Wenn der Acker brennt - Brigitte Märker - E-Book

Wenn der Acker brennt E-Book

Brigitte Märker

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Beschreibung

Wer war Amata Lachner, fragt sich die junge Fotografin Christine Weingard, als sie im Nachlass ihrer Mutter das Tagebuch eines Mädchens findet, das seit dreißig Jahren tot ist. Sie ahnt nicht, dass diese Entdeckung ihr Leben von Grund auf verändern wird. Bald gibt es Tote zu beklagen, ein Feuer treibt auf das Dorf zu - und Christine weiß, dass der Mörder sie als Opfer auserkoren hat.

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Brigitte Märker, 1953 in Schwelm geboren, schrieb schon während ihrer Zeit als Werbekauffrau in Frankfurt am Main Theaterstücke für Kinder. Es folgten Theaterworkshops, Lesungen in Kindergärten und Schulen. Sie verfasste Drehbücher und schrieb Online-Kolumnen. Seit 2002 lebt sie in Berlin und widmet sich vor allem dem Schreiben von Romanen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotive: iStockphoto.com/tatarnikova, fotolia.com/moleskostudio, sxc.hu/Billy Alexander Umschlaggestaltung: Franziska Emons/Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-282-1 Landkrimi Originalausgabe

Für Patrick, mein schönstes Geschenk.

Für Wolfgang, der mich immer unterstützt.

Für Moni, meine Leserin der ersten Stunde.

1

Am Morgen war Föhn aufgekommen. Die Berge, die sich sonst hinter einem dunstigen Schleier verbargen, ragten mit ihren Gipfeln an den stahlblauen Himmel und schienen zum Greifen nah. Die Hitze der letzten Wochen hatte den Fluss abschwellen lassen. Die weißen Kiesbänke, die sich nun überall aus dem smaragdfarbenen Wasser der Isar erhoben, boten einen atemberaubenden Anblick.

Christine saß am Ufer, hatte die Beine angezogen und hielt sie mit ihren Armen umfasst. Der Wind spielte mit ihrem langen dunklen Haar, blies es ihr immer wieder ins Gesicht. Sie störte sich nicht daran, schien es kaum zu bemerken. Eine Forelle tanzte nicht weit von ihr entfernt durch das Wasser, von irgendwoher drang fröhliches Kinderlachen. Überall war Leben, aber Christine nahm es nicht wirklich wahr. Die Trauer, die sie in sich trug, ließ es nicht zu. Nach einer Weile stand sie auf. Sie musste eine Entscheidung treffen.

Das Haus lag auf einem sanft ansteigenden Hügel, nur durch die asphaltierte Straße vom Flussufer getrennt. Für Christine aber war es, als müsse sie die Grenze zwischen zwei Welten überschreiten. Sie betrachtete den weißen Verputz des Hauses, die hohen Tannen, deren Schatten über das Mauerwerk glitten. Ein Schmetterlingsstrauch stieß mit seinen Ästen gegen die Stufen der Treppe. Blütenblätter rieselten auf das helle Terrakotta der Steinfliesen, hinterließen kleine violette Punkte.

Christine schloss die Augen, um den Duft der vertrauten Umgebung einzuatmen, wollte ihn für immer in ihrem Gedächtnis bewahren. Ihre Hand zitterte, als sie das Messingschild von der Tür löste: »Betti und Robert Weingard«, stand dort in geschwungener zarter Schrift. Unschlüssig blickte sie sich um.

Neben der Tür hatte ein stämmiger Oleanderbaum seinen Platz. Sie bückte sich, vergrub das Schild in dem irdenen Kübel, wandte sich schnell ab und öffnete die Tür. Sie hatte die letzten vier Nächte in ihrem alten Zimmer geschlafen, das noch immer so aussah, wie sie es einmal verlassen hatte. Das gelbe Polsterbett, die weißen Regale und der zierliche Sekretär mit den sechs kleinen Schubfächern, den ihr Vater ihr zu ihrem zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Alles war so vertraut, Zeugnisse einer behüteten Kindheit. Sonst hatte sie im Haus kaum etwas angerührt. Weder hatte sie sich auf die blaue Ledercouch im Wohnzimmer mit den bunten nebeneinander aufgereihten Kissen gesetzt noch die geordneten Bücher im Regal oder Bettis Puppensammlung in der Glasvitrine angefasst. Auf dem Esstisch lag das Etui mit dem Werkzeug ihres Vaters. Sie hatte es geliebt, ihm in der kleinen Werkstatt im Keller zuzusehen, wie er Kunstwerke aus Gold und Silber herstellte. Goldschmied war der schönste Beruf, den sie sich vorstellen konnte, bis sie ihren ersten Fotoapparat bekam. Sie war zehn Jahre alt, als sie ihre wirkliche Leidenschaft entdeckte. Sie wusste, dass ihr Vater sich gewünscht hatte, sie würde seine Arbeit fortsetzen, aber seine Enttäuschung darüber, dass sie ihm diesen Wunsch nicht erfüllte, ließ er sie nie spüren.

»Jeder hat seine eigenen Träume. Sie zu leben, das ist der einzig wahre Schlüssel zum Glück«, machte ihre Mutter ihr Mut.

Sie würde ihre Stimme nie wieder hören. Ihre Eltern waren seit einer Woche tot. Ein aufgeregter Anruf der Nachbarin, dass es einen Unfall gegeben habe, und auf einmal war Christine kein Kind mehr.

Sie betrachtete das Hochzeitsfoto, das in einem vergoldeten herzförmigen Rahmen an der Wand hing. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte. Sie hatte den gleichen hellen Teint und ebenso schwarzes Haar, nur ihre Augen waren nicht so dunkel wie die von Betti: Sie waren hellgrau mit einem bernsteinfarbenen Schimmer.

Die Gewissheit, die Eltern für immer verloren zu haben, war so quälend, dass Christine nicht einmal weinen konnte. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, kümmerte sich um all die Dinge, die erledigt werden mussten. Die Beerdigung war zu organisieren, Bankkonten und Versicherungen aufzulösen. Ihre Gedanken waren immer einen Schritt voraus, beschäftigt mit dem, was als Nächstes getan werden musste. Sie stand vor der Entscheidung, was sie aus dem Leben der Eltern aufbewahren wollte und was mit dem Haus geschehen sollte.

Sie ging ins Schlafzimmer und setzte sich auf das Bett aus dunkel gemasertem Kiefernholz. Auf der Frisierkommode neben dem Fenster lag ein Fotoband: »Sommer in der Provence«. Ihr drittes Buch. Es war erst vor ein paar Tagen auf Deutsch erschienen.

»Der Betrachter deiner Bilder spürt, dass du die Landschaft fühlst«, hatte Lucien Maron, ihr Verleger, gesagt.

Seine Anerkennung bedeutete, dass sie es geschafft hatte, zu den etablierten Fotografen im Verlagswesen zu gehören. Sieben Jahre zuvor hatte Lucien zufällig eine Ausstellung in München besucht, ihre Bilder entdeckt und ihr angeboten, für seinen Verlag in Frankreich zu arbeiten. Sie war Mitte zwanzig gewesen und bereit, die Welt zu entdecken. Ein paar Tage nach ihrem ersten Treffen mit Lucien war sie nach Paris gezogen und hatte es nie bereut.

Inzwischen war sie viel gereist, hatte die schönsten Landschaften auf unzähligen Fotos festgehalten, aber wirklich zu Hause fühlte sie sich nur in diesem Haus am Ufer der Isar. Sie blickte aus dem Fenster, schaute flussabwärts, wo sich das Häusermeer der Stadt an den Fluss drängte. Ihr Blick wanderte hinüber zu den Bergen, und plötzlich erinnerte sie sich an den Duft des frisch gemähten Grases auf den Almen. Der Geruch erschien ihr so gegenwärtig, als sei sie erst vor Kurzem dort oben gewesen. Eine merkwürdige Erinnerung, da sie doch in den letzten Jahren kaum Zeit in den Alpen verbracht hatte. Ihre Mutter hatte sich nie für die Berge begeistert, und wenn sie zu Besuch nach Hause gekommen war, war ihr das Zusammensein mit den Eltern wichtiger als eine Wandertour gewesen.

»Wenn dein Vater nicht so sehr an seiner Werkstatt hängen würde, wären wir schon längst fortgezogen, irgendwo ans Meer«, hatte Betti geantwortet, sobald Christine in ihrer Kindheit den Wunsch äußerte, einen Ausflug ins Gebirge zu machen.

Hin und wieder ein Wochenende auf einem Bauernhof, zu mehr konnte sich Betti nie durchringen. In den Ferien ging es immer ans Meer: Nordsee, Mittelmeer, Atlantik. Robert schien Bettis Vorliebe für die See zu teilen. Christine beschloss, das Beste daraus zu machen, und wurde zu einer ausgezeichneten Schwimmerin. Sie lächelte, als sie die Fotografie von sich betrachtete, die auf der Kommode stand. Ein glückliches dreizehnjähriges Mädchen inmitten seiner Medaillen und Pokale, das es für sich und seinen Schwimmverein gewonnen hatte.

»Mama, Papa«, flüsterte Christine, strich über das Kopfkissen ihrer Mutter, fuhr mit der Hand auf die andere Seite des Bettes. Sie legte die beiden Kissen übereinander und vergrub ihren Kopf in dem kühlen Baumwollstoff. Endlich konnte sie weinen.

Sie wusste, dass es ein unsinniger Gedanke war, aber sie fühlte sich von ihren Eltern verlassen. Es tat so weh, nie wieder Kind oder Tochter sein zu dürfen, nie wieder bedingungslos geliebt zu werden. Mehr denn je bedauerte sie, keine Geschwister zu haben. Niemand war da, der mit ihr trauerte. Ihre Mutter war als Kriegswaise aufgewachsen, und die beiden Schwestern ihres Vaters, ihre einzigen Verwandten, waren nicht einmal zur Beerdigung gekommen. Sie hatten den Kontakt zu Robert abgebrochen, als er Betti heiratete. Christine hatte den Grund nie erfahren.

Irgendwann trocknete sie ihre Tränen, öffnete den Kleiderschrank und zog einen Stapel Bettwäsche heraus. Vielleicht sollte sie die beiden Kissenbezüge mit den roten Rosen behalten? Das verblasste Muster erinnerte sie an die Zeit, als sie noch klein war, abends zu den Eltern ins Bett kroch und Paps ihr Geschichten erzählte, damit sie keine Angst mehr vor der Dunkelheit hatte. Beinahe ehrfürchtig betastete sie das feine Leinen, als sie auf eine mit Gold beschlagene Birkenholzschatulle aufmerksam wurde. Sie stand ganz hinten im obersten Fach des Schrankes. Behutsam nahm Christine sie heraus und setzte sich mit ihr auf den mit grünem Samt bezogenen Stuhl vor der Frisierkommode. Die Schatulle war nicht verschlossen. Auf dem schwarzen Satin, mit dem das Innere ausgekleidet war, lag ein in blauen Stoff gebundenes Buch. Auf der Vorderseite standen die goldfarbenen Initialen A.L.

Christine beugte sich nach vorn, um das Fenster zu öffnen. Die Nachmittagssonne tauchte den Garten in warmes Licht, und im Nu war das Zimmer vom schweren Duft der Rosen erfüllt, die dort blühten und die ihre Mutter so sehr geliebt hatte. Einen Augenblick lang war es Christine, als spürte sie Bettis Berührung, leise und unaufdringlich, so wie sie sich ihr immer genähert hatte. Sie legte die Beine auf die Kommode, steckte sich eine Zigarette an und klappte das blaue Buch auf.

Auf der ersten Seite stand in einer zierliche Mädchenschrift: »Mein neues Leben«. Die Eintragungen begannen im Mai 1982, ein Jahr und einen Monat nach Christines Geburt:

»Ab heute bestimme ich, was ich tue. Ich habe meine alten Tagebücher verbrannt. Es war ein befreiendes Gefühl. Ich werde J. sagen, dass er sich keine Gedanken mehr machen muss, ob ich möglicherweise zu anhänglich werde. Er wird mich bald los sein. Mama hat eine Schule für mich gefunden. Ich habe mir vorgenommen, sie mit einem guten Abschluss zu verlassen, und dann werde ich Journalistin.«

Christine fragte sich, warum ihre Mutter das Buch wohl versteckt haben mochte? Sie schlug die letzte Seite auf, um zu sehen, welchen Zeitraum die Aufzeichnungen umspannten. Die letzte Eintragung stammte vom 20. August 1982. Die Seiten danach fehlten. Jemand hatte sie herausgerissen.

»War mit J. in D.s Feld. Ich wollte es nicht mehr tun, aber ich kann nicht anders. Warum fasziniert er mich nur so? Ich weiß doch, dass er nicht gut für mich ist.«

Wer war A. L.? Und wer war dieser J., von dem sie nicht loskam? Christine blätterte durch die Seiten, fand aber keinen Hinweis. Zudem war kein einziger Name in dem Tagebuch ausgeschrieben und sie konnte auch nicht herausfinden, wo die Verfasserin des Tagebuchs gelebt hatte. So wie sie ihren Alltag schilderte, schätzte Christine sie auf fünfzehn oder sechzehn Jahre. Die kleinen Auseinandersetzungen mit Freundinnen, die Lästereien über zu strenge Lehrer, die endlosen Listen über das, was sie gegessen hatte und was sie davon in Zukunft nicht mehr anrühren durfte, um nicht als Zirkuselefant zu enden. Bis auf den letzten Eintrag deutete nichts darauf hin, dass dieses Mädchen ein besonderes Problem gehabt hatte, und doch gab es offensichtlich etwas, das es sehr wütend gemacht hatte.

Christine fragte sich, was wohl auf den letzten Seiten des Tagebuchs gestanden und wer diese Seiten herausgerissen hatte? Das Mädchen selbst, weil die Aufzeichnungen ihm peinlich waren und niemand sie lesen sollte? Christine dachte an ihre eigenen Tagebücher, die sie irgendwann im Kaminfeuer bestattet hatte. Oder war es dieser J., dem nicht gefiel, was dort stand? Oder Betti? Aber warum hätte ihre Mutter das tun sollen?

Mittlerweile war es beinahe dunkel, und sie konnte die Buchstaben kaum noch entziffern. Sie schaltete die Tischlampe mit dem bunten Glasschirm ein und schubste dabei die Schatulle versehentlich auf den Boden. Erst jetzt bemerkte sie die eingelassene Schublade.

»Welches Geheimnis hast du vor mir verborgen, Mama?«, flüsterte Christine und nahm das Foto heraus, das darin versteckt war.

Sie schüttelte die Schatulle, um herausfinden, ob sich noch etwas darin verbarg, und plötzlich rutschte eine feine goldene Halskette mit einem Anhänger heraus, ein Edelweiß in einen blauen Stein eingefasst. Nachdem sie die Kette eine Weile andächtig betrachtet hatte, schaute sie auf das Tagebuch und das Foto.

Das Bild zeigte einen Friedhof, dicht an einem Wald gelegen. Die Gräber waren mit mächtigen Holzkreuzen geschmückt. Auf dem Kreuz im Vordergrund konnte sie die Inschrift deutlich erkennen: »AMATA LACHNER, 21. Januar 1967–23. August 1982. Vergib uns!«

Das Grab war gepflegt und mit dunkelroten Rosenblättern übersät. Lachner war der Mädchenname ihrer Mutter gewesen. Amata Lachner! War sie etwa mit der Toten verwandt, oder war es nur eine zufällige Namensgleichheit? Aber hätte ihre Mutter das Tagebuch und die Schatulle allein wegen des Namens aufgehoben? Ohne Bezug zu diesem Mädchen?

Je länger Christine das Foto betrachtete, umso mehr fühlte sie sich zu Amata hingezogen. Wo war dieser Friedhof? An der Straße, die sie im Hintergrund erkennen konnte, stand ein Ortsschild, dessen Aufschrift aber mit bloßem Auge nicht zu entziffern war. Eine Lupe würde helfen. Die Lesebrille ihres Vaters! Christine kramte sie aus dem Nachttisch hervor und hielt sie über das Bild. Der Ortsname wurde deutlicher: Sinach.

Sie holte den Laptop aus ihrem Zimmer und hatte wenig später herausgefunden, dass Sinach ein vom Tourismus gerade entdeckter Ort in den bayerischen Alpen war. Wieder nahm sie das Tagebuch in die Hand und begutachtete den blauen Stoff, der sich an der Vorderseite ein wenig gelöst hatte. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie einen Schriftzug auf dem weißen Pappeinband darunter. Vorsichtig hob sie den Stoff an.

»Amatas Tagebuch«, stand dort mit schwarzem Filzstift geschrieben.

Christine presste es an ihre Brust, schloss die Augen und horchte in sich hinein. Sie würde Amata nicht einfach wieder vergessen können. Ihre Worte hatten sie berührt, eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt. Sie legte das Tagebuch beiseite und durchforstete das Internet nach Amata Lachner, konnte aber nichts Verwertbares finden.

»Das war nur ein erster Versuch. So schnell gebe ich nicht auf, Amata«, sagte sie leise und strich über den Einband des Tagebuchs. Morgen war der 23. August, Amatas dreißigster Todestag, morgen würde sie ihr Grab besuchen.

2

Rick Linden blickte auf die Fotografie, die er in der Hand hielt. Ein junges Mädchen in einem weißen Minikleid stand vor einem Banner mit der Aufschrift »Schreibwettbewerb 1982«. Das Mädchen nahm eine Urkunde entgegen.

Rick schreckte hoch, als es an der Tür seines Hotelzimmers klopfte. Er warf das Bild in die Schreibtischschublade und schob sie zu, bevor er sich der Tür zuwandte. »Ja, bitte!«, rief er und verschränkte die Hände im Nacken.

»1982 hat dich wieder eingeholt, richtig?«, stellte Johann Morgen fest, der hereinkam.

Rick schwieg. Warum auf etwas antworten, was der andere längst wusste? Johann und er waren seit zwanzig Jahren befreundet. Sie hatten sich während ihres Astronomiestudiums in Freiburg kennengelernt. Vor fünfzehn Jahren hatten sie A.L.M. gegründet und waren innerhalb von wenigen Monaten zu einer der bekanntesten Alpenrockbands aufgestiegen. Sie hatten so viel Zeit miteinander verbracht, dass es für sie unmöglich war, etwas vor dem anderen geheim zu halten.

»Du wirst wieder hinfahren, nehme ich an?« Johann sank in den grauen Ledersessel in der Sitzecke, ließ die Beine über der Seitenlehne baumeln und warf sein langes Haar zurück.

»Zum letzten Mal.«

»Es ist jedes Jahr das letzte Mal, so geht das schon, seitdem ich dich kenne.«

»Nicht«, bat Rick und schaute zu Boden. Er wollte nicht, dass der Freund ihn ansah.

Johanns hellblaue Augen schienen dunkler zu werden, so wie immer, wenn er die Stimmung seines Gegenübers einschätzen wollte.

»Was soll ich nicht?«, gab sich Johann unwissend.

»Lass diesen weisen Blick.«

»Den kann ich leider nicht abstellen. Ich habe ihn von meinem Großvater geerbt.«

»Jaja, der weise Mann aus den Bergen, der mit den Berggeistern sprach und Lawinen hörte, bevor sie sich lösten.«

»Er hat sie nicht gehört, sondern gespürt. Wer die Natur mit allen Sinnen wahrnimmt, der wird von ihr auch nicht überrascht. Sein Wahlspruch, an den ich mich noch heute halte. Wir beide haben doch bisher jede Wanderung heil überstanden, oder etwa nicht?«

»Ich schätze deine Qualitäten als Bergführer und als Gitarrist.« Johann stammte aus einem Dorf in der Nähe der Schweizer Grenze und hatte in seiner Kindheit viel Zeit mit seinem Großvater in den Alpen verbracht. Inzwischen kannte auch Rick all die Geschichten, die der alte Mann seinem Enkel stets aufs Neue erzählt hatte.

»Meine Fähigkeiten als Manager überzeugen dich nicht?«, hakte Johann schmunzelnd nach, als Rick aufstand und die Balkontür öffnete.

»Du weißt genau, dass wir mehr als dankbar sind, dass du diesen Job machst.« Sie waren mit zwei Managern nacheinander reingefallen, bevor Johann sich bereit erklärt hatte, die Aufgabe zu übernehmen. Er besaß ein angeborenes Organisationstalent, das er jetzt für sie alle gewinnbringend einsetzte.

Rick fuhr mit der Hand durch sein dunkelblondes Haar, massierte seinen Nacken und sah auf die Gipfel des Wettersteingebirges. Vielleicht sollte er sich für eine Weile in die Berge zurückziehen. Irgendwohin, wo niemand sich dafür interessierte, was er tat oder dachte. Seit Wochen schon fühlte er sich müde und ausgelaugt. Er spürte, dass er allmählich die Lust an ihren Tourneen verlor. Früher hatte er es genossen, zwischen Hotelzimmern und ausverkauften Stadien zu pendeln, sich die Mädchen aussuchen zu können, mit denen er die Nächte verbrachte. Es war ein ewiger Rausch gewesen, der ihn von der Wirklichkeit fernhielt, aber dieser Rausch war nun vorbei. Er konnte sich nicht länger vor sich selbst verstecken. »Ja?«, rief er, als es erneut klopfte.

»Geht ihr mit zum Essen?«, fragte der junge Mann, der ins Zimmer schaute.

»Johann kommt sicher gern mit.« Rick hielt dem prüfenden Blick stand, den ihm Adam, der Schlagzeuger von A.L.M., über seine Nickelbrille hinweg zuwarf.

»Ich kann schon selbst entscheiden, wohin ich gehe«, meldete sich Johann zu Wort und schnippte einen Fussel von seiner Jeans.

»Dicke Luft?« Stefan, der Bassgitarrist, ein schmächtiger junger Mann, lugte besorgt hinter Adam hervor.

»Nein, alles gut«, versicherte ihm Rick.

»Geht schon mal vor, Jungs, ich komme gleich nach.« Johann wollte noch einen Augenblick mit Rick allein sein.

»Okay, wir sind schon fort.« Adam hatte verstanden. Er drängte Stefan zurück und schloss die Tür.

»Sie sind verunsichert, Rick«, sagte Johann.

»Warum?«

»Das weißt du genau. Du machst schließlich keinen Hehl daraus, dass du genug von uns hast.«

»Es geht nicht um euch, sondern um das Leben, das ich führe. Davon habe ich genug.«

»Wenn es so ist, dann solltest du es ändern. Deinen Dämonen wirst du allerdings nicht entkommen, auch wenn du dein ganzes Leben umkrempelst. Du kannst sie nur besiegen, wenn du dich ihnen stellst.« Johann griff nach der Gitarre, die an der Wand lehnte, und entlockte ihr eine leise Melodie.

»Es ist schon so lange her. Warum kann ich nicht einfach alles vergessen? Warum kann ich es nicht wie einen alten Text aus meinem Gedächtnis ausradieren?« Rick ließ sich auf das breite französische Bett fallen und starrte das weiße Nichts der Decke an, in der Hoffnung, das Gedankenkarussell dadurch anhalten zu können.

»Vergessen wäre das Beste, sicher, aber ich befürchte, es wird nicht funktionieren. Du hast dich niemals wirklich den Tatsachen gestellt. Sage mir nur eins: Kann ich den Jungs versichern, dass du diese Tournee mit uns beendest?«

»Ich lasse euch nicht im Stich.«

»Gut. Dann bis später.« Johann stellte die Gitarre beiseite, schwang sich aus dem Sessel und verließ das Zimmer.

Rick blieb auf dem Bett liegen. Seine Gedanken kreisten weiter, ließen sich nicht anhalten. Die Schrecken der Vergangenheit lauerten darauf, ihn wieder in ihren Besitz zu nehmen. Er schaute auf das Telefon, das neben ihm auf dem Bett lag. Sollte er Georg Denninger anrufen oder ihn im Ungewissen darüber lassen, ob er auch in diesem Jahr kommen würde? Er hatte ihm vor der Tournee geschrieben, in welchem Hotel er absteigen würde. Aber der alte Mann hatte sich bisher nicht bei ihm gemeldet. Er nahm wie immer Rücksicht, wollte sich nicht aufdrängen, obwohl er seit Jahren nur darauf wartete, dass er endlich mit ihm über das Unglück sprach, das damals in Sinach passiert war und sie alle aus der Bahn geworfen hatte. Aber Rick wollte nicht reden, und er war Denninger dankbar, dass er ihn nie mit Fragen gequält hatte.

Er blinzelte gegen die Sonne, die zum Fenster hereinfiel und ihn blendete. Das grelle Licht erinnerte ihn an die Sommernachmittage seiner Kindheit. Im Juli und August, wenn die Mittagshitze auf dem Hof unerträglich wurde, hatten sie die dunklen Holzfensterläden geschlossen und die Zeit bis zum Abend im kühlen Haus verbracht.

Wenn die Großeltern zu Besuch waren, verschwanden seine Eltern manchmal für eine Weile im Schlafzimmer. Er hatte keine Ahnung, was diese merkwürdig verhaltenen Laute zu bedeuten hatten, die bald darauf aus dem Raum drangen. Wenn er seine Großmutter dann verunsichert ansah, nahm sie ihn liebevoll in ihre Arme und murmelte: »Jetzt ist es so, wie es sein soll, Bub. Aber nur der Herr weiß, ob es so bleibt.«

Er hatte sie nie gefragt, was sie damit meinte. Er spürte, dass sie ihm keine Antwort darauf geben würde. Die Welt schien für ihn in Ordnung zu sein, alles war gut so, wie es war. Erst als er acht Jahre alt war, brach diese Ordnung zusammen. Nichts war mehr gut und würde auch nie wieder gut werden, nicht nach diesem Unglück, das sein junges Leben von nun an so traurig machte. Nach den schrecklichen Ereignissen in Sinach gab sein Vater den Lindenhof auf und akzeptierte das Angebot eines Freundes, ein Weingut in der Toskana zu übernehmen. Mit den Großeltern gingen sie nach Italien und bemühten sich jeden Tag darum, die Vergangenheit zu vergessen. Auch Rick sollte nicht mehr an den Sommer 1982 erinnert werden, aber er konnte nicht vergessen. Es war seine Schuld, dass Amata nicht mehr lebte.

3

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war es kurz vor acht. Kathrin lag neben ihm. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Er war froh, dass sie noch schlief. Das würde ihm lästige Fragen ersparen. Vorsichtig schlug er die Decke zurück, stand leise auf, duschte und zog sich an. Bevor er sich auf den Weg machte, ging er noch einmal ins Schlafzimmer, um seine Uhr zu holen.

Die Bettdecke war auf den Boden gerutscht. Er betrachtete Kathrins nackten Körper. Die vollen runden Brüste, die schmalen Hüften, die samtig zarte Pfirsichhaut. Ihr langes blondes Haar breitete sich auf dem blauen Kopfkissen aus und verlieh ihr ein zerbrechliches Aussehen. Er dachte an den Tag, als er ihr zum ersten Mal begegnet war, wie er den Blick nicht von ihrer elfenhaften Gestalt hatte abwenden können und sie ihn mit ihren grünen Augen verzaubert hatte. Gespannt hatte er darauf gewartet, ihre Stimme zu hören. Er fing nie etwas mit einer Frau an, deren Stimme ihm nicht gefiel. Für ihn war die Stimme das Tor zur Seele, der Körper nur die Verpackung. Eine schöne Stimme konnte ihn einen körperlichen Makel vergessen lassen, umgekehrt funktionierte es nie.

Er hob die Decke auf und legte sie behutsam über Kathrin. Sie war am Nachmittag zuvor aus Los Angeles gekommen und hatte ihn mit der Nachricht überrascht, dass sie für die weibliche Hauptrolle in einem Hollywoodfilm engagiert worden war, ihre erste große Rolle überhaupt. Sie hatte es ihm unbedingt persönlich sagen wollen. Während er sie beglückwünschte, fühlte er sich mies. Sie durfte nie erfahren, dass er den Produzenten überredet hatte, ihr diese Chance zu geben. Es sollte sein Abschiedsgeschenk für sie sein. Kathrin wollte Karriere machen, er seine beenden. Sie sehnte sich nach Ruhm und Bewunderung, er hatte genug davon. Zwischen ihnen gab es keine Basis für eine gemeinsame Zukunft. Er wollte Kathrin nicht länger etwas vormachen. Sobald er von seinem Ausflug zurückkam, würde er mit ihr reden. Leise nahm er die schwarze Lederjacke und den Motorradhelm aus dem Schrank. Seine Harley stand in der Hotelgarage. Er hatte das Motorrad mitgenommen, so wie immer, wenn sie im Sommer auf Tournee gingen. Die Ausflüge mit der Harley waren seine Art, sich zwischen den Konzerten zu entspannen.

4

Christine hatte das Verdeck ihres weißen Golf-Cabrio heruntergelassen und fuhr in gemächlichem Tempo die geschwungene Landstraße entlang. Die Dörfer mit ihren blitzsauberen Häusern, die alten liebevoll restaurierten Gehöfte inmitten der Wiesen und Weiden, der hoch aufgeschossene Weizen, die blühenden Sonnenblumenfelder, alles schien so friedlich. Ihre Gedanken wanderten zu dem fremden Mädchen, das so jung hatte sterben müssen. Was würde sie über Amata Lachner herausfinden?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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