Wenn Schnee zu Liebe schmilzt - Lisa Torberg - E-Book
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Wenn Schnee zu Liebe schmilzt E-Book

Lisa Torberg

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Beschreibung

Er verliert seine Familie, trifft wütend eine schwerwiegende Entscheidung und flüchtet aus Australien, um zu vergessen. Zwölf Jahre später holt ihn die Vergangenheit ein. Finn McDermott lässt alles hinter sich. Seine Heimat, das Glücklichsein – und den Grund dafür, dass er seine Familie verloren hat. Anstatt Schiffsbau studiert er Medizin. Eine Arztpraxis in einem kleinen Ort in Maine passt perfekt in sein Konzept. Denn wer allein ist, kann niemanden verlieren. Kurz vor dem Ziel lässt ihn jedoch sein alter Pick-up bei Eiseskälte im Stich, der Fahrer des Abschleppwagens entpuppt sich als Frau – und schlagartig steigt seine Körpertemperatur an. Harper Sullivans Programm an diesem Freitagabend gehört zu ihren Pflichten als Miras großer Schwester, denn sie haben nur noch einander. Doch dann klingelt der Pannenruf und die Weihnachtsdekorationen sind vergessen. Sie muss raus in die Kälte, um einen alten Pick-up mitsamt Fahrer zu retten. Einen Mann, der nicht halb so alt ist wie vermutet – und der ihr nicht mehr aus dem Kopf geht.

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Er verliert seine Familie, trifft wütend eine schwerwiegende Entscheidung und flüchtet aus Australien, um zu vergessen. Zwölf Jahre später holt ihn die Vergangenheit ein.

 

Finn McDermott lässt alles hinter sich. Seine Heimat, das Glücklichsein – und den Grund dafür, dass er seine Familie verloren hat. Anstatt Schiffsbau studiert er Medizin. Eine Arztpraxis in einem kleinen Ort in Maine passt perfekt in sein Konzept. Denn wer allein ist, kann niemanden verlieren. Kurz vor dem Ziel lässt ihn jedoch sein alter Pick-up bei Eiseskälte im Stich, der Fahrer des Abschleppwagens entpuppt sich als Frau – und schlagartig steigt seine Körpertemperatur an.

Harper Sullivans Programm an diesem Freitagabend gehört zu ihren Pflichten als Miras großer Schwester, denn sie haben nur noch einander. Doch dann klingelt der Pannenruf und die Weihnachtsdekorationen sind vergessen. Sie muss raus in die Kälte, um einen alten Pick-up mitsamt Fahrer zu retten. Einen Mann, der nicht halb so alt ist wie vermutet – und der ihr nicht mehr aus dem Kopf geht.

Inhaltsverzeichnis

Wenn Schnee zu Liebe schmilzt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Kuschel-Winter-Blizzardliebe

Die Autorin

Impressum

Niemand hat die Macht, die Vergangenheit zu ändern.

Doch alle beeinflussen wir mit unseren Entscheidungen die Zukunft.

 

(Lisa Torberg)

Kapitel 1

Finn McDermott erinnerte sich auf die Sekunde genau an den Moment, in dem sein glückliches Leben endete. Allerdings begriff er erst elf Tage später, dass dem so war. Da stand er als einziger Angehöriger vor den auf dem kurz geschorenen Rasen des Southport Lawn Cemetery nebeneinander aufgereihten Särgen seiner Familienmitglieder. Er schüttelte trockene und eiskalte, fiebrig heiße und schweißfeuchte Hände. Er hörte Hunderte von leeren Floskeln, die nicht einmal ansatzweise tröstend waren. Er ertrug das Schniefen und die weinerlichen Laute rundum und sah in tränenfeuchte Augen von Menschen, von denen er die meisten noch nie gesehen hatte. Es fühlte sich an, als ob er neben sich stünde, ihn das alles nichts angehen würde, er am falschen Ort wäre. Und er spürte absolut nichts. Bis eine Melodie erklang, eine weibliche Stimme zu singen begann – und seine Kehle eng wurde. Ihm bewusst wurde, weshalb er hier war. Er erinnerte sich nicht, dass er Mums Lieblingssong ausgesucht hatte. Aber wer sonst hätte es tun sollen? Sein starrer Blick auf die vier Särge trübte sich, und ihm wurde klar, welch riesigen Fehler er mit dieser Wahl gemacht hatte. Seine Augenwinkel wurden feucht. Tränen quollen hervor, rannen an der Nase entlang abwärts. Die Worte von Wind Beneath My Wings erschütterten ihn. Finn spürte den salzigen Geschmack auf seinen Lippen und hätte beinah aufgeschrien, denn er hatte nichts geschmeckt oder gerochen, seitdem …

Er hatte sich nicht gewundert, Gold Coasts Polizeichef zu sehen, als es, kurz nachdem er von der Kajaktour mit Touristen oben im Ortsteil Surfers Paradise der zweitgrößten Stadt des Bundesstaats Queensland heimgekommen war, an der Haustür geklingelt hatte. Brian Hanlon war einer der beiden engen Freunde seines Dads und Teil der Familie. Lange bevor er eingeschult wurde, hatte Brian ihm das Kajakfahren beigebracht. Er hatte immer zu ihm aufgesehen und sogar eine Phase gehabt, in der er unbedingt ein Polizist und wie er werden wollte. Und dann hatte Brian Hanlon, als Finn an diesem Frühsommertag mit einem fröhlichen Spruch auf den Lippen die Tür öffnete, mit einem einzigen Satz seine Welt zum Einsturz gebracht.

 

Brian nun rechts von sich zu wissen und seinen Schmerz zu spüren, verstärkte seinen eigenen. Dazu dieser Song von Bette Midler. Die Sonne, die vom wolkenlosen Himmel schien. Die schaumstoffartige Schutzhülle, die ihn bis vor wenigen Stunden eingehüllt hatte und die er den kleinen Pillen verdankte, wurde mit jeder Minute, die verstrich, löchriger. Den original verschlossenen Plastikbehälter hatte ihm Mums Freundin Mia Harris gegeben, deren Grundstück an das seines Elternhauses grenzte, die nun links von ihm stand. Ausgerechnet sie, die Ärztin, die auf natürliche Heilmethoden schwor und traditionelle Medizin nur im absoluten Ernstfall in Betracht zog. Seither hatte Finn die Tranquilizer eingeworfen wie Smarties – die letzten am Morgen, bevor er die schwarze Krawatte umgelegt hatte, die auf dem Bügel des Hemds gehangen hatte und von der er nicht wusste, wie sie dorthin gekommen war. Sicher hatte Mia sie gekauft, die sich mehrmals täglich über den wasserseitigen Garten Zugang zum Haus verschaffte, um ihn zum Essen und Trinken zu zwingen. Einhundert Diazepam-Tabletten hatten zehn Tage und ein paar Stunden lang sein Hirn lahmgelegt. Jetzt waren sie mitsamt ihrer benebelnden Wirkung weg – und die Realität traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers.

Mit bebenden Fingern zog er das Einstecktuch aus der Tasche des Anzugs, den er zuletzt an dem Tag getragen hatte, als Mum und Dad ihr Heiratsversprechen erneuert hatten. Sie waren so unglaublich glücklich gewesen an ihrem zwanzigsten Hochzeitstag! Finn hatte die Augen verdreht, als sie sich zum wohl hundertsten Mal küssten, und seine Schwester mit einem Zwinkern gefragt, ob die Hoffnung bestünde, dass ihre Eltern vor ihrer goldenen Hochzeit mit dieser Knutscherei aufhören würden. Sie alle hatten daraufhin gelacht, er am meisten.

Dieser dumme, schmerzvolle Gedanke ließ die Tränen noch rascher fließen. Warum musste ihm das ausgerechnet jetzt einfallen? Das Einstecktuch war klitschnass, bevor er seine Sonnenbrille aufsetzen konnte. Wozu er allerdings ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre, da er nicht einmal die Kraft hatte, die Arme anzuheben. Das nasse Stück Stoff entglitt seinen Fingern, er sank schluchzend auf die Knie. Die Eisstarre, in die er seit der Horrornachricht gefallen war und die ihn paradoxerweise irgendwie hatte funktionieren lassen, fiel von ihm ab – und er tat, wozu er bisher nicht fähig gewesen war. Er warf den Kopf in den Nacken und schrie seinen Schmerz heraus, weil er vollumfänglich begriff, dass sein glückliches Leben zu Ende war.

Bis zum Tag des Unfalls, dessen Ursache die kriminaltechnischen Ermittler der Polizei eindeutig dem fehlerhaften Ventil der Gasflasche des Herds zuordnen konnten, woraufhin der Fall archiviert wurde, hatte er sich zumindest einmal täglich vorgestellt, von daheim auszuziehen. Um Dads nervenden Fragen zu entkommen, ob er nicht doch ein paar Wochen an einer der Jachten, die sich in der Werft der Familie im Bau befanden, arbeiten wollte, bevor er auf die Uni wechselte, um die Theorie des Schiffbaus zu studieren. Um Mums Hände, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit über seine Haare strichen, als ob er noch ein kleiner Junge wäre, nicht mehr zu spüren. Um seine nervigen Geschwister nicht ertragen zu müssen. Denn sosehr er sie liebte, hatte er mit einem Zehnjährigen und mit einer Vierzehnjährigen nichts gemeinsam. Erst recht nicht, nachdem er endlich seinen Highschoolabschluss in der Tasche hatte. Bis zum Beginn des Studienjahres im Februar konnte er die Seele baumeln lassen, als Guide für Kajaktouren mit Touristen ein paar Dollar verdienen, den Ernst des Lebens vorübergehend vergessen und den Jahreswechsel am Strand mit seiner Clique feiern. Diesen letzten Sommer, den Übergang zum Erwachsenwerden, hatte er sich verdient, war sein einziger Gedanke gewesen. Jetzt wollte er hingegen einfach nur seine Familie zurück.

Er sank auf seine Fersen und umklammerte die Grasbüschel neben seinen Oberschenkeln. Riss daran. Spürte Brians Hand auf seiner Schulter, seine Finger, die sich in sein Fleisch gruben. Hörte das Summen einer Biene, das die Melodie von Wind Beneath My Wings ablöste – und eine Stimme in seinem Kopf, die ihm zuraunte, dass er nicht hierbleiben konnte. Nicht auf dem Rasenfriedhof, wo neben Dads Eltern der Rest seiner Familie begraben werden würde. Nicht in Gold Coast, wo er trotz der sechshunderttausend Einwohner, die auf einer Fläche von mehr als vierhundert Quadratkilometern lebten, jede Ecke kannte, weil er hier geboren und aufgewachsen war. Alles hier war perfekt zum Glücklichsein. Sechzig Kilometer Traumstrand, der vom Südrand Brisbanes im Norden bis weit runter in den Süden Touristen aus der ganzen Welt anlockte. All die Mitte des letzten Jahrhunderts angelegten künstlichen Kanäle, neunmal so viele Wasserstraßen wie in Venedig, deren Ufer Hotels, Parks und Villen säumten. Eines dieser Häuser war sein Elternhaus, das er nicht einmal für ein Studium an einer der weltweit besten Universitäten für Schiffbau in Norwegen oder in den Niederlanden verlassen hätte, wie Dad es sich gewünscht hatte. Ein paar seiner Freunde hatten Finn deshalb als Idioten bezeichnet. Bis sie endlich alle den Scooter-Führerschein machen durften, hatten sie ihre Freizeit zumeist bei ihm verbracht. Jeder von ihnen hätte sein letztes Hemd gegeben, um seine Eltern gegen Finns tauschen zu können. Jetzt standen sie wahrscheinlich irgendwo zwischen all den vielen Menschen rundum – oder auch nicht. Es war egal.

Seit dem Tag des Unfalls hatte er niemanden sehen, mit niemandem sprechen wollen. Das Handy hatte er an die Wand gepfeffert, hatte keine Ahnung, ob es noch funktionieren würde, falls er es auflud. Es war unwichtig, denn nie wieder würden Mum, Dad oder seine Geschwister den Familienchat mit Smileys anstatt Wörtern füllen, die sie alle zum Lachen brachten. Die Türklingel hatte er abgestellt, sobald er hinter Brian Hanlon abgeschlossen hatte. Nur Mia ignorierte auch nach elf Tagen immer noch Finns Wunsch, allein zu bleiben. Doch selbst ihre Anwesenheit und der Geruch des Essens, das sie mitbrachte und er nach wenigen Bissen im Klo entsorgte, änderten nichts daran, dass das Haus schrecklich leer, still und eiskalt war. Was unerträglich war – und immer schlimmer werden würde, jetzt, wo sich der Nebel in seinem Kopf zunehmend verflüchtigte. Seine Kehle war wie zugeschnürt und seine Brust zu eng für den immensen Schmerz in seinem Herzen.

Er musste weg von hier! Von diesem Friedhof, aus Gold Coast, aus Queensland, aus Australien. Finn sprang auf. Sein Blick glitt unruhig über die vier Särge. Aus dem Augenwinkel bemerkte er das Stirnrunzeln des Zelebranten, als er sich blitzschnell abwandte und von einer unsichtbaren Kraft angetrieben zwischen den Menschen davoneilte, die auswichen und eine Gasse bildeten, als ob sie Angst hätten, von ihm berührt zu werden. Niemand wagte, ihn zu stoppen – bis auf Hudson Bell, Dads zweiten engen Freund, der ihn plötzlich am Oberarm packte und näher kam. Finn trat einen Schritt zurück. Der Anwalt festigte seinen Griff. Finn wusste instinktiv, was er sagen würde, falls er ihn zu Wort kommen ließ. Dass er bis zum Ende bleiben und jeweils eine dieser langstieligen Rosen, die in großen Körben vorbereitet worden waren, auf die vier Särge legen sollte. Dass er es irgendwann bereuen würde, nicht von seinen Liebsten Abschied genommen zu haben. Dass … Bla, bla, bla.

»Sag es nicht!« Finn umfasste Hudsons Handgelenk und löste unmissverständlich den Griff um seinen Arm.

»Ich hatte nicht vor, irgendwas zu sagen, Finn, will lediglich verhindern, dass du jetzt allein bleibst.« Dads Freund konterte so rasch, dass er ihm glaubte. Vor allem jedoch wurde Finn plötzlich klar, was zu tun war.

Er nickte knapp. »Das trifft sich gut, Hudson. Dann lass uns in deine Kanzlei fahren.«

Zwar sah Hudson ihn erstaunt an, doch er blieb stumm, auch die ganze Zeit über, als sie nebeneinander zum Ausgang des Friedhofs gingen und in seinen Wagen stiegen. Die Fahrt verging ebenfalls schweigend.

Zwanzig Minuten später saßen sie in Hudson Bells Kanzlei im Zentrum von Robina, dem eleganten, sicheren Vorort von Gold Coast, den Dad und seine Freunde vor zwei Jahrzehnten als Wohnort gewählt hatten, wo nichts daran erinnerte, dass sie in einer Metropole lebten. Hudson saß hinter seinem ausladenden, mit Akten bedeckten Schreibtisch, Finn davor, wie er es gewollt hatte.

Hier und jetzt war er der Klient, Hudson der Anwalt.

Dankend hatte Finn das Glas Wasser akzeptiert, es zur Hälfte geleert und vor sich abgestellt. Weder beugte er sich vor noch lehnte er sich zurück. Nach der tagelangen Betäubung durch die Tranquilizer und die Eisstarre, die der Zusammenbruch auf dem Friedhof beendet hatte, hatte er die Kontrolle über seinen Körper in dem Moment wiedererlangt, in dem ihm klar wurde, dass er eine einzige Option hatte, um zu vermeiden, dass er verrückt wurde, oder gar … Er hatte nicht das geringste Bedürfnis, den Gedanken weiterzuspinnen, der Mias vorsichtiger Andeutung vor ein paar Tagen entsprang, dass das Leben in jedem Fall wertvoll war, egal wie ausweglos eine Situation schien. Woraufhin er in sein Zimmer gegangen war und die Tür verschlossen hatte. Sie war zwar Ärztin und schon lange vor seiner Geburt mit Mum befreundet gewesen, aber sie kannte ihn nicht. Nicht wirklich. Finn war viel zu feig, um sich das Leben zu nehmen. Er war derjenige, der den Kopf in den Sand steckte – oder Hindernissen auswich und flüchtete.

Finn suchte Hudsons Blick. »Du hast den Überblick über sämtliche geschäftlichen und privaten Angelegenheiten unserer Familie, hat Dad immer gesagt. Brauchst du eine Vollmacht, um fortan in meinem Namen handeln zu können?«

Hudson schob seine Brille am Steg etwas höher, bevor er eine Gegenfrage stellte. »Um was zu tun, Finn?«

»Das, was du in all den Jahren für meine Eltern gemacht hast. Ich bin über Vermögenswerte und die Firma informiert und sowohl auf den privaten als auch geschäftlichen Konten zeichnungsberechtigt, aber das weißt du ohnehin.« Hudson nickte, Finn fuhr fort. »Ich will, dass alles so weiterläuft wie bisher, bis auf zwei Details. Erstens brauchen wir einen Geschäftsführer für die Werft. Keinen der Mitarbeiter, denn der Einzige, der infrage käme, ist nur wegen Dad geblieben und könnte längst im Ruhestand sein. Ich bin sicher, du wirst die am besten geeignete Person für das Unternehmen finden. Vertragsdetails und Gehaltsverhandlungen überlasse ich dir, davon verstehe ich ohnehin nichts. Das ist die eine Sache. Die andere betrifft das Haus. Jemand muss sich darum kümmern. Vielleicht kann das die Firma übernehmen, die mit der Instandhaltung und den Gartenarbeiten unserer und auch deiner Villa beauftragt ist. Was meinst du?«

»Willst du nicht lieber selbst mit dem Verantwortlichen reden, Finn? Ich will keine Zeitpläne absegnen, ohne zu wissen, wann du im Haus bist.«

»Niemand muss auf mich Rücksicht nehmen, Hudson. Ich gehe weg.«

Hudson Bell musste ein ziemlich guter Anwalt sein. Finn kannte auch ihn von klein auf. Wie Brian Hanlon war er Junggeselle, mit seinem Job verheiratet und für ihn und seine Geschwister eine Art Onkel, weshalb er nie weiter darüber nachgedacht hatte, wie er wohl in seinem Beruf war. Seine ausdruckslose Mimik, die Finn neu war, passte perfekt in einen Gerichtssaal. Hudson schien nicht erstaunt, vielmehr nickte er zustimmend.

»Das ist wahrscheinlich im Moment das Beste, Finn. Fahr über den Jahreswechsel weg von hier, gehe auf Distanz.«

Jetzt tat Finn, was er bisher vermieden hatte. Er beugte sich vor und legte seine Unterarme abgewinkelt auf den Schreibtisch. »Ich spreche nicht von ein paar Wochen, Hudson. Sobald wir hier fertig sind, buche ich den ersten Flug nach Madison, packe das Nötigste und verschwinde.«

Hudsons Augenbrauen schnellten hoch. »Du willst nach Wisconsin? Die Heimat deiner Mutter hat doch keinen von euch jemals interessiert, nicht einmal sie. Lebt ihre alte Tante überhaupt noch?«

Finn wusste es nicht. Das letzte Lebenszeichen von Maddie Epstein, die übliche Weihnachtskarte, war vor einem knappen Jahr gekommen. Wie immer hatte Mum die mit einem winterlichen Motiv bedruckte Karte auf das Sims des Kamins gestellt, die im australischen Hochsommer dort ebenso falsch am Platz schien wie die Weihnachtsstrümpfe. Und wie immer waren sie gemeinsam mit dem Rest der weihnachtlichen Dekoration und der Glückwunschkarte aus Amerika zu Beginn des neuen Jahres wieder verschwunden. Seither hatte niemand mehr Maddies Namen erwähnt. Dennoch nickte Finn nun. Es war das Beste, wenn Hudson dachte, dass er zur einzigen Verwandten fliegen würde, die ihm geblieben war. Weder ihm noch sonst jemandem würde er sagen, dass er lediglich ganz weit weg und an einen Ort wollte, der nicht am Meer lag. Wo kein Mensch über Schiffbau oder Jachten sprach und er nicht bei jedem Blick aus dem Fenster daran erinnert wurde, was passiert war. Er wollte nur vergessen.

Nun lehnte sich Hudson ebenfalls vor und kniff hinter der Brille die Augen zusammen. »Aber du kannst nicht einfach …«

Finn unterbrach ihn. »Wer sollte mich daran hindern? Ich bin volljährig.«

»Seit wann?«

Er unterdrückte mit einem Schlucken die verfluchten Tränen, die nach oben drängten, bevor er antwortete. »Seit heute, Hudson. Ich habe meine Eltern und meine Geschwister an meinem verdammten achtzehnten Geburtstag begraben.«

Nichts hielt ihn mehr. Mit einem Ruck stand er auf, stieß den Stuhl mit den Kniekehlen zurück, wandte sich um und eilte mit Riesenschritten zur Tür. Als er sie erreichte und die Hand auf die Klinke legte, kam Hudsons Reaktion. Allerdings nicht die, mit der Finn gerechnet hatte. Weil er gar nicht daran gedacht hatte, dass es da etwas gab, was er in den letzten elf Tagen komplett ausgeblendet hatte.

»Und was willst du mit dem Baby machen, Finn?«

Er zuckte zusammen und umschloss die Klinke so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Dabei schaute er über die Schulter und sprach aus, was auf der Hand lag.

»Ich gar nichts. Gib es zur Adoption frei.«

Dieses Kind war schuld daran, dass seine Familie nicht mehr existierte! Wäre Mum in ihrem Alter nicht total überraschend noch einmal schwanger geworden, hätte Dad ihr nicht eine Woche Tauchen am Great Barrier Reef versprochen, sobald der Säugling abgestillt war. Was kurz vor dem Ende des Schuljahres seiner Geschwister der Fall war, weshalb seine Eltern die beiden mitgenommen und das Baby zur Nanny gebracht hatten. Wie sie es früher mit ihm und den anderen gemacht hatten, denn Dad hatte wie schon sein Vater die Ansicht vertreten, dass Kinder erst auf einer Jacht übernachten sollen, wenn sie sicher auf den Beinen standen. Mit der Motorjacht, die ein langjähriger Kunde der Werft gegen ein neues, größeres Modell eingetauscht hatte, waren sie also zu viert an der Küste entlang Richtung Norden gefahren. Auf den geplanten achthundert Seemeilen durch das Korallenmeer hatte Dad die Jacht gründlich checken und die Liste der Renovierung erstellen wollen, die nach der Rückkehr beginnen sollte. Doch auf der Heimreise war der Gastank explodiert, und Finn hatte alle Menschen auf einen Schlag verloren, die er geliebt hatte. Und das nur, weil dieses Baby zur Welt gekommen war.

Ohne auf eine Erwiderung von Hudson zu warten, zog er die Tür heftig hinter sich zu. Der laute Knall hallte immer noch in seinem Kopf nach, als er am darauffolgenden Abend auf den Sitz in der Businessclass des riesigen Flugzeuges der Qantas sank. In der Economy hätte er die drei großen Koffer und die beiden Reisetaschen nicht mitnehmen können, hatte man ihm auf der Hotline der Fluglinie erklärt, nachdem es ihm nicht gelungen war, das zusätzliche Gepäck online mitzubuchen. Was zwar ein Vielfaches teurer, zugleich jedoch ein Riesenglück war. Denn hier saß er allein in einer Art Abteil, das von Trennwänden umgeben war. Der erste Flug würde ihn über Nacht nach Los Angeles bringen, der Anschlussflug von dort bis Chicago, der dritte an sein Ziel. Die Stadt, in der seine Mum geboren wurde und gelebt hatte, bis sie während eines Austauschjahres Dad kennengelernt und Australien nicht mehr verlassen hatte. Madison, Wisconsin. Finn hatte absolut keinen Plan, was er tun würde, sobald er dort ankam. Jedoch hatte er siebenundzwanzig Stunden Zeit, um darüber nachzudenken.

Kapitel 2

»Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen, Finn?« Sauls trauriger Blick wurde durch die Brillengläser verstärkt, die er wie stets in seiner Freizeit gegen die Kontaktlinsen ausgetauscht hatte.

Sara, die neben ihrem Bruder auf einem der gemütlichen Sofas saß, die eine zum Kamin hin offene, u-förmige Wohnlandschaft formten, die Maddie immer als ihren absoluten Indoor-Wohlfühlort bezeichnet hatte, rammte ihm den Ellenbogen in die Seite. »Du solltest das Positive in der Sache sehen.«

Saul, der zurückhaltende, reflektierte und introvertierte Mann, der seit über zehn Jahren Finns bester, engster und auch einziger wirklicher Freund war, sah von ihm zu seiner quirligen Zwillingsschwester. »Das kann ich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Bist du denn gar nicht traurig, dass er so weit wegzieht?«

Sara verdrehte die Augen. »Natürlich wird er mir auch fehlen, aber es gibt etwas, was sich Flugzeug nennt, kannst du dir das vorstellen?« Sie unterstrich jedes ihrer Worte mit Gesten und berührte dabei immer wieder ihren Babybauch, der mittlerweile nicht mehr zu übersehen war. Dieses Kind würde nichts und niemand aus der Ruhe bringen, sobald es geboren wurde, nicht bei dieser Mutter. Finn grinste verhalten und sah auf. Sara zwinkerte ihm zu, dann stupste sie Sauls Kinn an und zwang ihn, sie anzusehen. »Man steigt hier in Madison ein und nicht einmal sechs Stunden später ist man in Portland, wo der Privatchauffeur Doktor McDermott bereits wartet, und eine knappe Dreiviertelstunde darauf ist man am Ziel.«

Saul seufzte auf. »Es sind trotzdem tausendneunhundert Kilometer bis nach Ogunquit.«

»Was dich absolut nicht gestört hat, als du uns im letzten Jahr den Urlaub an diesem Ort mit dem komischen Namen an der Atlantikküste Maines aufgeschwatzt hast, anstatt auf meinen Vorschlag einzugehen und nach Kalifornien zu fliegen.«

»Ich hatte meine Gründe.«

Sara und Finn seufzten zugleich auf, doch keiner von ihnen kommentierte das Gesagte. Obwohl Saul sich mit fünfzehn vor seinen Familienmitgliedern geoutet hatte, lange bevor Finn hier bei Mums Großtante Maddie kompromisslose Liebe, Geborgenheit und eine neue Heimat gefunden hatte, versteckte sich Saul hinter seiner aufgesetzten Hetero-Maske. Seine Sexualität war tabu, kein Gesprächsthema. Niemand außerhalb der Familie und Finn wusste davon. Denn zwischen ihnen hatte es sich ab dem Tag ihres Kennenlernens angefühlt, als ob sie einander schon ewig kennen würden.

Damals, es war der erste Weihnachtstag, hatte sich Finn wie die meiste Zeit seit seiner Ankunft in Wisconsin in seinem Zimmer verschanzt. Aufrecht stehend, die Hände in den Hosentaschen vergraben, hatte er gegen die aufkommenden Erinnerungen und Tränen angekämpft und auf die weißen Flocken gestarrt, die vom Himmel fielen. Zwar schneite es im Süden Australiens jedes Jahr, aber in seiner Heimat Queensland war Schnee ein Jahrhundertereignis. Ebenso absurd wie die beiden vermummten Menschen mit den identischen schwarzen wilden Locken, die unter dunkelblauen Mützen hervorlugten, die in Maddies Garten Schneebälle geformt und an das Fenster seines Zimmers geworfen hatten. Er hatte es aufgerissen, um die zwei zu fragen, ob sie sich verlaufen hätten. Sara war rascher gewesen. »Hey, du musst Finn sein. Wir sind Sara und Saul. Unsere Großmutter ist Maddies beste Freundin. Die beiden haben gesagt, dass wir dich mit heißer Schokolade ködern sollen, damit du runterkommst.« Mit diesen Worten hatte ihre Freundschaft begonnen.

 

Finn schüttelte den Pantoffel ab, winkelte das Bein an und legte den Fuß auf den Oberschenkel des anderen. Wie immer, wenn er daheim war, trug er keine Socken. Egal wie kalt es draußen war. Sauls Blicke folgten seinen Bewegungen. Finn umschloss seine Zehen mit einer Hand und gratulierte sich innerlich dazu, wie gut er seinen besten – und auch einzigen – Freund kannte. Was beides auf der tiefen Zuneigung zwischen ihnen beruhte, die intensiver als brüderliche Liebe war. Saul und Sara waren Finns Familie, die Herzensmenschen, die ihm nach Maddies Tod geblieben waren. Seine Großtante Madeline Epstein, eine herausragende Psychologin, deren Ruf weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt Madison und des Bundesstaats Wisconsin reichte, war im Herbst des Vorjahres im Alter von dreiundneunzig Jahren friedlich im Schlaf gestorben.

Sie war der Grund, weshalb Saul sich nach dem Grundstudium in Psychologie spezialisiert hatte – und Finn in Geriatrie. Nicht, weil Maddie gebrechlich gewesen wäre und über unzählige Wehwehchen gejammert hätte wie andere ihrer Generation, sondern da sie bis zum letzten Atemzug rundum gesund gewesen war. Sie hatte ihm mit ihrer Lebenseinstellung und dieser unglaublichen Lebensfreude einen Teil seiner Ängste genommen. Finn verdankte es ihr, dass er nicht mehr grundsätzlich befürchtete, dass jeder Mensch, dem er begegnete, innerhalb weniger Minuten sterben könnte. Was jedoch im Laufe der zurückliegenden elf, fast zwölf, Jahre nichts daran geändert hatte, dass er – nach Saul und Sara, die sich einfach in sein Leben geschmuggelt hatten – niemanden an sich herangelassen hatte. Er konnte nicht riskieren, noch einmal jemanden zu verlieren, der ihm etwas bedeutete. Daran würde er zugrunde gehen. Seitdem er Australien verlassen hatte, hatte er vermieden, andere Menschen näher kennenzulernen – oder mit irgendwem aus seiner alten Clique in Gold Coast Kontakt aufzunehmen. Und da er sein Instagram-Account, seine einzige Präsenz auf Social Media, noch vor seinem Abflug aus Brisbane gelöscht hatte, war er für niemanden erreichbar. Nur Hudson Bell wusste, wo er sich aufhielt, und der war an die anwaltliche Schweigepflicht gebunden. Sogar Mia Harris, Mums beste Freundin, der er irgendwie sein Leben verdankte, und Brian Hanlon, der Polizeichef von Gold Coast, konnten ihn lediglich über Hudson erreichen – und das war gut so.

Finn hatte sein früheres Leben in Australien von dem neuen in Madison, Wisconsin, mit einem sauberen Schnitt getrennt – und nun würde er das wieder tun. Einen Schnitt setzen. Nicht so radikal, denn die Freundschaft mit Saul und Sara würde selbst die Ewigkeit überdauern, aber alles andere würde er hinter sich lassen und neu beginnen.

Die endlosen Nachtschichten im University Hospital, kurz UW, dem besten Krankenhaus im gesamten Bundesstaat Wisconsin, dem es seinen Kurznamen verdankte, waren Vergangenheit – und darüber freute er sich. Er hatte gern im UW gearbeitet, schon während des Studiums, als er noch Bettpfannen leeren und Sondermüll aus den verschiedenen Abteilungen, die er im Laufe der Jahre durchlaufen hatte, entsorgen musste. Sogar die Wochen in der Chirurgie, die seine Geruchsrezeptoren und seinen Magen auf die Probe gestellt hatten, hatte er gemocht. Der Chefarzt der geriatrischen Klinik des UW, unter dessen Verantwortung er sich spezialisiert hatte, obwohl er in den letzten zwei Jahren paradoxerweise als Assistenzarzt in der Pädiatrie gearbeitet hatte, hatte ihn entsetzt angestarrt, als er ihm als Erstem erzählt hatte, dass er Madison verlassen würde. Nicht aufgrund der enormen Summe, die das Krankenhaus in seine Ausbildung investiert hatte, das war seinem Mentor egal. Finn verließ ja nicht das Land, um in seine Geburtsheimat zurückzukehren, sondern würde weiterhin seinen Beruf ausüben – nur eben in Maine anstatt in Wisconsin. Der Professor bedauerte es, ihn als Menschen und Mitarbeiter des UW zu verlieren. »Es gibt nur wenige herausragende und zugleich einfühlsame Ärzte wie Sie, Doktor McDermott. Vor allem, wenn sie nicht in eine Medizinerfamilie hineingeboren wurden. Sie haben in den zurückliegenden Jahren viele Kollegen motiviert, ihre Abgestumpftheit zu überdenken, Finn.«

Der Arzt, der vom Alter her sein Vater sein konnte, kannte seine Geschichte nicht. Er hatte keine Ahnung, dass Finn seine Gefühle an dem Tag in einer mehrfach ummantelten Kapsel hermetisch eingeschlossen hatte, an dem er vor den vier Särgen seiner Familie stand. Was ihn nach außen hin zu einem menschlichen Arzt hatte werden lassen. So absurd es schien, denn aus diesem Grund war er in der Lage, auf Patienten zuzugehen, ihnen zuzuhören und Lösungen für ihre Probleme aufzuzeigen, ohne sich emotional einzubringen. Die Schicksale anderer ließen ihn nicht kalt, sie berührten ihn nur nicht, da er das nicht zuließ. So wenig wie sonstige irritierende Gefühle. Er hatte gern in Madison gelebt, studiert, gearbeitet, und bis zum Sommer im Vorjahr hatte er nie mit dem Gedanken gespielt, irgendwo anders hinzugehen.

Bis Sara am zweiten Tag ihres Urlaubs auf einen im Sand des Ogunquit Beach nicht erkennbaren Glassplitter getreten war. Die Wunde hatte extrem stark geblutet und war so tief gewesen, dass sie genäht werden musste. Wobei es ihnen nichts genutzt hatte, dass sie alle Mediziner waren, denn sie hatten nur ein Notfallset dabeigehabt, wie es jeder in den Urlaub mitnahm. Und so waren sie beim entfernungstechnisch nächsten Arzt gelandet – Doc Ferguson. Der Mann mit den buschigen weißen Augenbrauen, dem schlohweißen Haar, den trotz seines Alters ruhigen Händen und der festen, dunklen Stimme hatte Finn fasziniert. Während der Doc Saras Wunde behandelt und genäht hatte, hatten sie sich unterhalten. Drei junge Ärzte und einer, der in den Ruhestand gehen wollte – und würde, sobald er einen geeigneten Nachfolger nicht nur für die Praxis, sondern das ganze Haus finden würde. Erst dann würde er an die Westküste ziehen, wo seine Tochter mit ihrem Mann und den vier Enkelkindern lebte.

Bei seiner Rückkehr nach Madison hatte Finn Maddie davon erzählt, so wie man eben über Erlebnisse im Urlaub sprach. Woraufhin seine alte Tante sein Gesicht zwischen ihre Hände genommen und ihm tief in die Augen gesehen hatte: »Das ist der Ort, an dem du glücklich werden wirst, Finn. Ruf den Doc an und mach ihm ein Angebot.« Was er natürlich nicht getan hatte. Er hätte Maddie, der er es verdankte, dass er nicht an seinem Verlust zugrunde gegangen war, niemals allein gelassen. Fünf Wochen später hatte sie abends, bevor sie zu Bett ging, seine Hände ergriffen, was sie sonst nie getan hatte. »Vergiss nicht, morgen nach dem Aufwachen Doc Ferguson anzurufen.« Maddie war nicht mehr aufgewacht – und Finn hatte ihren letzten Rat, der nicht wie eine Bitte, sondern wie ein unmissverständlicher Befehl geklungen hatte, befolgt.

 

Finn beendete seine Zehenmassage, lockerte den Griff seiner Finger und wartete, dass Saul aufsah. Was sein Freund jetzt, da die sanften Bewegungen ihn nicht mehr hypnotisierten, prompt tat, woraufhin Finn ihm zulächelte. »Sara hat recht. Sieh das Positive an der Sache. Du brauchst dich nicht einmal mehr vor dir selbst zu rechtfertigen, kannst mich jederzeit in Ogunquit besuchen und das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden.«

Saul versteifte sich und starrte ihn an. »Du bist nicht nützlich, Finn!«

Sara lachte auf und Finn antwortete seinem Freund schmunzelnd: »Herzlichen Dank, Doktor Cohen, es ist beruhigend zu wissen, dass ein auf psychosomatische Medizin und Psychotherapie spezialisierter Arzt mit einem derartigen Feingefühl gesegnet ist.«

Sein Freund lief rot an und senkte den Blick. »Das habe ich nicht so gemeint.«

»Natürlich nicht. Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass du schwul bist und Ogunquit der LGBTQ-Hotspot von Maine ist – vor allem im Sommer, wenn der Ort Tausende Queere anzieht. Ich werde dort leben und praktizieren, und Doc Fergusons Bungalow ist riesig, wie du weißt. Ich werde eines der Gästezimmer für dich frei halten. Außerdem hat deine Suche nach deinem eigenen Haus in der Nähe von Sara nun endlich ein Ende, oder willst du doch nicht hier einziehen?«

»Natürlich will ich, aber mir wäre es lieber, wenn wir beide hier …« Saul brach ab und zog die Unterlippe zwischen die Zähne.

Sara stieß ihren Bruder wieder einmal in die Seite.

»Du gibst nicht auf, oder?« Finn grinste und zwinkerte ihm zu.

»So habe ich das nicht gemeint.« Saul schüttelte den Kopf.

»Das weiß ich doch, aber es ist eine Tatsache, dass ich dir nach Maddies Tod mehrmals und zugegebenermaßen nicht uneigennützig angeboten habe, hierher zu ziehen, und du genauso oft abgelehnt hast.«

»Weil ich ein eigenes Haus wollte, Finn. Wäre ich hier eingezogen, hätte ich nicht mehr weitergesucht.«

»Schluss, ihr zwei!« Sara drückte sich aus dem Sofa hoch in den Stand, legte ihre Hände auf den Kugelbauch und senkte ihren Blick auf Saul. »Wir wissen alle drei, dass Finn nie in einen von uns beiden verliebt war, Bruderherz. Jetzt übernimmt er die Praxis von Doc Ferguson in Ogunquit und verlässt uns, womit auch die letzte Chance auf eine Beziehung mit ihm für dich und mich verpufft. Ich werde mich daher damit abfinden, meine Tochter allein großzuziehen, und werde deine Nähe ausnutzen. All die Zeit, die du bisher mit Finn verbracht hast, wirst du fortan deiner Nichte widmen. Sie wird das verwöhnteste kleine Mädchen von ganz Madison sein.«

Finns Anspannung fiel endlich ab. Er schmunzelte und die Zwillinge ebenfalls. Damals, als sie sich kennenlernten, hatte er die Zeichen eine Zeit lang nicht richtig gedeutet. Sara war ein paar Wochen lang in ihn verschossen gewesen, bis er ihr klargemacht hatte, dass er seine Nachmittage nicht zwingend abwechselnd mit ihr oder ihrem Bruder verbringen wollte, sondern auch gern einmal allein war. Mit Saul war die Sache etwas komplizierter verlaufen, denn es hatte länger gedauert, bis er begriffen hatte, dass er aufgrund des Desinteresses von Finn an seiner Schwester falsche Rückschlüsse gezogen hatte. Dass Finn einfach niemanden an sich heranließ und eine Abneigung gegen jede Form von Gefühlen hatte, hatte ihn verwirrt – bis Maddie ihm gesagt hatte, dass diese seine momentane Reaktion auf den Verlust seiner Eltern und Geschwister war. Woraufhin Finn den Cohen-Zwillingen, um ihre irritierende Verliebtheit zu unterbinden, erklärt hatte, dass er asexuell sei. Was er nicht war.

Er hatte nie Zweifel daran gehabt, dass er sich für Frauen interessierte, auch wenn er im Gegensatz zu einigen anderen seiner australischen Clique nie über ein paar unbeholfene Küsse hinausgegangen war. Er war im wahrsten Sinne des Worts ein Spätzünder. Er war einundzwanzig gewesen, als er im Laufe einer ruhigen Nachtschicht den kontinuierlichen Avancen einer Assistenzärztin nachgegeben und mit ihr im Ärztezimmer der Station den ersten Sex seines Lebens gehabt hatte. Am letzten Abend seines Praktikums in der Gynäkologie. Finn war definitiv ein ganz normaler Mann, der die körperliche Nähe eines anderen Menschen seiner Hand vorzog. Dennoch war genau diese seine Normalität, und je älter er wurde, umso mehr Gründe fand er, nicht auf laszive Blicke, einen etwas zu weit aufgeknöpften Schwesternkittel oder Kolleginnen, die ihn überreden wollten, seinen Kaffee nicht neben dem Automaten, sondern im Ärztezimmer zu trinken, einzugehen.

Saul stand nun ebenfalls auf und legte einen Arm um die Schultern seiner Schwester, zog sie an sich und sah dabei zu ihm.

»Ich hole dich morgen um neun ab, Finn. Es ist besser, wir fahren mit meinem Auto zum Anwalt, um den Kaufvertrag für das Haus zu unterschreiben, wenn wir pünktlich sein wollen.«

Sara legte noch ein wenig zu. »Da es dir ja sicher nicht an Geld mangelt, jetzt, wo du das Haus an meinen Bruder verkaufst, solltest du unbedingt vor deiner Abreise nach Maine Maddies alten Pick-up zum Schrotthändler bringen. Kauf dir endlich ein neues Auto, das besser zu einem Arzt passt und um zu vermeiden, dass der bis obenhin voll gepackte Wagen irgendwo zwischen hier und der Atlantikküste seinen letzten Atemzug tut.«

So gute Freunde sie waren, Saul und Sara wussten nicht über sein persönliches Vermögen Bescheid, das sich mit Maddies Tod noch vermehrt hatte, da er ihr Alleinerbe war. Die Zwillinge und ihre ebenfalls mittlerweile verstorbene Großmutter hatten bereits vor ihrem Kennenlernen von Maddie erfahren, dass und auf welche Art er seine Familie verloren hatte. Doch hatten sie nie Fragen gestellt, immer stillschweigend akzeptiert, dass Finn nicht darüber sprach. Ebenso wenig wie über den alten Pick-up, den Maddie, einige Jahre bevor er nach Madison gekommen war, gekauft hatte. Solange seine Tante noch selbst fuhr, hatten sie ihn sich geteilt, doch keiner von ihnen beiden war oft aus der Stadt rausgefahren. Der Chevrolet war ein gepflegtes Garagenauto, wurde regelmäßig durchgecheckt und gewartet, vor allem aber war er Finns Erinnerung an Maddie. Deshalb ließ er vor seiner Fahrt von Wisconsin nach Maine lediglich vier neue Reifen montieren.

 

Der Silverado verstummte auf der US-1 wenige Kilometer vor Ogunquit und rollte langsam auf dem schmalen Pannenstreifen aus. Finn drehte den Zündschlüssel im Schloss – vergeblich. Es knackste nicht einmal wie sonst immer. Mit dem Motor waren auch die Scheinwerfer ausgegangen. Konsterniert schaute er durch die Windschutzscheibe nach draußen. Der Spätherbst hatte nicht nur die Blätter von den Bäumen geholt, die Quecksilbersäule kletterte tagsüber nicht mehr über zehn Grad. Durch den offenen Spalt des Seitenfensters kam eisige Luft herein und ließ Finn frösteln. Vergeblich betätigte er den Fensterheber. Er wollte mit der Faust auf das Lenkrad einschlagen, doch er war zu müde dafür – nach insgesamt fast achtzehn Stunden Fahrt und der zurückliegenden kurzen Nacht auf der viel zu weichen Matratze in dem schäbigen Motelzimmer. Er konnte nur hoffen, dass das Handynetz hier zwischen den hohen, kahlen Laubbäumen beiderseits der Straße funktionierte und es in Ogunquit jemanden gab, der ihn in den Ort schleppte. Ansonsten würde er die Nacht in dem auskühlenden Pick-up verbringen müssen, dessen einziges Lebenszeichen das Quietschen der Sitzfederung war, als er sein Gewicht verlagerte, um nach dem Handy zu greifen.

Kapitel 3

Harper umfasste ihre Haare im Nacken und drehte sie um die Hand, bevor sie den schlampigen Dutt mit der Haarklammer am Hinterkopf befestigte. Dabei ging sie durch die Halle auf Hank zu, der als Einziger noch da war und mit Kopf und Schultern unter der Motorhaube eines Toyota Camry hing und vor sich hin murmelte.

»Was ist es denn diesmal wieder?«

»Na, was schon? Nichts, wie immer.« In gebückter Haltung machte er einen Schritt zurück, bevor er sich aufrichtete und zu Harper umwandte. »Die gute Frau sollte sich ein Fahrrad zulegen, das wäre für unsere Ortsbewohner sicherer und würde uns dieses ständige Theater ersparen.«

Sie lachten zugleich auf. Die Ehefrau des Town Managers John Burns von Ogunquit, dem Ort, der so klein war, dass es nur diesen und keinen gewählten Bürgermeister gab, war hypochondrisch veranlagt. Sowohl was sie selbst anbelangte als auch ihren Wagen betreffend.

»Du weißt, was mein Vater jetzt sagen würde.« Harper unterdrückte den Anflug von Traurigkeit, der unweigerlich aufkam, sobald sie ihn erwähnte, obwohl Daddy vor sechs Jahren gestorben war. Er hatte ein langes und erfülltes Leben gehabt – nachdem sie zur Welt gekommen war, hatten ihre Eltern immer gesagt, die bei ihrer Geburt beide schon den fünfzig näher als den vierzig waren.

»Dass wir uns glücklich schätzen können, Kunden wie Hatty Burns zu haben, die den Umsatz der Werkstatt erhöhen, ohne dass wir einen Finger rühren müssen.« Hank zwinkerte ihr zu.

Harper schmunzelte. »Was wirst du ihr diesmal erzählen?«

»Dass eine Schraube locker war?«

Sie lachten beide so sehr, dass Harper irgendwann nach Luft schnappte. »Hör bitte auf. Ich bezahle für Heiterkeitsausbrüche keine Überstunden.«

Woraufhin sie erneut loslachten, bis Hank sich die Hände in der Latzhose abwischte, auf sie zukam und sie in den Arm nahm. Sie lehnte sich an seine Brust und spürte, wie er sie auf den Kopf küsste. Harper wollte nicht daran denken, wie gut ihr diese Geste tat. Sie genoss jede kleine Berührung von einem Menschen, der älter war als Mira. Nachdem ihre Mutter wenige Monate nach ihrem Vater gestorben war, gab es niemanden mehr, der sie einfach in den Arm nahm und festhielt. Bis auf Hank Jackson, der bald vierzig Jahre mit der Werkstatt verwachsen war, und seine Frau Sue, die an Mummys Seite gestanden hatte – nicht nur im Bells and Whistles, ihrem Laden.

---ENDE DER LESEPROBE---