Wer schneller läuft ist länger tot - Markus Theisen - E-Book

Wer schneller läuft ist länger tot E-Book

Markus Theisen

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Beschreibung

Alles beginnt im Mai 1986 mit einem bizarren Leichenfund in Nettetal. Das Opfer ist ein bekannter Mayener Läufer, der offenbar während des Trainings dahingemeuchelt worden ist. In seiner Brust steckt ein Wurfspeer, wie er in der Leichtathletik verwendet wird. Rasch nimmt Kommissar Weller, selbst leidenschaftlicher Läufer, die Untersuchungen auf. Erste Hinweise lassen ihn vermuten, dass der oder die Täter im Sportumfeld des Ermordeten zu suchen sind. Doch wer würde hier einen kaltblütigen Mord verüben? Aus welchem Motiv? Und sind gar noch andere Sportlerinnen und Sportler in Lebensgefahr? Dramatische Ereignisse nehmen ihren Lauf …

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Seitenzahl: 429

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markus theisen

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eifelkrimi

Eifeler Literaturverlag 2021

1. Auflage 2021

© Eifeler Literaturverlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Eifeler Literaturverlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.eifeler-literaturverlag.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Umschlaggestaltung: Dietrich Betcher

Druckbuch:

ISBN-10: 3-96123-016-1

ISBN-13: 978-3-96123-016-7

Druckbuch:

ISBN-10: 3-96123-027-7

ISBN-13: 978-3-96123-027-3

gewidmet …

… der Freude …

… dem Laufen …

… der Freude am Laufen …

… und meinen Achillessehnen …

»… en de mensen houden van het leven, de regen, de zon, de wind, het weer, de zand, het tij, – de zee – de zee – de zee – het tij, de zand, het weer, de wind, de zon, de regen, het leven … en de mensen houden van …

… so is een dag een dag, is een week, is een maand, is een jaar, … is een jaar, … is een jaar, is een ..., is, is … is …

… goed so!«

»… und die Menschen lieben das Leben, den Regen, die Sonne, den Wind, das Wetter, den Sand, die Gezeiten, – das Meer – das Meer – das Meer – die Gezeiten, den Sand, das Wetter, den Wind, die Sonne, den Regen, das Leben … und die Menschen lieben …

… so ist ein Tag ein Tag, ist eine Woche, ist ein Monat, ist ein Jahr, … ist ein Jahr, … ist ein Jahr, … ist ein …, ist …, ist …, ist …

… gut so!«

2019 – März

Kapitel 1

Anfang März, ein Montag,

später Vormittag

Ebbe …

»Typisches Holland-Wetter«, murmelte der Alte vor sich hin und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Eine steife Brise von Westen hatte den nächtlichen Regen längst in Richtung Festland verscheucht. Heftige Windböen fegten den ewig langen Sandstrand entlang und ließen Nebelschwaden aus feinsten Sandkörnern wie Irrwische auf dem Boden herumtollen. Immer wieder fanden Sonnenstrahlen ihre Lücken in der ziemlich durchlässigen weißgrauen Wolkendecke. Ihr silbriges Licht tänzelte beschwingt über die aufgewühlte Nordsee vor der Küste Zeelands. Ein Strahl mogelte sich klammheimlich wie ein leichter Nadelstich in die gleitsichtbebrillten Augen des Greises. Er blinzelte und musste mehrfach kräftig niesen. So sehr hatte ihn das helle Licht in der Nase gekitzelt. Der Mann langte rasch in sämtliche Taschen seiner dunkelblauen Daunenjacke nach der Sonnenbrille. Aber Fehlanzeige. Das Teil lag höchstwahrscheinlich noch auf dem Küchentisch im Ferienhäuschen. Also genau dort, wo er es gestern Nachmittag hingelegt hatte. Stattdessen fand er auf die Schnelle nur ein paar benutzte, das hieß zusammengeknüllte Papiertaschentücher, ein geöffnetes Tütchen Pfefferminz-Bonbons und das kleine Fernglas, das er vorhin, als er aufgebrochen war, noch rasch eingesteckt hatte. Mit kalten Fingern fieselte er sich eines der gebrauchten Taschentücher auseinander und schnäuzte vorsichtig hinein.

»Gut, dass meine Frau jetzt nicht hier ist, sonst hätte sie bestimmt gemosert, ich solle demnächst neue Tücher mitnehmen. Diese alten Dinger seien ja ekelig … Wenn das die Leute sehen würden.« Und wie so oft hätte er ihr spitzbübisch zur Antwort gegeben, dass er halt für Umweltschutz wäre und nur Ressourcen schonen wolle. Und sie das doch sicher verstehen würde. Ja, und sie hätte höchstwahrscheinlich mürrisch entgegnet: »Ach, du hast immer eine Erklärung für alles Mögliche parat«, dann aber doch, wenn ein paar Sekunden verstrichen waren, ihn wieder lieb angelächelt. Während der Achtzigjährige an seine Frau dachte, mit der er schon unendlich lange, in guten wie in schlechten Zeiten, verheiratet war, durchzog ein sanftes Schmunzeln dessen faltiges Gesicht. Er steckte den Zellstoff-Fetzen wieder ordnungsgemäß ein und gönnte sich ein Bonbon.

Auf einer Sandbank in der aufgewühlten See, nur wenige Hundert Meter vom Strand entfernt, faulenzte eine Schar Seehunde. Mit bloßem Auge waren die Meeressäuger nur als dunkle Punkte auf beigem Untergrund auszumachen. Doch mittels Fernglas sah man sogar wie manche mit weit aufgerissenem Maul und zugekniffenen Augen einen ungeniert angähnten. Ja, für Seehunde war dieser Bereich der Nordsee vor der Küste von Renesse wahrlich ein idealer Lebensraum. Sauberes Wasser. Fisch in Hülle und Fülle. Dazu die Weite und die Ruhe.

»Was will Seehund mehr?«, schmunzelte der Alte, steckte das Fernglas wieder in die Tasche, zog die Wintermütze bis knapp an die Augenbrauen heran und stapfte munter los.

Völlig alleine war man an diesem Strandabschnitt Zeelands zwischen Brouwersdam und Renesse tagsüber quasi nie. Da konnten die Wetterbedingungen noch so scheußlich sein. Doch für einen stinknormalen Vorfrühlingstag herrschte heute, warum auch immer, außergewöhnlich viel Betrieb: Querbeet. Alt und Jung. Männlein wie Weiblein und Diverse … mit und ohne Hund. Angeleinte und Freilaufende. Eine Reitschule hoch zu Ross, aufgereiht wie die Perlen an einer Kette. Drei Damen mittleren Alters in munterem Plausch beim Nordic-Walking. Mehrere Läufer und Läuferinnen, zumeist mit monströsen Kopfhörern auf der Rübe und Smartphones am Oberarm. Fast alle kamen sie dem Greis entgegen. War ja auch irgendwie logisch. Denn mit dem Wind ist halt einfacher als dagegen. Das hieß schlicht und ergreifend eine Teilstrecke mit Rückenwind am Meer entlang und, sofern man sich nicht irgendwo mit dem Auto abholen lassen wollte, die andere Hälfte windgeschützt hinter den Dünen, über die perfekt ausgebauten Wander- und Radwege. Doch es gab hin und wieder auch solche, die sich bewusst gegen die Elemente auflehnten. Und der munter stapfende Greis war einer von dieser hartgesottenen Sorte. Denn obwohl schon reich an Jahren, zeigte sich der betagte Mann körperlich noch gut in Schuss. Nur zu gerne machte er sich einen Heidenspaß daraus, gegen den strammen Wind anzukämpfen. Er liebte es, das Salz auf der Zunge zu schmecken, und das Gefühl, wenn ihm die klare, kühle Luft in die Lunge strömte. Ab und zu hatte er aufgewirbelte Sandkörner zwischen den Zähnen. Okay, darauf hätte er verzichten können.

Bei Ebbe, so wie es aktuell der Fall war, hinterließ die zurückgewichene Nordsee immer für die Zeit bis zur nächsten Flut einen festen, ebenen Untergrund. Der Alte nutzte die Gunst der Stunde, denn gegen den Wind gehen ist das Eine. Doch mit seinen lädierten Achillessehnen größere Entfernungen durch den tiefen Sand zurückzulegen, also da wo das Meerwasser auch bei Flut nicht hingelangte, das musste er sich mit seinen achtzig Lenzen dann doch nicht mehr antun. Hin und wieder stoppte er kurz und genoss die herrliche Aussicht. Er war ja schließlich nicht auf der Flucht, wie seinerzeit ein gewisser Dr. Kimble. Im Gegenteil. Er, der Kripo-Kommissar im Ruhestand, hatte seit fast zwanzig Jahren alle Zeit der Welt. Oder anders ausgedrückt, jene unbekannte Zeit, die ihm die Welt noch zu schenken gedachte. So genoss er jede einzelne Sekunde, als wenn es die Letzte wäre. Er schaute zurück in Richtung des Brouwersdams.

Durch den starken, meerseitigen Wind war es heute überhaupt nicht diesig, wie sonst so oft. Selbst den geschätzt fünfzehn Kilometer entfernten Leuchtturm auf einer Landzunge vor Ouddorp konnte man problemlos erkennen. Ebenso die unzähligen Kitesurfer, wie sie kreuz und quer durch die wellige See jagten. Ihre farbigen Schirme erinnerten den Betrachter ein bisschen an einen Schwarm bunter Schmetterlinge, welche aufgeregt umherflatterten. Der Brouwersdam selbst, also jene 1971 fertiggestellte, sechs Kilometer lange Verbindung zwischen den Gebieten Goree-Overflakee und Schouwen-Duiveland, trennt seitdem die Nordsee vom ruhigen Grevelingenmeer. Aus verkehrstechnischer Sicht ist er ein Teil des sogenannten Rijksweg 57, auch Nationalstraße N 57 genannt. Und so ganz nebenbei, quasi als schmuckes Beiwerk, entstand hier infolge von dessen Errichtung ein wahres Eldorado für die genannten Kitesurfer, Wohnmobilpuristen, Wanderer, Radfahrer, Inlineskater, Läufer, Angler, Taucher, Relaxer, Sandburgenbauer, Muschelsucher, und natürlich auch ihre gegengeschlechtlichen Spiegelbilder, sowie für Familien, Paare und Singles. Und für welche, die sich gerne mit Vögeln beschäftigen. Also kurz gesagt: Alle aus dem In- und Ausland, die gerne draußen sind und sich in der freien Natur wohl fühlen, kommen am Brouwersdam voll auf ihre Kosten.

Die neuste Damm-Attraktion ist ein Aussichtsturm inklusive Infozentrum auf der Seite zum Grevelingenmeer. Manche halten das Bauwerk für einen unnützen hässlichen Betonklotz, der die Gegend verschandelt, anderen gefällt die neue Errungenschaft. Auf jeden Fall kann man von dessen circa 25 Meter hoher Plattform einen tollen Rundumblick genießen. Auch der Alte war neulich die Treppenstufen hinauf und wieder hinunter gekraxelt und hatte sich anschließend een lekker Pilsje gegönnt.

»Das passt ja mal wieder haargenau«, brummte der Greis grinsend beim Blick auf seine Armbanduhr. Denn wie so häufig, wenn er alleine umher spazierte, hatte er Uhrzeit und Strecke genau so ausgewählt, dass er zur Mittagszeit in einem der Strandpavillons am Meer bei Renesse eine Pause einlegen konnte. Denn zum einen war das Frühstück nun auch schon wieder ein paar Stunden her und zudem schob er mächtig Brand. Der starke, salz- und sandhaltige Gegenwind hatte ganz offenbar seine Kehle ausgetrocknet.

Im proppenvollen Gastraum des rustikalen Strandlokals steppte förmlich der Bär. Es herrschte ein ständiges Kommen, Verweilen und Gehen. Die nach frittiertem Essen riechende schwere Luft durchzog ein sonores Stimmengewirr aus Niederländisch, Französisch und vor allem Deutsch. Hin und wieder kurz unterbrochen von plötzlichem Hundegebell von irgendwo her unter einem der Tische oder spitzem Kindergeschrei oder beidem zusammen. Die wenigen von der herausfordernden Gesamtsituation offenbar kaum beeindruckten Service-Kräfte pendelten in aller Gemütsruhe zwischen den an den Tischen wartenden Gästen und dem Thekenbereich hin und her. Sie servierten, kassierten, räumten ab, palaverten lachend untereinander und fanden noch Zeit für einen angeregten Plausch mit ihrer Kundschaft. Und deren gelassene Freundlichkeit schien irgendwie ansteckend zu sein. Denn keiner der Gäste maulte herum, wo denn zum Beispiel das Essen bliebe, oder was mit seinem Getränk wäre. Nichts. Alle blieben trotz des scheinbaren Chaos friedlich.

So auch der Alte. Und das obwohl er normalerweise ziemlich ungeduldig war. Seit gut zwanzig Minuten hockte er an einem kleinen Tisch am Fenster im äußersten Eck des Strandpavillons und harrte entspannt der Dinge, sprich einer Bedienung, die zwecks Aufnahme seiner Bestellung zu ihm kommen möge. Abgelenkt vom allgegenwärtigen Tohuwabohu hatte er völlig vergessen, wie hungrig und durstig er war. Just als er tagträumend aus dem Fenster hinaus übers Meer schaute, wurde er unverhofft von der Seite angesprochen.

»Kan ik je helpen?« Er zuckte leicht erschrocken zusammen und drehte sich um.

»Natuurlijk«, entgegnete er der jungen Frau lächelnd, die ihn erwartungsvoll ansah. Der Greis stutzte. Erinnerte sie ihn doch unweigerlich an jemanden aus seinem früheren Leben. Blonde, lange, zu einem schlichten Zopf zusammengebundene Haare. Eine Strähne, die seitlich ins blasse Gesicht ragte und einen Teil der rechten Wange bedeckte. Strahlend blaue Augen, welche einen Hauch von Winterkälte im nahenden Frühling versprühten.

Er war dermaßen aus dem Konzept gebracht, dass er die Kellnerin zunächst nur staunend mit offenem Mund anstarrte. Erst ihre nochmalige Frage, ob er denn schon wisse, was er wolle, brachte den sichtlich in Gedanken Versunkenen in die Realität zurück. Selbst, als der Achtzigjährige bald darauf beim kühlen Pilsje einen echt lekkere Pannekoek met Appels en Rozijnen verspachtelte, musste er an die Frau von damals denken.

»Wo Rosi jetzt nur sein mag«, grübelte er. War ihm das Schicksal dieser gewissen Rosi doch völlig unbekannt. Jene Rosi, mit der er, salopp gesagt, ’ne heiße Nummer schob, obwohl er damals Ende der Sechziger bereits mit seiner späteren Frau Karin verlobt war.

»Mensch, war das ’ne wilde Zeit«, zuckte es durch seine Hirnwindungen und er spürte wie sich leichte Melancholie in ihm breitmachte. Nun entsann er sich an seinen ersten Partner bei der Kripo. Winfried Schuster war dessen Name. Ein ruhiger Kollege von der Alten Schule. Sie beide ermittelten vor über fünfzig Jahren im Dorf Mayberg wegen eines äußerst merkwürdigen Mordes an einem ortsansässigen Großbauern.

»Ja, eine sehr, sehr seltsame Geschichte«, murmelte der Alte vor sich hin. Im Zuge der damaligen Untersuchungen hatte er, der junge ehrgeizige Kommissar, sich über das Wochenende in Mayberg einquartiert. Das schlichte Zimmer lag in der Etage direkt über der Dorfkneipe. Und genau in dieser Kammer hatte er mit Rosi jene leidenschaftliche Nacht verbracht. Erst viele Jahre später, als Anfang der Neunziger wiederum ein mysteriöser Mordfall die Menschen Maybergs erschütterte, wurde er gewahr, dass Rosi eine Tochter hatte. Sandra. Ob Sandra von ihm stammte? Rosi wünschte es sich sehr, hatte sie ihm gesagt. Doch absolute Gewissheit erhielt er von ihr nicht. Gab es doch so manch traurige Geschehnisse in Rosis Leben, welche sie ihm bewusst verschwiegen hatte. Und auch von Sandra hatte er seitdem weder etwas gehört noch gesehen. War vielleicht auch gut so. Denn bislang hatte er Karin nicht auch nur ein Sterbenswörtchen von seinem einmaligen Ausritt in der Provinz erzählt.

»Und höchstwahrscheinlich nehme ich dieses Geheimnis mit in die Kiste, wenn es mal so weit ist«, prostete er sich selbst zu und nahm einen großen Schluck. Wie es der Zufall wollte, besuchte er mit seiner Frau kürzlich ein befreundetes Ehepaar in der Nähe des Laacher Sees. Und weil es den Alten brennend interessierte, hatten sie bei der Rückfahrt einen kleinen Umweg über Mayberg gemacht.

Das Dorf war kaum wiederzuerkennen. Straßen, Häuser … vieles wich doch sehr von seinen Erinnerungen ab. Auch die Tage jener alten Dorfkneipe waren gezählt. Denn genau an der Stelle, an der sie einst stand, lag nur noch ein riesiger Berg Schutt und Steine. Und auch dort, wo Rosi lebte, in einem großen Bauernhof außerhalb des Dorfes umgeben von Wiesen und Feldern, verlief heute eine schnöde Schnellstraße. Offenbar hatte man nach dem monströsen Brand im November 1991 davon abgesehen, das Wohnhaus wiederaufzubauen und auch die Stallungen dem Erdboden gleichgemacht. Nichts erinnerte heutzutage mehr an die Familie, die dort seit Generationen ihr Zuhause hatte. Nur noch in den Gedanken der Zeitzeugen, so wie der ehemalige Kommissar wahrlich einer war, hielten sich zunehmend verblassende Bilder bezüglich der dramatischen Geschehnisse jener Tage.

Beim Verlassen der Ortschaft hatte der Alte fast schon ein wenig erleichtert festgestellt, dass zumindest eine Sache die Jahre überdauerte. Es war der Feldweg auf der anderen Seite der Bundesstraße, wo er vor über fünfzig Jahren früh morgens hergelaufen war. Ja, in der Tat. Der Weg verlief noch immer inmitten der Felder. Heute allerdings feinsäuberlich asphaltiert. Ganz im Gegensatz zu damals, wo der Weg ein zerfurchter Rumpelpfad gewesen war.

Doch nicht nur in Mayberg war der Wandel der Zeit unverkennbar. Auch hier auf Zeeland hatte sich das Erscheinungsbild der Umgebung und auch vieler Ortschaften in den letzten zwanzig Jahren deutlich geändert. Der Alte durfte diese teils tiefgreifenden Umgestaltungen quasi hautnah miterleben. Machte er doch mit seiner Familie bereits seit den späten Neunzigern mehrfach im Jahr in dieser Gegend Urlaub. Uschi, die älteste Tochter seines zweiten Partners Kommissar Rolf Schalupke hatte ihn irgendwann mal auf den Geschmack gebracht.

»Prost Rolf, auf welcher Wolke du auch jetzt sitzen magst«, dachte der Alte wehmütig, leerte das Glas komplett und bestellte sich fix bei der justament anrauschenden Kellnerin ein zweites lekker Pilsje.

Kommissar Rolf Schalupke war jener befreundete Kollege, der 1988 am verfluchten Steintaler Galgenhügel durch den Schwertstich eines Wahnsinnigen das Leben deutlich vor seiner Zeit ausgehaucht hatte. Bis dato machte sich der Alte noch immer Vorwürfe, dass er Rolf nicht rechtzeitig zu Hilfe kommen konnte. Klar, er schickte den irren Mörder damals ebenfalls durch einen Säbelstich ins Herz in die ewigen Jagdgründe, aber sein Kollege starb noch vor Ort in seinen Armen. In der Folgezeit hatte er sich fürsorglich um Rolfs Familie gekümmert. War doch auch Nicole, die jüngste der drei Schalupke-Töchter, sein Patenkind.

»Tja, die kleine Nicole«, schmunzelte der Greis, »hat auch schon drei Kinder und wird bald Oma. Unglaublich, wie die Zeit vergeht.« Unweigerlich dachte er an seinen eigenen Sohn Tom. Denn dieser, mit 48 Jahren in Nicoles Alter, war ebenfalls längst verheiratet und Vater von erwachsenen Zwillingen, Sarah und Paul.

Wiederum trank der Alte einen Schluck Gerstensaft. Dieser schmeckte ihm heute wirklich ausgesprochen gut.

Seine Gedanken schweiften wieder zurück zu Uschi und wie sie ihm damals schwärmerisch erzählte, wie schön es doch auf Zeeland sei und wie toll man dort Spazieren, Radfahren und Laufen könne. Gesagt. Getan. Schon bei ihrem ersten Aufenthalt erkannten Karin und er, dass Uschi weiß Gott mit ihren Anpreisungen nicht übertrieben hatte. Stundenlange Spaziergänge am Meer, weite Radtouren und speziell für ihn, da er schon immer gerne lief, lange Läufe durch die Dünen, am Strand oder über den Brouwersdamm. Karin und er hatten sich quasi in Windeseile in die Region verliebt.

Zumindest in das Meiste, was die Gegend zu bieten hatte. Beispielsweise machten sie in den ersten Jahren an Pfingsten und den Wochenenden im Sommer um Renesse einen großen Bogen. Denn der Ort galt lange Zeit als Hollands Antwort auf den Ballermann. Das bedeutete Sex, Drugs und Rock’n’Roll in Reinkultur. Party bis zum Abwinken. »All night long«, so zu sagen. Früher wären sie sicher auch mal hingegangen, waren sich beide einig, doch in ihrem Alter in eine »BumBum Disco« einzukehren, das musste dann doch nicht sein.

Ein Gutes, besser gesagt zwei Gute, hatte die wilde Zeit jedoch, fand zumindest der Alte. Denn flanierte man tagsüber bei warmen Temperaturen und Sonnenschein am Strand entlang, erblickte das erfreute Stielauge viele wunderbare Dinge in all ihrer natürlichen Schönheit: Lekkere Meisjes, sich sonnend, wie Gott sie schuf.

»Und um die Schönheiten der Natur zu genießen sind wir doch schließlich hier«, stichelte er augenzwinkernd in Richtung seiner Frau, die ihm daraufhin einen leichten Hieb in die Seite gab und ihn mit den verheißungsvollen Worten rügte: »Na, wart’s ab! Heute Abend werden wir die Natur genießen, so wie früher!« Doch nicht nur, dass es mit dem Sex in seinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr so recht klappen wollte, nein, auch Renesse steuerte seit ein paar Jahren weg vom »HalliGalli Tourismus«. Zwar gab es in den Sommermonaten noch immer genug für das inzwischen arg getrübte Stielauge am Strand zu bewundern, doch der Ort selbst kam inzwischen durch neu gestaltete Straßenzüge, edle Geschäfte und Lokale wesentlich gediegener daher. Ganz zu schweigen von den unzähligen Bungalowparks, welche ringsum aus dem Boden gestampft worden waren und noch immer werden. Und auch die meisten Strandpavillons waren beileibe nicht mehr die zugigen Bretterbuden, welche fast alle im Herbst abgeschlagen und im Frühjahr wiederaufgebaut wurden. Nein, heutzutage waren sie, wie auch die, in der der Alte hockte, eine ganzjährige, stabile Einrichtung.

»Entschuldigung, ist hier noch frei? Entschuldigung! … Ist hier noch frei?!« Eine aufgetakelte ältere Frau mit knallrot geschminkten Lippen, grell türkisfarbigen Augenlidern, weißgepudertem faltigen Gesicht und energisch in die Hüften gestemmten Händen hatte ihn ziemlich barsch von schräge vorne angelatschert. Die völlig fremde Spinatwachtel wollte sich schon kackdreist zu ihm an den Tisch setzen, als er ihr mürrisch und mit grimmigem Blick entgegnete: »Nö, ist besetzt. Meine Frau, entschuldigung, meine deutlich jüngere Frau kommt gleich.«

Daraufhin zischte die Dame leicht pikiert: »Unverschämtheit«, und stolzierte sogleich mit hocherhobener Nase von dannen. Was hätte sein ehemaliger Kollege Bruno Klopfer, der alte Hallodri von der Sitte, nun gesagt? »Ne Drudschel, so ’ne richtige Drudschel!« Beim Gedanken daran musste der Mann schallend lachen. Keine Chance, es zu unterdrücken. Die Gäste am Nachbartisch drehten sich zu ihm um und starrten ihn verwundert an. Er entgegnete höflich nickend, prostete ihnen zu und leerte das Glas. Welch’ ein Glücksfall, dass ausgerechnet jetzt, wo er ausgetrunken hatte, schon wieder die blonde, hübsche Bedienung neben ihm auftauchte und ihn nach einem weiteren lekker Pilsje fragte.

»Natuurlijk!« Ohne zu zögern orderte er sogleich lächelnd. Es schmeckte heute aber auch unverschämt gut. So ein paar Brocken niederländisch hatten sich Karin und er im Laufe der Jahre angeeignet. Obwohl man, rein objektiv betrachtet, hier oben in Zeeland mit Deutsch bestens parat kam. Die Einheimischen erwarteten offenbar nicht, dass die Touris mit ihnen in ihrer Landessprache kommunizierten. Umso erfreuter zeigten sich dann die meisten Zeeländer und Zeeländerinnen, wenn der Alte mal die eine oder andere Vokabel in Niederländisch raushaute.

Während er auf sein Bier wartete, fiel ihm plötzlich ein, dass vor einem Jahr, genau um die gleiche Zeit, er rein zufällig seine letzte Partnerin Oberkommissarin Stefanie »Steffi« Franck beim gemeinsamen Spaziergang mit seiner Frau am Strand getroffen hatte. In leuchtend gelbem Regenmantel und mit roter wehender Haarmähne war sie ihm schon von weitem aufgefallen. Steffi freute sich sehr, ihren ehemaligen Kripo-Kollegen wiederzusehen. Hatte sie doch seit dessen Abschied von der Polizei rein gar nichts mehr von ihm gehört. Sie wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Umso glücklicher war Steffi ihn trotz seines hohen Alters wohlauf anzutreffen.

»Und? Was macht die Kunst, Frau Oberkommissarin?« Ebenso erfreut bezügliches des unverhofften Wiedersehens, hatte er sie prompt auf ihren Job angesprochen. Neugierig war der Ex-Kommissar schließlich noch immer.

Steffi antwortete daraufhin spürbar ergriffen: »Schlimme Geschehnisse, ausgelöst durch Mobbing … in Katzenbach und im Sumpf der Katzenbacher Wiesen. Der pensionierte Schutzpolizist Thomas Schink half mir sehr bei der Lösung des Falles. Dabei erzählte er mir auch von dir und 1983.« Durchzog bis dahin ein munteres Lächeln das Gesicht des Alten, verfinsterte sich dessen Miene zusehend, als er ihre niedergeschlagen klingenden Worte hörte.

»Ja, Steffi, Katzenbach 83, eine schreckliche Geschichte … was durch dieses verdammte Drecks-Mobbing alles geschehen kann«, erwiderte er mitfühlend, ohne jedoch weiter auf Steffis Fall einzugehen. Denn just in diesem Augenblick wurde dem Greis wieder bitter vor Augen geführt, mit welchem Leid und Elend sich die Kripo mitunter im beruflichen Alltag konfrontiert sah. Beinahe zwangsläufig hatten danach beide eher bewusst, denn unbewusst noch ein bisschen belangloses Zeug miteinander geplaudert. Ob denn ihre Familie auch hier sei, hatte er sie gefragt. Steffi entgegnete daraufhin bedrückt wirkend, dass sie mal eine gewisse Zeit für sich brauche, um mit »was« klarzukommen.

»Alles Gute und wer weiß, wann wir uns nochmal wiedersehen!«, verabschiedete sie sich schließlich von ihrem ehemaligen Partner und dessen Frau.

»Wer weiß das schon? Und im Zweifel hilft ’ne Tüte Kartoffel-Chips«, gab er augenzwinkernd zur Antwort. Später fragte Karin ihn, was es denn mit den Chips auf sich gehabt hätte. »Nervennahrung«, lachte der Greis, »immer, wenn sich Steffi über mich geärgert hatte, hab ich ihr als kleine Wiedergutmachung ’ne Tüte von der Tanke mitgebracht.«

»Dann waren es bestimmt viele Tüten«, feixte Karin, worauf ihr Mann nur verschmitzt nickte.

Kapitel 2

Es waren inzwischen fast zwei Stunden vergangen, dass sich der Alte am Tisch in der Ecke niedergelassen hatte. Noch immer herrschte im Strandpavillon Hochbetrieb. Er nippte an seinem Bier und beschloss, wenn er es ausgetrunken hatte, zu zahlen und sich wieder auf den Weg zu machen. Schließlich wollte er nicht den halben Tag in der Hütte verbringen, sondern sich lieber noch ein wenig die raue Nordseeluft um die Nase wehen lassen.

Unweigerlich war ihm schon vor einer Weile ein Paar, beide vielleicht Mitte dreißig, aufgefallen. Die Frau und der Mann saßen sich genau in seiner Blickrichtung an einem Tisch nur wenige Meter von ihm entfernt gegenüber. Ganz offenbar hatten die beiden heute ihre Zungen zu Hause vergessen. Verbale Konversation miteinander? Fehlanzeige! Denn kaum, dass sie sich behäbig hingefläzt hatten, packte sowohl sie als auch er ein Smartphone aus, woran dann eifrig herumgefingert wurde. Selbst beim Essen legten sie die Dinger nicht zur Seite. Mit gesenkten Köpfen stierten beide bloß auf die Displays. Selbst als sie zwischendurch mal kurz aufschauten, gingen ihre teilnahmslosen Blicke aneinander vorbei ins Leere.

»Na klasse«, murmelte der Alte kopfschüttelnd vor sich hin, »sie haben sich anscheinend nichts mehr zu sagen. Oder ist es ihnen zu mühsam, sich miteinander zu unterhalten?« Er schüttelte verständnislos den Kopf.

Doch dieses Bild der zur Schau gestellten Gleichgültigkeit eines Paares in der Öffentlichkeit war kein sonderbarer Einzelfall. Im Gegenteil! Schon häufig war Karin und ihm solches Verhalten bei anderen Paaren, egal welchen Alters, aufgefallen. Doch was die Gründe dafür waren, die dieses Desinteresse am Gegenüber bei den Leuten ausgelöst hatten, darüber ließ sich nur spekulieren. Wie zum Beispiel, ob sie sich im Laufe ihrer Zweisamkeit so nervten, dass sie nur noch ihre Ruhe haben wollten? Oder hatten sie, jeder auf seine Weise, es sich in der eigenen kleinen Welt bequem gemacht und keinen Bock, die Komfortzone zu verlassen? Wer weiß? Auf jeden Fall war es ein Benehmen, das für Karin und ihn nur schwer nachvollziehbar war. Klar, sie redeten natürlich auch nicht pausenlos miteinander. Doch beide liebten sie ihre gemeinsamen Gespräche, Diskussionen und, ja, auch ihre Dispute, von denen es wahrlich unzählige gab, wirklich sehr.

»Na, was soll’s, ist deren Sache«, brummte der Alte schließlich vor sich hin und trank einen Schluck Gerstensaft.

Einmal abgesehen von den Gesprächen war auch in ihrer langjährigen Ehe beileibe nicht alles Gold, was glänzte.

»Karin, mein Schatz«, fasste er sich gedanklich an die eigene Nase, »du hattest es sicher nicht immer leicht mit mir verbohrtem Dickschädel.« Seiner Einschätzung nach grenzte es fast schon an ein mittelgroßes Wunder, dass sie überhaupt noch zusammen waren. Denn schließlich lebten Karin und er über zwanzig Jahre räumlich getrennt voneinander. Er als Kripo-Kommissar in einem provinziellen Städtchen am Rhein, aufgrund der Nähe zum Polizeipräsidium. Sie hingegen im pulsierenden West-Berliner Stadtteil Reinickendorf, also dort, woher beide ursprünglich stammten. Sie waren sich einig, dass die meisten anderen Paare an ihrer Stelle längst die Flinte ins Korn geworfen hätten. Zumal Karin ihren gemeinsamen Sohn Tom mehr oder weniger alleine aufgezogen hatte. Während er der ehrgeizige, egoistische Kommissar hunderte Kilometer von ihnen entfernt, in der Eifler Provinz, zumeist sehr erfolgreich irgendwelchen Mördern und sonstigem, zwielichtigem Gesindel hinterherjagte. Außerdem nagte es über lange Zeit an seinem Ego, dass er seinen allerersten Mordfall damals 1967 nicht aufzuklären vermochte.

»Ich kann hier erst weg, wenn ich weiß, was Sache ist«, redete er stets wie besessen auf sich ein. Solange, bis er es viele Jahre später endlich geschafft hatte, Licht ins Dunkel zu bringen. Was fluchte Karin häufig, wenn sie auf die Eifel zu sprechen kamen: »Es ist und bleibt der Arsch der Welt, Punkt!« Und er entgegnete seiner erzürnten Frau zumeist ziemlich starrsinnig: »Arsch der Welt hin oder her! Solange es mein Job von mir verlangt, bleibe ich hier am Arsch der Welt, Punkt!« Okay. Er besuchte Karin und Tom mehr oder weniger regelmäßig. Und es war Anfang ’83, als er Frau und Sohn beinahe gefolgt wäre. Denn es war jene bittere Zeit, als Tom in der Schule arge Probleme hatte, weil er von älteren Mitschülern böse schikaniert worden war. Der Alte hatte damals sogar schon sein Versetzungsgesuch nach West-Berlin gefertigt. Saß quasi bereits auf gepackten Koffern. Doch zum Glück besserte sich Toms Situation nach dem Wechsel der Schule erheblich, sodass dessen Vater letztendlich den Antrag zerriss und die Schnipsel im Ofen verbrannte. Ganz sicher. Als Karin ihn im Sommer ’76 mit Tom verließ und wieder zurück nach Reinickendorf zog, weil sie einfach nicht mehr in der Scheiß-Eifel leben wollte, war kaum daran zu denken gewesen, dass sie Mitte der Neunziger wieder glücklich vereint sein würden. Ein weiteres Phänomen ihrer für Außenstehende recht speziell anmutenden Beziehung war auch, dass sie sich in den Jahren der räumlichen Trennung liebten wie am ersten Tag und eine Scheidung nie zur Debatte stand. Selbst als Karin mit diesem türkischen Gemüsehändler aus Kreuzberg liiert war und er mit Vera, der blonden, ultrascharfen, zehn Jahre jüngeren Joggingmaus so manche heiße Nummer schob. Letztlich hatten Karin und er wieder zueinander gefunden. Und so sollte es auch bleiben ...

Wenn am ehemaligen Kommissar etwas mächtig nagte, so war dies nicht nur der Zahn der Zeit. Vielmehr war es die bittere Gewissheit, weite Teile von Toms Heranwachsen versäumt zu haben. Daher drängte es ihn förmlich, jede sich bietende Gelegenheit von gemeinsamem Miteinander mit der Familie zu nutzen.

»Die Zeit bleibt für keinen stehen, für keinen … Die Jahre rinnen einem wie feine Sandkörner durch die Finger und wenn man sich dessen bewusstwird, ist es für vieles schon zu spät«, sagte er oft zu sich. Dann überkam ihn Wehmut und er fühlte sich schuldig im Sinne der Anklage, seine Familie so lange alleine gelassen zu haben. Andererseits freute er sich unbändig darüber, dass ihm alten Sturkopp überhaupt noch die Möglichkeit geschenkt wurde, Versäumtes zumindest zu einem kleinen Teil nachzuholen. Der Greis wischte sich eine Träne aus den Augen, trank das Bier aus und bestellte sich rasch noch ein Neues.

»En nog een jonge jenever, alsjeblieft!«, rief er der attraktiven, blonden Kellnerin hinterher, die lächelnd zur Bestätigung nickte und alsbald das Helle und den klaren Schnaps servierte. »Proost!« Auf ex kippte er den Jenever rasch hinunter. Das Zeug brannte kurz, aber heftig wie aufflammendes Feuer in seiner Kehle. Ein Schluck kühles Bier hinterher sorgte für rasche Linderung. Der Greis lehnte sich zurück in seinen Stuhl und sah mit leicht verklärtem Blick aus dem Fenster hinaus zum Strand.

Die ausgedehnten Urlaube auf Zeeland gehörten fest zu jener gemeinsamen Zeit mit der Familie. Unumstößlich! Schon seit Jahren. Und hier unternahmen sie auch eigentlich alles zusammen. Außer, und das war eine der wenigen Ausnahmen, wenn wie heute Nachmittag ein ausgedehnter Shopping-Bummel zum Beispiel im nahegelegenen Städtchen Middelburg auf dem Plan stand. Dann seilte er sich ab und machte sein eigenes Ding. Denn wenn der Alte etwas nicht war, dann ein ausdauernder Shopping-Begleiter.

Ein paar Mal war er Karin zu Liebe mitgekommen. Doch immer endeten die gemeinsamen Einkaufstrips in einem Fiasko. Er latschte ihr praktisch von Laden zu Laden wie ein lebloser Zombie hinterher. Und wenn Karin ihn nach seiner Meinung bezüglich eines Kleidungsstücks oder einem Paar Schuhen fragte, rang er sich daraufhin ein leidendes Lächeln ab und antwortete monoton: »Ja, ist schön.« Immer. Egal, was Karin ihm vorführte. Sie hätte ihm sogar den ollen Vorhang einer Umkleidekabine als neuen, topmodischen Umhang präsentieren können. Seine Erwiderung wäre immer »Ja, ist schön« mit jämmerlichem Unterton in der Stimme gewesen. Karin machte dieses Verhalten fuchsteufelswild. Es dauerte Stunden, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Und er war nach den Einkaufstortouren platter als nach einem Marathon bei 40 Grad, Gegenwind und bergan. Jedenfalls fühlte es sich so an. Rücken, Beine, Arme, Kopf. Alles schmerzte wie die Hölle.

Daher war es für ihn umso verwunderlicher, dass Tom und dessen Sohn Paul ihm in Punkto Shopping-Abneigung überhaupt nicht nachschlugen. Den beiden machte es unbegreiflicherweise gar nichts aus, von Geschäft zu Geschäft zu tingeln und dem schwindelerregenden Schuh- und Klamottenanprobieren der Ladys mit Rat und Tat beizuwohnen. Unfassbar! Oder ob sie wohl, mit was auch immer, bestochen wurden? Es war dem Alten ein echtes Rätsel. Da alle Familienmitglieder seine Marotten bestens kannten, hatten sie ihm aus besagten Gründen nach dem Frühstück einen schönen Tag gewünscht und waren gen Middelburg aufgebrochen.

Doch einmal abgesehen vom unharmonischen Einkaufsverhalten hatten er und Karin viele gemeinsame Interessen. Sie kochten leidenschaftlich gerne zusammen, schätzten einen guten, toskanischen Chianti und beide mochten schon von je her die Musik der Rockband »Queen«. Selbstredend schauten sie sich im Herbst letzten Jahres »Bohemian Rhapsody« im Kino an. Jenes emotionale, biographische Filmdrama, das restlos begeisterte. Mitsingen und Lachen einerseits. Tränen der Rührung andererseits. Ein echtes Meisterwerk! Beide waren sie angetan von der Leistung der Schauspieler. Besonders die des Darstellers, welcher Freddie verkörperte. Klasse! Wie die Mehrzahl der Besucher im großen Kinosaal waren auch sie völlig gebannt solange in ihren Sesseln sitzen geblieben, bis der allerletzte Takt verklungen und der Abspann komplett durchgelaufen war. Und unisono waren sich beide felsenfest sicher: Lebte Freddie noch und hätte er noch immer Bock auf »Queen«, selbst sie als betagte Leutchen würden sich eines von deren Live-Konzerten reinziehen. Allerdings von Sitzplätzen aus und nicht wie früher stehend im Innenraum. Dieses Zugeständnis würden sie bereitwillig machen.

»God save Queen«, murmelte der Alte vor sich hin, prostete mit dem halbvollen Bierglas gen Himmel und leerte es schließlich in einem Zug. Daraufhin beglich er seine Rechnung und gab der blonden Kellnerin, die auf wundersame Weise von Bier zu Bier immer noch hübscher und hübscher geworden war, ein üppiges Trinkgeld. Beschwingt erhob sich der Greis von seinem Stuhl und zog sich betont lässig Jacke und Mütze wieder an.

»Tot ziens«, verabschiedete ihn die junge Frau freundlich. Er zwinkerte ihr lächelnd zu und winkte zum Abschied.

»Läuft«, dachte er sich mit stolzgeschwellter Brust und schwankte leicht angesäuselt nach draußen an die frische Luft.

Allmählich hielt die Flut Einzug und vereinnahmte die festen Strandabschnitte nun zusehends. Wollte man keine nassen Füße bekommen, musste man mehr und mehr mit dem tiefen Sand vorliebnehmen. Das Gehen war wesentlich kräfteraubender in diesen Bereichen, da der lose Untergrund fast bei jedem Schritt nachgab.

Der Alte war noch ein ganzes Stück westwärts am Meer entlang gegen den böigen Wind gestapft. Einerseits, weil er es, wie gesagt, liebte, anderseits, um wieder einen klaren Kopf zubekommen. Denn die lekker Pilsje und der Jenever hatten doch seine Sinne leicht vernebelt. Zudem ermüdete der weiche Sandboden seine Wadenmuskulatur doch arg. So beschloss er nach ungefähr einer halben Stunde, den Strand zu verlassen und den Rückweg hinter den Dünen einzuschlagen. Dafür brauchte er zum Glück die Dünen nicht mühselig hinauf und wieder hinunter zu krabbeln. Nein. An vielen Stellen, und nicht nur an denen, wo sich am Meer Strandpavillons befanden, waren mit Betonplatten ausgelegte Schneisen in die Sandberge eingelassen. Diese Wege waren in der Regel so breit, dass ein Auto locker hindurchpasste. Und windgeschützt hinter den Dünen verlief hier in der Gegend um Renesse, wie auch in weiten Teilen Zeelands, ein kilometerlanger Rad- und Wanderweg.

Dessen Untergrund bestand zumeist aus festem Muschelsand. Eine nette Begebenheit, die sowohl das Radfahren als auch das Laufen und Wandern bequem und angenehm gestaltete. Ganz besonders nachdem man, wie der Alte, direkt am Meer, lange gegen den Wind und dazu noch durch den weichen Sand des Strandes marschiert war. Deswegen kam es dem Greis, nun da er die Meerseite der Dünung verlassen hatte, auch so vor, als wandelte er mühelos dahin. Der leichte Rückenwind schob ihn sachte an und er gewann bald den Eindruck, als würde er beschwingt bergab gehen. Obwohl der Dünenweg, einmal abgesehen von sanften Wellen, kein nennenswertes Gefälle hatte. Wie auch? Hier oben am Meer ist alles flach wie ein Brett. So flach, dass man mittwochs schon sieht, wer sonntags zu Besuch kommt, scherzte der Alte gerne.

Am Rand des Pfades luden in unregelmäßigen Abständen von wenigen Hundert Metern massive Sitzbänke, eingebettet in wilde Hecken, zum Verweilen ein. Da seine Achillessehen etwas zwickten, gönnte sich der Wanderer eine Erholungspause. Begleitet von kaum hörbarem Stöhnen setzte er sich hin, lehnte sich zurück und streckte die Gräten aus. Ein paar Mal dehnte er die Sehnen, indem er wechselweise die Füße nach vorne streckte und wieder anzog.

»Uuuh, hzzz, aaaah!« Wäre jemand in der Nähe gewesen und hätte seinen verkniffenen Gesichtsausdruck und die schmerzerfüllte Geräuschkulisse bemerkt, der- oder diejenige müsste unweigerlich gedacht haben: »Oh je, der arme Mann. Was für Schmerzen muss er aushalten!« Doch der arme Mann war alleine. Zumindest im Moment. Zudem kannte er seinen Körper, dessen Gebrechen, was er davon zu halten hatte und wie am besten damit umzugehen war, ziemlich gut. Schließlich hatte er viele Jahre Zeit gehabt, um ihn zu erforschen. »Klappt doch«, sagte er grinsend und sichtlich entspannt, da sich die Schmerzen nach ein bisschen Fußgymnastik in Wohlgefallen aufgelöst hatten.

Die untergehende Sonne blinzelte ihn über den Dünenkamm an und wärmte seine rechte Gesichtshälfte. Der Ruhende steckte sich ein Pfefferminz-Bonbon in den Mund, verschränkte seine Arme vor der Brust und ließ seinen Blick relaxed über die gegenüberliegende Wiesenlandschaft schweifen. Er vernahm linksseitig ein rasch näherkommendes, stakkato-artiges Knirschen des festen Muschelsands. Ohne Kopfdrehung linste er nur aus den Augenwinkeln heraus in die Richtung der Geräusche, die ihm doch sehr bekannt vorkamen. Eine Frau und ein Mann, beide in neongelben Funktionsoberteilen und schwarzen Tights gekleidet, kamen im flotten Tempo angejoggt und waren flugs auf seiner Höhe. Beim Passieren warfen sie ihm ein freundliches »Hallo« zu und verschwanden hinter einer scharfen Biegung, so plötzlich wie sie aufgetaucht waren, aus seinem Sichtfeld.

»Ist schon irre, wie sich alleine die Laufklamotten in den letzten … vierzig, fünfzig Jahren geändert haben«, grübelte der gemütlich auf der Bank Sitzende. »Graue, weiße und blaue Sportsachen aus Baumwolle und Leinen hatten wir bis Anfang der Achtziger. Dazu, wenn es im Winter richtig kalt war, wollene Mützen und Handschuhe. Und als Laufschuhe die guten alten Brüttings!« Er lachte lauthals, als er die damaligen simplen Schlappen mit den hochmodernen Gel-boost-air-»hastenichtgesehen« und mit was sonst noch allem gedämpften Running-Schuh-Modellen, erhältlich in allen nur möglichen Kirmesfarben und leuchtenden Schnürsenkeln der Neuzeit, in Gedanken verglich.

»Wenn Karin die Teile nicht längst in die Tonne gekloppt hat, müssten die Brüttings noch in einer Kiste oben auf dem Dachboden sein. Na, ich werde nach dem Urlaub mal ein bisschen im Gerümpel rumstöbern!«, schmunzelte er leicht melancholisch und dachte daran, wie viele schöne Läufe er damals in den Siebzigern in genau diesen Laufschuhen absolviert hatte.

»Und heutzutage? Ist doch Vieles nur überflüssiger Schickimicki-Kram und schnöde Geldmacherei. Fitness-Armbänder mit Schrittzähler? Wozu braucht man ein Gerät, das einem sagt, wie viele Schritte man am Tag noch zu gehen hat? Was für ein Quatsch! Oder der Unfug, dass die Leute ein Smartphone am Arm durch die Gegend tragen, um stets erreichbar zu sein! Wollen die nicht mal ihre Ruhe haben? Und manche stellen ihre Trainingsleistungen, die wirklich kaum jemanden interessieren, außer sie selbst vielleicht, auch noch ins Internet! Oder beim Laufen Musik hören? Die bekommen überhaupt nicht mit, was um sie herum geschieht. Wenn sich jemand mit bösen Absichten von hinten an sie heranschleicht zum Beispiel. Und wenn sie es bemerken, ist es oft schon zu spät … Alles schon erlebt …« Der Alte hielt für einen Augenblick inne. In seinen Erinnerungen war ein Mordfall, in dem er einst ermittelte aufgeflammt. »Hm, in der Tat, das gab es auch schon früher … Wie es wohl ausgegangen wäre, wenn …?« Der Pensionär wurde nachdenklich und tauchte für ein paar Momente in seine Vergangenheit als aktiver Kripo-Kommissar ein. »Musik auf den Ohren war damals nix und auch heutzutage nix, basta! «, zischte er schließlich voller Inbrunst. »Wenn ich draußen bin, bin ich in der Natur. Da brauche ich keine Musik auf den Ohren.« Er verdrängte vorübergehend die Gedanken an seinen ominösen Mordfall von einst und widmete sich resümierend wieder der begonnenen Fitness-Grübelei: »Wenn man nichts auf der Pfanne hat, nutzt auch der ganze neumodische Tinnef nix. Letztlich ist es doch so, trainierst du viel, biste flott. Hockst du lieber auf dem Sofa und bohrst in der Nase, hast du auch nix auf der Rolle. So einfach ist das. Punkt. Von nix kommt nix! Im normalen Leben nicht und beim Sport erst recht nicht.

Nein, nein, ich habe manchmal den Eindruck, dass heutzutage mehr auf den ganzen Schnickschnack drum herum wertgelegt wird, als auf das, worum es beim Sport eigentlich geht. Sich auszutoben, seinen inneren Schweinehund zu überwinden und die bestmöglichen Leistungen zu bringen. Das ist es doch, was zählt!« Der Alte konnte sich köstlich über diese Thematik echauffieren. Er hatte auch schon den allseits bekannten Sinnspruch »Früher war alles besser« auf der Zunge, als er unvermittelt an das damalige Nonplusultra im Bereich der Sporternährung denken musste: »Rotwein – rohes Ei – Traubenzucker – Honig!« Alles miteinander verquirlt und runter damit. Die Mixtur schmeckte wirklich scheußlich und er hasste den widerlichen süßen Geschmack abgrundtief. Doch in den Siebzigern war das Gesöff halt der Renner und man baute darauf, dass es einem mehr Kraft und Ausdauer verlieh. Beim Sport und auf anderen Gebieten körperlicher Ertüchtigung … Jedenfalls hatte er in jener Zeit reichlich Gelegenheit zur Überprüfung gehabt, ob es mit oder ohne einen Unterschied ausmachte. Mit dem Ergebnis, dass er absolut nicht sagen konnte, ob die Plörre ihm wirklich mehr Power verlieh oder alles nur ein Aberglaube war. Ob er sich vielleicht nächste Woche noch mal einen genehmigen soll, um Karin unverhofft zu … verzücken? Schaden kann es ja nicht! Der Alte musste herzhaft lachen.

»Wenn es dieses Mal funktioniert, wer braucht dann schon die blauen Pillen!«, schmunzelte der Greis vergnügt, beim Gedanken an das Schäferstündchen mit seiner Frau. »Andererseits haben sich die Drops bewährt«, verdrängte er die Option der flüssigen Erektionshilfe quasi auf dem Fuße. Denn wie durch Zauberei hatte er sich unverhofft eingebildet, den ekelhaften Geschmack des gepanschten Rotwein-Fusels wieder am Gaumen zu schmecken. »Pfui Teufel noch eins!«, knurrte er und spuckte auf den Muschelsandweg.

In der Tat. Der Alte wusste, gerade was die effektive Ausübung von Sport anbetraf, wovon er redete. Denn bis Mitte zwanzig betrieb er intensiv und erfolgreich den »Modernen Fünfkampf«. Jene Vielseitigkeitssportart, welche die Einzeldisziplinen Pistolenschießen, Degenfechten, Schwimmen, Springreiten und Querfeldein-Laufen beinhaltete. Als talentierter und ehrgeiziger Allrounder stand er aufgrund seiner überragenden Leistungen sogar im bundesdeutschen Kader für die Sommerspiele von Tokio 1964. Und nur arge gesundheitliche Probleme hatten ihm damals die Teilnahme an Olympia vermasselt.

»Nix is esu schläch, dat et net och för jet jood wör!« Doch manchmal hatte, wie der Kölsche Volksmund es so treffend formulierte, auch das Negative etwas Gutes an sich. Denn bei einem Krankenhausaufenthalt lernte er seine spätere Frau kennen, die dort als Krankenschwester arbeitete. Fazit: »Sayonara Nippon!« und »Hallo Karin!« Den Modernen Fünfkampf hatte er schließlich an den sprichwörtlichen Nagel gehangen.

Doch eine Teildisziplin, einmal abgesehen von den regelmäßigen Schießübungen im Rahmen seines Berufes bei der Polizei, behielt er bis dato bei. Und dass trotz immer wieder auftretenden Malessen mit den Achillessehnen: Das Laufen! Zum Ausgleich in seinem mitunter stressigen und nervenaufreibenden Job. Oder als ambitionierter Starter in den zahlreichen Rennen der Region. Unzählige Volksläufe zumeist über zehn Kilometer, viele Halbmarathons und zwei Marathons in Hamburg und Köln hatte er in den vergangenen Jahrzehnten bestritten. Selbst jetzt noch mit über achtzig Jahren, frönte er diesem Ausdauersport. Zwar nur noch zwei bis drei kürzere Einheiten pro Woche. Doch die fünf Kilometer unter dreißig Minuten zu schaffen, dafür reichte seine Energie noch immer.

So war es nicht verwunderlich, ja, vielleicht war es sogar zwangsläufig, dass es in der Historie des agilen Greises zu einigen Berührungspunkten zwischen dessen beruflichen Tätigkeit bei der Kripo und seiner Laufleidenschaft kam beziehungsweise kommen musste. Waren die Meisten davon eher nebensächliche Kinkerlitzchen, gab es doch auch ein paar wenige besondere Einzelfälle, welche sich aufgrund ihrer Dramatik und Intensität tief im Gedächtnis des ehemaligen Kommissars verewigt hatten. Es bedurfte in der Tat nicht viel, um jene Ereignisse wieder ins Bewusstsein des Alten zu rufen. Quasi, als hätte jemand einen imaginären Startschuss gegeben, war, ohne dass er es überhaupt beeinflussen konnte, der Fall, an den er sich vorhin im Rahmen seiner »Musik auf den Ohren«-Grübelei kurz erinnerte hatte, nun wieder in seinen Gedanken vorgeprescht. Zunächst noch etwas lückenhaft, fügten sich bald alle Erinnerungen an die Geschehnisse im Kopf des Greises zu einem kompletten Film zusammen. Nachhaltige Erinnerungen, die ihm zunächst leichtes Kopfschütteln, begleitet von einem dahin gemurmelten »Sessesses, manche Sachen vergesse ich wohl nie«, entlockten.

Eine Wolke schob sich unverschämterweise vor die wärmende Sonne. Da er sofort fröstelte, zog er die Wollmütze weit über seine Ohren. Anschließend gönnte er sich ein frisches Pfefferminzbonbon und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Äußerlich völlig ruhig wirkend, begann es innerlich in ihm zu brodeln. Unweigerlich hatte der Ex-Kripomann das schier unfassbare Los jener Frau, die damals 1986 eine zentrale Rolle in seinen Ermittlungen spielte, vor Augen. Es war wahrlich ein Schicksal, das auf dramatische Art und Weise mit dem Laufsport verwoben war. »Sport ist Mord«, könnte man an dieser Stelle floskelhaft hinausposaunen. Doch würde diese lapidare Aussage nur sehr, sehr oberflächlich die komplette Tragik der Angelegenheit beschreiben.

Denn über zwanzig Jahre später, im Frühling 2017, sorgte eben diese besagte Läuferin in den einschlägigen, regionalen Gazetten noch einmal ordentlich für Schlagzeilen. Es drehte sich in den diversen Artikeln aber mitnichten um erbrachte sportliche Leistungen, wie man vielleicht zunächst hätte vermuten können. Vielmehr ging es in der Sache um Leben und Tod. Wobei die Frau in punkto »Leben« schon eine Weile, wie sich herausgestellt hatte, nicht mehr up to date war. Entsprechend reißerisch kamen die Schlagzeilen in den Zeitungen daher:

»Erschlagen und eingemauert!«

»Ein abscheuliches Verbrechen!«

»Die vor vier Jahren spurlos verschwundene Sabine K. aus Mayen wurde gefunden!«

»Mord! Es war der Ehemann!«

Die Berichterstattung sämtlicher Blätter beruhte ausnahmslos auf den nüchternen Handouts, welche deren Redaktionen von der Pressestelle des Polizei-Präsidiums Koblenz bekommen hatten. So war zu lesen, dass es mehr oder weniger purem Zufall zu verdanken war, dass sich das Rätsel um den Verbleib der 2013 spurlos verschwundenen Sabine K. aus Mayen geklärt habe:

Bei Bauarbeiten in einem der Tunnel des Fahrradweges von Mayen nach Polch wurden ihre sterblichen Überreste und das mutmaßliche Tötungswerkzeug, ein Hammer, gefunden. Die Form und Größe des Hammers passte genau zum Loch im Kopf der Toten. Der Leichenfund war letztlich dem Umstand zu verdanken, da die Kreisverwaltung beabsichtigte, einen weit in den Berg hinführenden alten Materialstollen der ehemaligen Eisenbahnlinie als weiteres High-Light in den angrenzenden Nette-Schiefer-Traumpfad zu integrieren. Mitarbeiter der beauftragten Baufirma hatten den 2013 zugemauerten Materialstollen aufgestemmt und beim Begehen des Schachtes die grausige Entdeckung gemacht. Ohne die merkwürdigen Hintergründe näher zu beleuchten, führte man in den Zeitungsartikeln lediglich noch an, dass es sich beim Täter höchstwahrscheinlich um Thomas K., den Ehemann des Opfers, handelte. Blöd war nur, dass dieser nicht mehr zu den Geschehnissen verhört werden konnte. Denn leichtsinnigerweise war Thomas K., nachdem der Stollen geöffnet wurde, in den Schacht hineingelaufen und von plötzlich herabfallenden Felsbrocken darin erschlagen worden. Am Rande bemerkt … die Kreisverwaltung sah, begründet durch den Deckeneinsturz und dadurch als zu gefährlich eingestuft, von der Öffnung des Stollens für die Allgemeinheit ab, ließ den Eingang nach Abschluss der Ermittlungen wieder zumauern und legte das Vorhaben zu den Akten.

Als der pensionierte Kommissar damals, 2017, in der Presse vom Fund der vermissten Frau las, war sofort ein Gedanke in ihm aufgekeimt. Ein Gedanke, der die düstere Vermutung in sich barg, dass jene Frau bereits eine Rolle in einem seiner weit zurückliegenden Fälle innehatte. Da er aus diesem Grund natürlich mehr Details von den 2017er Ereignissen erhaschen wollte, hatte er kurz überlegt, ob er im Präsidium einmal nachfragen sollte. Doch alleine die Vorstellung irgend so ein besserwisserischer, neunmalkluger Schnösel wäre der ermittelnde Beamte in der Sache gewesen, ließ den Ruheständler sauer aufstoßen. Er hatte wahrlich keinen Bock darauf, sich im geschniegelten Polizei-Jargon erklären zu lassen, wie effektive Ermittlungsarbeit heutzutage funktioniert. Ganz im Gegensatz zu früher, als mit steinzeitlich anmutenden Methoden an den Fällen herumgewerkelt wurde.

»Nein, danke!«, hatte der Ex-Kommissar mürrisch gezischt und das Ansinnen flugs in die Tonne gekloppt. Doch unmittelbar darauf war ihm jemand eingefallen, der prädestinierter bezügliches seines Anliegens hätte kaum sein können: Sein langjähriger Lauffreund Winfried Höttges, der von allen nur »de Winni« genannt wurde. Denn de Winni war ein echtes Lauf-Urgestein in der Leichtathletik-Abteilung des TSV Mayen. Bekannt wie ein bunter Hund war der Endfünfziger schon eine gefühlte Ewigkeit auf sämtlichen Strecken, die der Ausdauersport zu bieten hatte, unterwegs. Und wenn einer wusste, was hinter den Kulissen getuschelt wurde, dann er. Winni hatte sich sehr über den Anruf seines langjährigen Sportskameraden gefreut. Wie sich im angeregten Gespräch der beiden bald herausstellte, war auch Sabine K. schon von Jugend an, das hieß seit Anfang der Achtziger, bis zu ihrem plötzlichen Verschwinden 2013 im selben Verein. Ohne dass der Alte großartig nachbohren gemusst hätte, hielten Winnis lebendige Schilderungen der Geschehnisse, rund um das Schicksal seiner Vereinskameradin, dass was sich der ehemalige Kripomann von der Konsultation versprochen hatte. Und sofern auch nur die Hälfte davon wirklich der Realität entsprach und es sich nicht bloß um reine Spekulationen und Vermutungen handelte, beim Angeln würde man an der Stelle von Anglerlatein sprechen, war es wirklich eine tragische Geschichte.

Und dieses Mal, als das Hirn des Alten nichts weiter zu tun hatte, als in Erinnerungen zu schwelgen, konnte er sich nicht dagegen wehren, noch einmal die ganze Geschichte aufzurollen und in den Gedanken an all die brutalen Details und phantastisch anmutenden Ausführungen Winnis zu versinken …

Ein Satz war dem Greisen all die Jahre im Gedächtnis geblieben. Winni hatte ihm damals scherzhaft, trotz der ganzen Tragik, gesagt: »Mensch, der Thomas, der hatte wohl ’nen richtigen Tunnelblick.«

Tunnelblick

2017 – halb zehn. Es war ein herrlicher Sonntagmorgen im Mai. Bäume und Sträucher standen in voller Blüte. Vögelchen trällerten munter in der Ferne. Hier und da ein wenig Gesummse. Langsam, doch stetig erklomm die wärmende Sonne das blaue wolkenlose Firmament. Ein wahrer Bilderbuchtag bahnte sich an.

Eine Straße am Ortsrand des Eifelstädtchens Mayen … inmitten eines idyllischen Wohngebietes … mit verkehrsberuhigten Verbundsteinpflasterwegen, … und SUVs in den Einfahrten, … auf Hochglanz poliert, … Vorgärten reich an grauen Schottersteinen und getrimmten Buchsbaumsträuchern, platziert wie Zinnsoldaten in Reih und Glied … alles so sauber, alles so gepflegt, kein Staubkorn war zu sehen …

Eine echt spießige und langweilige Ecke … die meiste Zeit …

Thomas K. schnürte sich wie immer Sonntagsmorgens um diese Zeit die Laufschuhe. Der 53-jährige Bahnbeamte ging hinaus und zog die Haustür seines Bungalows hinter sich zu.

Zufrieden mit sich, Gott und der Welt und voller Vorfreude auf die bevorstehende sportliche Betätigung atmete er kräftig durch. Dann steckte er den Haustürschlüssel in die Innentasche seiner Laufshorts und trabte locker los. Während der ersten Schritte fummelte er an seiner neuen digitalen Sport-Armbanduhr herum. GPS, Pulsmesser und was sonst noch hatte das Teil. Trotzdem war Thomas etwas genervt, da sich das Ding trotz aller modernster Technik nicht so komfortabel bedienen ließ wie seine Alte. Insbesondere die Stoppuhr zu starten, war eine Wissenschaft für sich. Doch nach rund 300 Metern hatte er endlich die gewünschte Funktion entdeckt und den Startknopf gedrückt.

Die Strecke, welche heute auf seinem Plan stand, hätte er auch mit verbundenen Augen bewältigen können. Unzählige Male war er sie schon gejoggt. Und sie wurde ihm überhaupt nicht langweilig. Ja, sie war seine absolute Lieblingsrunde. Thomas lief alleine. So wie immer. Denn nur alleine konnte er so richtig abschalten und sich in seine Gedanken vertiefen. Das Gelaber von irgendwelchen Mitläufern brauchte er nun wirklich nicht. Manchmal gesellte sich ein Sportler unterwegs einfach ungefragt zu ihm. Thomas blieb dann zwar freundlich, doch ihm ging das Geschwätz zumeist ziemlich auf den Sack und er war stets froh, wenn er wieder für sich war. Früher hatte er mit dem Laufen absolut nichts am Hut gehabt. Ganz im Gegenteil. Er fand die eintönige Rennerei sterbenslangweilig. Doch vor vier Jahren änderte sich seine Einstellung grundlegend. Dabei war aller Anfang schwer. In den ersten Wochen zwar noch mehr gehend denn laufend, schaffte er es bereits nach wenigen Monaten eine ganze Stunde in gemächlichem Tempo durchzuhalten. Und so steigerte er sich nach und nach. Es lag ihm überhaupt nichts daran, zu rasen oder irgendwelchen Bestzeiten hinterher zu hecheln. Nein. Landschaft und Laufen genießen, das war sein Credo. Ganz im Gegensatz zu Sabine, seiner Frau. Sie brauchte die rasante, ausdauernde Bewegung in der freien Natur fast mehr als regelmäßigen Sex. Schon damals, als sie sich kennenlernten. Und dass war ja nun auch über dreißig Jahre her. Ja, sie musste laufen. Quasi jeden Tag. Nur als Sabine mit ihren beiden Kindern Christian und Christiane schwanger war, unterbrach sie ihre Leidenschaft.

Thomas’ Weg führte zunächst übers holprige Kopfsteinpflaster vorbei am Ostbahnhof. Dann unmittelbar danach weiter auf den Radweg. Der »Maifeld-Radweg«. Eine asphaltierte, recht ebene Piste, Anfang der 1990er über ehemalige Bahntrassen gebaut. So gelangte man per Pedes oder mit dem Rad bequem von Mayen nach Polch. Dort gabelte sich die Strecke in zwei Richtungen auf. Eine ging weiter nach Münstermaifeld, die andere nach Ochtendung. Sonntagsmorgens bei solch’ tollem Wetter war hier für gewöhnlich mächtig Betrieb. Ein echtes Eldorado für Ausdauersportler verschiedenster Couleur. Und so begegneten Thomas nicht nur Fahrradfahrer und Läufer. Nein, auch scharfe Schnitten in sexy Outfits auf Inlinern sowie ältere, bestockte und unbestockte Walking-Damen tummelten sich in der freien Natur. Auch Sabine liebte es sehr, diese Strecke zu laufen.

Nach kurzer Zeit passierte er den Mayener Vorort Hausen, von wo auch seine Frau stammte. Dann folgten einige bauliche Highlights der Strecke. Ein altes Viadukt und bald dahinter zwei mehrere Hundert Meter lange Tunnel. Im Inneren jener voll beleuchteten Tunnel hatte man 2013 alle mannshohen und ebenso breiten Schächte, die sich in einem Abstand von vielleicht fünfzehn Metern in beiden Tunnelseiten befanden, zugemauert und verputzt. Die meisten dieser Schächte mit Rundbogen, waren nur rund einen halben Meter tief in die Wände eingelassen und dienten einst den Eisenbahnern als Unterschlupfmöglichkeit, wenn zum Beispiel bei Gleisarbeiten plötzlich ein Zug angeschnauft kam.