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Beschreibung

Bestimmte psychische Störungen können unser natürliches Gespür für die Grenzen zwischen Ich und Umwelt, zwischen gestern und heute trüben. Nach einem traumatischen Erlebnis etwa können Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen, und die Betroffenen erleben in so genannten Flashbacks den schrecklichsten Moment ihres Lebens immer wieder. Menschen mit einer paranoiden Psychose beziehen ein belangloses Geschehen auf sich, und manche glauben beispielsweise, ihre Gedanken würden durch fremde Mächte manipuliert. Das Verständnis dieser Leiden hilft dabei, sie zu mindern. Wer die Symptome einzuordnen weiß, wird auch bessere Hilfe leisten können – für sich selbst, für Angehörige, Freunde und Patienten. Dazu wollen wir mit diesem Sonderheft beitragen. In den hierfür ausgewählten Artikeln erläutern Experten, was hilft, die beschriebenen Krisen zu überwinden.

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EDITORIAL

An den Grenzen der Normalität

Christiane [email protected]

Es scheint so selbstverständlich, dass wir unseren Körper, unsere Gedanken und Gefühle als Teil von uns empfinden. Dass wir die eigene Person als getrennt von der Umwelt wahrnehmen; dass wir zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden. Was, wenn sich diese Gewissheiten auflösen? Wenn Vertrautes fremd und bedrohlich wirkt, jedes Ereignis eine verborgene Bedeutung in sich trägt, ein harmloses Geräusch Todesangst auslöst?

Solche Phänomene kennzeichnen bestimmte psychische Störungen, die unser natürliches Gespür für die Grenzen zwischen Ich und Umwelt, zwischen gestern und heute trüben. Nach einem traumatischen Erlebnis etwa können Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen, und die Betroffenen erleben in so genannten Flashbacks den schrecklichsten Moment ihres Lebens immer wieder. Menschen mit einer paranoiden Psychose beziehen ein belangloses Geschehen auf sich, und manche glauben beispielsweise, ihre Gedanken würden durch fremde Mächte manipuliert.

So dramatisch das für die Erkrankten ist, so aufschlussreich sind ihre Erfahrungen für die Erforschung der menschlichen Psyche: Unser »normales« Erleben ist ein fragiles Konstrukt. Das Verständnis dieser Leiden hilft dabei, sie zu mindern. Zum einen, weil eine tiefe Einsicht in die Psychopathologie letztlich der Therapie den Weg bereitet. Zum anderen ist es für viele Betroffene bereits eine große Erleichterung, dass es für ihre beängstigenden Erfahrungen eine Erklärung gibt.

Wer die Symptome einzuordnen weiß, wird auch bessere Hilfe leisten können – für sich selbst, für Angehörige, Freunde und Patienten. Dazu wollen wir mit diesem Sonderheft beitragen. In den hierfür ausgewählten Artikeln erläutern Experten, was hilft, die beschriebenen Krisen zu überwinden. Und sie führen uns vor Augen, was wir alle uns hin und wieder vergegenwärtigen sollten: wie leicht uns die Normalität entgleiten kann.

Eine gute Lektüre wünscht Ihre

IN DIESER AUSGABE

Traumata

Frühe Brandmale

Bei sexuellem Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung kann das Stresssystem des Körpers aus dem Lot geraten. Eine schwere Kindheit zieht deshalb häufig Herz-Kreislauf-Probleme oder andere chronische Erkrankungen nach sich.

Von Hans Jörgen Grabe und Carsten Spitzer

Den Schreck in Worte fassen

Rund jeder 100. Autounfall hinterlässt tiefe Spuren in der Psyche der Opfer. Eine einfache Schreibtherapie kann helfen, posttraumatische Symptome wie Albträume und Ängste im Straßenverkehr zu überwinden.

Von Christiane Gelitz

Interview»Ländergrenzen spielen keine Rolle«

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 schockierten Menschen in aller Welt. Die Sozialpsychologin Angela Kühner erklärt, wie solche kollektiven Traumata wirken.

Helfer in der Not

Die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« unterstützt Menschen in Krisengebieten unter anderem darin, die Folgen von Krieg und Gewalt zu verarbeiten. Unser Autor beobachtete bei seinen Einsätzen, dass die Kultur im Umgang mit belastenden Ereignissen eine bedeutende Rolle spielt.

Von Stefan Hilscher

Trauma im Kreißsaal

Für viele Mütter ist die Geburt ihres Kindes eine schöne Erfahrung. Bei manchen jedoch wird das Elternsein noch lange von den Erinnerungen an unerträgliche Schmerzen und Gefühle der Hilflosigkeit überschattet.

Von Nele Langosch

Der Psychiater in der Hosentasche

Wer psychisch krank ist, kann auf seinem Smartphone Hilfe suchen – das Angebot an Gesundheits-Apps wächst stetig. Aber taugen die Programme wirklich etwas, oder richten sie eher Schaden an?

Von Emily Anthes

Opfer zweiten Grades

Das Attentat auf der norwegischen Insel Utøya 2011 hat nicht nur viele überlebende Kinder, sondern auch deren Eltern traumatisiert: Sie quälen sich bis heute mit Schuldgefühlen.

Von Christiane Gelitz

Interview»Die Angehörigen entscheiden, wie viel sie wissen wollen«

Das Hamburger Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes betreut Menschen, die gerade vom plötzlichen Tod eines Angehörigen erfahren haben.

Die Psychologin Angélique Mundt erläutert, wie man sie am besten durch diese schrecklichen Stunden begleitet.

Grenzgänger

Gefangen in der Unwirklichkeit

Menschen mit Depersonalisations-/Derealisationsstörung erleben sich selbst oder die Welt als fremd und unwirklich. Die Erkrankung erlaubt Rückschlüsse darüber, wie brüchig unsere Selbstwahrnehmung ist.

Von Mascha Elbers

Der mysteriöse Fall Agatha Christie

Im Winter 1926 verschwindet Agatha Christie elf Tage lang spurlos. Litt sie unter Gedächtnisverlust – oder hat sie den Vorfall inszeniert? Eine psychologische Kriminalgeschichte.

Von Stefania de Vito und Sergio Della Sala

Der innere Wandel

Schematherapeuten begleiten ihre Patienten auf einer Art zweitem Bildungsweg, um starre Denk- und Verhaltensmuster zu verändern.

Von Eckhard Roediger

Permanenter Ausnahmezustand

Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung befinden sich in andauernder seelischer Alarmbereitschaft, wie ein Blick ins Gehirn zeigt.

Von Christiane Gelitz

Psychosen

Das Abc des Wahns

Wer unter einer paranoiden Psychose leidet, fühlt sich beobachtet und verfolgt. Andere Wahnformen unterscheiden sich hiervon teils erheblich.

Von Petra Garlipp

Den Zweifel wecken

Eine kognitive Verhaltenstherapie erleichtert es, mit Wahn und Halluzinationen umzugehen. Schizophrene Patienten lernen dabei Schritt für Schritt, ihre Gedanken zu hinterfragen.

Von Tanja Wiessmann und Andreas Bechdolf

Gut durch die Krise

Bis zu zwei Prozent aller Menschen entwickeln im Lauf ihres Lebens eine schizophrene Psychose. Was hilft ihnen, eine solche Phase zu meistern?

Von Franziska Rausch, Sarah Eifler und Mathias Zink

Wie ich lernte, den Stimmen zuzuhören

Die Diagnose Schizophrenie reißt eine Studentin in einen Strudel der Verzweiflung. Doch als sie lernt, mit den Stimmen zu leben, findet sie ihr inneres Gleichgewicht wieder.

Von Eleanor Longden

Editorial

Impressum

Therapie kompakt

Traumata

über EMDR, Flashbacks und Schlafstörungen

Grenzgänger

über Zwangsmaßnahmen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Suizidprävention

Psychosen

über virtuelle Therapie, Isolation, Frühwarnzeichen

Kolumne

Hirschhausens Hirnschmalz

Ein Bär ist ein Bär ist ein Bär

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TRAUMATA

Frühe Brandmale

GESUNDHEIT Wer als Kind vernachlässigt oder missbraucht wurde, leidet im Erwachsenenalter häufiger unter körperlichen Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Diabetes. Woran liegt das?

VON HANS JÖRGEN GRABE UND CARSTEN SPITZER

Auf einen Blick: Die Spätfolgen einer schweren Kindheit

1 Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Autoimmunstörungen: Sie alle können von traumatischen Erfahrungen in den frühen Lebensjahren herrühren.

2 Bei anhaltenden psychischen Belastungen wie sexuellem Missbrauch und Misshandlung schüttet der Körper permanent Cortisol aus. Das bringt den Stoffwechsel und den Hormonhaushalt durch einander.

3 Zudem stört ein hoher Cortisolspiegel das Wachstum und die Regeneration von Nervenzellen und synaptischen Verbindungen im Gehirn.

Quälende Selbstvorwürfe, zu nichts Lust und das ewige Gefühl, es sei doch eh alles sinnlos – Beate Klein∗ glaubt ihr Leben nicht mehr bewältigen zu können. Die 38-Jährige fühlt sich ausgeliefert, ihre Lage scheint ausweglos. Zutiefst verzweifelt findet sie den Weg in unsere Tagesklinik im Universitätsklinikum Greifswald. Schnell ist klar: Frau Klein leidet an mittelgradigen bis schweren depressiven Episoden, die sie bereits seit ihrer späten Jugend alle ein bis zwei Jahre heimsuchen. Albträume reißen sie aus dem Schlaf, Angstzustände, die sie selbst als »schlechte Erinnerungen« bezeichnet, quälen sie. Zwar bessert sich die Depression durch die Therapie in den folgenden Wochen, doch Anspannung und innere Unruhe wollen einfach nicht nachlassen.

Im Lauf der Behandlung kommen mehr und mehr körperliche Beschwerden zur Sprache, ihr starkes Übergewicht etwa. Zwar berichtet Frau Klein, sie habe dank der Appetitlosigkeit während ihrer depressiven Phasen immer wieder bis zu 20 Kilogramm abgenommen, aber eben nie dauerhaft. Seit vier Jahren leidet sie unter Bluthochdruck und muss Medikamente nehmen. Außerdem warnt ihr Hausarzt, sie sei stark gefährdet, Diabetes zu entwickeln. Alkohol, so Klein, habe sie nie angerührt, nur von Zigaretten könne sie einfach nicht lassen.

Könnte ein Zusammenhang bestehen zwischen den körperlichen und den seelischen Leiden der Patientin? Haben sie womöglich sogar gemeinsame Wurzeln? Neue wissenschaftliche Untersuchungen legen dies nahe: So erhöhen neurobiologische Veränderungen – etwa durch Traumatisierung in der frühen Kindheit – nicht nur die Anfälligkeit für seelische Erkrankungen, sondern auch für körperliche Gebrechen.

Schon lange ist bekannt, dass viele psychi sche Erkrankungen, insbesondere chronische Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen oder Sucht erkrankungen von frühen traumatisierenden Erlebnissen herrühren können. Jedoch sehen wir in unserer Tagesklinik oft auch Patienten, die neben ihren psychischen Symptomen an körperlichen Beschwerden leiden, an Überge wicht etwa oder an Herz-Kreislauf-Problemen.

Auch Beate Klein schildert im Lauf der Therapie die belastenden Umstände ihrer Kindheit. Der leibliche Vater hatte ein erhebliches Alkoholproblem. Sie hat ihn als jähzornig und unberechenbar in Erinnerung: Seine Stimmung konnte unvermittelt kippen, und wenn er »schlecht drauf« war, hagelte es Beschimpfungen und Prügel. Das Mädchen konnte eigentlich nie wissen, wann sie, ihre jüngere Schwester und die Mutter davor sicher waren. Gerade der Mutter gegenüber wurden die gewalttätigen Ausbrüche immer bedrohlicher. So lebte Beate Klein als Kind in ständiger Angst – Furcht vor dem Vater, Sorge um die Mutter. Sie berichtet auch, dass die Mutter mehrfach für mehrere Tage verschwunden gewesen sei. Wohin, klärte sich niemals auf.

Als Frau Klein neun Jahre alt war, zog der Vater schließlich aus und verschwand aus ihrem Leben. Dafür sah sie sich nun selbst in der Elternrolle, kümmerte sich um die kleine Schwes ter und die »emotional erstarrte« Mutter. Zu dieser Zeit erfasste sie ein tiefes Schulderleben, das sich seitdem nicht mehr abschütteln ließ.

Frau Klein ist ein typischer Fall: psychische und körperliche Gewalt, ein familiäres Klima aus Angst und emotionaler Verwahrlosung, die Unberechenbarkeit einer wichtigen Bezugsperson, der fehlende Schutz durch den anderen Elternteil, der selbst völlig hilflos ist und dadurch das Kind in die Rolle des Erwachsenen drängt. All das beeinträchtigt eine gesunde psychosoziale Entwicklung. Aus der ausweglosen Situation und der Überforderung resultieren häufig massive Scham- und Schuldgefühle.

Aber lässt sich wirklich ein Zusammenhang zwischen der Misshandlung im Kindesalter und körperlichen Erkrankungen im Erwachsenenalter nachweisen? Sind die körperlichen Symptome vielleicht eher die Begleiterscheinung einer bestehenden psychischen Störung? Die Studienlage spricht eine deutliche Sprache. So brachte die zwischen 1995 und 1997 in San Diego begonne ne ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences) Frappierendes zum Vorschein. Die Erhebung er fasste mehr als 17 000 Mitglieder einer ame ri ka nischen Krankenversicherung, die sich re gel mäßig einer ärztlichen Rou tineuntersuchung unterzogen. Zusätzlich mach ten die Teilnehmer detaillierte Angaben über traumatisierende Erfahrungen in ihrer Kindheit, also ob und in welchem Maß sie unter Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung gelitten hatten.

Bereits bei einer ersten Datenanalyse im Jahr 1998 erkannten Wissenschaftler um den Mediziner Vincent Felitti: Personen, die im Fragebogen mehr als drei Fragen zu Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit bejahten, hatten gegenüber unbelasteten Personen ein bis zu zwölffach höheres Risiko, alkoholkrank oder drogenabhängig zu werden oder eine Depression zu entwickeln. Die Gefahr, der Nikotinsucht zu verfallen, war erhöht – ebenso der Hang zu wechselnden Sexualkontakten und das damit einhergehende Risiko einer Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten. Auch trieben die Betroffenen weniger Sport und litten öfter unter Fettleibigkeit.

Eine weitere Auswertung aus dem Jahr 2004 zeigte zudem, dass Misshandlungen in Kindheit und Jugend vermehrt mit koronaren Herzerkrankungen einhergingen: Je stärker das Kindheitstrauma war, desto höher war auch das Risiko, an den Herzkranzgefäßen zu erkranken. Ähnliches galt für Lungenkrankheiten, Krebs, Leberschäden und Autoimmunerkrankungen.

In einer Studie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf bestätigte Mitautor Carsten Spitzer mit seinen Kollegen einen solchen Zusammenhang auch für die Autoimmun erkrankung multiple Sklerose (MS). 234 Patienten und 885 gesunde Erwachsene gaben Auskunft über ihre Kindheitserfahrungen. Tatsächlich berichteten die MS-Kranken mehr als doppelt so oft von emotionalem Missbrauch und Vernachlässigung wie die Kontrollpersonen.

Was genau belastet den Körper?

Auch wenn die Statistik Bände spricht, bleibt die Frage nach dem kausalen Zusammenhang. Was genau belas tet die Gesundheit? Prinzipiell sind hier drei Modelle denkbar (siehe »Vom Missbrauch zur Krankheit«, rechts). So könnte es eine direkte Beziehung zwischen Kindheitstrauma und gesundheitlichen Problemen bei Erwachsenen geben – veränderte biologische Mechanismen etwa, die sich auf den körperlichen Zustand auswirken. Möglich wäre ebenfalls, dass durch die schlimme Kindheit ausgelöste psychische Erkrankun gen körperliche Probleme nach sich ziehen. So sind etwa Depressionen und anhaltende Frustration bekannte Risikofaktoren fürs Herz. Oder aber die traumatischen Erfahrungen beeinflussen das Verhalten – sie nehmen etwa die Freude an Bewegung oder gesunder Ernährung – und greifen damit die Gesundheit an.

Besonders Krankheiten des Stoffwechsels stellen eine große Gefahr für das Herz-Kreislauf-System dar. Dazu zählen die zentrale oder ab dominelle Adipositas (Übergewicht, bei dem sich das Fett überwiegend in der Bauchregion sammelt), ein gestörter Zuckerstoffwechsel bis hin zum Diabetes mellitus, veränderte Blutfette sowie Bluthochdruck. Mediziner fassen diese Erkrankungen als metabolisches Syndrom zusammen – ein tödliches Quartett, das sich wechselseitig erheblich potenziert.

Verschiedene Studien belegen: Alle vier Mitspieler des metabolischen Syndroms können von traumatischen Kindheitsbelastungen herrühren. Das gilt vor allem für die abdominelle Adipositas, wie mehrere unabhängige Querschnittsuntersuchungen ergaben, darunter 2012 die Niederländische Studie zu Depression und Angst (NESDA). Insbesondere fiel den Forschern dabei der Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und übermäßigem Bauchfett auf.

Doch liegt es nicht gerade bei Übergewicht und anderen Stoffwechselproblemen nahe, dass sie vor allem verhaltensbedingt sind? Eine erste Antwort auf diese Frage mag ein kleines Rechenbeispiel geben. So kennt man auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen »traditionelle« Risikofaktoren, etwa Rauchen, körperliche Inaktivität, Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck. Und natürlich ist es hier ebenfalls denkbar, dass das Trauma aus Kindheitstagen langfristig zu Verhaltensveränderungen führt, die genau diese Risikofaktoren bedingen. Die Sta tistik spricht jedoch eine andere Sprache. So ergab die Auswertung der ACE-Studie aus dem Jahr 2003: Die Gefahr für koronare Herzerkrankungen steigt bei Missbrauch und Vernachlässigung im Extremfall um den Faktor 3,6. Berücksichtigt man in der statistischen Analyse aber die Ernährungsgewohnheiten, das Sportpensum sowie Alter und Geschlecht und rechnet diese aus den Daten heraus, so sinkt der Wert lediglich auf 3,1. Als Haupteinfluss bleibt also unterm Strich: das Kindheitstrauma.

Auch depressive Stimmung und Frustra tion, beides psychische Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Probleme, können nur einen Teil der Fälle erklären. Rechnet man sie ebenfalls heraus, bleibt das Risiko noch immer 2,6-mal größer als bei Personen ohne traumatische Kindheit.

Botenstoffe hinterlassen bleibende Spuren

Es ist tatsächlich denkbar, dass Kindheits traumata biologische Steuerungsmechanismen des Körpers nachhaltig verändern. Stresshormone und Botenstoffe beeinflussen den Organismus und können langfristig Spuren hinterlassen. So weiß man, dass sich psychische Belastungen auf die so genannte Stressachse des Körpers auswirken. Gemeint ist damit ein Kommunikationssystem zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde. Durch die Belastung setzt der Hypothalamus, eine wichti ge Steuerungszentrale im Gehirn, einen Boten stoff namens Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) frei. Es stimuliert die Hirnanhangdrüse, auch Hypophyse genannt, die daraufhin das Hormon Adrenocorticotropin (ACTH) in die Blutbahn abgibt. So gelangt der Botenstoff zur Nebennierenrinde, die schließlich das Glucocorticoid Cortisol ausschüttet.

Über eine Rückkopplung zum Gehirn regulieren die Hormone die weitere Aktivierung der Kaskade – und damit den Spiegel der betreffenden Botenstoffe im Blut. Ist die Stresssituation ausgestanden, kehrt der Körper schnell wieder zum hormonellen Normalzustand zurück. Nicht so bei dauerhaftem Stress, denn dann befindet sich der Organismus unter hormonellem Dauerbeschuss. Und das kann gravierende gesundheitliche Folgen haben.

Cortisol steuert viele Körperfunktio nen, die im akuten Stressfall, etwa bei Bedrohung, physiologisch sinnvoll sind. So wird mehr Energie bereitgestellt, Blutzucker und Blutfette steigen, Fett und Eiweißreserven werden angezapft, und zumindest vorübergehend wird die Immunabwehr angekurbelt. Das alles ge währ leis tet eine optimale Anpassung an die Belastung.

Ein andauernd hoher Cortisolspiegel ist jedoch schädlich – der Stoffwechsel gerät durch einander, ebenso das Immunsystem. Eine chronisch fehlregulierte Aktivität der Stressachse ist zudem direkt oder indirekt an weiteren ungünstigen Veränderun gen beteiligt. So belegen zahlreiche Studien aus den vergangenen Jahren, dass die Konzentration der Botenstoffe Adrenalin und Serotonin nach oben schnellt und die Blutgerinnung in Gang gesetzt wird. Auch scheint sich die Aktivierung des vegetativen Nervensystems zu verändern und der Spiegel der »gesunden« Omega-3-Fettsäuren zu sinken. All das könnte letztlich – als Folge einer andauernden Stresssituation in der Kindheit – das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen.

Viele Befunde deuten außerdem darauf hin, dass der Hirnstoffwechsel unter einem hohen Cortisolspiegel leidet. Offenbar stört er bestimmte Wachstumsfaktoren im Denkorgan. Die Folge: Nervenzellen und synaptische Verbindungen wachsen und regenerieren sich nicht mehr richtig. 2011 erkannten niederländische Forscher in einer großen Untersuchung an Depressiven, dass ein wichtiger Nervenwachstumsfaktor, der Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF), während depressiver Phasen im Blut deutlich vermindert ist. Sind diese vorüber, steigt der Wert wieder an. Patienten, die im Rahmen dieser Studie Antidepressiva bekamen, hatten ebenfalls normale BDNF-Werte – sogar, wenn das Mittel noch gar keine Wirkung zeigte. Womöglich geht der Verbesserung der Symptome ein Anstieg an BDNF voraus, mutmaßen die Wissenschaftler.

Angst treibt den Cortisolspiegel in die Höhe

Tatsächlich belegen Versuche mit Mäusen, dass die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus entscheidend ist für die Erholung nach Stressbelastung. Das Forscherteam um Jason Snyder vom National Institute of Mental Health in Bethesda in den USA bestrahlte Versuchstiere derart mit energiereichen elektromagnetischen Strahlen, dass der Hippocampus nicht mehr in der Lage war, neue Zellen zu bilden. Ängstigten die Wissenschaftler die Nager dann, etwa indem sie sie festbanden, so stieg deren Cortisolspiegel stressbedingt an. Die Erholung und Normalisierung des Hormonpegels stellte sich aber erst nach längerer Verzögerung ein.

Im Jahr 2008 beobachteten Forscher der University of California in Irvine, dass sich der anhaltende Stress auch auf genetischer Ebene auswirkt. Junge Mäuse, die zu wenig Material für ein gemütliches Nest zur Verfügung hatten, zeigten auch noch im Erwachsenenalter massiv erhöhte Spiegel des Glucocorticoids Cortisol. Außerdem war die Genregulation verändert: Der Abschnitt im Erbgut, der für das Corticotropin-Releasing-Hormon kodiert, wurde seltener abgelesen. Damit war ein wichtiger Regulator der Stressachse gestört. Wie sich das im Detail auf das Zusammenspiel der Botenstoffe auswirkt, ist jedoch noch nicht geklärt.

Auch beim Menschen gibt es Hinweise auf eine dauerhaft veränderte Genregulation durch Stress. Kanadische Wissenschaftler um Michael Meaney und Patrick McGowan untersuchten das Gehirn von 24 Menschen, die Selbstmord begangen hatten – zwölf davon hatten eine normale Kindheit gehabt, bei den anderen waren die ersten Lebensjahre durch Missbrauch und Vernachlässigung geprägt. Bei letzteren war das Gen für einen wichtigen Cortisolrezeptor verändert: Es trug mehr Methylgruppen als bei nichtbetroffenen Kontrollpersonen (siehe »Blockierter Erbfaktor«, links). Hierbei handelt es sich um so genannte epigenetische Modifizierungen der DNA. Die Molekülschnipsel werden als Anhängsel an die Erbsubstanz geheftet und bestimmen dadurch mit, wie häufig der betreffende Abschnitt abgelesen wird.

Meist gilt: Je mehr Methylgruppen, desto inaktiver ist das Gen. So auch bei den Selbstmördern mit traumatischen Kindheitserfahrungen. Der DNA-Abschnitt für den Cortisolrezeptor war bei ihnen zu Lebzeiten um rund 40 Prozent weniger aktiv, wie die Forscher an der Zahl der Boten-RNAs erkannten, eines Zwischenprodukts der Proteinsynthese. Demnach ist die Stressachse durch veränderte Genregulation aus dem Takt geraten.

Tatsächlich weiß man heute, dass verschiedene Umwelteinflüsse – etwa Gifte, Drogen, Medikamente, die Ernährung, aber auch psy cho soziale Faktoren – über epigenetische Vorgänge den Körper verändern. Zur genauen Aufklärung dieser Mechanismen bedarf es allerdings noch einer Menge Forschungsarbeit.

Risikogene für erhöhte Stressanfälligkeit

Neben epigenetischen Effekten kennen Forscher mittlerweile auch einige Risikogene, die zu einer ungünstigen Stressregulation beitragen. Bei gewöhnlichen Belastungen des Alltags werden sie sich kaum auf die Gesundheit des Einzelnen auswirken. Allerdings könnte im Fall traumatischer Erlebnisse das Risiko für körperliche Langzeit folgen steigen.

Ein verdächtiger Kandidat ist das Gen FKBP5. Das Protein, dessen Bauplan es verschlüsselt, steuert gemeinsam mit anderen körpereigenen Eiweißmolekülen, wie empfindlich Gewebe und Organe auf Cortisol reagieren. Verschiedene Studien zeigen: Bestimmte Varianten des FKBP5-Gens erhöhen das Risiko für Depressionen und Posttraumatische Belastungsstörungen. Unsere Arbeitsgruppe fand bei einer Variante ein achtfach erhöhtes Risiko für Depression, wenn die Personen in ihrer frühen Kindheit traumatisiert wurden. Vermutlich können die FKBP5-Genvarianten auch körperliche Folgeerkrankungen mitbedingen. Der Beweis für diese Hypothese steht aber noch aus.

Appel, K. et al.: Moderation of Adult Depression by a Polymorphism in the FKBP5 Gene and Childhood Physical Abuse in the General Population.In: Neuropsychopharmacology 36, S. 1982–1991, 2011

Traumatische Kindheit keine Seltenheit

Kindesmissbrauch und Vernachlässigung sind durchaus verbreitet. Das Centre for Evidence-based Child Health des University College London veröffentlichte im Jahr 2009 Zahlen für westliche Industrieländer: Demnach werden jährlich 4 bis 16 Prozent aller Kinder körperlich missbraucht, jedes 10. wird vernachlässigt oder ist extremen psychischen Belastungen ausgesetzt. Während ihrer Kindheit erfahren zudem 5 bis 10 Prozent der Mädchen und 5 Prozent der Jungen schweren sexuellen Missbrauch.

Zahlen aus Deutschland bestätigen dies: In einer Erhebung unter der Allgemeinbevölkerung Vorpommerns im Rahmen der »Study of Health in Pomerania« (SHIP) berichteten etwa 10 Prozent der Erwachsenen von mäßigen bis schweren emotionalen, sexuellen oder körperlichen Missbrauchserfahrungen in Kindheit und Jugend. Vernachlässigung erlebten sogar mehr als 20 Prozent. Forscher um Elmar Brähler von der Universität Leipzig bestätigten diese Zahlen in einer unabhängigen Studie.

Gilbert, R. et al.: Burden and Consequences of Child Maltreatment in High-Income Countries.In: Lancet 373, S. 68–81, 2009; mehr Informationen zu SHIP: www.medizin.uni-greifswald.de/cm/fv/ship

KURZ ERKLÄRT

Als Wachstumsfaktoren bezeichnen Forscher Eiweißmoleküle, die in der Zelle bestimmte Signale übermitteln und damit ihr Wachstum oder die Teilung anregen.

Die Genregulation bestimmt, wie aktiv ein Gen ist – also wie oft es in sein Produkt, ein Protein, übersetzt wird.

Bei epigenetischen Ver änderungen beeinflussen Anhängsel an der DNA, wie oft ein bestimmtes Gen abgelesen wird. Meist handelt es sich um so genannte Methylgruppen aus einem Kohlenstoff- und drei Wasserstoffatomen.

UNSERE EXPERTIN

Hans Jörgen Grabe (oben) ist leitender Oberarzt und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Greifswald am Helios Klinikum Stralsund. Carsten Spitzer ist Chefarzt am Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn für Psychiatrie und Psychotherapie in Rosdorf. Als Psychiater und Psychotherpeuten werden die beiden täglich Zeugen oft gravierender Langzeitfolgen katastrophaler Lebensbedingungen in der Kindheit. Durch das wissenschaftliche Verständnis dieser Zusammenhänge hoffen sie, den »psychosomatischen Teufelskreis« effektiver behandeln und vielleicht sogar frühzeitig durchbrechen zu können.

QUELLEN

Molendijk, M. L. et al.: Serum Levels of Brain-Derived Neurotrophic Factor in Major Depressive Disorder: State-Trait Issues, Clinical Features and Pharmacological Treatment. In: Molecular Psychiatry 16, S. 1088–1095, 2011

Snyder, J. S. et al.: Adult Hippocampal Neurogenesis Buffers Stress Responses and Depressive Behaviour.In: Nature 476, S. 458–461, 2011

Weitere Quellen im Internet:www.spektrum.de/artikel/1152639

 

 

 

∗ Name und Fallgeschichte anonymisiert

TRAUMATA

Den Schreck in Worte fassen

THERAPIE Manche Unfallopfer leiden noch Jahre später unter quälenden Erinnerungen an den Crash. Das Erlebte aufzuschreiben, kkann helfen – sofern die Betroffenen dabei ihre Gefühle zulassen.

VON CHRISTIANE GELITZZ

Auf einen Blick: Auf Papier gebannt

1 Rund jeder 100. Unfall auf deutschen Straßen zieht eine Posttraumatische Belastungsstörung nach sich. Den Betroffenen kann eine einfache Psychotherapie helfen, bei der sie die Erinnerungen wiederholt detailliert aufschreiben.

2 Unabhängig von der Art des Traumas ist die Konfrontation mit dem Erlebten entscheidend für den Behandlungserfolg. Dabei muss das Furchtnetzwerk im Gehirn ausreichend aktiviert sein.

3 Im Rahmen einer Narrativen Expositionstherapie soll der Betroffene darüber hinaus das Ereignis in seine Lebensgeschichte einordnen. So werden die zuvor »heißen« emotionalen Erinnerungen mit einem »kalten« Kontext versehen.

Jeden Tag trifft es Tausende von Menschen. Im Jahr 2016 krachte es allein auf deutschen Stra-ßen knapp 2,6 Millionen Mal. Mehr als 3000 Menschen starben, rund 400 000 wurden verletzt. Einem Teil von ihnen sitzt der Schreck noch lange in den Gliedern. Sie sind angespannt, leicht reizbar, und viele vermeiden es, Auto zu fahren. Denn besonders dabei drängen die Erinnerungen an den Unfall wieder und wieder ins Bewusstsein. Jeder hohe Ton erinnert an die quietschenden Reifen unmittelbar vor dem Aufprall; die Todesangst kommt zurück, häufig auch nachts in Form von Albträumen. Das Trauma hat sich tief ins Gedächtnis eingegraben.

Eine solche Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) geht per Definition auf ein außergewöhnlich belastendes Ereignis zurück. In Deutschland machen zwei von drei Menschen im Lauf ihres Lebens mindestens eine Erfahrung dieser Art; in den USA sogar vier von fünf. Viele Betroffene entwickeln zusätzlich Depressionen, psychosomatische Beschwerden oder eine Sucht, etwa wenn sie die Flashbacks mit Alkohol zu dämpfen versuchen.

Ob eine PTBS entsteht, hängt zum einen von der seelischen Widerstandskraft der Betroffenen ab. Zum anderen sind manche Traumata besonders schwer zu verarbeiten, vor allem wenn es sich nicht um höhere Gewalt wie einen Unfall oder eine Naturkatastrophe handelt, sondern ein anderer Mensch absichtlich Gewalt ausübte und sich das Opfer hilflos ausgeliefert fühlte. Im Fall von Folter oder Vergewaltigung ist die Wahrscheinlichkeit, eine PTBS zu entwickeln, mit mehr als 50 Prozent entsprechend am höchsten. Auch unter mehrfach traumatisierten Kriegsveteranen, denen sich seit jeher ein Großteil der PTBS-Forscher in den USA widmet, erkranken besonders viele. Dasselbe gilt für Missbrauch, Misshandlung und andere wiederkehrende traumatische Umstände in der Kindheit.

Vergleichsweise gering ist das Risiko für Opfer im Straßenverkehr. Jedoch sind davon viele betroffen: Knapp jeder zehnte Deutsche hat im Lauf seines Lebens zumindest einen Autounfall. Im weltweiten Vergleich sind das sogar relativ wenig; in den USA etwa ist es fast jeder Fünfte, wie repräsentative Statistiken der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2016 zeigen. Und während in Deutschland nur jedes 100. Unfallopfer daraufhin eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, gilt das in den USA schon für vier Prozent. Je schwerer der Unfall, desto höher das Risiko.

Was macht eine wirksame Therapie aus?

In einem gleichen sich alle Traumata: Um wieder gesund zu werden, brauchen Betroffene vor allem die Bereitschaft, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. Beruhigungsmittel können deshalb kontraproduktiv sein. Die Effekte von Psychotherapien sind im Schnitt mehr als doppelt so groß wie die einer Behandlung mit Medikamenten, berichteten der deutsche Traumaexperte Ulrich Frommberger und Kollegen 2014.

Nicht ausreichend nachgewiesen sei die Wirksamkeit psychodynamischer, systemischer und körperorientierter Verfahren sowie der Hypnotherapie, denn hier fehle es an randomisierten kontrollierten Studien, so Frommberger. Am besten belegt sind die Effekte der EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, siehe S. 50