Wenn die Welt aus den Fugen gerät - Christian Firus - E-Book

Wenn die Welt aus den Fugen gerät E-Book

Christian Firus

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Beschreibung

Ängste in unsicheren Zeiten sind ganz normal, doch sie können uns lähmen und handlungsunfähig machen. Dadurch werden sie oft noch größer. Welchen Ausweg aus dem Teufelskreis der Angst gibt es? Oder lassen sich unsere Ängste vielleicht sogar konstruktiv nutzen? Christian Firus zeigt, dass es darum geht, die Angst nicht zu verleugnen, sondern sich ihr zuzuwenden, um sie besser zu verstehen. Der erfahrene Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychiatrie beschreibt, was im Alltag ganz konkret gegen Angst hilft und was wir tun können, um zuversichtlicher in die Zukunft zu schauen. Ein hochaktuelles Buch, das hilft, die Chancen der Angst zu entdecken, und Hinweise gibt, wie wir mit unseren Ängsten besser umgehen können.

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Christian Firus

Wenn die Welt aus den Fugen gerät

Vom Umgang mit Angst in unsicheren Zeiten

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung

Teil 1 Das Phänomen Angst

1. Der Sinn von Angst

2. Angstgefühle als Scheinriesen

3. Angst als Hinweis auf Zurückliegendes

Transgenerationale Weitergabe von Traumata

Teil 2 Was gegen Angst hilft

4. Ankommen statt Weg-von-hier

5. Freundschaft mit sich selbst schließen

6. Verbundenheit und Spiritualität

Teil von etwas Größerem sein

7. Praktische Hilfen für den Alltag

Teil 3 Chancen der Angst

8. Die Kunst des Aufhörens

9. Das Gute im Leben

Schönheit empfinden

10. Drei starke Partner gegen die Angst

Verantwortung übernehmen

Entscheidungen treffen

Dankbarkeit

11. Leben mit Unsicherheiten

Ausblick

Anhang

Es sind die kleinen Dinge, die uns brauchen, denn wir hauchen alle Lebensringe in sie ein. Drum ergreift sie, meine Hände, voller Liebe, denn es ist, als bliebe ohne euch am Ende jedes Ding allein.

Karlfried Graf Dürckheim1

Einleitung

Wir müssen Zukunft wieder als Gestaltungsaufgabe sehen lernen, nicht als etwas, was man am liebsten vermeiden möchte, weil so vieles – Erderhitzung, Artensterben, Konjunktur der Diktatoren – so düster aus einer kommenden Zeit heraufscheint.

Harald Welzer2

Zu Beginn des ersten Corona-Lockdowns verspürte ich eine seltsame Enge ums Herz, fühlte so etwas wie Beklemmung, Unsicherheit und Angst. Die Welt insgesamt, und auch meine Welt, war aus den Fugen geraten und Angst drängte meine sonst so verbreitete Zuversicht in den Hintergrund. Bis heute kann ich dieses Wanken unserer Welt spüren und mein Eindruck ist, dass es vielen Menschen so geht. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass es so weitergeht wie gestern, letzte Woche, letztes Jahr, die letzten Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwar mit den gewohnten größeren und kleineren Schwankungen und selbstverständlich auch mit den persönlichen Herausforderungen und Schicksals­schlägen, aber dass die Zeit einmal stillstehen und wir gemeinschaftlich als ganze Menschheit herausgefordert und bedroht sein würden, konnten wir uns vermutlich alle nicht vorstellen.

Die Folgen der Pandemie sind weiterhin sehr deutlich spürbar und sie werden es voraussichtlich noch lange bleiben. Nicht nur Lieferketten funktionieren nicht mehr wie gewohnt, und so werden manche Produkte knapp, von denen wir das niemals glaubten. Auch unsere Beziehungen sind nicht selten in Schieflage geraten, Freundschaften an Impffragen zerbrochen und so mancher Familienzwist hat sich daran ent­zündet, in welcher Weise man einander begegnen kann. All das hat dauerhafte Gräben aufgerissen, die nur mühsam oder schlimmstenfalls gar nicht mehr zu­zuschütten sind.

Damit nicht genug: Psychische Auffälligkeiten und Störungen insbesondere unter der jüngeren Generation haben Hochkonjunktur, und die Nachfrage nach Hilfen überfordert alle vorhandenen Angebote. Der DAK-Report von Mai 2022, dem 800 000 anony­misierte Klinikdaten zugrunde liegen, belegt einen Anstieg emotionaler Störungen um 42 Prozent, von Drogenmissbrauch um 39 Prozent und von depressiven Episoden um 28 Prozent im Vergleich zur vorpandemischen Zeit.3 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beklagte in ihrem Bericht über mentale Gesundheit im Juni 2022 eine gravierende Zunahme von psychischen Erkrankungen in allen Altersschichten.4 Weltweit kam es demnach bereits im ersten Corona-Jahr zu einer Steigerung von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dabei spielt auch die Zunahme von häuslicher Gewalt eine Rolle, die meist Frauen und Kinder trifft und deren Folgen sich oft erst Jahre später offenbaren.

Bereits 2019 ging die Weltgesundheitsorganisation von etwa einer Milliarde Menschen aus, die an einer psychischen Erkrankung litten. Dabei sind unspezifische, noch keinem klassischen Krankheitsbild entsprechende Ängste nicht berücksichtigt. Die Weltgesundheitsorganisation betont, dass psychische Gesundheit mit körperlicher Gesundheit Hand in Hand geht,5 was aus Sicht der psychosomatischen Medizin – meinem eigenen Fachgebiet – längst offensichtlich ist. Stress erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit für Ängste und Depressionen, sondern auch für Herz-Kreislauf- und Infektionserkrankungen.

Zuletzt mehren sich zudem Hinweise darauf, dass die Angst vor dem Klimawandel und seinen bedroh­lichen Auswirkungen immer mehr die junge Generation erfasst, die sich in ihrer Existenz bedroht sieht. Klimaangst oder Eco-Angst sind bereits zu einem neuen Krankheitsbegriff geworden, hinter dem sich depressive und ängstliche Gefühle bis hin zu Sinnleere, Panik­attacken, Schlafstörungen und zwanghaftem Denken an verschiedenste Bedrohungen verbergen können. Das dadurch bedingte erhöhte Stresserleben wirkt sich wiederum negativ auf die psychische Gesundheit und Widerstandskraft aus: „Das Aufwachsen in der sich immer deutlicher abzeichnenden Realität der Klimakrise beeinträchtigt die seelische Gesundheit junger Menschen: Volle 75% der befragten jungen Menschen haben Angst vor der Zukunft, 59% davon sind ‚sehr‘ oder ‚äußerst‘ besorgt. Über 50% fühlen sich traurig, ängstlich, wütend, machtlos, hilflos oder gar schuldig, und 45% geben an, dass sich die Sorge um das Klima negativ auf ihren Alltag auswirkt“6, so die Ergebnisse einer Erhebung. Nicht umsonst war das Jugendwort des Jahres 2020 „lost“. Es steht einerseits dafür, ahnungslos, unsicher und unentschlossen zu sein, beschreibt andererseits aber auch eine junge Generation, die sich abgehängt, vergessen und verloren fühlte und fühlt. Dabei handelt es sich um diejenigen, die in einigen Jahren die Geschicke unserer Welt übernehmen werden. Wir können es uns schlicht nicht erlauben, sie damit alleine zu lassen.

Die Ahrtal-Katastrophe, der Dürresommer 2022 mit vertrockneten Feldern, entlaubten Bäumen lange vor dem Herbst und verheerenden Waldbränden an vielen Orten Europas und weltweit bestätigt die Rea­lität der Bedrohung, die auch vor unseren Türen nicht haltmacht und die mitnichten nur die jüngere Generation betrifft. Vielmehr zerstörten all diese Katastrophen viele solide Existenzen privat wie beruflich.

Im Schatten der Klimakrise haben wir es mit einem Artensterben zu tun, dass viele Experten und Expertinnen als noch bedrohlicher einschätzen als den Klimawandel, wobei beides viel miteinander zu tun hat. Was es bedeuten würde, wenn es keine Insekten mehr gäbe, die durch ihre Tätigkeit des Bestäubens am Beginn der Nahrungskette stehen, mögen wir uns gar nicht vorstellen. Die norwegische Schriftstellerin Maja Lunde beschreibt ein solches Szenario sehr eindrucksvoll in ihrem Bestseller Die Geschichte der Bienen (2015, auf Deutsch 2017).

Und schließlich bricht auch noch ein Krieg in Europa aus, der uns mehr betrifft, als wir zunächst dachten, weil er einerseits geographisch sehr nahe an uns heranrückt und andererseits jeden Tag mehr die Verflechtungen der Weltwirtschaft und unsere Ab­hängigkeiten offenbart. Spürbar braucht es nicht viel, um im wahrsten Sinne zwischen die Fronten zu ge­raten, und anders als bei den vielen anderen Krisen­herden dieser Welt scheint es irgendwie nicht mehr zu funktionieren, sich rauszuhalten. Nicht zuletzt, da die Folgen uns jetzt schon erreichen: mehr geflüchtete Menschen denn je, Energieengpässe und gravierend steigende Preise, die niemand mehr ignorieren kann. Und wir dachten alle, dass nach dem Zweiten Weltkrieg wenigstens eines sicher wäre: nie wieder Krieg auf euro­päischem Boden.

Auf einmal sind die Menschheitsängste, die wir längst hinter uns glaubten, wieder aktuell: Seuchen, Lebensmittelknappheit und Kriege. Unsicherheit macht sich breit und erhöht das Stresserleben vieler Menschen. Stress macht uns insgesamt anfälliger, auch für beispielsweise aggressives Verhalten, was leider zuzunehmen scheint.7 Was hilft in solchen unsicheren Zeiten?

Ich erlebte in den Tagen und Wochen des ersten Lockdowns wie nie zuvor, welche Kraft und Zuversicht in der Natur und in tragenden Beziehungen liegt. Wie wichtig Dankbarkeit für das Vorhandene ist, das immer schon im Alltäglichen schlummert, und wie sehr eine Verbindung zu etwas Größerem als uns selbst hilft, dieser Unsicherheit zu begegnen.

Und noch etwas wurde mir klar: Die Welt ist schon immer ein unsicherer Ort gewesen, sie war nie perfekt und wird es nie sein. Beispielhaft dafür sei auf die Epidemie des „Schwarzen Todes“, der Pest in Europa von 1347–1352 verwiesen. In nur fünf Jahren starben fünfzig Prozent der Bevölkerung.8 Dennoch leben wir Menschen mit diesen Unsicherheiten, haben uns entwickelt und haben immer wieder gelernt, damit um­zugehen. Allerdings haben wir diese Unsicherheiten nicht so wahrgenommen wie jetzt. Denn in einer nie da gewesenen Weise sind wir, wenn wir wollen, überall mit dabei. Nachrichten und Bilder von Katastrophen er­reichen uns in Echtzeit, ganz gleich wo sie sich ereignen. Lange Zeit konnten wir sie jedoch durch das über­decken, was besonders für uns in der westlichen Welt alles möglich und erreichbar war, was uns das Leben zu erleichtern versprach durch neue Techniken, Reisen und Konsumgüter unterschiedlichster Art. Dadurch erschien das Leben kontrollierbar, berechenbar und somit irgendwie auch sicher.

All das fordert täglich von vielen Menschen ein ständiges Anpassen, Umdenken, Nachjustieren und sich Umstellen; nie ist man fertig, immer wartet schon eine neue Herausforderung. Es scheint wie in der Geschichte vom Hasen und dem Igel. Letzterer ist immer schon da, sosehr der Hase auch rennt und sich anstrengt, weil der Hase nicht merkt, dass der Igel ihn mit einem anderen Igel austrickst. Solche Misserfolgserlebnisse führen nicht nur zu Überforderung und Stress, sondern oft auch zu Ängsten unterschiedlicher Art: den Anschluss zu verlieren und abgehängt zu werden, nicht mehr zu genügen oder hinterherzukommen und damit irgendwie auf der Strecke zu bleiben. Das ist nicht nur persönlich extrem belastend, sondern bremst auch Kreativität, Mut und Entschlossenheit; und genau diese Eigenschaften brauchen wir mehr denn je. „Ich glaube inzwischen, dass Flexibilisierung und Rationa­lisierung eine Kultur von permanenter Unsicherheit schafft, deren Schattenseite Ängstlichkeit ist“, so beschreibt es auch die Unternehmerin und Politikerin Diana Kinnert. „Und diese selbstbezogene Ängstlichkeit macht es uns unmöglich, sich auf größere Projekte einzulassen.“9 Weil unser aller Geschichte ein sehr großes Projekt ist, erscheint es mir geboten und sinnvoll, uns unseren Ängsten zu stellen und über sie hinaus­zuwachsen.

Es gibt ein Akronym – ein Kurzwort, das sich aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter zusammensetzt –, das die gegenwärtige Situation treffend beschreibt: VUCA. Dabei stehen die einzelnen Buchstaben für die englischen Begriffe Volatility (Unbe­ständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Zunächst bezog sich dies auf schwierige unternehmerische und militärische Rahmenbedingungen in der mo­dernen, multilateralen Welt, vor allem nach dem Ende des Kalten Krieges. Nach und nach wird der Begriff für strategische Führungsebenen und weitere Arten von Organisationen, zum Beispiel Hochschulen und auch andere Wirtschaftsbereiche, übernommen. Er lässt sich durchaus auch auf eine psychosoziale Dimension beziehen, womit ich mich in diesem Buch beschäftigen werde. Der Begriff VUCA beinhaltet aber zugleich eine Lösungsstrategie: Vision (Vision), Understanding (Verstehen), Clarity (Klarheit) und Agility (Agilität, Flexibilität und Proaktivität).10

Dahinter verbergen sich psychologische Konzepte von Resilienz und Salutogenese, die schon älter sind als die VUCA-Philosophie. Wenn wir genauer hinschauen, erkennen wir, dass diese uns Menschen immer schon begleiten, weil es keine Resilienz ohne Herausforderungen und Belastungen gibt. Und so lassen sich durchaus auch einige dieser Strategien in diesem Buch wiederfinden. Allerdings nicht unter den Begrifflichkeiten der Ökonomie, sondern aus der Perspektive der Selbstfürsorge und der seelischen Gesundheit für jede einzelne Person und für die Menschheit als Schicksalsgemeinschaft. Wie immer kommt es auf den Blickwinkel an. „Leben ist Veränderung, Wandel, Bewegung“, wie Wolfgang Schäuble anmerkt. Das gilt insbesondere für unsere moderne Lebenswelt: „Der Globalisierung können wir nicht rückwärtsgewandt widerstehen. Aber wir sollten sie in produktive Bahnen lenken, sie steuern. Das ist mühsam, aber indem wir uns in vermeintlich bequemere Zeiten zurückträumen, am Hergebrachten festhalten, können wir unsere Zukunft nicht gestalten. Die Bedingungen, unter denen wir in einer sich ver­ändernden Welt leben wollen, können wir selbst schaffen.“11 Die Zukunft als eine Gestaltungsaufgabe sehen, so heißt es schon im eingangs angeführten Zitat von Harald Welzer, statt sie als etwas zu verstehen, was wir lieber vermeiden wollen.12 Dadurch gewinnen wir Handlungsspielräume. Zukunft gestalten heißt, selbst aktiv werden und damit auch handlungsfähig.

Endlich all diese nervtötenden Krisen hinter uns zu lassen, dieser Wunsch ist nur zu verständlich. Aber ein Zurück in eine „gute alte Zeit“, die bei näherer Betrachtung nie existierte, wird es nicht geben. Vielmehr leben wir meistens in genau jener guten Zeit, nach der wir uns in fünf oder zehn Jahren zurücksehnen, weil oftmals just das, was wir nicht (mehr) haben, zum Sehnsuchtsort wird. Erreichen wir mit Glück einen solchen Sehnsuchtsort, entpuppt er sich häufig als weniger reizvoll als gedacht. Vielleicht stellen wir dann fest, dass wir bereits dort waren, wo wir hinwollten – nämlich im Hier und Jetzt.

Mark Nepo, ein amerikanischer Dichter und spiritueller Lehrer, der eine schwere Krebserkrankung überlebte, erzählt davon in einem kurzen Text:

Ich saß einmal lange am Rande eines Sees, mit Blick auf das ferne Ufer. Ich sah, wie das Morgenlicht das Wasser in der Ferne flutete, und das machte die Gegend dort irgendwie exotisch. Jeden Morgen saß ich an meinem Stückchen Seeufer und betrachtete die andere Seite und stellte mir vor, dort wartete ein Geheimnis auf mich. Mit jedem Tag schien es mich stärker dorthin zu rufen. Am siebten Tag musste ich einfach hin. Ich stand früher auf als sonst und ruderte über den See, zog mein kleines Boot an Land und saß genau an der Stelle, die ich immer be­trachtet hatte. Als ich mich umsah, war die Aura des Anders­artigen, die ich jeden Tag dort erblickt hatte, verschwunden. Ich war etwas irritiert, denn obwohl dieses ferne Ufer schön und friedvoll war, war der feuchte Uferboden, den ich durch meine Hände rinnen ließ, derselbe wie dort, wo ich aufgebrochen war. Ich fing an, über mich zu lachen. Denn als ich zurückschaute auf den Fleck, wo ich jeden Tag gesessen hatte, sah ich das Morgenlicht über das Wasser fluten und der Ort wirkte exotisch auf mich. Jetzt schien mich ein gewisses Geheimnis dorthin zurückzurufen. So oft stellen wir uns vor, das „Dort“ sei irgendwie goldener als das „Hier“. Es ist dasselbe mit der Liebe und den Träumen und unserem Lebenswerk. Wir sehen das Licht überall – außer dort, wo wir sind, und wir rennen dem hinterher, was uns zu fehlen scheint, nur um demütig festzustellen, dass es schon immer unser war.13

Wenn uns immer wieder diese Sichtweise gelingt, müssen uns die gegenwärtigen Krisen nicht schrecken. Dann entdecken wir im Hier und Heute die vielen Inseln der Lebendigkeit, Freude, Schönheit und Verbundenheit, die uns genügend Gründe liefern, das Leben zu feiern.

Wenn gerade die jüngeren Generationen in den westlichen Industrienationen ihre Arbeitsplätze kün­di­gen, was unter dem Begriff „Big Quit“ bekannt ge­worden ist, dann ist das meist weniger ein Zeichen von Resignation, sondern vielmehr von Aufbruch in eine andere, bessere Zukunft. Man möchte sich nicht wie bisher fremdbestimmen lassen und täglich lange Wege ins Büro pendeln, sondern mehr Zeit für Familie, eigene Interessen und Naturerleben haben. Die Sinnfrage wird neu gestellt. Das ist eine Chance.

Schließlich gibt es schon lange genügend Beispiele dafür, dass Herausforderungen, Krisen und Kata­strophen das Beste in uns zutage fördern, wie unter anderem der Journalist und Autor Rudger Bregman postuliert, um an gleicher Stelle fortzufahren: „Es ist, als würde auf einen Reset-Knopf gedrückt, und wir kehrten zu unserem besseren Ich zurück.“14 Jede und jeder kann dazu beitragen, dass das gelingt. Machen wir uns auf den Weg! Packen wir die Angst bei den Hörnern und begreifen sie als Chance für die Ge­staltung einer besseren Welt!

Teil 1 Das Phänomen Angst

1. Der Sinn von Angst

There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.

Leonard Cohen15

Unser heutiges Wort Angst ist schon sehr alt; die verschiedenen mittel- und althochdeutschen Formen leiten sich von den lateinischen Wörtern angustus, „eng, schmal“ und angor, „Würgen, Angst“ ab. Dahinter steht der indogermanische Wortstamm *anghu, was so viel wie „eng, bedrängend“ heißt.16 Allen Variationen liegt die Grundbedeutung „Enge“ zugrunde, und genau das ist es, was die meisten Menschen erleben, wenn sie Angst verspüren: Angst macht eng. Das vermittelt uns unser Körper mit einem Engegefühl in der Brust oder im Hals, der sich dann wie „zugeschnürt“ anfühlt;17 das erleben wir räumlich im Tunnelblick, der die Sicht wortwörtlich einengt, und das geschieht auch im Denken, wenn wir vermeintlich keinen Ausweg, keine Lösung mehr erkennen können, wir verhalten uns „engstirnig“. Schließlich teilen uns genau das auch die großen Ängste vor Klimawandel, Pandemien und Kriegsbedrohung mit – das Leben wird beschnitten, es fühlt sich enger an.

Mit Ängsten sind Sie wahrhaftig nicht alleine! Angst ist etwas Normales und Allgegenwärtiges, ein Grundgefühl, eine Emotion. Schon hier wird deutlich, dass diese Tatsache eine Brücke der Verbundenheit zu anderen schlagen kann, denen es ähnlich ergeht. Das erleben wir in vielen Protestbewegungen, unabhängig von dem dahinterstehenden Anliegen – bei Fridays for Future genauso wie bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. Zusammen ist man eben weniger allein, darauf verwies schon der gleichnamige franzö­sische Film aus dem Jahr 2004 mit Audrey Tautou und Guillaume Canet in den Hauptrollen. Gefühle tragen das Bedürfnis nach Interaktion in sich, sie wollen beantwortet werden. Gefühle sind Energien, die fließen wollen. Der Aufstau verursacht häufig die Probleme.

Dennoch geht es vielen Menschen, die unter Ängsten leiden, so, dass sie diese lieber loswerden wollen. Oft höre ich von Betroffenen, dass es besser sei, keine Gefühle zu haben, als schwierige und vermeintlich unerträgliche Gefühle wie Ängste. Wir können uns das allerdings nicht aussuchen, weil Gefühle seit Urzeiten zur Grundausstattung unseres Gehirns gehören. Gefühle sind sogar wesentlich älter als unser rationales Denken und Handeln. Das sogenannte limbische System, das der Verarbeitung von Emotionen dient und sich über Gefühlsreaktionen bemerkbar macht, ent­wickelte sich Jahrmillionen vor dem Großhirn, und das hat gute Gründe. Gefühle ermöglichen es uns nämlich, extrem schnell zu reagieren, genauer gesagt, innerhalb von 200 Millisekunden, also einer Fünftelsekunde. Ehe wir über etwas rational nachdenken und entscheiden können, hat das limbische System schon längst reagiert. In der Evolutionsgeschichte hat dies unserem Über­leben gedient. Es war absolut sinnvoll, beispielsweise einem länglichen Gegenstand auf dem Weg blitzschnell auszuweichen, ohne lange zu überlegen, ob es sich um einen Stock oder eine Schlange handelte. Aus Sicht der Evolution konnten sich diejenigen, die sich über mögliche Gefahren erst ausführlich Gedanken machten, nicht fortpflanzen. Sie überlebten häufig nicht, weil das Leben in vorzivilisatorischen Zeiten tat­sächlich gefährlicher war. Vielmehr überlebten und pflanzten sich diejenigen fort, die über ein schnell reagierendes limbisches Gehirn verfügten.

Noch heute ist dieses wichtige emotionale System, das uns vor Gefahren und Bedrohung schützt, höchst sinnvoll. Wenn wir beispielsweise gedankenversunken langsam über eine Straße gehen und plötzlich das Quietschen von Reifen vernehmen, springen wir nur dadurch, dass wir über ein derartiges Emotionssystem verfügen, instinktiv zur Seite. Hätten wir uns hingegen zunächst darüber Gedanken gemacht, ob wir dieses Geräusch schon einmal gehört hätten und was es zu bedeuten habe, so wären wir möglicherweise in einen schlimmen Unfall verwickelt worden.

Gefühle bewegen uns. Genau dies steckt auch in der Bedeutung des Wortes Emotion, vom lateinischen movere, „bewegen“. Somit stellen sie eine Kompetenz dar, die allerdings davon abhängt, wie handlungsfähig wir uns erleben. Schwierig wird es dann, wenn das Gefühl von Handlungsfähigkeit, das durchaus noch im Impuls zu kämpfen oder zu fliehen enthalten ist, abgelöst wird von Erstarren und Ohnmacht. Der Kampf-oder-Flucht-Modus (englisch fight or flight) ist eine uns allen innewohnende Reaktionsweise, diese aktivieren wir wie von selbst, wenn wir uns bedroht fühlen. War der Auslöser früher der berühmte Säbelzahntiger, ist es heute vielleicht eine fordernde Chefin oder ein mobbender Kollege. Wenn wir solchen Situationen nicht entkommen können, kann es passieren, dass wir uns ohnmächtig fühlen und handlungsunfähig werden, wir erstarren (engl. freeze, einfrieren). Dies geschieht häufig in Situationen, die als lebensbedrohlich erlebt oder bewertet werden, oder auch besonders dann, wenn man bereits früh im Leben solche Erfahrungen machen musste und deshalb diese Reaktionsweise entsprechend gespeichert hat. Der Totstellreflex kann dann auch ohne Lebensgefahr aktiviert werden. Gerade dann ist es von großer Bedeutung, wieder in Bewegung zu kommen, innerlich und äußerlich. Damit werden wir uns später ausführlicher beschäftigen.

Hilfreich kann hier schon sein, festzustellen, dass man nie als gesamte Person von der Angst vereinnahmt wird, sondern dass es immer noch einen Teil in uns gibt, der die Angst wahrnehmen und beobachten kann und sich zu ihr in irgendeiner Weise verhält. Wir sind ärgerlich über die Angst, manchmal vielleicht wütend oder mitunter verzweifelt und traurig. In jedem Fall stehen wir in einem Verhältnis zur eigenen Angst. Dies ist von zentraler Bedeutung, da es bewusst macht, dass man nie ganz „Angst“ ist, sondern Angst hat. Bereits diese Sichtweise von unterschied­lichen inneren Anteilen schafft eine Distanz, die erste Handlungsspielräume eröffnet: Ich habe zu meiner Angst immer eine bestimmte Form von Beziehung. Die Art der Beziehung entscheidet darüber, wie es mir mit ihr geht.

Die mutige Räubertochter Ronja im gleichnamigen Kinderbuch von Astrid Lindgren ist ein wunderbares Beispiel dafür, unerschrocken mit der eigenen Angst in Beziehung zu treten und sie gerade dadurch kreativ zu gestalten und ins Handeln zu kommen:

Und während der folgenden Tage tat Ronja nichts anderes, als daß sie sich vor allem Gefährlichen hütete und sich darin übte, keine Angst zu haben. In den Fluß zu plumpsen, davor sollte sie sich hüten, hatte Mattis gesagt, und darum sprang sie am Ufer kühn und keck von einem glatten Stein zum anderen, dort wo das Wasser am wildesten toste. Schließlich konnte sie sich ja nicht im Wald davor hüten, in den Fluß zu plumpsen. Sollte das Sich-Hüten überhaupt von Nutzen sein, dann mußte sie es bei den Stromschnellen und Strudeln und nirgendwo sonst üben. Wollte sie aber zu den Stromschnellen ge­langen, mußte sie den Mattisberg hinabklettern, der jäh und schroff zum Fluß hin abfiel. Auf diese Weise konnte sie sich gleichzeitig darin üben, sich auch davor nicht zu fürchten. Beim erstenmal war es schwer, da packte sie eine solche Angst, daß sie die Augen zumachen mußte. Doch nach und nach wurde sie immer wagemutiger, und bald kannte sie alle Spalten und Ritzen, wo ihre Füße Halt fanden und sie sich mit den Zehen festkrallen konnte, damit sie nicht rücklings in den Fluß stürzte. Welch ein Glück, dachte sie, daß ich eine Stelle gefunden habe, wo ich mich davor hüten kann, in den Fluß zu plumpsen, und mich gleichzeitig üben kann, keine Angst zu haben!18

Machen Sie sich bewusst, dass nicht wenige Menschen sogar dafür bezahlen, Angst zu erleben. Sie treten auf eine besondere Weise mit ihrer Angst in Beziehung, sie betrachten sie als willkommene Herausforderung, der sie mutig und entschlossen entgegentreten. Bungee- und Fallschirmsprünge sind solche Beispiele. In dieser Erkenntnis steckt schon ein Teil der Lösung! Denn es wird deutlich: Es kommt auf die Einstellung oder Beziehung zur Angst an, nicht auf die Angst selbst! Daraus könnten auch der Mut und die Motivation erwachsen, trotz der Angst zu handeln und nicht die Abwesenheit von Angst zur Voraussetzung dafür zu machen. Mit anderen Worten: Auch mit und trotz Ängsten besteht Handlungsspielraum. Das Beispiel des Bungeespringens macht darüber hinaus deutlich, dass es offensichtlich hilft, den Fokus auf das zu richten, was jenseits der Ängste liegt, was mir wichtiger ist als diese: das Erfolgserlebnis, über das ich später berichten kann, den Mut, den ich mir und anderen beweise, das Vorbild anderer, die vor mir gesprungen sind.

Folgt man der Argumentation von Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie, dann liegt genau darin das Wesen von uns Menschen: nicht primär auf uns selbst zu schauen, sondern auf etwas, was über uns hinausreicht, wofür wir uns jeden Tag aufs Neue ins Leben einbringen. Frankl nannte genau das Sinn. So können Ängste in den Hintergrund geraten, noch vorhanden, aber überdeckt durch etwas Wichtigeres. Frankl selbst ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, über seine Ängste hinauszuwachsen: So entschied er sich trotz eines eigenen Ausreisevisums in die USA mitten im Zweiten Weltkrieg bei seinen Eltern in Wien zu bleiben. Er hatte sich trotz existenzieller Ängste um Leib und Leben dafür entschieden. Wenig später wurde seine gesamte Familie außer seiner Schwester, die bereits nach Australien migriert war, dann doch in die KZs der Nazis verschleppt.

Selbst dort ging er in eine Art Selbstdistanz, um der Nachwelt zu berichten, wie man solch unmenschliches Leid überstehen kann. Genau mit dieser Haltung trotzte er seinen sicherlich vorhandenen Ängsten, indem er versuchte, aus dieser Situation irgendwie noch einen Nutzen zu ziehen. Frankl nannte diese Fähigkeit später Selbsttranszendenz. Und noch im Alter von sechsundsechzig Jahren erlernte er das Solofliegen, gerade weil er Angst davor hatte, auf sich alleine gestellt ein Flugzeug zu manövrieren. Dies sind nur einige Beispiele aus seiner Angstbewältigungs-Biographie, die zeigen, wie er immer wieder bewusst den Ängsten trotzte.

Ängste sind häufig ein Signal, auch wenn es sich meist nicht gut anfühlt. Bei genauerer Betrachtung wird sogar deutlich, dass sich hinter Ängsten Bedürfnisse verstecken. Der verständliche Reflex, die Angst möglichst schnell „weghaben“ zu wollen, übersieht dies schnell. Meiner Erfahrung nach lohnt es sich hingegen, sich mit diesen Bedürfnissen zu beschäftigen und sich freundlich um sie zu kümmern. Dabei liegt mir der Begriff der Freundlichkeit besonders am Herzen. Ich erlebe es immer wieder, dass gerade die unangenehmen Gefühle oft mit Nachdruck und manchmal Abscheu bekämpft werden. Dies hat oft zum Ergebnis, dass sie an anderer Stelle nur umso heftiger wieder zutage treten. Es verhält sich damit ähnlich wie mit einem Wasserball, den man unter die Wasseroberfläche drücken will. Man muss viel Kraft und Konzentration, beide Hände und vielleicht sogar den gesamten Körper dafür aufwenden, den Ball unter Wasser zu halten. Einmal nicht aufgepasst, schnellt er zurück an die Oberfläche. In der Regel mit einer Fontäne von Wasser. So ist es auch mit der Angst, die dann oft noch zusätzliche unangenehme Gefühle – die begleitende Wasserfontäne – im Schlepptau hat. Das können Ärger, Wut, Scham, Schuldgefühle etc. sein.

Bleibt man bei dem Bild des untergedrückten Wasserballs