefer. »Was hat denn das Gehirn mit einem rein körperlichen Bedürfnis zu tun, Sabine? Wir sind Frauen aus Fleisch und Blut, keine Roboter.«

»Das kannst morgen deinem Chef Schrägstrich Vater sagen, wenn du ihn um zwei Wochen Urlaub bittest, die du dann in einem Ferienclub irgendwo im Süden oder besser noch in Spanien verbringst, wo all die Männer herumlaufen, die dir im Kopf herumspuken.«

Karin verdrehte zur Antwort die Augen und hakte nach. »Also, was ist jetzt? Kommst mit uns mit?«

Sabine schüttelte den Kopf. »Heut nicht, Karin, tut mir leid. Du weißt doch, dass ich mit dem Nonno da bin, und der wartet drauf, dass ich ihn heimbringe.« Sie deutete zur Tür, die aus dem Saal führte. Johann Holzer stand dort, hoch aufgerichtet, ernst, mit einer Hand in der Hosentasche, den Blick auf sie gerichtet.

»Dann kommst halt nach.«

»Nein, wirklich nicht. Außerdem brauchst du mich doch nicht, wenn die anderen dabei sind.« Sie deutete auf Karins Schwester und deren Cousine, die ein paar Schritte entfernt standen.

»Aber die sind doch noch Kinder!«

Die beiden waren Ende zwanzig, Karin und sie hatten im vergangenen Jahr den dreißigsten Geburtstag gefeiert. Sabine ersparte sich den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, zog stattdessen ihre Freundin kurz an sich und verabschiedete sich von ihr mit den drei obligatorischen Wangenküsschen. Während sie sich abwandte, rief sie: »Schönen Abend noch!«, und eilte zum Ausgang.

Der Großvater schaute immer noch so ernst. Wenn er nicht nach ihrer Hand gegriffen und sie mit sich aus dem Kulturzentrum nach draußen gezogen hätte, hätte sie ernsthaft überlegt, ob er während der Filmvorführung zu Stein erstarrt war. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was diesen Zustand in ihm ausgelöst hatte – bis ihr plötzlich wieder der Tag vor fast zwei Jahren einfiel, an dem er genauso gewesen war, als er sie nach ihrer Zeit in Mela gefragt hatte, die ebenso abrupt geendet wie begonnen hatte. Ihre Erzählung hatte ihn irgendwie aufgewühlt, was ganz und gar unlogisch war, weil er doch nie dort gewesen war und schon gar niemanden der Menschen dort kannte.

Bis zu den Sommerferien hätte sie damals die verletzte Kollegin an der Grundschule vertreten sollen, stattdessen hatte der Autounfall ihrer Eltern dem Aufenthalt vorzeitig ein Ende gesetzt. Ihr Herz war damals, als der Großvater anrief, mehrfach zerbrochen – und ein Stück davon war in Mela zurückgeblieben. Aber das war ihr Herz und dem Nonno hatte sie nichts davon gesagt. Es war ohnehin schon schwer genug für ihn gewesen, den einzigen Sohn und die Schwiegertochter am selben Tag zu verlieren. »Eltern sollten ihre Kinder nie überleben«, hatte der Pfarrer bei der Beerdigung gesagt. Zuerst war Sabine mit seinen Worten gar nicht einverstanden gewesen, mittlerweile verstand sie, was er gemeint hatte, auch wenn sie überzeugt davon war, dass ihr Schmerz nicht geringer war als der ihres Großvaters.

Jetzt stieg er in den Wagen und saß stumm neben ihr, während sie die paar Kilometer nach Hause fuhren. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihm los war, aber eines wusste sie mit Sicherheit: Was immer ihn in diesen Zustand versetzt hatte, hatte nichts mit dem Tod der Eltern zu tun, sondern mit Apfelblüten im Regen. Plötzlich hatte sie ein komisches Gefühl. Entgegen ihrer Gewohnheit, langsam durch den zu Toblach gehörenden Ortsteil zu fahren, beschleunigte Sabine, ließ Niederdorf hinter sich und bog mit quietschenden Reifen in die Straße ein, die zum Haus auf dem Hügel führte, das ihr Großvater vor vielen Jahren anstelle seines Elternhauses erbaut hatte.

Ihr Magen flatterte ebenso wie ihre Finger, als sie den Motor ausmachte und den Schlüssel abzog. Dass der Nonno sie nicht wegen ihrer Fahrweise rügte und wortlos ausstieg, machte die Sache auch nicht besser. Sie spürte, dass das, was er ihr erzählen wollte, irgendetwas ändern würde. Einerseits fieberte Sabine diesem Moment entgegen, andererseits hatte sie Angst davor, ohne diese definieren zu können. Ihre Knie fühlten sich an wie Watte, als sie das Haus betrat und kurz darauf im Wohnraum auf ihren Platz auf dem Sofa sank, während der Großvater sich in seinem Ohrensessel zurücklehnte und ihr einen langen Blick zuwarf, bevor er zu sprechen begann.

KAPITEL 3

Oktober 1953

Sobald er die Eisflussbrücke überquert hatte und die Straße hinauf zum Apfelhof nahm, trat Johann Holzer das Pedal des Topolino bis zum Anschlag durch. Er mochte den tiefen Klang des Motors, den der Fiat der Altbäuerin von sich gab, während er sich aufwärts quälte. Noch mehr aber mochte er den Gedanken an Filomena, die ihn deshalb schon aus der Ferne hören konnte und ihm entgegenlaufen würde wie jeden Abend. Mit geröteten Wangen, wobei er nie wusste, ob sie die von der Kocherei hatte oder seinetwegen. Aber im Grunde genommen war ihm das so was von egal! Das, was zählte, war das Strahlen in ihrem Gesicht, bei dem das helle Blau ihrer Augen funkelte wie Sterne am Nachthimmel.

Viel zu rasch nahm er die nächste Kurve. Ein paar Äpfel flogen aus der bis zum Rand gefüllten Kiste und kullerten über den Boden im Ladebereich. Sie lärmten wie Billardkugeln, die zu stark angestoßen wurden und über die Bande sprangen und zu Boden fielen. Die Agnes Pinker, die Altbäuerin und Filomenas Mutter, die auf dem Apfelhof das Sagen hatte, würde ihn zuerst anmaulen – und dann aus den angeschlagenen Äpfeln einen Strudel machen. Für das Schälen würde sie die Frau ihres Neffen Jakob einteilen, die dieser geschwängert und deshalb urplötzlich geheiratet hatte. Das war alles grad erst passiert, und unter dem Dirndlrock sah noch niemand was, aber seit der überstürzten Hochzeit hing zwar nicht das Kruzifix, jedoch der Haussegen schief. Wenn er die Filomena nicht so gernhätte, wäre er schon längst wieder weg gewesen, wie überall, wo er in den letzten Jahren war.

Wanderjahre nannte seine Mutter das, was sein Vater als unstetes Herumstreunen bezeichnete. Er sollte endlich Verantwortung übernehmen, hatte er ihm beim letzten Telefonat gesagt.

»Johann, du bist das einzige Kind, das uns geblieben ist. Deine Mutter wird jeden Tag trauriger, weil du seit sechs Jahren weg bist, und ich mach mir ernsthaft Sorgen um den Betrieb. Ich werde nicht jünger – und du auch nicht. Noch bevor der Winter endet, wirst du fünfundzwanzig. Wenn du bis dahin nicht zurück bist, nehm ich das beste von den vielen Angeboten an und verkaufe.«

»Das kannst du nicht!« Johann hatte so vehement geantwortet, dass die Frau vor der Telefonzelle im Postamt erschrocken aufgeschrien hatte.

Im Gegensatz zu ihm war der Vater ruhig geblieben. »Natürlich kann ich, Johann. Und ich sag ja nicht, dass ich dich enterbe, sondern nur, dass ich allein nicht weitermachen will. Dafür bin ich zu alt und mein kaputtes Bein macht mir immer mehr zu schaffen. Außerdem blüht der Holzhandel – wie alles, was mit dem Bauen zu tun hat. Es gibt also keinen besseren Zeitpunkt für einen Verkauf, und das Geld kommt ohnehin irgendwann dir zugute. Ins Grab mitnehmen kann ich es nicht.«

Seit dem Anruf waren vier Wochen vergangen, in denen er seine Eltern nicht mehr gehört hatte. Tagsüber hatte er einfach keine Zeit gehabt, aufs Postamt zu fahren, und vom Apfelhof aus wollte und konnte er nicht telefonieren. Die Agnes hätte es ihm erlaubt, aber in der Diele nach dem Abendbrot mit seinen Eltern zu reden, hätte bedeutet, dass ihn alle gehört hätten. Der Jakob, seine Frau, sein Vater Peter, die Altbäuerin – und ihre Tochter. Filomena.

Immer wieder hatte er versucht, mit ihr zu reden, ihr endlich die Geschichte seiner Familie zu erzählen, aber zu mehr als ein paar Andeutungen war es bisher nie gekommen. Es war ohnehin schon schwierig genug für sie beide, sich davonzuschleichen. Zwar glaubte nicht nur die Filomena, dass ihre Mutter sehr wohl wusste, dass sie beide nicht einfach nur aufgrund desselben Alters so gut miteinander auskamen – er, der Vorarbeiter auf den Pinkerschen Apfelwiesen, und sie, die Jungbäuerin –, aber sie hatte offenbar genauso wenig Lust, zum Heiraten gezwungen zu werden, wie er. Obwohl ...

Die Familie Pinker war so anders als die meisten Leut, die er kannte. Die Agnes war nie verheiratet gewesen und hatte ihre Tochter allein aufgezogen, so wie schon ihre Mutter, die aus Ungarn nach Südtirol gekommen war, sie und ihren Bruder, der auch ein eigenartiger Typ war. Der Peter Pinker fügte sich nicht nur in allem seiner Schwester und legte keinen Wert darauf, als Altbauer angesprochen zu werden, er hatte auch nie geheiratet. Den Jakob hatte er als Sohn aufgezogen und ihm seinen Namen gegeben, nachdem die ledige Mutter, die auf dem Apfelhof als Magd gearbeitet hatte, an Kindbettfieber gestorben war.

Johann verlangsamte und schaltete, bog in die holprige Zufahrtsstraße zum Apfelhof ein.

Die Pinker-Frauen waren alle so stark und unabhängig, dass sie einem Mann Angst machen konnten – aber nicht ihm. Er fürchtete sich weder vor der Agnes und schon gar nicht vor der Filomena. Zwar kannten sie sich noch nicht so lang, aber er hatte schon vom ersten Moment an gewusst, als er auf dem Hof um Arbeit gefragt hatte, dass sie die Richtige war. Er liebte sie – und er wollte sie zur Frau, und er war überzeugt davon, dass sie genauso empfand wie er.

Nur in einer Sache war er sich nicht ganz sicher: nämlich ob sie bereit war, Mela und den Apfelhof zu verlassen und mit ihm nach Toblach zu gehen. Aber das würde er nicht erfahren, wenn er ihr nicht endlich alles von seiner Familie erzählte und ihr die Frage stellte, die ihm im Herzen brannte. Heute, schwor er sich – und bremste abrupt. Diese verrückte Frau stand mitten auf dem Weg und grinste ihn an, als er nicht einmal einen Meter vor ihr den Fiat ihrer Mutter endlich zum Stehen brachte. Er riss die Fahrertür auf, sprang aus dem Wagen, war mit wenigen Schritten bei ihr und packte sie an den Oberarmen.

»Ja bist du denn verrückt, Filomena? Willst du dich umbringen?«

Sie lachte herzhaft auf, schlang die Arme um seinen Nacken, stellte sich auf die Zehenspitzen und zog seinen Kopf näher.

»Sicher nicht, Johann. Dann würdest mich doch nicht mehr küssen, und ohne deine Küsse würd ich nicht überleben!«

Sie spitzte die Lippen und wartete, dass er seine darauf legte. Doch bevor er das tat, lugte er über ihren Kopf hinweg, um sich zu versichern, dass nicht zufällig die Altbäuerin auftauchte. Aber die saß wahrscheinlich wie immer vor dem Abendbrot auf der Bank unter den Apfelbäumen und schaute über den Eisfluss hinweg runter zum Ort. Und so schloss er die Augen und tat, was die Filomena von ihm verlangte.

Als sie sich endlich nach Luft schnappend voneinander lösten, stellte sie sich wieder auf die ganzen Fußsohlen, strich sich die Zöpfe glatt und schaute zu ihm auf.

»Vergiss nicht, wo wir stehen geblieben sind, Johann. Wir machen nach dem Essen weiter.« Sie zwinkerte ihm zu und wandte sich ab.

Er ging zum Wagen, um einzusteigen, als sie sich seitlich drehte und ihm über die Schulter zurief: »Es ist übrigens ein Brief für dich gekommen. Er liegt in der Diele unterm Telefon.«

»Bis heut erinnere ich mich, wie ich mich in dem Moment gefühlt hab, wie ich den Motor gestartet habe und die letzten Meter hinter der Filomena her zum Hof gefahren bin. So zuversichtlich und glücklich. Ich wusste einfach, dass sie Ja sagen und meine Frau werden würde.«

Sabine beugte sich auf dem Sofa vor und schaute dem Großvater ins Gesicht. Er saß immer noch in derselben Position auf seinem ledernen Ohrensessel, mit den Armen auf den Lehnen, den undeutbaren Blick ins Nirgendwo gerichtet.

»Und was ist dann passiert, Nonno?«

Johann Holzer blinzelte zweimal, räusperte sich, schaute ihr endlich in die Augen. »Der Brief war von meiner Mutter. Er war sechs Tage unterwegs gewesen. Sie hatte ihn geschrieben, nachdem der Vater in der Firma an seinem Schreibtisch zusammengebrochen ist. Das ist am Abend passiert und er war der Letzte, wie so oft. Wie sie ihn endlich gefunden hat, weil sie sich Sorgen gemacht hat, war es fast zehn. Ich habe den Brief gelesen und die Altbäuerin gefragt, ob ich telefonieren kann. Ich war bös auf meine Mutter, weil sie nicht gleich auf dem Apfelhof angerufen hat, wie es passiert ist. Die Nummer hatte ich den Eltern ja für Notfälle gegeben.«

Sabine umklammerte ihre Hände auf den Knien. »Und dann?«, drängte sie.

»Gar nix. Dem Vater ging’s besser, ich hab sogar mit ihm gesprochen, weil er lediglich ein paar Tage im Krankenhaus gewesen ist. Es war nur ein leichter Herzanfall, hat er behauptet und gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Das hab ich aber. Beim Abendbrot hab ich kaum was runtergebracht vor lauter Aufregung, und danach habe ich der Filomena zugeraunt, dass ich mit ihr allein reden muss – dringend.«

Wieder verlor sich der Nonno in seinen Erinnerungen, nur strich er sich diesmal mit einer Hand über die Augen. Die schimmerten verräterisch, als er den Arm senkte und weitersprach.

»Ich hab ihr alles erklärt, ihr von meinen Brüdern erzählt, die beide im Krieg gefallen sind. Ich war ja viel zu jung, um eingezogen zu werden, aber das Elend hab ich trotzdem mitgekriegt – und die Sache mit den SS-Geiseln in dem Hotel am Pragser Wildsee, nur ein paar Kilometer von hier entfernt, die dann im Fünfundvierzigerjahr Ende April zuerst von Wehrmachtsoldaten befreit und ein paar Tage später den Amerikanern übergeben wurden. Alle haben gejubelt, wie der Krieg vorbei war, dabei hat das Chaos im Pustertal dann erst richtig begonnen. Ich hab der Filomena erzählt, dass ich mit achtzehn, zwei Jahre nach dem Kriegsende, endlich von daheim weggegangen bin, obwohl meine Mutter geweint hat. Und dann hab ich ihr gesagt, dass ich sie liebe und will, dass sie meine Frau wird und mit mir nach Toblach geht, weil ich den Holzhandel meiner Familie weiterführen wollte, weil niemand außer mir das tun konnte.«

Sabine sprang auf und ging vor seinem Lehnstuhl in die Hocke, weil er schon wieder nicht weiterredete. »Mein Gott, Nonno, jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Was hat sie gesagt?«

»Das kannst du dir doch denken, Sabine, sie ist ja nicht da. Nein hat sie gesagt. Ich hab meine Sachen gepackt und bin noch in der Nacht bis zum Bahnhof von Postal gegangen. Am nächsten Abend war ich hier – und seither hab ich von der Filomena nichts mehr gehört. Bis heute. Der Apfelhof in dem Film, das ist ihrer.«

Es war kurz vor Mitternacht, aber anstatt zu schlafen, wo sie doch morgen wieder um fünf aufstehen musste, war sie putzmunter. Und nicht nur das. Sie hätte ja auch im Bett liegen bleiben und mit geschlossenen Augen versuchen können, Schafe zu zählen, aber nein! Sabine Holzer war immer noch so aufgewühlt, dass sie sich einen Kamillentee gemacht und zwei Löffel Honig hineingerührt hatte. Der Tee war mittlerweile genauso kalt wie ihre bloßen Füße, aber sie merkte weder das eine noch das andere. Stattdessen sah sie ihre Großmutter vor sich, als ob sie noch am Leben wäre. Quirlig war sie gewesen und hatte nie versucht, ihre neapolitanischen Wurzeln zu verbergen. Zwar waren schon ihre Eltern beide in Bozen geboren worden, dennoch sprach sie neapolitanisch gefärbtes Italienisch – bis zu ihrem Tod. Aber wenn sie deutsch sprach, hörte man nichts davon.

Bis heute war Sabine davon überzeugt gewesen, dass das zwischen ihren Großeltern die echte einzig wahre große Liebe gewesen war. Als die beiden heirateten, war es so gut wie nie vorgekommen, dass zwei aus verschiedenen Sprachgruppen überhaupt miteinander näheren Kontakt hatten, geschweige denn mehr. Nicht zuletzt aus ihrer Zeit als Grundschullehrerin wusste sie nur zu gut, wie stark diese Trennung immer noch war. Nicht einmal vier Prozent der Südtiroler hatten bei der letzten statistischen Erhebung angegeben, zwei Muttersprachen zu haben – was alles aussagte. Ihre Großeltern hatten 1960 geheiratet und Sabines Vater war sechs Monate nach der Hochzeit im selben Jahr zur Welt gekommen, aber sie hatte immer gedacht, dass die beiden sich wirklich geliebt hatten. Stattdessen ...

»Natürlich hab ich sie gerngehabt, deine Nonna, Sabinchen. Aber ich wäre Junggeselle geblieben, wenn sie damals nicht schwanger gewesen wäre.«

Der Nonno hatte ihr mit diesen beiden Sätzen, die er ihr an der Tür zu seinem Schlafzimmer gesagt hatte, bevor er sie lautstark hinter sich zugezogen hatte, auch das letzte Fitzelchen der Überzeugung geraubt, dass ihre Familie aus absoluter Liebe entstanden war.

Sie hätte ihn in Ruhe lassen sollen. Ihm nicht bis zu seinem Zimmer nachlaufen und ihn weiter mit Fragen bombardieren sollen, nachdem er seine Erzählung beendet und sich wieder in Schweigen gehüllt hatte. Akzeptieren, dass er nach dem Geständnis, das sie ohnehin schon komplett verwirrt und schockiert hatte, nichts mehr hatte sagen wollen.

Sabine schob die halb volle Tasse zur Tischmitte. Kamillentee schwappte über den Rand auf die Holzplatte. Gedankenverloren tupfte sie die Spitze des Zeigefingers in den nassen Fleck und zog mit der Flüssigkeit kleine Kreise.

Alles nur Lüge. Der ehrenwerte und von allen respektierte Holzhändler Johann Holzer hatte seine Schreibkraft Concetta Palumbo nur geheiratet, weil er sie geschwängert hatte. Möglicherweise im Büro, auf dem wuchtigen Schreibtisch, unter dem Sabine sich als Kind so oft versteckt hatte. Was hätte sie denn auch als Einzelkind sonst tun sollen, wenn sie in der Firma war. Ihr Vater hatte immer nur gearbeitet, ihre Mutter ebenfalls. Sie in der Bank, er natürlich im Familienbetrieb. Er war nicht nur in die Familie Holzer, sondern zugleich in die Firma Holzer-Holz hineingeboren worden. Sabine hatte nie mit ihm darüber gesprochen, ob er das gewollt hatte – es war einfach so. Und jetzt war es zu spät. Nie hatte sie darüber nachgedacht, mit ihren Eltern über die Familiengeschichte der Holzers zu reden, warum auch? Sie hatten ja stets zusammen mit den Großeltern hier im selben Haus gelebt – und sie war ihrem Großvater immer näher gewesen als ihren Eltern, die viel mehr Zeit in ihre Arbeit investierten, als sie mit ihr verbrachten. Sabine war neun, als die Nonna starb, und die Verbundenheit mit ihrem Großvater war von da an noch intensiver geworden.

Kein Wunder eigentlich, da sie im Gegensatz zu ihrem Vater nicht nur die roten Haare und grünen Katzenaugen von ihrem Nonno geerbt hatte, sondern auch sein Temperament. Trotz der charakterlichen Ähnlichkeit und der sechs Jahrzehnte, die zwischen ihnen lagen, fühlte es sich zwischen ihnen beiden an, als ob sie derselben Generation angehörten. Im Gegensatz zu vielen Dorfbewohnern, die sie kontinuierlich darauf ansprachen, weshalb sie noch immer keinen Mann gefunden hatte und nicht endlich eine Familie gründete – als ob sie mit einunddreißig eine alte Jungfer wäre! –, kannte sie die Antwort, sprach sie jedoch nie aus. Sie ließ die anderen im Glauben, dass sie, seitdem sie ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben und offiziell die Geschäftsführung von Holzer-Holz übernommen hatte, ganz darin aufging, das Familienunternehmen als solches weiterzuführen.

Hätte ihr jemand vor nur drei Jahren gesagt, dass sie irgendwann genau das tun würde, was ihr Vater sich gewünscht hatte, sie hätte die Augen verdreht und sich mit einem Schnauben abgewandt. Aber dann hatte sie die Hiobsbotschaft erreicht. Ausgerechnet ihre Eltern, die sie beide immer gewarnt hatten, die überlastete Pustertaler Staatsstraße nicht zu unterschätzen, sich an die Geschwindigkeitsbeschränkungen zu halten und nie zu überholen, weil es viel zu gefährlich war, waren aufgrund eines Überholmanövers genau dort getötet worden. Dass nicht sie schuld gewesen waren, sondern der Entgegenkommende, der nach zwei Bier viel zu schnell unterwegs war und sich selbst überschätzt hatte, war letztlich nicht von Bedeutung. Drei Menschen hatten, wie so viele vor ihnen, das Leben auf dieser gefährlichen Straße verloren – und ihr eigenes hatte schlagartig eine andere Richtung genommen.

Nicht, da ihr Großvater sie darum ersucht hatte, denn das hätte er nie von ihr verlangt. Nein, sie ganz allein hatte sich entschieden. In der ersten Zeit hatte sie nicht darüber nachgedacht, sondern einfach getan, was nötig war. Ihre Eltern hatten ihr das Pflichtbewusstsein vererbt, unter dem sie manchmal zu ersticken drohte, aber das war damals gut gewesen.

Sie hatte ihre Trauer und ihren Schmerz mit Arbeit betäubt.

Die Sommerferien waren damals, als der Unfall passierte, nur wenige Wochen entfernt und man hatte längst eine Vertretung für sie, die ja bereits als Vertretung an der dortigen Schule gewesen war, nach Mela geschickt. Im August hatte sie dann der Schulbehörde mitgeteilt, dass sie aus familiären Gründen nicht mehr unterrichten könnte, ohne viel darüber nachzudenken. Seit dem Abschluss ihres fünfjährigen Universitätsstudiums war sie vier Jahre lang immer irgendwo für jemanden eingesprungen. Sie war im Ultental gewesen und im oberen Vinschgau, in Sterzing im Norden und im südlichen Südtirol an der Weinstraße. Immer in kleinen Ortschaften und weit weg von daheim, bis man sie endlich nach Brixen geschickt hatte. Fast ein Jahr war sie als Mutterschaftsvertretung dort gewesen – nur etwas mehr als eine Autostunde von Toblach entfernt. Nicht, dass sie jeden Tag hin und her gefahren wäre, aber allein das Wissen, es tun zu können, hatte ihr gutgetan – abgesehen von den Möglichkeiten, die die größere Stadt im Gegensatz zu kleinen Ortschaften bot. Die Kollegin war ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes zurückgekommen – und sie hatte die Vertretung für den Turnunterricht in Mela angetreten, nahezu dankbar, dass die Lehrerin sich das Bein gebrochen hatte. Damals war sie davon überzeugt gewesen, dass man ihr endlich nach dem Sommer eine feste Stelle zuteilen würde, und sie hatte, nachdem sie die Gitti und den Leon Gufler, bei denen sie wohnte, und deren Freunde sie ebenfalls kennengelernt hatte, ihre Präferenz für eine Planstelle bei der Schulbehörde abgeändert. Zu ihrer Heimat, dem Hochpustertal, hatte sie Mela und Umgebung hinzugefügt – und dabei die Finger überkreuzt.

Sie hatte nicht nur gehofft, sondern sogar davon geträumt, in dem wunderschönen Ort, der von Apfelwiesen umgeben war, eine Zukunft zu haben. Eine, bei der ein großer, breitschultriger Mann mit dichten hellbraunen Haaren, die ihm immer über das rechte Auge fielen, eine Rolle spielte. Eine große Rolle.

»Warum bist denn du net im Bett?«

Sabine zuckte zusammen und schaute auf. Der Großvater stand in der Küchentür und schaute sie besorgt an.

»Und du? Was machst du da?«

»Ich wollt mir eine warme Milch machen.«

»Du? Eine Milch? Warum denn?«

»Damit ich einschlafen kann. Aber vielleicht ist es besser, wenn ich mir auch einen Kamillentee mach. Oder ich trinke einen Schluck von deinem.«

Sabine schaute auf die Tasse und die Teepfütze daneben auf der Holzplatte, dann auf ihren Finger, mit dem sie zwar keine Kreise mehr zog, dessen Spitze aber immer noch in der Nässe lag.

---ENDE DER LESEPROBE---