Wenn der Winter vorbei ist - Thomas Verbogt - E-Book

Wenn der Winter vorbei ist E-Book

Thomas Verbogt

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Beschreibung

Es können nur wenige Sekunden sein, die ein Leben letztendlich bestimmen: ein Kuss an einem Sommertag, ein Musikstück, eine zufällige Begegnung. Es muss nicht mehr sein. Der alternde Schriftsteller Thomas wird mit seiner neuen Liebe zusammenziehen. Vor diesem Umzug aber muss geordnet und aussortiert werden. Das weckt Erinnerungen. Fragmente aus seiner Kindheit, die Beziehung zu seinen Eltern und der Abschied von seiner Adoptivschwester, Freundschaften, seine ersten Schritte auf dem Pfad der Liebe und seine Beziehungen zu Frauen werden thematisiert und in kurzen Kapiteln subtil gegen den Strich gebürstet. Thomas will nicht berührt werden, auch nicht im übertragenen Sinne. Doch immer wieder sind da die Erinnerungen an Lin, ein Mädchen, das er vor langer Zeit in einem Jugendlager kennengerlernt hat. Sie hat ihn "berührt".

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THOMAS VERBOGT

Wenn der Winter vorbei ist

Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt

INHALT

Dieses andere Lächeln

Aus dem Nichts

Sie sind alle allein

Glühender Blick

Anderes Leben

So lange wie ein Traum

Denk doch mal nach!

Aus einer gewissen Entfernung

Sie haben gelacht

Mitreißend fröhlich

Der träge, glückliche Rhythmus

Früher Winterwind

Nichts geht vorbei

Das rote Märchenbuch

Wie soll man leben?

Das ist wirklich das Beste

Indem man etwas loslässt

Na und?

Schwierigkeiten im Umgang mit dem Leben

Keine feierlichen Worte

Dieses brüchige, brillante Bollwerk

Kleiner Eisbär

Alles verströmt Kälte

Durch meine Wut

Indian Summer

In der Klemme

Mount Everest

So fängt dein Leben an

So was kommt vor

Schöne Worte

Klar umrissen

Verdoppelt

Herbst in Neuengland

Keinerlei Kontrolle

Verhaltenes Lachen

Leichte Zugluft

Es war aber so

Nenn es Zärtlichkeit

Weihnachten in Amsterdam

I BLESS THE LIGHT

I BLESS THE LIGHT THAT SHINES ON YOU,

BELIEVE ME

Ray Davies, Days

NÄHERE DICH DER SONNE,

SEI DANN DER SCHWERKRAFT

EIN VERBÜNDETER STATT

EIN ÄNGSTLICHER FEIND.

HAB KEINE ANGST VOR DEM,

WAS DIR ZUSTÖSST. UND VERTRAU

AUF DEINE KÜHNSTEN TRÄUME.

Frans Kusters Nieuwe Icarus (Neuer Ikarus)

aus: Na het wonder (Nach dem Wunder)

DIESES ANDERE LÄCHELN

«Du hast richtig erschrocken ausgesehen», sagt Aimee.

«Erschrocken?»

Die Wohnung, in der ich gut fünfzehn Jahre lang gelebt habe, ist so gut wie leer. Die meisten Dinge sind bereits bei Aimee, immer noch viel zu viele, «aber die sortiere ich dann dort aus» – ein Vorhaben, das bei ihr auf keine große Begeisterung stößt.

«Was wir hier erledigen, können wir uns dort sparen.»

Sie liebt es, Ballast loszuwerden. Und das meiste, das wir in unseren Häusern, in Schränken, Speichern und Kellern aufbewahren, ist Ballast. Vielleicht ein Versuch, Aufschluss über unsere Persönlichkeit oder die Bedeutung unseres Lebens zu gewinnen, vielleicht auch der Wunsch, wenigstens das zu sein, was wir aufbewahren. Bei Vielem dachten wir einst: ein schönes Andenken für später. Doch es ist viel schneller später, als wir uns das jemals vorstellen konnten, und dementsprechend viel muss dann ein schönes Andenken sein. Die Dinge von einst sind es allerdings eher selten, weil sie nie den Platz bekommen haben, es zu werden.

Aimee kann extrem fragend einen Stapel Briefe hochhalten, die beispielsweise mit einem roten Band zusammengebunden sind, weil ich einst fand, dass ein rotes Band gut zu diesen Briefen passt. Sie stammen von einer Freundin, die mich schnöde sitzen ließ – eine Entwicklung, die so gar nicht zum Ton ihrer Briefe passen wollte. Doch natürlich habe ich selbst dafür gesorgt, dass sie mich schnöde sitzen ließ. Ich habe früh gelernt, mich über solche Dinge nicht zu beklagen.

«Wann willst du die lesen?» Aimee stellt Fragen so, dass ich mir Zeit nehme, ernsthaft über eine Antwort nachzudenken.

«Vielleicht nie mehr. Ich habe sogar Angst davor», erwidere ich. Im Stillen denke ich, dass ich Angst vor allem habe, was mir zu nahe kommt. Vielleicht ist es gar keine Angst, vielleicht will ich es bloß nicht, aber Vieles von dem, was man nicht will, hat auch was mit Angst zu tun.

Aimee greift zu einem neuen Müllsack. Vor ein paar Tagen standen dreißig vor der Tür – dreißig bleigraue, plumpe, formlose Hüllen für eine vergessenswerte Vergangenheit.

Auf dem Kaminsims stehen noch ein paar Fotos, die in keinen Karton gewandert sind. Die stecke ich nachher in meine Jackeninnentasche: Fotos von meinen Eltern, ein Foto von Becky. Eine Geburtsanzeige, auf der mein Name prangt. Die sind schon immer da gestanden. Nachmittags setze ich mich oft davor, und das wird auch in Zukunft so sein. Nachmittags gehe ich oft in mich.

Aimee steht auf dem Balkon. Es ist ein warmer, sonniger Maitag. Im Park auf der gegenüberliegenden Seite der schmalen Straße ist viel los. Es läuft Musik, Kinder singen laut, als müssten ihre Stimmen bis weit in den Himmel hinauf gehört werden. Hier habe ich die sonnendurchfluteten Tage stets genossen, vor allem wenn es Frühling wurde und die Bäume ausschlugen.

Neben einer undefinierbaren Wehmut spüre ich noch etwas anderes, Unruhe, etwas, das meine Aufmerksamkeit fordert, aber nicht bekommt. Daraufhin schaue ich zum Kaminsims, ich muss dorthin schauen, zu den Fotos aus den ersten Jahren meines Lebens, und weiß jetzt auch wieder, wieso Aimee auf die Idee gekommen ist, ich könnte erschrocken sein: Vermutlich bin ich auch erschrocken. «Vermutlich ist das mein letzter Umzug», habe ich gesagt.

Wann habe ich das letzte Mal gesagt, dass etwas das letzte Mal ist? Bei wichtigen Momenten wohlgemerkt. Drei Mal habe ich jetzt schon von nahestehenden Menschen Abschied genommen. Sie waren krank und sind gestorben, und stets wusste ich beim Abschied, dass wir uns tatsächlich zum letzten Mal sehen. Das hat das Leben so klein und kurz gemacht, so lächerlich verletzlich, aber auch sinnlos. Nie habe ich eine solche Stille erlebt wie nach diesen Abschiedsmomenten. Ich ging nach Hause – die Stadt eine noch nie wahrgenommene Landschaft, völlig sinnentleert durch die Heftigkeit des Abschieds, die Bedeutungslosigkeit unserer Leben, erfüllt von Stille und Ausblicken, die aus nichts als Stille bestanden.

Wovon nehme ich jetzt Abschied, wenn ich sage, dass ich zum letzten Mal umziehe? Worüber erschrecke ich? Denn das tue ich, ich erschrecke.

Ich gehe zum Kaminsims. Zur Geburtsanzeige. Zu den Fotos: meine Eltern, die einander zugewandt in unserem einstigen Wohnzimmer sitzen. An dem, was vor ihnen auf dem Tisch steht, erkennt man, dass es sich um einen festlichen Anlass handelt. Meine Eltern erzählen sich etwas, das sie zum Lachen bringt.

Becky hat auf dem Foto zur Gitarre gegriffen. Ich war auch mit im Raum, das weiß ich genau. Damals hat man noch nicht so viele Fotos gemacht. Die Erinnerungen, die die Fotos wachrufen, schließen auch denjenigen mit ein, der die Kamera bedient hat, was selten beiläufig geschah. Hier ist Becky von ihr überrascht worden. Sie wirkt ertappt, während sie doch bloß zu ihrer Gitarre greift. Sie lacht verlegen. Wie gern ich sie gesehen habe, diese Verlegenheit in ihrem Lachen. Manchmal dachte ich dann: So geht das Leben, so will ich auch leben.

Bei meinen Eltern stand immer ein anderes Foto von ihr, ebenfalls mit Gitarre, aber darauf lacht sie ein Lachen, das sie zeigen will. Mir ist dieses andere Lachen lieber.

AUS DEM NICHTS

Beckys Stimme klingt sanft. Ich schaffe es nicht, sie anzusehen. Ihr Gepäck – eine Reisetasche und der Gitarrenkoffer – steht neben der Tür zur Treppe. Gleich wird sie fort sein. Sie sagt, dass sie zurückkommt, aber noch nicht weiß, wann.

Becky heißt Rebecca, aber seit sie bei uns lebt, heißt sie Becky. Keine Ahnung, wer sie zuerst so genannt hat. Mich gab es damals noch nicht, und meine Eltern waren noch nicht verheiratet, wohnten allerding schon in diesem Haus, im obersten Stockwerk. Becky war fünf.

«Sie kam aus dem Nichts», sagte meine Mutter oft. «Eines sonnigen Tages kam sie in unser Leben geschneit.»

Aus dem Nichts, das war der Krieg. Das hat mir mein Vater erzählt. Irgendwo in Deutschland wurde sie gefunden, in der Nähe von Bahngleisen, im Sommer 1944: ein zweijähriges Kind.

«Ihre Eltern sind ermordet worden. Mauthausen», sagte mein Vater.

Den Namen kannte ich. Manchmal blätterte ich in den Büchern über den Krieg. Davon gab es mindestens zehn, sie standen im obersten Regal. Ich schaute mir die Fotos an, die ich mir nicht anschauen wollte, und wenn ich das tat, war mir, als ginge mein Atem schwerer. Eben weil ich sie nicht anschauen wollte, übten sie eine unheimliche Anziehungskraft auf mich aus. Außerdem weckten sie Schuldgefühle, die ich nicht in Worte fassen konnte. Und ich verspürte Scham. Dass war alles noch gar nicht lange her. Meine Mutter sang oft, wenn sie den Haushalt machte, und wenn sie sang, hielt ich mich von den Fotos fern. Es musste Stille herrschen.

«Sie hat ein paar Jahre in einem kleinen deutschen Dorf gelebt», erzählte mein Vater. «Bei guten Deutschen. Die gab es nämlich auch.»

Das sagte mein Vater immer, wenn er von guten Deutschen sprach: «Die gab es nämlich auch.»

«Die haben sie nach dem Krieg nach Holland zurückgebracht. Sie wussten, dass sie von dort stammt, aber nicht, dass sie niemanden mehr hat. Denn genauso war es: Sie hatte niemanden mehr.»

Meine Mutter betrat das Zimmer: «Und dann hatte sie uns.»

Sie sang die Worte beinahe. Mein Vater lachte, meine Mutter umarmte ihn und sagte erneut: «Und dann hatte sie uns.»

Mein Vater kann von einem Moment auf den anderen tief in Gedanken versinken, und wenn das länger dauert, kann er tagelang so melancholisch sein, dass er kaum noch spricht, auf fast nichts mehr reagiert. Merkt meine Mutter, dass es wieder mal soweit ist, versucht sie einzugreifen, indem sie ihn fröhlich in den Arm nimmt oder eine lustige Geschichte erzählt – meine Mutter kann alles, was sie sieht, sogar die kleinste Kleinigkeit, in eine Geschichte verwandeln, über die jeder lachen muss – nicht zuletzt, weil sie perfekt Gesichter nachahmen kann. Meist hilft das, denn ihre Fröhlichkeit ist ansteckend.

Becky war schon zehn, als ich zur Welt kam, das erste Kind meiner Eltern. Ich kannte es nicht anders, als dass Becky zu uns, zu unserer Familie gehört. Schon damals unterschrieb sie mit diesem Namen. Das sei interessanter, sagte sie später. Ihr Name klang englisch. Kamen englische Lieder im Radio, die ihr gefielen, notierte sie deren Texte in einem Heft.

Als meine Schwester geboren wurde, konnten meine Eltern das Stockwerk darunter dazu mieten. Es waren große Stockwerke. Das Haus lag an einer breiten, belebten Straße in Nijmegen. Nach hinten hinaus schauten wir auf städtische Gärten, die perfekt gepflegt waren wie fast alles in den Fünfzigerjahren, so als könnte penible Ordnung den Schlussstrich unter eine Vergangenheit ziehen, die einfach nicht vergehen wollte.

SIE SIND ALLE ALLEIN

Becky ist meine ältere Schwester, zu der ich aufschaue. Wenn ich mit ihr das Haus verlasse, fühle ich mich stark – erst recht, wenn sie den Arm um mich legt. Mir ist, als würde mein Leben dadurch aufgewertet, wichtiger.

Ich kenne niemanden, den ich so schön finde wie Becky – in meinem persönlichen Umfeld natürlich, denn selbstverständlich sehe ich in den Illustrierten bei uns in der Wohnung Frauen, die ich mir gerne anschaue, vor allem in der Paris Match, aber die kann ich nicht anfassen, die leben nicht in meiner unmittelbaren Umgebung. Aber Becky schon, und wie!

Am schönsten sind die Abende, wenn wir alle zusammen am Tisch sitzen: meine Eltern, meine kleine Schwester, ich und Becky, die Gitarre spielt und singt: englische, aber vor allem amerikanische Folksongs, die sie ausnahmslos auswendig kennt. Ich bin ungefähr acht. Becky ist achtzehn und wohnt mehr oder weniger allein im unteren Stockwerk. Sie arbeitet im Nijmeger Plattenladen in der Burchtstraat. Manchmal nimmt sie mich abends mit dorthin. Dann spielt sie mir neue Musik vor, nicht die üblichen Schlager, die alle den ganzen Tag vor sich hin pfeifen oder summen, sondern Musik von Leuten wie Johnny Cash, Pete Seeger und Joan Baez. Ich verstehe natürlich nicht viel davon, aber wenn Becky darüber spricht, doch eine ganze Menge.

Damals kommt sie eines Nachmittags in mein Zimmer, als ich gerade schreibe. Ich erfinde kurze, sehr kurze Geschichten, an die ich mich später nicht mehr erinnere. Aber ich weiß noch, dass Becky zwei oder drei liest und sagt: «Sie sind alle allein.»

Sie schaut mich an.

«Die Leute, über die du schreibst. Ich habe hier schon mal gesessen, du findest das doch hoffentlich nicht schlimm? Ich bin neugierig, was in deinem kleinen Kopf vorgeht.»

Ich kann sie beruhigen. Ich finde nichts schlimm, was Becky tut.

«Sie sind alle allein, aber nicht so, dass man Mitleid mit ihnen haben müsste.»

Nein, Mitleid hasse ich. Das ist was für dicke Mädchen.

«Sie wollen allein sein, stimmt’s?», sagt Becky.

«Ja», erwidere ich. «Das ist das Wichtigste für sie. Nicht alle finden das gut.» Das ist mir auch schon aufgefallen, in der kleinen Welt, in der ich lebe: dass viele Leute ganz genau wissen, wie sich andere verhalten sollen.

«Wenn du das willst, allein sein, ist es wichtiger als irgendwo dazuzugehören.»

Ich nehme mir vor, alles aufzuschreiben, was sie sagt. Wenn ich etwas aufschreibe, verstehe ich es besser. Es wird dann auch wahr, ganz einfach weil es da steht. Selbst mich verstehe ich besser, wenn ich diese kleinen Geschichten schreibe.

In meiner Klasse gibt es Jungen, die ich manchmal besuche – nie lange, bloß kurz nach der Schule –, und die löchern ihre Eltern oder größeren Geschwister ständig mit Fragen. Ich verstehe durchaus, warum sie ihnen Fragen stellen, nämlich weil sie an den Antworten wachsen, aber ich behalte solche Fragen lieber für mich, denke darüber nach, wenn ich meine kurzen Geschichten erfinde. Niemand außer Becky darf sie lesen. Ich weiß genau, dass sie nichts Besonderes sind. Vielleicht später einmal, aber später ist weit weg. Ich darf mich mit so etwas nicht beschäftigen. Für Becky ist es bereits später, das sieht man ihr an. Und hört es ihr auch an, wenn sie mit meinen Eltern spricht.

GLÜHENDER BLICK

Becky redet nie über die Zeit, in der sie noch nicht bei meinen Eltern war, zumindest nicht, wenn ich dabei bin.

Sie hat einen Freund, einen Amerikaner, den sie erst seit kurzem kennt und nur wenige Male gesehen hat. Auch er singt und spielt Gitarre. Sie hat ihn in einer Kneipe kennengelernt, in der er aufgetreten ist, in einer Kneipe in der Unterstadt. Ich komme manchmal daran vorbei und habe ein paar Mal hineingespäht: Lauter gar nicht mal so alte Männer und Frauen, die zusammengehören, weil sie dort gemeinsam etwas trinken, rauchen, wichtige Gespräche führen und laut lachen.

Er war eine Woche auf Besuch und ging dann nach Amerika, nach New York: ein blasser, junger, etwas schlaksiger Mann mit glühendem Blick und aufmerksamen Gesten.

Jede Woche kommt ein Brief von ihm.

Ich verstehe, dass man befreundet sein kann, ohne sich oft zu sehen. Es geht nicht darum, sich zu sehen, sondern darum, dass jemand in uns steckt.

Mein Vater hat neulich gesagt, dass Gott in uns steckt, dass es Gott gibt, wenn wir daran glauben, ja dass Gott vielleicht nur eine Geschichte ist, die wir uns ausgedacht haben, aber dass auch Geschichten wahr sind. Ich verstehe ansatzweise, was er damit meint, ohne es erklären zu können.

Ich habe zurückgefragt, ob auch ein Mensch in einem stecken kann.

«Ja», meinte er. «Wenn man jemanden sehr liebt.»

Er sah mich an und merkte, dass ich mich wegen der großen Worte etwas hilflos umschaute.

«Und das beginnt damit, dass man an jemanden glaubt.»

«So, wie an Gott?»

«So, wie an Gott.»

Als ich später mit Becky den Abwasch machte – sie spülte und ich trocknete ab –, sagte ich zu ihr: «Ich glaube an dich.»

Sie hielt inne und sah mich an – nicht erstaunt, nicht belustigt, sondern mit leisem Ernst. Ich unterscheide zwischen lautem und leisem Ernst: Lauter Ernst findet sich bei Leuten, die einem etwas befehlen, «weil das so besser ist», «weil man daran wächst», «weil es nur zu deinem Besten ist» oder weil … «Jetzt tu’s halt endlich!»

Leiser Ernst ist etwas anderes. Diesen Ernst saugt man förmlich auf, es ist ein Ernst, der einen aufwertet, einem wirklich etwas gibt. – Später im Leben sollte ich uns noch oft dort stehen sehen, am offenen Fenster der kleinen Küche, im orangefarbenen Schein der untergehenden Sonne. Diese beiden Sorten Ernst nannte ich damals noch nicht so, konnte sie aber genau unterscheiden. Manchmal, wenn ich leicht panisch werde – zum Beispiel wenn ich einen Raum voller Menschen betrete, Menschen, die ich kaum oder aber gut kenne und kein Wort herausbringe –, denke ich daran, wie mich Becky damals angesehen hat: Sie nickte, nahm meine Schultern und zog mich an sich, während ich dachte: Ich lass dich nie wieder los, weil ich dir das sagen konnte. Das hatte ich noch nie zu jemandem gesagt, wusste nicht mal, dass ich diese Worte in mir trug – Worte, die zu Menschen passten, die es schon deutlich länger gab als mich.

«Ja», sagt sie. «Wir kennen uns gut, ohne besonders viel voneinander zu wissen. Denn was könntest du schon über mich erzählen, wenn dich jemand danach fragen würde? Gleichzeitig wissen wir sehr viel voneinander, wenn auch auf eine andere Art. Eine viel Wichtigere vielleicht.» Sie schweigt kurz. «Eine deutlich Sinnvollere.»

Ich muss das alles gleich aufschreiben, das weiß ich genau. Das Wort «sinnvoll» muss ich unterstreichen, ich muss es verstehen.

Meine Mutter kommt in die Küche. Sie sagt, dass Peter draußen wartet – der Junge, der zwei Häuser weiter wohnt. Wir sind lose befreundet. Wenn sein großer Bruder nicht zu Hause ist, gehen wir in dessen Zimmer. Dort hortet dieser Bruder unterm Bett etwa zehn Ausgaben von De Lach – eine Illustrierte voller Fotos von fast nackten Frauen. Nackig ist etwas anderes als nackt, hat Peter gesagt. Es sind andere Frauen als die in der Paris Match. Wir betrachten sie fasziniert.

Ich habe Becky davon erzählt. «Gut, dass ich Bescheid weiß!», rief sie lachend. «Wenn ich in der Wanne liege und du angeblich aus Versehen ins Bad kommst, versteh ich wenigstens, warum.»

Als ich kurz darauf vor der Badezimmertür stand, rief Becky: «Ich weiß genau, dass du dort stehst!» Auf Zehenspitzen schlich ich davon und wagte erst in meinem Zimmer, wieder auszuatmen.

«Peter fragt, ob du noch kurz zum Fußballspielen rauskommst», sagt meine Mutter.

«Ja, mach das!», ermuntert mich Becky. «Hart schießen.»

Denn das kann ich: Hart schießen. Ansonsten kann ich nicht viel, aber wegen meiner knallharten Schüsse bin ich trotzdem beliebt. Bei der Mannschaftszusammenstellung werde ich nie als Letzter ins Team gewählt.

Peter und ich laufen zur Wiese hinterm Bahnhof. Es sind weitere acht Jungen da, von denen ich die meisten kenne. Einer von ihnen stammt aus Indonesien. Sein Bruder ist Gitarrist in einer Band, und wir sind mal zu einer Probe gegangen. Sie haben Lieder von Elvis Presley gespielt: laut, schnell und gefährlich. Dieses Wort ist mir dazu eingefallen. Und das Gefährliche sorgte für eine Unruhe, mit der ich nicht umgehen konnte, die ich aber angenehm fand.

Ich schieße zwei Tore und wünsche mir, dass Becky am Spielfeldrand steht, aber die findet Fußball «doof».

ANDERES LEBEN

Es ist Montag, der 8. Januar 1962. Vor diesem Tag fürchte ich mich schon seit langem. Es ist noch früh am Morgen. Becky wird gleich zum Bahnhof gehen. Sie will nicht, dass wir sie hinbringen.

«Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Abschied nehme», sagt sie. «Ich glaube, das kann ich nicht.»

«Vielleicht lernst du es dann nie mehr», sagt meine Mutter.

«Ist das so schlimm? Ist es schlimm, wenn man nicht Abschied nehmen kann?»

In Rotterdam wird sie das Schiff nach New York besteigen, um zu ihrem Freund zu ziehen, der dort lebt. In einem Viertel mit Kneipen und Cafés, in denen allabendlich Musiker auftreten. Vor ein paar Tagen hat sie einen Stadtplan auf dem Tisch ausgebreitet. «Hier!», zeigte sie. «Hier werde ich wohnen.» Auch sie hat Lieder geschrieben. «Vielleicht gefallen sie den Leuten dort.»

Ich fragte, warum sie nicht erst gucken will, ob sie den Leuten hier gefallen.

«Dort ist es anders, ein anderes Leben», sagte Becky.

Ich sah ihr an, dass sie nicht erklären konnte oder wollte, inwiefern das Leben dort anders war. Trotzdem fragte ich mich, wie oft im Leben ein anderes Leben anfängt. Wann fängt mein anderes Leben an? Vielleicht, wenn Becky fort ist.

Becky sitzt mir gegenüber am Tisch. Mein Vater ist schon früh gegangen, um einem Freund beim Umzug zu helfen. Meine Mutter ist traurig.

Ich kann Becky kaum ansehen. Sie ist in ihrer Welt, und ich bin in meiner, dazwischen hat sich noch eine Welt geschoben, in der ich mich verlaufe und suchend umschaue, ohne zu wissen, wonach ich Ausschau halten soll.

«Ich komme zurück», höre ich sie sagen und möchte nicht, dass sie das sagt, weil ich nicht möchte, dass sie fortgeht. Mir ist, als sähe ich sie bereits aufbrechen, mit der Reisetasche und dem Gitarrenkoffer. Es ist noch nicht mal hell.

«Ich weiß nur noch nicht wann», höre ich sie sagen.

Wenn es soweit ist, bin ich vielleicht alt genug, um mit Frauen umzugehen, so wie Männer mit Frauen umgehen. Dann ist es später, und alles ist anders. Ich kann mir vorstellen, älter zu sein. Ich kenne Fotos, auf denen Männer und Frauen auf eine Art zusammen sind, als wäre es nie anders gewesen: ein angenehmes, aufregendes Leben.

«… und dann machen wir ganz normal weiter.»

Womit machen wir weiter? Und wieso ganz normal? Becky hat bereits mehrmals gesagt, dass nichts normal ist, dass es ausschließlich an einem selbst liegt, wenn etwas doch normal ist. Normal ist langweilig. Was meint sie mit «normal weitermachen»?

«Warum sagst du nichts?», fragt sie.

Ich zucke mit den Schultern und noch während ich das tue, empfinde ich es als unheimlich kindisch, aber vielleicht ist ja auch alles kindisch an mir – jetzt wo wir einander gegenübersitzen. Vielleicht leben Mama und Papa nicht einmal mehr, wenn sie zurückkommt. Vielleicht bin ich dann in eine andere Stadt gezogen oder sogar tot, und das ist das letzte Mal, dass wir uns sehen. Der Gedanke ist mir unerträglich.

«Wenn ich was sage, muss ich bestimmt heulen», erwidere ich.

Becky ist am ersten Januar zwanzig geworden, und ich bin gerade mal neun, also im Grunde noch ein kleiner Junge. Becky geht weit weg, wird sich in einer Welt verlieren, die so groß ist, dass ich keine Vorstellung davon habe – na ja, ein bisschen vielleicht, seit ich die Abenteuer von Tim und Struppi verfolge, aber diese weite Welt befindet sich zwischen zwei Buchdeckeln. Beckys Welt ist so weit, dass man sich unbemerkt darin verlieren kann, und das ist eine Zukunft, die mir Angst macht. Noch nie habe ich so über die Zukunft nachgedacht.

«Zukunft», was für ein schreckliches Wort!

«Es ist nicht schlimm, wenn man heult. Wir haben doch ausgemacht, dass wir uns für fast nichts schämen müssen. Heulen ist absolut erlaubt.»

An diese Abmachung erinnere ich mich, aber nicht mehr an den Anlass dafür. Es ist, als trübte sich alles ein, als würde mit Becky das Licht aus meinem Leben verschwinden. Ich habe Glück mit meinen Eltern, aber sie sind trotzdem anders als Becky. Becky ist eine Verbündete. Meine Schwester ist vier, mit ihr kann man Spaß haben, doch wir haben kaum etwas gemeinsam. Becky ist meine eigentliche Schwester und Freundin.

«Sie ist aus dem Nichts in unser Leben geschneit», wie meine Mutter immer sagt. Und jetzt verschwindet sie im Nichts.

Sie steht auf.

«Ich geh dann mal.»

Meine Mutter steht in der Tür. Ihr Gesicht ist gerötet.

«Warum schon so früh?», fragt sie. «Das Schiff geht doch erst um vier?»

«Einen Abschied zieht man nicht in die Länge», sagt Becky.

«Auch wenn es mein erster Abschied ist, weiß ich eines ganz genau: Dass man ihn nicht in die Länge ziehen darf.»

Meine Mutter drückt sie an sich. «Ach, Kind», sagt sie. «Ach, Kind.»

Ich schaue sie an. Becky ist kein Kind mehr, aber vielleicht wird sie es für meine Mutter immer bleiben: das Kind, das aus dem Nichts kam.

Am letzten Abend, an dem sie hier am Tisch gesungen hat, sang sie auch ein paar eigene Lieder. Ich konnte sie nicht verstehen, begriff aber trotzdem, wovon sie handelten: von der Angst, allein gelassen zu werden, das wusste ich ganz genau. Ich durfte länger aufbleiben als sonst. Es war auch ein anderer Abend als sonst, der letzte, an dem Becky hier singen würde, zumindest in nächster Zeit.

«Vielleicht wirst du dort weltberühmt und hast nie mehr Zeit, uns zu besuchen», meinte mein Vater.

Mit leisem Ernst sah Becky ihn an.