Wer A sagt ... muss noch lange nicht B sagen - Eckhard Roediger - E-Book

Wer A sagt ... muss noch lange nicht B sagen E-Book

Eckhard Roediger

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Sich ändern ist nicht leicht. Aber möglich. Der Neurologe und Psychiater Dr. med. Eckhard Roediger ist Deutschlands wichtigster Vertreter der Schematherapie: ein moderner und integrativer Ansatz, der ein tiefes Verständnis der menschlichen Natur mit praktischen Techniken verbindet. Alltagsnah und mit unterhaltsamen Ausflügen in Evolution, Gehirnforschung und Chaostheorie wird deutlich, warum die menschliche Psyche Verhaltensänderungen erst einmal schwierig macht - was aber auch wirklich hilft, wenn wir etwas ändern wollen.

»Die Resultate der Schematherapie sind eindrucksvoll und evidenzbasiert. Es funktioniert wirklich. Manche dieser nützlichen Dinge können Sie selbst tun. Wie und warum werden Sie beim Lesen herausfinden. Und vielleicht bekommen Sie Lust, Dinge in Zukunft mal ein bisschen anders zu machen.« Jeffrey Young, Bestsellerautor von Sein Leben neu erfinden und Begründer der Schematherapie

Raus aus den Lebensfallen

Schon einmal versucht, eine hartnäckige Angewohnheit aufzugeben? Dann wissen Sie, dass solche Veränderungen schwer sind. Die Schematherapie ermöglicht es, nachhaltig aus ungünstigen Verhaltensmustern oder schmerzlichen Lebensfallen auszusteigen.

Dieses Buch bietet zugleich einen leicht verständlichen Einblick in diese hoch angesehene psychologische Methode wie auch konkrete Anwendungsmöglichkeiten. Alltagnah und mit unterhaltsamen Ausflügen in Evolutionsgeschichte und Gehirnforschung zeigt es, warum die Psyche sich anfangs gegen Veränderungen sperrt – und wie es dennoch möglich wird, neue Wege zu gehen.



  • »Spannend, kurzweilig, amüsant.«
    Prof. Joachim Bauer
  • Schema ist Thema!
  • Hinderliche Muster verändern mit der Schematherapie
  • Ein kluges, unterhaltsames Sachbuch für alle, die die menschliche Psyche besser verstehen wollen
  • Sich verändern ist nicht leicht, aber machbar

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Seitenzahl: 274

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Eckhard Roediger

Wer A sagt … muss noch lange nicht B sagen

Lebensfallen und lästige Gewohnheiten hinter sich lassen

Vorwort von Jeffrey Young, Begründer der Schematherapie

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © 2014 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: (c) Aleksander I / Shutterstock

ISBN 978-3-641-06859-2V004

Weitere Informationen zu diesem Buch und unserem gesamten lieferbaren Programm finden Sie unter

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort von Jeffrey Young

Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit!

1.Willkommen in den Lebensfallen Das Schemamodell

2.Wie entstehen Lebensfallen? Der theoretische Hintergrund

3.Warum fallen wir immer wieder in unsere Lebensfallen hinein? Das Modusmodell im Detail

4.Wie kann man aus Lebensfallen herauskommen? Vom guten Umgang mit Gedanken und Gefühlen

5.Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach: Warum ist es so schwer, unser Verhalten zu verändern?

6.Einstieg zum Ausstieg Was wir konkret tun können

7.Wie geht es weiter? Übungen zur »Seelenhygiene«

8.Niemand ist eine Insel Das Schemamodell in sozialen Beziehungen

Anhang

Vorwort

Es gilt immer noch als Makel, zu einem Psychotherapeuten zu gehen. Zu diesem schlechten Image trägt auch bei, dass Psychologen in den meisten Filmen als komische Typen dargestellt werden. Viele Menschen verbinden auch heute noch Psychotherapie mit Psychoanalyse; andere halten besonders die Verhaltenstherapie für eine Art seelenloser Dressur. Dabei ist eine moderne Psychotherapie ganz anders.

Dieses von Eckhard Roediger wunderbar geschriebene Buch will am Beispiel der Schematherapie zeigen, wie Psychotherapie heute aussehen kann: rational, systematisch, wissenschaftlich fundiert und dabei äußerst menschlich. Eine Therapie, die im Rahmen des therapeutisch Möglichen eine warme, einfühlsame und fürsorgliche Beziehung bietet, damit alte seelische Wunden heilen können. Eine Beziehung, die sich am Verhalten guter Eltern orientiert und die ich daher »begrenzte elterliche Fürsorge« genannt habe. Vieles davon, was dort geschieht, können Sie auch mit sich selbst machen, sich sozusagen selbst ein guter Elternteil sein.

Beim Lesen erfahren Sie viel über die neurobiologischen Grundlagen, darüber, wie unsere frühen Erfahrungen unser Leben prägen, wie man das verändern kann und warum das gar nicht so leicht ist. Der Mensch ist bekanntlich ein Gewohnheitstier. Möchte man etwas an seinem Verhalten ändern, hat man daher oft das Gefühl, gegen den Strom zu schwimmen. Mit etwas Geschick und Ausdauer ist es aber dennoch möglich, aus diesen »Lebensfallen« auszusteigen – für sich alleine oder auch mit Hilfe eines Therapeuten.

Die Schematherapie ist eine moderne, integrative Therapieform, die ein tiefes Verständnis des Menschen mit konkreten Hilfestellungen zur Veränderung verbindet und die an das Vorgehen bei anderen Lernprozessen angelehnt ist. Aus diesem Geist heraus ist dieses Buch geschrieben und Sie werden sich vielleicht denken: Klar, so muss Psychotherapie gehen. Und tatsächlich sind die Erfolge der Schematherapie auch in wissenschaftlichen Untersuchungen eindrucksvoll. Es funktioniert wirklich. Wie und warum, werden Sie auf den folgenden Seiten erfahren.

Viele der hier beschriebenen Vorgehensweisen können Sie auch für sich selbst zu Hause anwenden, indem Sie die verletzbare Seite in sich wiederentdecken, deren Bedürfnisse wahr- und ernst nehmen und mit Ihren heutigen Möglichkeiten gut für diese Seite in sich sorgen. Ich freue mich, dass mit diesem Buch das Modell der Schematherapie einem breiten Leserkreis zugänglich wird und danke Eckhard Roediger. Möge es viele begeisterte Leser finden.

Jeffrey Young

Jeffrey E. Young, Ph.D., Begründer der Schematherapie, lehrt an der Fakultät der Psychiatrischen Abteilung der Columbia University. Er ist Gründer und Leiter des Cognitive Therapy Center in New York und Connecticut und des Schema Therapy Institute in New York City.

Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit!

Darf ich bitten? Wer A sagt, muss auch B sagen! So lehrt uns ein Satz, der den meisten von uns wohl schon in der Kindheit eingeprägt wurde. Aber stimmt er eigentlich? Haben Sie diesen Satz schon einmal hinterfragt? Viele von uns folgen solchen in der Kindheit erlernten angeblichen Lebensregeln, ohne groß nachzudenken. Wir nehmen sie einfach so hin. Daran können Sie sehen: Sie haben Ihre Kindheit nicht ganz hinter sich gelassen. Egal, wie alt Sie sind. Das gilt natürlich nicht nur für solche simplen Merksätze. Unsere Kindheit geht weiter in den alten Mustern, die sich in unser Gehirn eingebrannt haben. Diese Muster sind die »Fußabdrücke« unserer Lebenserfahrungen. Auch wenn wir uns nicht an alles erinnern, der Körper vergisst nichts. Die frühen Erfahrungen beeinflussen unbewusst unser Wahrnehmen und Handeln. Wenn wir uns dieser Prägungen und ihrer Einflüsse nicht bewusst sind, bleiben wir Sklave im Gefängnis unserer alten Muster. Wir sitzen in unseren Lebensfallen fest. Wir können aber auch versuchen, die alten Muster kennenzulernen, uns selbst besser zu verstehen, uns die eine oder andere Schwäche zu verzeihen und uns geduldig selbst an die Hand zu nehmen; sozusagen sich selbst ein guter Elternteil werden. In diesem Sinne ist es nie zu spät für eine glückliche Kindheit.

Ein solcher Weg, sein Leben neu zu ergreifen, braucht aber eine Grundlage. Sie laufen beim Wandern ja auch nicht einfach los. Man besorgt sich erst einmal eine Karte oder einen Reiseführer der Gegend. Karte und Führer müssen lesbar und verständlich sein, damit man ihnen vertrauen kann. Manchmal bekommt man beim Lesen schon Lust, loszulaufen. So soll es sein! Darf ich Ihr Reiseführer sein? Dieses Buch bietet Ihnen eine Karte unserer Seelenlandschaft an. Dazu finden Sie noch ein paar Hinweise zur Bodenbeschaffenheit (d. h. Neurobiologie) und Geschichte (d. h. Evolution). Wer A sagt … muss noch lange nicht B sagen basiert auf dem psychologischen Modell der Schematherapie.1 Das hat nichts mit »schematischer Therapie« zu tun. Der Name verweist darauf, dass es ein Ordnungsprinzip hinter unseren seelischen Prozessen gibt. Ein Schema ist in diesem Sinne ein Muster. Solche Muster finden sich sowohl in unserem Verhalten als auch in den Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen unseres Gehirns. Die Wissenschaft geht davon aus, dass das, was wir denken, fühlen oder tun, immer mit entsprechenden Gehirnvorgängen einhergeht. Unser subjektives Erleben und die gleichzeitig in den Nervenzellen beobachtbaren Vorgänge sind demnach zwei Seiten derselben Medaille. Beide Ebenen hängen mit den gleichen Schemata zusammen.

Schemata werden in ihren Grundzügen bereits in unserer Kindheit angelegt und bleiben relativ stabil. Daher kann man von einem »Kind in uns« sprechen. Wir wollen in diesem Buch gemeinsam erforschen, wie Schemata entstehen, wie sie sich bemerkbar machen und wie wir sie verändern können. Das ist sozusagen ein »zweiter Bildungsweg« für die Kind-Seite in uns. Sie werden auch verstehen, warum es so schwer ist, sich zu verändern. Und wie es trotzdem geht. Am besten in einer Liebesbeziehung2 – oder einer Therapie. In diesem Buch wird es mehr um den ersten Punkt gehen. Eine Liebesbeziehung gar nicht mal so sehr zu einem Partner, sondern vor allem zu sich selbst. Denken Sie dabei ruhig an das bekannte Wort aus dem Markus-Evangelium, das auch nicht christlich sozialisierten Menschen wohlbekannt ist: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« Der Satz wird ja oft im Sinne eines Aufrufes zur Selbstaufopferung verstanden. Nimmt man jedoch den Wortlaut, kann man ihn auch anders auffassen: Nur, wenn du dich selbst liebst und mit dir im Reinen bist, kannst du auch andere Menschen wirklich lieben. Auf Augenhöhe sozusagen. Dazu muss man sich mit sich selbst ausgesöhnt haben, sich selbst die eine oder andere weniger vorteilhafte Eigenschaft verzeihen, ohne sich dauernd schuldig zu fühlen. Dazu braucht es Selbst-Bewusstsein. Damit ist nicht die Tendenz zur Überheblichkeit gemeint, sondern wiederum im Wortsinn: sich seiner selbst bewusst sein. Dazu möchte dieses Buch beitragen: dass Sie verstehen, wie Sie innerlich »funktionieren« und wie das vermutlich entstanden ist. Dieses Bewusstsein erlaubt Ihnen, sich so anzunehmen, wie Sie sind, um dann das Beste daraus zu machen. So nebenbei erfahren Sie dabei auch, wie in einer modernen Psychotherapie wie der Schematherapie gearbeitet wird. Das hat mit »Gesprächstherapie« nicht mehr viel zu tun.

Auf dieser Entdeckungstour zu unseren inneren Mechanismen ist es sinnvoll, uns liebevoll der emotionalen Seite in uns zuzuwenden, denn in unseren Gefühlen lebt zeitlebens eine kindhafte Erlebensebene in uns weiter. Schauen Sie sich doch einmal Männer vor den Schaufensterscheiben eines Spielzeugladens oder eines Autohauses an! Sehen Sie diesen Glanz in den Augen und wie der Betreffende bereit ist, alles andere zu vergessen? Das ist das Kind in uns. Bezogen auf Frauen wollte ich hier das Beispiel mit dem »Schuhe kaufen« schreiben, aber das hat die Lektorin abgelehnt. Dabei finden Sie an jedem Bahnhofskiosk die Postkarte mit dem Text: »Wer sagt, dass Geld nicht glücklich macht, hat keine Ahnung vom Shoppen!« Auch wenn es politisch unkorrekt sein mag: Hier leben wir auf! Hier liegt unser »innerer Jungbrunnen«, hier sind wir begeisterungsfähig. Und wissen Sie was: Diese Seite macht uns sympathisch, zieht andere Menschen an. Kluge Menschen mögen beeindrucken, aber man mag sie nicht unbedingt. Wir verbinden uns emotional mit anderen Menschen auf unserer Kind-Ebene, wenn ich das so nennen darf. Grund genug also, sich einmal ausführlich mit dieser Seite zu beschäftigen und sich dann gut um sie zu kümmern. Aber keine Sorge: Das wird kein sentimentaler Krabbelgruppen-Schmusekurs mit dem »Inneren Kind«! Nein, wir wollen uns ganz sachlich und auch wissenschaftlich fundiert auf Basis der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse mit unserer Innenwelt auseinandersetzen. Trotzdem soll das anschaulich und unterhaltsam sein.

1.Willkommen in den Lebensfallen Das Schemamodell

Was ist eine Lebensfalle?

Sie stehen in einer Schlange an einem Kartenschalter an. Es geht nur langsam voran. Ungeduld macht sich breit. Dann läuft eine schick angezogene Frau ganz selbstverständlich an Ihnen vorbei und fragt einen vor Ihnen wartenden Mann: »Entschuldigen Sie, ich habe es furchtbar eilig und Sie schauen so freundlich. Könnten Sie mich vorlassen?« Zu Ihrem Entsetzen lässt er sie tatsächlich vor. Sie bedankt sich überschwänglich. Ihnen hingegen steigt die Galle hoch. Sie sprechen den Mann vor Ihnen an und sagen: »Was soll das? Wir warten hier doch alle, oder?!« Er schaut Sie etwas mitleidig an und erwidert: »Warum sind Sie so angespannt, wenn wir ihr helfen? Es kostet uns doch nur ein paar Minuten«. Sie fühlen sich zwar im Recht, aber trotzdem irgendwie schlecht und etwas beschämt.

In diesem Buch geht es um beide Aspekte: Erstens, warum Sie sich so aufregen. Zweitens, warum sich der Mann vor Ihnen nicht aufregt. Aus der aktuellen Situation alleine erklärt sich dieser Unterschied nicht, denn Sie warten beide in der gleichen Schlange. Aber Sie haben beide aufgrund Ihrer früheren Lebenserfahrungen eben auch unterschiedliche Schemata im Untergrund angelegt. Sie hatten vielleicht mit einem älteren Geschwister zu kämpfen, das Ihnen immer die Butter vom Brot genommen hat. Daher reagieren Sie besonders sensibel, wenn sich jemand einen Vorteil erschleichen möchte. Der Mann vor Ihnen hat vielleicht eine kleine Schwester, die er schon als Junge immer beschützte und die ihn dafür verehrte. Interessanterweise erleben Sie beide in diesem Moment unhinterfragt die Gewissheit, dass Ihre Reaktion angemessen ist. Wir haben das Gefühl, auf einen bestimmten Reiz mit einer bestimmten Reaktion antworten zu müssen. Aber wir müssen nicht »B« sagen, bloß weil es in uns »A« gesagt hat! Was uns dabei lenkt, sind die Muster, die in uns im Laufe des Lebens eingeprägt wurden. Diese Muster nennen wir Schemata. Ohne dass wir es merken, prägen unsere Schemata unsere Bewertungen einer Situation und damit auch unser Verhalten. Von diesen Schemata handelt dieses Buch.

Nun werden Sie vielleicht einwenden, dass Ihnen das Beispiel zu banal sei. Akzeptiert. Es war ja auch nur dazu gedacht, das Prinzip deutlich zu machen. Nehmen wir ein schmerzhafteres Beispiel: Eifersucht! Sie fragen sich, was Ihr Partner da in seiner Freizeit dauernd für Nachrichten auf sein Handy bekommt. Die lapidare Antwort: »Ach – nur was Geschäftliches« beruhigt Sie nicht wirklich. Schon gar nicht, wenn er sich dann auch noch in eine Ecke verdrückt, um in Ruhe zu antworten. In Ihrem Bauch grummelt es, Sie merken, wie Ihnen warm wird. Sie erwischen sich bei dem Gedanken, sein Handy zu kontrollieren, und warten auf eine günstige Gelegenheit. Der heutige Tag ist schon mal gelaufen, weil Sie immer wieder an das Handy denken müssen. Ihr Partner fragt schon: »Schatz, was ist denn heute mit dir los? Du wirkst so zerstreut!« »Ach nichts – war nur ziemlich stressig bei der Arbeit.« Er ist bemüht und fragt: »Na, dann erzähl doch mal«! Sie fühlen sich erwischt und weichen aus: »Ach nein, ich möchte lieber abschalten!« Kommt aber nicht sehr glaubwürdig rüber. Er wirkt nun seinerseits irritiert und zieht sich etwas enttäuscht zurück. Als er die »Sportschau« einschaltet, bietet sich die Gelegenheit für den »Handycheck« und was finden Sie: Nichts! Und sind Sie jetzt beruhigt? Nicht wirklich – oder wenn überhaupt, nur kurz. Vielleicht hat er die verdächtigen Nachrichten ja gleich gelöscht! Und wenn nicht und Sie ihn zu Unrecht verdächtigen? Unsicherheit und Scham steigen in Ihnen auf. Sie wollen Ihr ungerechtfertigtes Misstrauen wiedergutmachen und nähern sich ihm zärtlich an. Das kommt für ihn aber völlig unmotiviert und er will jetzt seine Sportschau sehen. Sie fühlen sich abgewiesen und irritiert. Mit dem Kuscheln am Abend wird es dann natürlich auch nichts.

Wer ist nun schuld an diesem misslungenen Samstagabend? Nicht Sie, nicht er, sondern Ihr »Misstrauensschema«, das in Ihnen in Ihrer Kindheit angelegt wurde. Und weil Sie sich mit diesem Muster in Ihnen nie kritisch auseinandergesetzt haben, wirkt es unverändert in Ihnen weiter und belastet Ihr heutiges Leben. Aber noch einmal: Wir sind diesen Mustern nicht wehrlos ausgeliefert, auch wenn es sich manchmal so anfühlen mag.

Tatsächlich leben wir alle mit Lebensfallen. Und zwar nicht nur schlecht. Wir werden sehen, dass nicht jedes Muster gleich eine Lebensfalle ist. Viele Automatismen erleichtern das Leben ungemein.

Wissen Sie beispielsweise, wie Sie Ihre Schnürsenkel binden? Ja klar? Na, dann erzählen Sie mal! Typischerweise werden Sie jetzt Ihre Hände nehmen und vormachen, wie das geht. Die einzigen Menschen, die mit Worten erklären können, wie man Schnürsenkel bindet, sind Erzieherinnen (und manchmal Eltern, die ihren Kindern aus pädagogischen Gründen keine Schuhe mit Klettverschlüssen kaufen wollen). Die Art, wie man Schuhe zubindet, ist auch ein Schema. In diesem Fall ein motorisches. Und wie Sie sehen, denken Sie darüber normalerweise einfach nicht nach – schon gar nicht morgens, wenn es schnell gehen muss.

Schemata entlasten also unsere bewussten Denkprozesse. Einmal gelernt (bewusst oder unbewusst) neigen sie dazu, unverändert beibehalten zu werden. Sie sind sozusagen eine Art »Autopilot« in uns. Problematisch werden sie nur, wenn sie uns unbeweglich und starr machen. Dann kann es ganz schön schwierig werden, da wieder rauszukommen! Jeder, der einmal versucht hat, ein Verhaltensmuster zu ändern, kann ein Lied davon singen. Egal, ob es sich darum handelt, das Rauchen aufzuhören (ganz schwierig), sich einen falsch gelernten Fingersatz am Klavier abzugewöhnen (auch nicht einfach), wieder einzuschlafen, wenn man nachts aufgewacht ist (eine beliebte Übung von Menschen mit Schlafstörungen, also etwa einem Viertel aller Deutschen,3) ordentlich Auto zu fahren oder anderen nicht auf den Po zu schauen (siehe unten). Schuld sind unsere Schemata. Doch solange wir uns unserer Schubladen nicht bewusst sind, neigen wir dazu, die Auslöser für die Ursache zu halten. Damit sitzen wir in einer Lebensfalle.

Warum klingelt es, wenn jemand auf einen Klingelknopf drückt? Der Auslöser ist nicht die Ursache!

Was ist der Unterschied zwischen Auslöser und Ursache? Lassen Sie uns diesen Zusammenhang am Beispiel der Funktion einer Klingel an einer Haustür genauer betrachten. Wer hat das Klingeln verursacht? Klar: natürlich der, der auf den Knopf drückt. Das ist zum Teil richtig. Wenn niemand auf den Knopf drückt, klingelt es auch nicht. Aber der Auslöser allein reicht nicht aus: Nur wenn im Haus eine funktionierende Klingelanlage installiert ist, kann es klingeln. Übertragen auf die Lebensfallen bedeutet das: Nur wo Schemata angelegt sind, können sie auch ausgelöst werden. Nur wenn Sie in Ihrer Kindheit ein »Misstrauens«-Muster angelegt haben, werden Sie auf die Spielereien Ihres Mannes mit seinem Handy eifersüchtig reagieren.

Wir verwechseln also häufig die Ursache innerer Missstimmungen mit dem Auslöser und wollen dann den Auslöser beseitigen. Da andere Menschen die Situation anders sehen, führt das schnell zu Konflikten. Wenn wir dagegen unsere Schemata einigermaßen kennen, gelingt es uns leichter, die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in uns melden, in Frage zu stellen. Wir werden dann weniger von unseren Schubladen getrieben. Wir stülpen sozusagen nicht immer wieder unsere Innenwelt nach außen, sondern können unsere Vorstellungen und unser Verhalten flexibler und selbstbestimmter an die Welt und andere Menschen anpassen. Das erspart uns eine Menge Missverständnisse und hilft, Konflikte leichter aufzulösen. Dann werden wir glücklicher und letztlich auch erfolgreicher sein.

Die Geister kommen aus der Gruft: Wenn die Vergangenheit in die Gegenwart eindringt

Die Illusion, dass unsere aktuellen Gefühle allein durch die gegenwärtige Situation ausgelöst werden, ist tatsächlich eine wichtige Wurzel vieler Missverständnisse und Konflikte. Wir selbst fühlen keinen Unterschied, ob es die Außenwelt ist, die unser Erleben bewirkt, oder ob es aus einer alten inneren Schublade kommt. Beides fühlt sich gleich an. Das ist wie mit Erbsen aus der Tiefkühltruhe: Die sehen nach dem Auftauen auch frisch aus, selbst wenn sie Jahre eingefroren waren. Für Ungeübte ist das kaum zu unterscheiden, wenn sie die Erbsen auf dem Teller haben. Genauso ist das mit den Gefühlen: Das Erlebnis wirkt immer »frisch«. Wir können einfach nur in der Gegenwart fühlen.

Besonders bedrohlich ist es, wenn uns starke Gefühle überfluten und wir keine Erklärung haben, wo sie herkommen könnten – wenn also gewissermaßen die Vergangenheit unerkannt in die Gegenwart einbricht. Dann halten wir bildlich gesprochen Geister für auferstandene Menschen. So geht es Menschen mit Panikanfällen. Bestimmte Körpersensationen (z. B. starkes Herzrasen, Schwindel, Taubheitsgefühle in den Händen durch Überatmen), die bei Stress entstehen, lösen bei den Betroffenen extreme Angstgefühle bis hin zur Todesangst aus. Dabei handelt es sich oft nicht um grundsätzlich ängstliche Menschen. Im Gegenteil: Die typischen Panikpatienten sind eher aktive »Macher«, die ihr Leben gut im Griff haben und plötzlich »aus der Rolle fallen«. Wenn wir ganz sachlich auf das Bild eines panischen Menschen schauen, was sehen wir da? Er oder sie ist ungeheuer aufgeregt, kann keinen klaren Gedanken fassen, ist völlig von Gefühlen überflutet (sozusagen »kopflos«), sucht verzweifelt nach Hilfe und klammert sich an andere an (z. B. an Partner oder den Notarzt).

Woran erinnert Sie das? Stellen Sie sich doch einmal ein Kleinkind vor, das auf dem Spielplatz seine Mutter nicht mehr findet. Es wird aufgeregt hin und her rennen, der Puls rast, die Verzweiflung steht ihm im Gesicht, und es wird weinend irgendwo Halt suchen, aber nicht finden. Im Grunde sehen wir im Panikpatienten ein panisches Kind. Das ist ein ganz gutes Beispiel dafür, wie unter unserer gut funktionierenden Alltagsebene in einer tieferen Schicht in unserem Gehirn alte Reaktionsmuster lauern, die wir Kindmodus nennen.

Über das Wesen der Gefühle

Wenn wir fühlen, fühlen wir immer im »Hier und Jetzt«. Wir können gar nicht anders. Wenn Sie alte Fotos anschauen oder eine bestimmte Musik hören, kommen alte Gefühle wieder hoch, als wenn sie jetzt neu entstanden wären. Aber das ist nicht nur angenehm: Wenn durch einen Unfall traumatisierte Menschen ein Martinshorn hören, steigen die Panikgefühle aus der Unfallsituation wieder auf. Menschen, die im Zweiten Weltkrieg Bombenangriffe erlebt haben, können oft bis heute kein Feuerwerk ertragen. Das gilt nicht nur für bewusste Erinnerungen. Noch schlimmer geht es Menschen, die nicht wissen, woher ihre Panikgefühle kommen, z. B. weil die Panik durch Erlebnisse in der ganz frühen Kindheit angelegt wurde, für die wir keine bewussten Erinnerungen haben. (Bewusste Erinnerungen setzen erst etwa mit dem dritten Lebensjahr ein.) Wenn wir bewusst zuordnen können, woher die Angst vor dem Martinshorn oder dem Feuerwerk stammt, können wir uns besser selbst beruhigen und uns sagen: Das sind die Gefühle, die zu Erlebnissen aus der Vergangenheit gehören, rege dich nicht auf. Sie fühlen sich zwar ganz real an, doch du bist jetzt sicher.

Das »Tier« in uns, oder die verschiedenen Ebenen unseres Gehirns

Tatsächlich hat sich unser Gehirn im Laufe der Evolution ganz langsam von dem eines Wurmes über ein Reptilien- und Säugetierstadium zu unserem heutigen Funktionsniveau entwickelt. Auf der Höhe des Rückenmarks reagieren wir mit wurmartigen Reflexen, im Hirnstamm funktionieren wir wie Reptilien, im sog. limbischen System in der Tiefe unseres Gehirns wie Nagetiere und erst das Stirnhirn macht uns zu Menschen. Vergleichen Sie den Schädel eines Homo Sapiens mit dem eines Affen, so erkennen Sie deutlich unsere vorgewölbte Stirn, die dieser vergrößerten Hirnschicht Raum schafft.

Die höheren Hirnschichten beeinflussen jeweils die darunterliegende Funktionsebene. Auf der Höhe des limbischen Systems sitzen z. B. Zentren, die die Muskeln straffen, damit wir eine aufrechte Haltung einnehmen können. Diese tiefer liegenden, alten Zentren werden durch die später entwickelten Zellen der Hirnrinde gehemmt, wodurch zielgerichtete Bewegungen und komplexe Handlungen erst möglich werden. Bei einem Schlaganfall werden die Hirnrindenzellen beschädigt und die limbischen Zentren machen Arm und Bein reflexartig steif. So entsteht die typische Körperhaltung nach einem Schlaganfall. Ebenso werden Menschen kindisch oder impulsiv, wenn das Stirnhirn geschädigt bzw. durch eine Demenz abgebaut wird. Dann setzen sich die Impulse aus dem limbischen System durch. Das geschieht auch bei süchtigem oder impulsivem Verhalten, z. B. bei einem Wutausbruch. Es ist dann so, als würde der Reiter (in der Hirnrinde) die Zügel sausen lassen, und das Pferd (d. h. das »Tierhirn« in uns) macht, was es will. So könnte man die volkstümliche Formulierung »Die Sau rauslassen« neurobiologisch übersetzen.

Ausgelöst werden solche Panikzustände meist durch eine unbewusste Fehleinschätzung von körperlichen Anspannungszeichen. Die Betroffenen deuten die Alarmreaktion des Körpers als Zeichen einer akuten Lebensgefahr. Dabei steckt vielleicht ein altes Muster, eine »Angstschublade« aus der Kindheit dahinter, die entstanden ist, bevor die bewussten Erinnerungen eingesetzt haben. Eine Patientin bekam nach einer Weisheitszahnentfernung in Vollnarkose erstmals Panikanfälle. Bei jedem neuen Panikanfall wurde die Todesangst schlimmer. In einer Imaginationsübung, bei der sie in diese Angst therapeutisch begleitet hineinging, kam ihr plötzlich das bunte Muster ihrer Kinderzimmertapete in den Sinn. Kurz danach fiel ihr ein, dass ihre Eltern ihr erzählt hatten, dass sie sich mit zweieinhalb Jahren in ihrem Kinderbett an einer Schnur, an der die Bettdecke festgebunden war, fast erwürgt hätte. Sie sei ohnmächtig und ganz blau gewesen, als man sie fand.

Wo ist die Brücke zwischen diesen Ereignissen? Wir können wohl davon ausgehen, dass die Patientin im Kinderbett beim Strangulieren große Angst, vermutlich Todesangst bzw. Panik hatte, bevor sie ohnmächtig wurde, auch wenn sie sich nicht bewusst daran erinnern kann. Diese Todesangst zusammen mit dem Gefühl, ohnmächtig zu werden, hat sich höchstwahrscheinlich in das emotionale und körperliche Gedächtnis eingebrannt, wie in eine Art Schublade, die unvermittelt wieder aufspringen kann. Bei der Narkose beim Zahnarzt war plötzlich das Ohnmächtig-werden-Gefühl wieder da und damit auch die Panik. Und bei jedem Panikanfall treten die körperlichen Frühsymptome des Ohnmächtigwerdens (wie z. B. Schwindel und aufsteigende Wärmegefühle oder nebliges Sehen) wieder auf und öffnen die Panik-Schublade. So dreht sich der Teufelskreis der Panik immer schneller.

Nachdem die Patientin diesen Zusammenhang erkannt hatte, konnte sie die anfänglichen Paniksymptome neu bewerten und einordnen. Sie konnte erkennen, dass sie im Panikanfall in einen Kindmodus fällt, also das alte Kindheitserleben in ihr in der Gegenwart wieder aufersteht. Diese Einsicht erleichterte ihr (mit einiger Übung), die heutigen Panikgefühle als »alte« Todesangst aus ihrer Angstschublade einzuschätzen und »loszulassen« bzw. sich abzulenken.

The first cut is the deepest! Wie Schemata entstehen

Dieser Titel eines Liedes von Cat Stevens (den Jüngeren vielleicht eher von Sheryl Crow bekannt) bezieht sich auf eine enttäuschte Hoffnung der ersten großen Liebe. Aber das Drama fängt viel früher an: In der frühesten Kindheit ist unser Gehirn am stärksten prägbar. Wir sind sozusagen Wachs in den Händen der Menschen, denen wir anvertraut sind. Besonders die Hirnrinde entwickelt sich erst nach der Geburt. Dieser Ausreifungsprozess dauert etwa bis zum 21. Lebensjahr.4 Auch hier hatten die Alten intuitiv recht, die Volljährigkeit mit 21 anzusetzen. Da die Hirnrinde von hinten nach vorne ausreift, sind die vorderen Hirnregionen als Letztes dran. Die brauchen wir, um unsere spontanen Verhaltensimpulse aus der Tiefe des Gehirns zu hemmen. Dass das so ist, zeigen die hohen Versicherungsprämien für junge Fahranfänger untrüglich: Die können einfach besser Gas geben als bremsen!

Was wir erleben, brennt sich unweigerlich in unser Gehirn ein. Und zwar nicht nur als Erinnerung, sondern bis in unsere Gehirnstruktur hinein. Beim Computer würde man sagen: nicht nur in die Software, sondern in die Hardware. Wir leben mit dem Gehirn, das wir besonders in unseren ersten zwei Lebensjahren aufbauen. Wir sind unsere frühe Erfahrung. Unsere frühen Erfahrungen prägen unser Weltbild. Wir haben zeitlebens die Tendenz, die Welt durch die Brille, die wir in der Kindheit aufgesetzt bekommen haben, zu betrachten. Das ist schon eine dramatische Erkenntnis, dennoch kein Grund zur Resignation. Wir müssen zwar unsere »Wunden« akzeptieren, aber wir sind kein hilfloses Opfer. Zwar kommen wir nicht umhin, erst einmal zu akzeptieren, dass wir so sind, wie wir sind. Wir haben aber auch gesehen, dass man bis ins hohe Alter daran arbeiten kann, das Beste aus seiner Situation zu machen. Der Lohn ist eine höhere Lebensqualität und eine bessere Beziehungsfähigkeit.

Die Ergebnisse der Bindungsforschung und die Schemaentstehung

Bindungsforscher untersuchen, wie Kinder mit ca. einem Jahr auf die Trennung von der Bezugsperson reagieren. Dieser sog. Bindungsstil bleibt im Hintergrund das ganze Leben stabil.5 Auch wenn es oft wie ein Klischee erscheint, lag die Psychoanalyse also richtig, als sie schon vor 100 Jahren die Bedeutung der ersten Lebensjahre hervorhob. Warum bloß hat die Natur uns so verwundbar gemacht?

»Niemand ist eine Insel«, lautet der Titel eines Romans von Johannes Mario Simmel. Recht hat er: Wir sind auf Bindung zu anderen Menschen angelegt. Unsere steinzeitlichen Vorfahren konnten vermutlich nur überleben, weil sie sich in Gruppen zusammenschlossen. Das geht am besten, wenn wir uns sehr früh auf unsere Umwelt einstellen. Das hat aber seinen Preis: Emotionale Verletzungen brennen sich besonders in der ersten Lebenszeit tief in uns ein. So entstehen z. B. die Schemata »Emotionale Vernachlässigung«, »Im-Stich-gelassen« und »Misstrauen / Missbrauch«. Aber auch später tut soziale Zurückweisung genauso weh wie körperlicher Schmerz. Dabei sind sogar dieselben Hirnregionen aktiv.6 Entsprechend können auch beschämende Äußerungen in der Pubertätszeit starke Schemata von »Unzulänglichkeit / Scham« oder »Isolation« auslösen. Schulkinder können grausam sein! Eine Patientin berichtete, wie ihr Mitschüler im Klassenraum einen Mülleimer über den Kopf stülpten. Und das Schlimmste war: Ihre vorher beste Freundin war die Anführerin! Bloß, um vor den Mitschülern als mutig dazustehen, hatte sie sie verraten. So viel an dieser Stelle zum Thema »Bindung« und alte Wunden.

An allem sind die Eltern schuld? Die Grundbedürfnisse und die Bedeutung der frühen Erfahrungen

Stimmt also das bekannte Vorurteil, dass eine Psychotherapie immer darauf hinausläuft, dass die Eltern an allem schuld sind? Vertreter verschiedener Therapieschulen würden diese Frage sicher unterschiedlich beantworten. Ich möchte mich hier auf die bereits erwähnten Ergebnisse der Bindungsforschung berufen. Untersucht man die Bevölkerung, sind etwa 60 % »sicher gebunden«.7 Das meint, dass das Bindungsbedürfnis dieser Personen in der frühen Kindheit ausreichend befriedigt wurde und sie emotional recht stabil sind. Bei den Patienten, die in eine Psychotherapie kommen, sind dagegen nur etwa 10 % sicher gebunden. Das weist darauf hin, dass da möglicherweise tatsächlich in der frühen Kindheit nicht alles optimal gelaufen ist.8 Eine sichere Bindung ist ein wichtiger Schutzfaktor, um Belastungssituationen gut meistern zu können. Umgekehrt entwickeln Menschen mit unsicherer Bindung im Laufe des Lebens häufiger psychische Störungen.9

Menschen haben aber nicht nur den tiefen Wunsch nach Bindung, auch wenn dieser vermutlich das für das Überleben wichtigste Grundbedürfnis ist. Welche anderen Bedürfnisse bestimmen vorherrschend unser Leben? Es gibt verschiedene Systematiken, um die emotionalen Grundbedürfnisse eines Menschen zu beschreiben. Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe hat mit vier Grundbedürfnissen eine sehr einfache Systematik vorgestellt.10 Neben dem Bindungsbedürfnis nennt er das Streben nach Autonomie bzw. Kontrolle, die Selbstwerterhöhung sowie Lust bzw. Unlustvermeidung als entscheidende Faktoren. Jeffrey Young, der Begründer der Schematherapie, hat mit Blick auf die Bedürfnisse von Kindern noch ein fünftes Grundbedürfnis formuliert, nämlich Grenzen gesetzt zu bekommen.11 Das ist sicher richtig, denn Kinder brauchen Grenzen, um an ihnen zu wachsen. Eine falsch verstandene antiautoritäre Erziehung, die in Wirklichkeit eine vernachlässigende »Laissez-faire«-Erziehung war, hat bei vielen Kindern aus der 68er-Zeit zu einer nachhaltigen inneren Unsicherheit geführt. Grawes Bedürfnisse beziehen sich primär auf den erwachsenen Menschen. Der sollte in seinen »inneren Bewertern« angemessene Grenzen verinnerlicht haben. Innere Bewerter (auch »innerer Kritiker« genannt) entstehen dadurch, dass wir die Botschaften unserer Bezugspersonen ab der Geburt in den sog. Spiegelneuronen unseres Gehirns abspeichern. Dort bilden wir eine innere Repräsentation dieser Bezugspersonen – im Guten wie im Schlechten. Im negativen Fall beurteilen wir uns dann unreflektiert mit der gleichen Härte, mit der uns früher andere beurteilt haben. Im positiven Fall kann sich später in uns die »Stimme des Gewissens« regen und uns auf gute Weise an die in der Erziehung vermittelten Normen und Werte erinnern. Dass dem jedoch nicht unbedingt so ist, zeigen z. B. die Verstöße gegen Verkehrsregeln oder Steuergesetze.

Auch wenn Freud behauptete, der Lusttrieb sei besonders wichtig: Letztlich müssen alle vier Grundbedürfnisse ausbalanciert werden, wenn wir langfristig mit unserem Leben zufrieden sein wollen. Das bedeutet, einen Kompromiss zwischen den eigenen Interessen nach Selbstbehauptung und den Erwartungen der Umwelt zu finden, um die Zugehörigkeit nicht zu verlieren. Für das Überleben ist Bindung zunächst das wichtigste Bedürfnis. Daher sind Kinder bereit, für ein Minimum an Bindung auch Schmerz und Demütigungen auf sich zu nehmen. In diesem Sinne sind sie die »Klügeren«, die nachgeben. Nicht umsonst wird Stubenarrest (und später das Gefängnis) als Strafe eingesetzt. Noch schlimmer ist es, wenn Kinder in Anwesenheit der Eltern angeschwiegen werden. Das hält kein Kind lange aus! Angeblich hat Kaiser Friedrich II. dieses »Experiment« im Mittelalter auf die Spitze getrieben. Er wies Ammen an, mit den ihnen anvertrauten Kindern kein Wort zu sprechen, um zu schauen, was dann passiert. Die Kinder seien gestorben!12

Die Grundbedürfnisse im Einzelnen

Eine Besonderheit des Schematherapie-Ansatzes ist seine konsequente Orientierung an den Grundbedürfnissen. Für ein positives Lebensgefühl müssen möglichst alle diese Bedürfnisse einigermaßen befriedigt werden, auch schon bei Kindern. Werden die Bedürfnisse nicht befriedigt, entstehen ganz ursprüngliche negative Gefühle, die Basisemotionen. Diese Gefühle haben Signalcharakter und zeigen an, dass dem Kind etwas fehlt.

Das grundlegendste Bedürfnis ist das nach Bindung. Das lässt sich gut bei den kleinen Äffchen im Zoo beobachten, die sich an die Mutter anklammern. Die Mutter ist der Garant des Überlebens. Eine sichere Bindung an die Mutter ist die beste Basis, um die Welt zu erforschen.

Kontrolle meint das Vertrauen, dass die Welt vorhersehbar reagiert, und nicht: »Ich habe alles unter Kontrolle.« Vorhersehbarkeit gibt Sicherheit und Orientierung.13 Nur wenn ich mich sicher fühle, traue ich mich in die Welt hinaus. Sich sicher fühlen ist die Basis für die Entwicklung von Autonomie. Wenn ich in Deutschland zu der Zeit an eine Bushaltestelle gehe, zu der der Bus laut Fahrplan fahren soll, habe ich eine gute Chance, dass er auch tatsächlich kommt. Ich kann entsprechend planen. Das gibt mir Sicherheit. Entsprechend verärgert reagieren wir, wenn unser Kontrollbedürfnis frustriert wird. Die Schaffner der Deutschen Bahn können ein Lied davon singen.

Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung treibt uns an, vor uns und anderen gut dazustehen. Es ist ein wichtiger Motor des Lernens und des Fortschritts. Vermutlich hat es auch mit dem in uns biologisch angelegten Hackordnungsverhalten zu tun. Sogar Hühner wollen auf der sozialen Leiter nach oben (daher der Name).

Zum Bedürfnis nach Lust und Freude brauche ich nicht viel zu sagen. Das hat Sigmund Freud schon getan (und dabei vielleicht etwas übertrieben). Lust meint einfach sich wohlfühlen, Spaß haben. Das spielt ja in unserer sog. »Spaßgesellschaft« auch außerhalb der Sexualität eine große Rolle. Dazu noch der Hinweis, dass auch das Vermeiden von Unlust im Sinne der inneren Spannungsreduktion eine starke Triebfeder sein kann. Das kann man besonders gut beim Vermeidungsverhalten von Menschen mit Ängsten sehen.

Menschen sind soziale Wesen. Sie brauchen das Gegenüber. Bereits Säuglinge suchen aktiv den Kontakt zur Mutter oder zum Vater. Wenn in einem Experiment eine Mutter nicht auf das Kind reagiert, ist das für das Kind nicht auszuhalten. Es tut buchstäblich alles, um die Aufmerksamkeit der Mutter zu erregen. Es kann sie sogar schlagen!14 Dieses Wissen erlaubt einen anderen Blick auf verhaltensauffällige Kinder. Zumindest manche von ihnen suchen schlicht Aufmerksamkeit. Lieber ausgeschimpft werden als gar nicht wahrgenommen!

Das Bindungsbedürfnis erklärt auch, warum emotional vernachlässigte Kinder so leicht emotional oder auch sexuell missbraucht werden können. Oft sind die Missbraucher die einzigen emotionalen Bezugspersonen. Die emotionale Abhängigkeit der Kinder ist so groß, dass sie sich nicht abgrenzen oder gar wehren können. Gleichzeitig prägen sich diese Erlebnisse in unser Gehirn ein. Unser Gehirn »spiegelt« diese Erlebnisse in seiner Gehirnstruktur wie das Wachs den Siegelring. Es ist die für uns normale Welt. Bis etwa zum neunten Lebensjahr kennen Kinder überwiegend nur diese Welt. Erst dann können sie sich langsam von der Welt der Eltern lösen und das Verhalten der Eltern kritisch sehen. Bis dahin sind die Eltern die »Größten«. Die Worte und Werte der Eltern (oder anderer Bezugspersonen) hallen in uns nach. Auch in unserem Verhalten imitieren wir unbewusst die Umgebung. Wir passen uns damit wie ein Chamäleon unserem Umfeld an. Dadurch sind wir Teil unserer »Gruppe«, wir gehören dazu. Nur so konnten wir überleben.