Wer Weiß Was - Silvia Bovenschen - E-Book

Wer Weiß Was E-Book

Silvia Bovenschen

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Beschreibung

Silvia Bovenschen, Autorin des Bestsellers »Älter werden«, hat einen mitreißenden und arglistig ausgedachten Krimi geschrieben, der zum aberwitzigen literarischen Spiel wird. Ein Mord? Professor Urlach liegt auf dem Klo der Universität? Er hat ein Messer im Rücken? Wer hat da ein Motiv? Wer war am Tatort? Sollten diese aufgescheuchten Akademiker das Fragen nicht der Polizei überlassen? Aber warum ist Hauptkommissar Merker so nervös? Stehen nicht alle im Flutlicht des Verdachts? Wird so eine ›nahe‹ Leiche ihr Leben radikal verändern? Ihr Denken, ihr Fühlen? Und: Ist Molly träge? Krüss verrückt? Johanna nymphoman? Wird die Schriftstellerin Carola ihren braven Hochschullehrer mit dem freundlichen Lektor betrügen? Was hat das mit dem Mord zu tun? Und was sind das für merkwürdige Beobachter, die ihre eigenen Ziele verfolgen? Weiß Kurt das? Aber wer oder was ist Kurt?

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Seitenzahl: 382

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Silvia Bovenschen

Wer Weiß Was

Eine deutliche Mordgeschichte

FISCHER E-Books

Inhalt

ZitatDie FigurenDer MörderMittwoch 8 Uhr 11 - Wohnung von Bruno und Carola SchauerMittwoch 9 Uhr 08 - UniversitätMittwoch 12 Uhr 11 - UniversitätMittwoch 12 Uhr 27 - VerlagMittwoch 12 Uhr 30 - UniversitätMittwoch 15 Uhr 52 - Die Wohnung von Bruno und Carola SchauerIrgendwann IrgendwoMittwoch 9 Uhr 32 - Irmas HausMittwoch 10 Uhr 09 - Irmas HausMittwoch 10 Uhr 37 - Irmas HausMittwoch 11 Uhr 02 - Villa Engadin, Wohnung von Norman KrüssMittwoch 11 Uhr 47 - Villa EngadinMittwoch 13 Uhr 18 - Eine WaldlichtungMittwoch 12 Uhr 15 - RestaurantMittwoch 11 Uhr 10 - UniversitätMittwoch 14 Uhr 56 - Landhaus Florian KuhnMittwoch 20 Uhr 15 - Irmas HausIrgendwann IrgendwoDonnerstag 9 Uhr - KommissariatDonnerstag 10 Uhr 04 - KommissariatDonnerstag 11 Uhr 12 - KommissariatDonnerstag 12 Uhr 10 - KommissariatDonnerstag 12 Uhr 22 - KommissariatDonnerstag 13 Uhr 02 - KommissariatDonnerstag 14 Uhr 10 - Wohnung MerkerIrgendwann IrgendwoDonnerstag 14 Uhr 05 - Straßencafé InnenstadtDonnerstag 12 Uhr 35 - Dienstwagen der PolizeiDonnerstag 12 Uhr 46 - RestaurantDonnerstag 15 Uhr 20 - Wohnung SchauerZur gleichen Zeit, Donnerstag ca. 15 Uhr - UniversitätDonnerstag 17 Uhr 08 - Café am SeeDonnerstag 15 Uhr - KommissariatDonnerstag 17 Uhr 13 - Villa EngadinDonnerstag 22 Uhr 11 - Wohnung SchauerDonnerstagabend 20 Uhr 14 - Wohnung MerkerDonnerstag 21 Uhr 28 - Irmas HausDonnerstag 21 Uhr 43 - Irmas HausDonnerstag 22 Uhr 15 - Irmas HausIrgendwo IrgendwannFreitag 9 Uhr 02 - KommissariatFreitag 10 Uhr 25 - UniversitätFreitag 10 Uhr 48 - UniversitätFreitag 11 Uhr 20 - Wohnung SchauerFreitag 12 Uhr 08 - FriseursalonFreitag 12 Uhr 23 - KommissariatFreitag 13 Uhr 20 - UniversitätFreitag 15 Uhr 12 - Irmas HausIrgendwo Irgendwann3 Monate später

»Wer Romans list, der list Lügen«

(Gottfried Heidegger, 1698)

Die Figuren

Carola Schauer (41), Schriftstellerin, bekannt unter dem Namen Carola Holm, verheiratet mit:

Bruno Schauer (49), Prof. Dr., Literaturwissenschaftler

Irmgard von Seefeld (79), genannt Irma, Mutter von Pascal von Seefeld

Laura Rudolph (33), geschäftsführende Sekretärin des Instituts

Helge Baumann (22), Student

Miriam Mahenke (23), Studentin

Irene Nolte (24), studentische Hilfskraft

Johanna Schwarzenbach (28), Doktorandin

Simon Menzel (35), Bibliothekar

Ulf Urlach (46), Prof. Dr., Sprachwissenschaftler für Literatur und Sprache

Freidank Hofmann (44), Lektor

Gerda Neuwirth (33), Sekretärin

Adelheid Krüss (41), genannt Molly, examinierte Krankenschwester, z.Z. ohne Anstellung, liiert mit:

Pascal von Seefeld (42), Privatgelehrter (von eigenen Gnaden)

Frederike Kreuzer (40), Journalistin

Dr. Norman Krüss (54), vormals akademischer Oberrat, jetzt erwerbsunfähig

Florian Kuhn (53), Bestseller-Autor (populäres Sachbuch) und Pferdezüchter

Isolde Schrempel (47), Leiterin der Villa Engadin (privates Alten- und Pflegeheim)

Karl Heinz Neuhaus (24), genannt Charly, Aushilfsverkäufer

Irma-Freundin A (70–80), Witwe

Irma-Freundin B (70–80), Witwe

Erwin Merker (47), Erster Kriminalhauptkommissar

Leonie Wagner (62), Kriminalhauptkommissarin

Jan Schwartz (41), Kriminaloberkommissar

Daniel Förster (38), Kriminalkommissar

Elise Berg (27), Kriminalkommissaranwärterin

Gisela Merker (39), Grundschullehrerin

Martina Hauschildt (47), Verwaltungsangestellte

Agnes Brunner (27), Pflegerin

Massimo (33), Friseur

Vera (17), Auszubildende

 

Ertzuj (keine weiteren Informationen)

Iopö (keine weiteren Informationen)

Jkln (keine weiteren Informationen)

Kurt (keine weiteren Informationen)

 

Bella (ca. 7 Monate), Hund

Olga (Alter unbekannt), Dohle

Der Mörder

Jetzt bin ich der Mörder, dachte der Mörder.

Jetzt muß etwas geschehen in mir.

Der Mörder lauerte in sich hinein.

Nichts geschah.

Der Mörder versuchte es erneut.

Nichts.

Aber das ist doch ein Witz, dachte der Mörder, da hatte man ein schlechtes Gewissen, ein Leben lang, wenn man den Geburtstag von Onkel und Tante vergaß, und nun?

Weit und breit kein Gewissen!

Das muß doch da sein.

Das muß doch wachen.

Das muß sich doch melden.

Das muß böse Bilder liefern in traumschwere Nächte und ruhelose Tage hinein.

Der Mörder hatte wunderbar tief und traumlos geschlafen.

Wie immer.

Ein Mittagsschlaf. Ein Stündchen.

Wie immer.

Und er war erfrischt erwacht.

Wie immer.

Der Mörder dachte: Vielleicht wurde man ja zum Mörder spürbar erst dann, wenn eine Verwandlung stattfände:

Ein Mal auf der Stirn, die menschlichen Züge zur Fratze entstellt, eine Hand zur Klaue gekrümmt.

Der Mörder dachte: Vielleicht geschieht etwas in mir erst dann, wenn etwas mit mir geschieht. Dann, wenn man durch andere als Mörder erkannt und benannt und verbannt würde.

Eine Mordsbestätigung.

Wenn sie sagten: Du bist ein Mörder. Ungeheures tatest du. Und Ungeheures wird dir widerfahren.

Warum denke ich plötzlich so geschwollen?, dachte der Mörder. Dachte so ein Mörder? Gehört geschwollenes Denken zum Mördertum?

Wohl kaum.

Und abermals lauerte der Mörder in sich hinein und wartete auf seine Wandlung zum Ungeheuer, sein Reifen ins Mörderbewußtsein.

Ja, vielleicht mußte tatsächlich erst von außen etwas geschehen. Ein gestreckter Zeigefinger. Ein peinliches Verhör. Eine Verhaftung zum Beispiel.

Das aber würde man zu verhindern wissen.

 

Das alles dachte der Mörder – Oder dachte es eine Mörderin? Hatte da jemand die feministische Sprachreform nicht vollzogen?

 

Wer weiß das?

Mittwoch 8 Uhr 11Wohnung von Bruno und Carola Schauer

Das letzte Kapitel

Die Schriftstellerin Carola Schauer (alias Carola Holm) las das soeben Geschriebene noch einmal durch, gab einen Laut von sich, der wie ein kleines Knurren klang (der aber vielleicht nur ein rauhes Räuspern war), speicherte ab und führte den Cursor auf das Feld ›Start‹, um in einem weiteren Schritt den Computer ausschalten zu können. Diese Befehlsfolge war ihr immer schon unsinnig erschienen.

Sie wandte sich zu Bruno, der hastig und unverhältnismäßig derb (brutal!) diverse Unterlagen in seine geräumige Aktentasche stopfte. Eine Designertasche aus dickem, gleichwohl geschmeidigem, leicht genarbtem Leder. (Teuer!) Auf der Metallschließe befand sich das Label des italienischen Herstellers. (Aufdringlich!) Ein Weihnachtsgeschenk. Das Derbe seiner Bewegung entsprach nicht dem Bild, das alle von ihm hatten und das sie (so war sein Wunsch) von ihm haben sollten.

Er haßte diese Tasche. Er quälte diese Tasche. Er schmetterte sie gegen Wände und Tischbeine, marterte sie mit Hand und Fuß, stets bemüht um ihre vorzeitige Alterung. Sie aber widerstand zäh seiner Absicht und bewahrte ihre Pracht.

»Cognacfarben«, hatte Carola bei der Übergabe gesagt. Was für ein Wort! (Ekel!)

Carola sprach auch jetzt in seine destruktive Bemühung hinein. Vermutlich hatte sie das schon eine kleine Weile getan, er aber hatte, hervorgerufen durch einen jähen Tempo- oder Klangwechsel (sagen wir: irgendeine Steigerung der Dringlichkeit in ihrem Redegeräusch), erst jetzt das Gefühl, daß er da doch einmal hinhören sollte.

»… und dann stell dir bitte vor«, sagte Carola gerade, »du wärest von Marsmenschen vorübergehend entführt worden, und du wärest erschüttert und verstört und vollends durchdrungen, ja, so will ich es sagen: Du wärest durchdrungen, von diesem horriblen und außergewöhnlichen Erlebnis – und das ist eine wahrhaft matte (stumpfe, trübe) Bezeichnung für diese Erfahrung, die mit keiner anderen, die du je machtest, vergleichbar wäre –, also du wärest aufgewühlt (erschüttert, zerrüttet) bis ins Mark und du würdest nun deine Freunde mit einem erregten Erzählschwall überfallen, und da du keine angemessenen Worte für diese Sonderbarkeit hättest (wie könnte er auch), wähltest du alle, wirklich alle Wörter, die dir in den Sinn kämen und denen du eine annähernde Eignung für die Beschreibung dieser exorbitanten Erfahrung zutrautest, und müßtest durch dein eigenes Gehaspel hindurch schmerzhaft erkennen: Niemand wird dir glauben. Und dieser Unglaube wäre dir auch noch plausibel! (Na klar.) Das war ja zu erwarten. Das hättest du dir schon denken können. Und du hättest deshalb ganz automatisch vorgebeugt, hättest noch vor deinem verbalen Überfall gesagt, daß du das Folgende an ihrer Stelle auch nicht glaubtest, daß du aber entgegen ihrer vermutlichen Vermutung bei vollem, klaren Verstande seist …«

Bruno fiel ihr ungeduldig ins Wort:

»Wozu brauchst du diese schwachsinnige Überlegung? Warum soll ich mir diesen amerikanischen Hausfrauenhorror vorstellen? Mir reicht schon die Vorstellung, daß es mir auch heute wieder nicht gelingen wird, den Großteil meiner Studenten in die Goethezeit zu entführen, und glaube mir, das wird mir jeder glauben.«

Er hatte nicht den Eindruck, daß Carola seiner Ungeduld Beachtung schenkte. Er ließ das Schloß (Messing handpoliert) der ungeliebten Tasche laut zuschnappen. Vielleicht hoffte er insgeheim, daß das scharfe metallische Verschlußgeräusch auch Carola dem Abschluß ihrer Rede näherbringen würde. Aber Carola sprach schon hastig weiter:

»Es geht gar nicht so sehr darum, ob gerade du – ausgerechnet du! – mir etwas Unwahrscheinliches glauben würdest – nein, nein, ich bin nicht die Marquise von O. –, aber die Einsamkeit, in der du dich in so einer Situation befändest, die interessiert mich. Deine Freunde würden dich fragen, ob du irgend etwas geraucht oder gespritzt oder geschluckt hättest – sie würden mit beschämender Begütigung auf dich einreden, von Halluzinationen sprechen oder von psychedelischen Entgleisungen oder von nervlichen Überlastungen, sie würden diesen rationalistischen Erklärungskram aufbieten, der das Vernommene wieder in die vermeintlich erkannte Welt rücken sollte, in die Normzonen des Vorstellbaren, kurz gesagt: Sie würden alles tun, um dich in die Verstehbarkeit und sich selbst aus der Verlegenheit zu bringen.

Natürlich gäbe es auch Leute, die dir glaubten, aber diese Leute, na sagen wir ruhig: diese Spinner, die deine Erzählung nur allzu gerne für höchst wahrscheinlich hielten und die jetzt anrückten wie die Kakerlaken in eine soeben verdunkelte Altenheimküche, also diese Spinner, die zukünftig in deinen Augen nicht länger als Spinner gelten dürften, gehörten zu einer fundamental anderen Sorte. Einer gewöhnungsbedürftigen Sorte. Du müßtest dich entscheiden, grundsätzlich entscheiden, zu wem du fürderhin sprechen, von wem du zukünftig vernommen werden und gemocht werden wolltest. Du müßtest gegebenenfalls dein gesamtes Freundschaftspersonal radikal austauschen. Du müßtest …«

»Kannst du mal sagen, worum es überhaupt die ganze Zeit geht? Ich bin wirklich in Eile«, unterbrach Bruno (unwirsch) ihre Wortkaskade.

Carola sank ein wenig (verzagt? kleinmütig?) in sich zusammen und nahm Druck aus ihrer Rede:

»Es ist die Einsamkeit des allwissenden Erzählers. Du bist wissend und zugleich als Wissender stets in der Gefahr der Unglaubwürdigkeit …«

Sie machte eine kurze Pause, betrachtete ihn prüfend (sah einen Mißmutigen), und fuhr, von dem eigenen Vortrag getrieben, fort:

»… gleichzeitig jedoch, zu dieser Überzeugung bin ich gekommen, ist jede andere Erzählhaltung reine Heuchelei, eine Unverschämtheit einer unterschätzten Leserschaft gegenüber. Ob es um den Einsatz eines Ich-Erzählers oder das personale Erzählen geht: Was immer auch fingiert wird, immer wird fingiert. Das ist doch klar. Natürlich muß ein Autor alles wissen, er kann ansonsten gar nicht schreiben. Er ist der Diktator. Er hat die Macht. Er verfügt.« (Aber doch nur in dem Maße, in dem er über sich selbst verfügt.)

Sie nahm eine Haarsträhne, die ihr bei einer heftigen Kopfbewegung über das Auge gefallen war, aus dem Gesicht und versuchte sie (erfolglos), zurück in die Frisur zu ordnen.

Warum hatte sie dieses Gespräch angezettelt? Sie wußte es nicht.

Sie nahm die Rede trotzig wieder auf.

»Wenn ich nicht in das Fantasy-Sciencefiction-Reich umsiedeln will, muß ich immer dieses elende (hinderliche) Wahrscheinlichkeitsgebot beachten …«

Bruno stöhnte.

»Wirr«, sagte er, »wirr«.

Er stand jetzt vor ihr, wie ein Reisender, die Aktentasche ausgehbereit in der Hand.

Und nochmals sagte er:

»Das ist wirr, meine Liebe«, und dann sagte er in ihre finstere Miene hinein:

»Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein«, und: »Willst du hier ein erzähltheoretisches Proseminar etablieren?«

Bruno wurde jetzt sogar etwas süffisant:

»Schon vergessen? Du bist mit einem Literaturwissenschaftler verheiratet, und das war ich schon, als wir uns kennengelernt haben, und werde es wohl bleiben, wenn mich die Marsmenschen nicht entführen.«

Er lachte flach über seinen flachen Witz und fügte hinzu:

»Bislang bist du bei deiner Schreiberei doch erfolgreich (kleine Pause), erstaunlich erfolgreich (kleine Pause) ausgekommen ohne meine erzähltheoretischen Zusprüche, warst extrem gelangweilt, wenn nicht sogar genervt, ja genervt!, wenn ich da mal beratend ausholte.«

Er war nicht wirklich in Eile, aber er sehnte sich nach der Überschaubarkeit seines universitären Arbeitszimmers (wollte weg, einfach nur weg von hier und schnell dorthin), aber die Resterregung, die er immer noch an ihr wahrnehmen konnte, ließ ihn etwas zögern.

Doch dann wurde er fieser, als er eigentlich hatte sein wollen. Etwas in ihm trieb ihn, sie zu ärgern.

»Die aristotelische Hirschkuh«, sagte er.

Carola sah ihn verständnislos an, fragte aber nicht nach. Nein, die Freude einer wissensarmen Nachfrage wollte sie ihm nicht gönnen. Sie fragte statt dessen spitz:

»Würdest du gerne ein Buch lesen, in dem ein stummer Diener zwar nicht die wichtigste, aber doch eine gewichtige Rolle einnähme?«

Damit hatte sie seine Aufmerksamkeitsbereitschaft wieder verspielt.

»Nein«, sagte er schon in der Tür und »Sonst noch Probleme?«

»Ja«, sagte sie, »ich kann meinen Helden nicht mehr leiden. Ich habe ihn in die Scheiße geschrieben.«

»Dann bring ihn doch um«, sagte Bruno kalt und verließ die Wohnung.

»Gute Idee«, sagte Carola ebenso kalt in den leeren Raum hinein.

 

(Ja, Töten ist in Texten leicht.)

Mittwoch 9 Uhr 08Universität

Der Tumult

Bruno traf früh, viel zu früh, an seinem Arbeitsplatz ein. Seinem Arbeitsplatz? Zu dieser Vokabel hätte er für die Räume seines Broterwerbs niemals gefunden. »Ich gehe in die Universität« (selten) oder »Ich gehe ins Institut«, pflegte er (meistens) zu sagen. Die Wahrheit: Er hatte viel Zeit. Seine Vorlesung würde erst um 10 Uhr 15 beginnen.

An diesem sonnigen Frühsommertag (dessen Schönheit er nicht wahrnahm) auf der staufreien Fahrt zur Universität hatten alle Ampeln ein freundliches Grün gezeigt. Es war ihm wie ein Wunder erschienen. (Ein Wunder? Aber das ist doch übertrieben!)

 

Als Bruno die schwere gläserne Eingangstür des vierstöckigen Neubaus aufschloß und dabei, noch bevor er den unteren Flur betrat, absichtslos hochschaute zu den großen Fenstern des zweiten Stocks, in dem er sein Büro wußte, glaubte er aus den Augenwinkeln schemenhaft und verwischt zwei oder drei dunkle Gestalten in einer geduckten Fluchtbewegung wahrzunehmen. Er ging dieser flüchtigen Fluchtwahrnehmung nicht nach, bemühte sich nicht um eine Scharfstellung, ließ Irritation nicht aufkommen und versenkte sie, die schon verblassende Erscheinung, in den toten Gedächtniswinkel für belanglose Sinnestäuschungen.

Als Bruno, den Fahrstuhl verschmähend, mit kräftigem Schritt die Treppe hinaufstieg, war im ganzen Gebäude kein Laut außer dem quietschenden Geräusch seiner Gummisohlen zu hören.

Als Bruno kurz darauf, in der zweiten Etage angekommen, die Tür zu dem Gang aufschloß, von dem die Räume seines Instituts abgingen und an dessen zur Straße gelegener Fensterfront er die huschende Bewegung hätte wahrgenommen haben können und auf dem Weg zu seinem Büro einen kurzen Blick in das Institutssekretariat warf, fand er den Stuhl der Sekretärin verwaist. Die Tür zu diesem Raum war einladend geöffnet für den studentischen Publikumsverkehr, der jedoch aller Erfahrung nach erst um kurz vor 10 Uhr einsetzen würde. Also mußte die Sekretärin Laura Rudolph schon anwesend sein. Zudem war der Computer auf ihrem Arbeitstisch eingeschaltet und zeigte das Bild einer Haushaltsaufstellung für die kommende Direktoriumssitzung, und neben dem Computer lag ihre Handtasche. Sie sollte nicht so unachtsam sein, dachte er. Es treibt sich allerlei Gesindel herum, auch in unseren akademischen Gefilden (hochtrabendes Denken!). ›Gesindel‹, das dachte er auch noch, ›Gesindel‹ ist ein vergessenes Wort aus vergangener Zeit. Ein Wort, dem mit den Jahren eine gewisse Gemütlichkeit zugewachsen war. Ausgerechnet das Wort ›Gesindel‹ brachte ihn der friedlichen Stimmung näher, in der er hatte ankommen wollen.

Als Bruno (endlich) sein Arbeitszimmer betrat, hatte er (na, so eine Ironie) das Gefühl, eine Welt der Harmonie erreicht zu haben. Er schloß die Tür, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Türblatt mit ausgestreckten leicht abgewinkelten Armen, als wolle er sich für einen Messerwerfer positionieren (sehr melodramatisch!), und atmete die Stille. Um ihn herum: die gute Ruhe des Gewohnten, in ihm selbst: ein sich langsam ausbreitender Friede.

Die geordneten Bücherwände, der große, aufgeräumte Schreibtisch und der kleine Besprechungstisch mit den vier niedrigen Klappstühlen: Ein Gelehrsamkeits-Kokon. Alles wie immer, wie an jedem Tag. Wohltätige Vorhersehbarkeit.

Er setzte seine Tasche ausnahmsweise rücksichtsvoll ab, ließ sich in seinen Schreibtischstuhl sinken und genoß die sanft wippende Bewegung, mit der dessen Rückenlehne auf die jähe Belastung reagierte, drehte sich ein wenig hin und her, hörte wieder auf mit dem Drehen, streckte die langen Beine aus, faltete die Hände im Nacken und schloß die Augen. Er atmete tief und regelmäßig. (Puls 75.)

Und so saß er eine gute Weile.

Die leise klopfenden Kopfschmerzen, die ihn den ganzen Morgen gequält hatten (vorübergehend gesteigert unter der Einwirkung von Carolas Wortschwall), ebbten jetzt ab.

Er bereute, auf Irma von Seefelds Fest am Vorabend zuviel (3 ½ Gläser) Weißwein getrunken zu haben. Zuviel, jedenfalls für seine Verhältnisse. Bruno liebte das Angemessene. Hier, in diesem Raum, war es zu finden. Die ihn umstehenden Bücher waren lange schon geschrieben, waren von der Nachwelt geheiligt und friedlich eingerückt in die Sphäre der Unantastbarkeit, keine aktuellen Erzählnöte. Die meisten seit über zweihundert Jahren zwar für interpretatorischen Feinsinn stets verfügbar, jedoch, was ihre Existenzberechtigung betraf, absolut unangefochten. Überstandene Sorgen.

Er ließ sich tiefer noch gleiten in das Behagen eines Statthalters ehrwürdiger Traditionen. Als er die Augen wieder aufschlug, war ihm (und das nicht zum ersten Mal), als hätten sich die Bücher rings um ihn dicht an dicht formiert zu einer persönlichen Schutzmacht gegen alle Übel dieser Welt.

Und sie waren es auch, die Bücher, mit ihren dunkel patinierten Lederrücken, die dem unschönen Raum eine museale Milde verliehen.

Sein gleichfalls milder Blick ruhte noch für einem Moment auf dem Stapel mit den Sonderdrucken seiner letzten Publikation. Seine Hilfskraft Frau Irene Nolte hatte sie noch immer nicht eingetütet und die hierfür aktualisierte Adressenliste abarbeitend an Kollegen, Freunde und (wichtig!) Feinde verschickt. Aber nicht einmal diese Nachlässigkeit konnte Professor Dr. Bruno Schauer zu dieser Stunde in die Stirnrunzelei treiben. Ein im kleinen Kreis des Fachpublikums hochangesehenes Periodikum hatte einen Vortrag von ihm abgedruckt. Er unterdrückte das (ungut) im Hintergrund lauernde Wissen, daß der federführende Redakteur ein ehemaliger Schüler war.

In den nächsten Tagen würde er mit einem neuen Buchprojekt beginnen, das in seinem Kopf und seinem roten Notizbuch schon verheißungsvolle Formen angenommen hatte.

Ausgerechnet in diesem schönen Moment, in dem zur gesteigerten Friedlichkeit noch die Zuversicht kam, brach der Tumult auf dem Gang aus. (Ein barbarischer Krach.) Empörend! Eine Störung, die ihn zunächst nur ärgerte, nicht jedoch beunruhigte. (Der Herr Professor war nicht willens, dem Beachtung zu schenken.)

Aber ein solcher Lärm zu dieser Uhrzeit?

Er zog die ausgestreckten Beine heran, er richtete den Oberkörper auf, er sah auf seine Armbanduhr: 9 Uhr 36. Lange vor Vorlesungsbeginn. Bruno konnte es nicht länger vor sich verbergen: Dieser Tumult war so verschieden von aller Unruhe, die er in fünfzehnjähriger Dienstzeit kennenlernen mußte, daß er nun doch aufstand und schließlich, als das Geräusch – ein Gemisch aus erschreckten Ausrufen und trampelnden Schritten – zunehmend anschwoll, sich genötigt sah, die Lärmquelle ausfindig zu machen.

Als Bruno die Tür öffnete, schlug ihm der Krach mit zunehmend schrillen Beimischungen vehement entgegen – er glaubte ihn fast körperlich zu spüren –, und als er auf den Gang trat, lief mit voller Wucht die Institutssekretärin Laura Rudolph (1,72 m, 63 kg) in ihn hinein. Und diesen Aufprall spürte er wirklich körperlich.

Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, brüllte er (ja, erstaunlich, er brüllte) in den lärmenden Aufruhr hinein:

»Was zum Teufel ist hier los?«

Erst jetzt nahm er wahr, daß das Gesicht der Sekretärin Laura Rudolph leichenblaß (leichenblaß?) war, und er nahm zudem ihren verschreckten Blick wahr.

Viele redeten jetzt gleichzeitig auf ihn ein. (Viele?) Er schaute sich um und sah: Zwei Studenten, deren Gesichter er zwar kannte, deren Namen er jedoch nicht hätte nennen können (Helge Baumann und Miriam Mahenke), seine Hilfskraft Irene Nolte, die Doktorandin Johanna Schwarzenbach, den Bibliothekar Simon Menzel und die Institutssekretärin Laura Rudolph. Sie, die einzige, die nicht auf ihn einredete, hatte sich auf einen (irregulär!) auf dem Gang herumstehenden Stuhl sinken lassen und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Aus dem Gebrüll der anderen gipfelten einzelne Worte hervor.

»Tot.« »Klo.« »Leiche.«

Noch lange Zeit, wenn er an diese Szene zurückdachte, bildete sich als erstes diese Wortreihe: Tot. Klo. Leiche.

Er beugte sich zu Laura Rudolph hinunter, brachte wegen des lauten Stimmengewirrs seinen Mund dicht an ihr Ohr und sagte:

»Ich frage Sie: Was ist geschehen?«

Er sprach betont ruhig und deutlich. Sie hatte sich etwas gefaßt und antwortete:

»Ich war, als ich in Sie hineinlief, gerade auf dem Weg ins Geschäftszimmer, zum Telefon, um einen Arzt und – ja natürlich – die Polizei zu rufen.«

Sie machte eine Pause, zitterte ein wenig, es war wie das Nachbeben eines Weinkrampfs, dann holte sie tief Luft und sagte nun erheblich ruhiger und sehr klar:

»Mord! Auf dem Personalklo liegt die Leiche von Professor Ulf Urlach. Ich glaube jedenfalls, daß es Professor Ulf Urlach ist, ich habe sein Gesicht nicht gesehen, er liegt auf dem Bauch.«

»Wieso Mord? Wieso Leiche? Wieso Urlach?« rief Bruno, fügte dem aber, selbst in dieser Situation durch sein stammelndes Sprechen geniert, eilig hinzu: »Was bringt Sie zu der Annahme, daß da ein Mord geschehen sei?«

Das Problem einer ordentlichen Satzbildung plagte Laura Rudolph (verständlicherweise) in dieser Situation nicht.

»Das Messer«, sagte sie, und »die Blutlache.«

»Und woher wollen Sie wissen, daß es sich um Urlach handeln könnte?« fragte Bruno und fügte schnell (unangemessen gravitätisch) hinzu, bevor sie noch antworten konnte: »Ich sollte da wohl selbst einmal nachsehen.«

Alles an ihm drückte aus, daß er jetzt das ›Heft der Handlung‹ (ja, so war er, auch im Denken des täglichen Gebrauchs) ergreifen wollte …

Aber die Sekretärin ging nicht auf ihn ein. Sie stand resolut auf, strich ihren Rock glatt und sagte (zielstrebig) mit fester Stimme:

»Ich habe die Zwischentür zum Gang und auch die Tür zur Personaltoilette abgeschlossen und werde unverzüglich die Polizei und den Arzt anrufen.«

Mit diesen Worten und ohne ihn anzuschauen ging sie mit energischen Schritten auf das Sekretariat zu. Bruno trabte ( … beschämt?) hinter ihr her. Ihm folgte keilförmig die gesamte Flurversammlung.

Dort angekommen, setzte sich Professor Bruno Schauer auf einen niedrigen Stuhl und mußte bemerken, daß, während Laura Rudolph die neu Hinzukommenden aus dem Raum drängte, die Türe schloß und dann am Telefon irgend jemandem (der Polizei!) präzise Angaben machte, seine Kopfschmerzen zurückkehrten und er argwöhnte, daß das Kommende ihm eine passive Rolle zuweisen würde.

 

(Und so war es dann auch.)

Mittwoch 12 Uhr 11Universität

Bruno Schauer – erste Befragung

Sie sind?

Bruno Schauer ist mein Name. Professor Dr. Bruno Schauer.

Sie arbeiten an diesem Institut?

Ja.

Dies ist Ihr Büro?

Ja.

Was können Sie uns zum Tod von Professor Dr. Ulf Urlach sagen?

Nichts … Dann ist er also wirklich …?

Ja, Professor Ulf Urlach ist tot.

Ermordet?

Wie kommen Sie darauf?

Er hat ein Messer im Rücken. Das spricht doch wohl dafür.

Ja, das sehen wir auch so. Woher wissen Sie das mit dem Messer?

Frau Rudolph erwähnte es, als ich im Flur mit ihr zusammenstieß.

Können wir der Reihe nach vorgehen? Wann trafen Sie hier ein?

Ich betrat etwa um 9 Uhr 15 mein Büro.

Moment, Moment nicht so schnell. War die Gebäudetür abgeschlossen?

Ja.

War die Tür zum Gang abgeschlossen?

Ja.

Haben Sie im Treppenhaus oder auf dem Weg zu Ihrem Büro etwas Ungewöhnliches bemerkt?

Nein, nein, eigentlich nicht.

Sind Sie jemandem im Treppenhaus oder auf dem Gang begegnet?

Nein. Keiner Menschenseele.

Haben Sie Ihr Büro zwischenzeitlich einmal verlassen?

Nein, ich habe die ganze Zeit an meiner Vorlesung gearbeitet und bin erst wieder auf den Gang getreten, als ich die ungebührliche Unruhe dort wahrnahm.

Die Uhrzeit?

Die kann ich Ihnen genau sagen, weil ich auf meine Armbanduhr gesehen habe. Um 9 Uhr 36. Wissen Sie, normalerweise ist es um diese Uhrzeit noch sehr ruhig, weil die Lehrveranstaltungen in der Regel erst um 10 Uhr 15 beginnen und …

In welchem Verhältnis standen Sie zu Professor Urlach?

Er ist – er war – ein angesehener Kollege.

Ein Freund?

Nicht wirklich.

Was soll das heißen?

Nun ja, wir hatten ein gutes kollegiales Verhältnis, wir telefonierten gelegentlich, aßen zuweilen mittags gemeinsam mit anderen Kollegen in einem kleinen Restaurant …

Was wissen Sie über sein Privatleben?

Nichts. Gar nichts. Wir tauschten uns über Privates nicht aus. Trafen uns – das allerdings eher selten – zu kleinen Geselligkeiten … Nein, er war kein Freund, man könnte bei einem weiten Verständnis jedoch sagen, daß …

Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?

Gestern abend. Wir waren beide Gäste bei gemeinsamen Bekannten – feierten ein kleines Fest, eine Party …

Können Sie sich erinnern, wann er dieses Fest verlassen hat?

Nein, ich habe nicht darauf geachtet. Ich glaube, er war noch dort, als ich ging.

Wann sind Sie gegangen?

Ungefähr um 23 Uhr 30.

Waren Sie allein auf dieser Party?

Nein, in Begleitung meiner Frau.

Haben Sie die Party gemeinsam mit Ihrer Frau verlassen?

Ja.

In welchem Verhältnis standen Sie und Professor Urlach beruflich?

Wie meinen Sie das?

Waren Sie Konkurrenten?

Ich verstehe Ihre Frage nicht.

Standen Sie sich in irgendeiner Weise im Wege? Zum Beispiel, was die Karriere betrifft oder die Zuteilung irgendwelcher Gelder?

Nein. Überhaupt nicht. Wir sind beide Lehrstuhlinhaber.

??? (mimisch)

C 4.

???

Das ist eine akademische Besoldungsgruppe. Die Bürokratie hat da jetzt wieder umstrukturiert und neue Bezeichnungen eingeführt … Jedenfalls: Wir hatten beide das oberste Plateau (!) akademischer Aufstiegsmöglichkeiten erreicht und auch im Bemühen um Drittmittel wären wir uns niemals ins Gehege gekommen.

???

Er war Sprachwissenschaftler. Kognitive Sprachwissenschaft.

???

Ich bin Literaturwissenschaftler, zuständig für das achtzehnte Jahrhundert und die Aufklärung …

Da ist ein gravierender Unterschied zwischen Ihrem und Professor Urlachs Arbeitsfeld?

Ja, allerdings. Es gibt nur wenig Berührungspunkte. Eigentlich keine, weil …

Nun ja. Ich glaube, das können wir im Moment noch vernachlässigen. Vielleicht kommen wir später einmal darauf zurück. Können Sie sich irgendein anderes Motiv vorstellen?

Mich betreffend??

Generell gefragt.

Nein.

Ist Ihnen sonst irgend etwas Verdächtiges aufgefallen?

Nein.

Wissen Sie, ob er Feinde hatte?

Nein.

Herr Professor Schauer, wir danken Ihnen für Ihre bereitwilligen Auskünfte. Bitte kommen Sie morgen zwischen 8 und 10 Uhr in unsere Dienstelle – ich habe Ihnen unsere Karte hier auf den Tisch gelegt.

Auf Wiedersehen.

Auf Wiedersehen.

Mittwoch 12 Uhr 27Verlag

Das Experiment

Zur gleichen Stunde, als Bruno in seinem universitären Arbeitszimmer befragt wurde und sich unwohl fühlte, saß Carola im Arbeitszimmer ihres Lektors Freidank Hofmann und fühlte sich wohl.

(Jedenfalls anfänglich.)

Sie hatte ihn angerufen und gesagt, daß sie in der Nähe des Verlags ganz zufällig etwas zu erledigen habe und ob es ihm gefallen könnte, wenn sie auf einen Sprung zu ihm käme.

Es hatte ihm gefallen. Sehr sogar.

Sie hatte das mit der Zufälligkeit leichthin gesagt. (Gesichtswahrung.) Er hatte das natürlich durchschaut, und sie hatte gewußt, daß er das natürlich durchschauen würde. Aber so war das Spiel. (Ein altes Spiel.)

Als sie im Autorückspiegel ihr (etwas müdes) Gesicht noch einmal prüfend betrachtet und den Lippenstift nachgezogen hatte, war ihr der Gedanke gekommen, daß dieses Spiel eigentlich auch mal ein Ende haben könnte (man war nicht mehr zwanzig): Es würde ja doch geschehen, was allen Anzeichen nach geschehen mußte. Das morgendliche Gespräch mit Bruno hatte ihre ohnehin unerheblichen Bedenken nicht gerade vergrößert.

»Wie geht es dir?« fragte sie, als er sie in sein Zimmer bat. Freidank führte die Fingerspitzen beider Hände an seine Schläfen, lächelte dabei matt, aber liebevoll und sagte:

»Na ja, geht so.«

Sie setzten sich, die Autorin und der Lektor, zwischen ihnen befand sich sein massiver Schreibtisch.

»Zuviel Wein, gestern abend«, sagte Carola – das war keine Frage – und das komplizenhafte Lachen – dieses etwas rauhe Lachen, das er liebte – mit dem sie das sagte, signalisierte, daß es ihr nicht sehr viel besser erging.

Die Sekretärin, deren Namen sie sich nicht merken konnte oder wollte (Gerda Neuwirth), klopfte, trat ein und brachte Kaffee. Sie stellte das Tablett unsanft ab. Nicht so auffällig unsanft, daß eine Ermahnung erforderlich gewesen wäre, aber doch so geräuschvoll, daß der Lektor und seine Autorin (katerbedingt) zusammenzuckten.

Freidank hatte, gleich nachdem er durch den Empfang (»Auftritt der Autorin Carola Holm«) informiert worden war, den Kaffee geordert. Niemand wollte Milch oder Zucker.

Als die Sekretärin gegangen war, sagte Freidank:

»Es sind die ganz heißen und die ganz öden Partys, auf denen man sich noch mal so zuschüttet.«

Damit hatte er ihr den Vortritt überlassen für die Bewertung des Vorabends – schließlich gehörten Irma, Bruno und Molly zu ihren Freunden, während er sich eher auf einer äußeren Satellitenbahn dieses Kreises bewegte.

»Da müssen wir wohl nicht lange überlegen, zu welcher Kategorie der öde gestrige Abend gehört«, sagte Carola.

Sie lachten. Mit ihrer Antwort und diesem Lachen waren die ersten Aromen für eine Stimmung der Vertrautheit und der Übereinkunft verbreitet.

Freidank freute sich und ließ seinen (etwas zu?) begehrlichen Blick auf ihrer (wie er fand) außerordentlich attraktiven Erscheinung ruhen. Er dachte: Die kleine Müdigkeit, die um ihre Augen steht, erhöht noch ihren Reiz.

Die Begehrte öffnete jetzt ihre Handtasche und zog eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug hervor. Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und noch ehe sie das Feuerzeug aufschnappen lassen konnte, schnellte (ja wirklich: er schnellte) Freidank hoch und kam mit einem gezückten Streichholzmäppchen (Restaurantreklame), das er, obwohl selbst Nichtraucher, stets für diesen Fall in seiner Jackentasche mit sich führte, geschmeidig auf Carolas Seite des Schreibtisches, beugte sich zu ihr hinunter und hielt mit ruhiger Hand die Flamme des angezündeten Streichholzes an die Zigarette. Carola sah auf diese Hand. Sie mochte seine Hände (wie so manches an ihm). Aber sie dachte, als sie den Rauch inhalierte:

Man kann eigentlich kein Liebesverhältnis mit einem Nichtraucher haben. Da liegt möglicherweise bei aller Leidenschaft vor jedem Kuß eine kleine Überwindung auf der einen Seite und die Angst, daß es so sein könnte, auf der anderen. Und den erotisch tödlichen Satz: »Das macht mir nichts aus«, wollte sie keinesfalls hören. (Carola war verwöhnt.) Bruno hatte ja auch irgendwann mit dem Rauchen aufgehört, aber eine Ehe mußte das stemmen. (Ja wahrhaftig, sie dachte: »stemmen«.)

Freidank, der sich (in Unkenntnis dieser Gedanken) immer noch in der Sicherheit einer übereinstimmenden Gemütslage wähnte, wurde hart enttäuscht von ihrem nächsten Satz:

»Ich muß mit dir über mein Buch sprechen.«

Diese unerwartete Wendung ins Fachliche trieb ihn (geradezu automatisch) in seine Berufssprache:

»Kommst du voran?« fragte der Lektor.

Das war die klassische Lektoren-Gesprächs-Eingangs-Frage, in der Regel folgte sie gleich nach »Wie geht’s« und »Möchtest du einen Kaffee?« Eine Frage, bei der stets ein wenig Ermunterung in den Tonfall mußte.

»Überhaupt nicht«, sagte sie heftig (heftiger, als sie gewollt hatte). »Ich stecke fest. Ich glaube, dieses Buch kann ich abschreiben. Aufs Ganze. Ein Totalschaden.«

Freidank spürte: Die Stimmung hatte gewechselt. Da mußte man jetzt behutsam sein.

Es entstand eine kurze ungemütliche Pause.

Dann sagte er:

»Wo ist das Problem? Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich es mir mal ansehen?«

Das waren drei Lektoren-Standardfragen hintereinander. (Peinlich!)

Carola überging seine Hilfsangebote.

»Ich bin in die Gespensterecke gedriftet, ins Unwahrscheinliche, Irreale …«

Sie brach ab, machte eine Pause und betrachtete eine Gouache an der gegenüberliegenden Wand, die einen Wolf in einer fremden Welt, vielleicht einer Art Mondlandschaft, zeigte. Es schien ihr, als schwebe das Bild über dem Kopf von Freidank wie eine dunkle Prophezeiung.

Erst als er glaubte, daß sie im Moment nichts mehr zu ihrer Schreibnot sagen würde, sagte er:

»Na und, das kann doch gut sein, damit kannst du deine Leser überraschen …«

Sie war auch weiterhin nicht an seinen welken Aufmunterungen interessiert und sagte in seinen Satz hinein:

»Ich fühle mich da nicht wohl, es gibt Schriftsteller, die das können, ihr habt so einen im Verlag (keinen Namen?), ich jedoch kann das nicht, ich fühle mich wohler im Wahrscheinlichen, ich habe Angst vor der Lächerlichkeit von grünen Männchen, sprechenden Tieren und fühlenden Maschinen, irgendwie bleibt mein Denken doch immer zu Hause, meine Einbildungskraft braucht solide Startplätze im Alltäglichen, und dort will sie auch wieder landen.«

Freidank wollte erneut zu einer Beschwichtigung ansetzen, aber Carola sprach schon weiter.

»Ich habe ein ungutes Gefühl. Es funktioniert nicht. Nichts fügt sich. Ja, das ist es! Bei meinen vorangegangenen Büchern gab es in einem fortgeschrittenen Stadium immer dieses Wunder (?) einer Fügung. Hinter meinem Rücken gewissermaßen.«

Sie lächelte jetzt geniert, wie nach einem delikaten Geständnis, sah ihn aber nicht an und fuhr, den Blick fest auf ihre roten Pumps geheftet, fort:

»Als arbeite der Text an sich selbst und strebe nahezu eigenständig einer Vollendung zu …«

Ihre Stimme wurde lauter, der Tonfall fast zornig: »Jetzt, verdammt, fügt sich nichts. Im Gegenteil, neuerdings habe ich ständig das Gefühl, als schreibe da jemand teils pedantisch, teils besserwisserisch mit. Füge hinter meinem Rücken ohne mein Wissen oder Zutun unnötiges und abstruses Zeug in meinen Text ein, verbessere, präzisiere und kommentiere das Geschriebene oder stelle es in Frage.« (Was für ein Unsinn!) Sie sah ihn jetzt direkt an und sagte brüsk: »Ich gebe zu: Es ist wirklich alles sehr wirr.«

Wirr? dachte sie, war das nicht das Wort, das Bruno ihr mehrfach entgegengeschleudert hatte?

Sie sagte:

»Ich habe heute morgen versucht, mit Bruno darüber zu sprechen. Leider. Das ging total schief. Vielleicht habe ich es auch falsch eingeleitet mit so einem albernen Beispiel von einer Marsmännchenentführung. Ich habe ihn gebeten, sich auf eine solche Fiktion einmal einzulassen. Da ist er gleich unerträglich besserwisserisch geworden. Wie immer. Er fühlt sich wohl bei dem Gedanken, daß belletristische Autoren erzähltechnische Restnaivitäten aufweisen müssen, daß ihnen theoretisches Wissen in höheren Dosen abträglich ist …«

»Eine veraltete Ansicht«, sagte Freidank (etwas schleimig).

Hilfe, dachte Carola (stilempfindlich), wie tief will ich noch sinken, ich sitze hier bei einem Geliebten in spe und beklage mich über meinen Ehemann.

Carola fragte:

»Wie komme ich da unbeschadet raus aus diesem Gespensterkram?«

»Du könntest es ins Skurrile drehen, machst eine Burleske daraus. Oder du schraubst es bewußt ins Irreale. Oder, ich erinnere mich an einen Roman von Gombrowicz, so etwas wie ein Schauerroman (Titel?), da weiß man als Leser bis zum Schluß nicht, wie Ernst es dem Autor damit ist. Oder …«

Sie sprach auch jetzt weiter, als habe er nichts gesagt.

»Vollends aus der Bahn geworfen hat mich diese Horrorgeschichte, die momentan in allen Medien hochgekocht wird, die von diesem Mann, der seine Tochter vierundzwanzig Jahre in einem Kellerverlies eingesperrt hatte und mißbrauchte und mit ihr sieben Kinder zeugte, von denen er drei zu seiner nichtsahnenden Frau in Obhut gab und der …«

»Ich kenne die Geschichte«, sagte Freidank, um ihr weitere umständliche Schilderungen zu ersparen.

(Das nahm sie dankbar zur Kenntnis.)

»Wenn ich etwas dergleichen zu Papier brächte, etwas, das doch weit über alles, was wir gerne für das menschliche Maß halten, auch für das Maß aller erwägbaren Ungeheuerlichkeiten und Unerträglichkeiten, hinausgeht, wenn ich mir zum Beispiel so eine Monsterfigur wie diesen Vater ausdächte, das ließen mir die Liebhaber einer seriösen Belletristik nicht durchgehen. Sie würden in dieser Gestalt eine maßlose Übertreibung sehen. Die Autorin, würden sie denken, hat das Maß verloren, das Maß, das sie in der Wahrscheinlichkeit hielt. Jedoch diese unwahrscheinlichen Greuel haben stattgefunden, hier in der wirklichen Wirklichkeit, hier unter uns, in der vermeintlich zivilisierten Welt, und haben im Schlepptau einen Menschenversuch, ein Horrorexperiment, das in dieser Form eigentlich nur in einer mörderischen Diktatur planbar und durchführbar wäre. Diese … diese …« Carola stockte, suchte nach einem Wort und sagte dann, um voranzukommen (etwas schlicht): »Also, diese Sache hat mich völlig in ihren Bann gezogen.«

Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Dieses Mal hatte Freidank keine Chance für die Galanterie. Sie hatte mit schnellen nervösen Bewegungen die Zigarette aus dem Päckchen gezogen und sie mit ihrem Wegwerffeuerzeug angezündet. Währenddessen hatte sie hastig und erregt weitergesprochen:

»Ich hoffe, du hältst mich nicht für erbarmungslos, wenn ich dir sage, daß mich allem voran die Frage fesselt: Wie muß man sich diese Wesen, die da aus dem Keller krochen (befreit wurden!), vorstellen, wie verstehen Menschen die Welt, die unsere Realität nur aus der Gegenwelt des Fernsehens und den verblassenden Erinnerungen ihrer Mutter kennen?«

Sie machte eine kurze Pause. Er erkannte an Haltung und Mimik, daß sie dazu mehr noch sagen wollte.

Und so war es.

»Du mußt wissen, daß im Zentrum meines Romans das Kaspar-Hauser-Motiv steht. Was sieht ein Mensch, für den alles, was für uns selbstverständlich ist, eine ferngelenkte, unergründliche Gestalt hat? Wie spricht dieser Mensch? Wie denkt dieser Mensch? Wie fühlt dieser Mensch? Wie orientiert er sich? Wie interpretiert er die fremden Bilder, die auf seine Netzhaut kommen? Was formt seine Wahrnehmung? Wie formt diese Wahrnehmung sich? Wie formt diese Wahrnehmung ihn? Kurzum: Wie formen uns unsere geformten Wahrnehmungen? Wenn ich gerade sagte, daß das Kaspar-Hauser-Motiv für den inneren Zusammenhalt meines Textes (besser: ihrer Textsplitter) sorgen sollte, so war das nur zu Teilen zutreffend. Damit korrespondierend interessiert mich das Motiv der Gefangenschaft. Jedweder geistigen, emotionalen, moralischen und körperlichen Gefangenschaft. Und eine weitergehende Frage beschäftigt mich, ja, sie treibt mich um: Wie kann das eigene Denken und Fühlen seiner Gefangenheit gewahr werden? Wie schaffe ich die Selbstüberführung …«

Sie brach ab, weil sie sich nicht in diesen Denkkreiseln verlieren wollte und weil sie das Gefühl hatte, jetzt mal etwas anschaulicher werden zu müssen. Sie sagte zu dem verwunderten Lektor:

»Bruno, zum Beispiel, ist total gefangen in dem Bild, das er von sich hat: Und auf diesem Bild ist ein ehrwürdiger geisteswissenschaftlicher Traditionswächter alten Schlages zu sehen. Er ist Sklave dieses Bildes. Und je älter er wird, desto starrer wird diese Bildgestalt. Der Gitterrahmen seiner Selbstvorstellung wird immer enger, und der Spielraum wird mit jedem Jahr kleiner. Er kommt da vermutlich nie mehr raus, nicht in diesem Leben …«

O Gott, dachte sie, ich rede ja schon wieder von Bruno.

»Natürlich«, fügte sie schnell an, »trifft das in unterschiedlichen Graden auf uns alle zu.« (Kurze Pause.)

Freidank schwieg.

Carola sprach.

»Und schließlich, als ich heute – ich habe nach der Party nur fünf Stunden geschlafen (von 2 Uhr 47 bis 7 Uhr 03) – vorgreifend am letzten Kapitel arbeiten wollte, stellte ich fest, daß ich mich selbst in ein eigenes Textgefängnis hineingeschrieben hatte. Was für eine Ironie! Ich …«

Eine unangemessene Bewegung Freidanks ließ Carola aufschauen. Sie sah, daß er unbehaglich auf seinem ergodynamischen Drehstuhl herumrutschte (was dieses Möbel in eine alberne wippende Schwingung versetzt hatte) und daß er gerade (als sie gezielt zu ihm hinsah) sogar dezent auf seine Uhr schielte. Er bemerkte, daß sie das bemerkt hatte, und sagte (betreten):

»Es tut mir furchtbar leid, das darfst du mir glauben, ich habe jetzt – eigentlich schon seit fünf Minuten – eine wichtige Sitzung mit der Geschäftsleitung. Wir müssen unser Gespräch (Gespräch?) vertagen, aber unbedingt – unbedingt! – demnächst fortsetzen.«

Als Carola den Verlag verließ, überlegte sie kurz, wie die Entschuldigung wohl ausgefallen war, die Freidank beim Betreten des Sitzungsraums vorgetragen hatte. Hatte er gesagt: ›Da war noch eine aufgeregt monologisierende Autorin, die ich nicht so schnell loswurde – ihr wißt schon.‹ (allgemeine Schmunzelei)?

Aber so war Freidank nicht.

 

(Nein, so war er nicht!)

Mittwoch 12 Uhr 30Universität

Zweite Zeugenbefragung

Anwesend:

Simon Menzel (Bibliothekar)

Johanna Schwarzenbach (Doktorandin)

Irene Nolte (wissenschaftliche Hilfskraft)

Helge Baumann (Student)

Miriam Mahenke (Studentin)

Herr Menzel, Sie haben den toten Professor gefunden …

Das stimmt so nicht. Ich bin in den Vorraum der Toilette gegangen, weil ich mir die Hände waschen wollte. Da habe ich gesehen, daß ein Mann reglos auf dem Boden lag.

Sie haben nicht erkannt, daß es sich um Professor Urlach handelte?

Nein. Ich habe aber auch nicht genau hingesehen. Ich dachte, da ist einer ohnmächtig geworden oder ist besoffen oder so …

Kommt es häufiger vor, daß jemand betrunken auf der Toilette des Institutspersonals liegt?

Nein.

Was taten Sie dann?

Ich lief zu unserem Geschäftszimmer in der Absicht, den Vorfall zu melden und Hilfe zu holen. Auf dem Weg dorthin traf ich auf Johanna Schwarzenbach. Miriam Mahenke und Helge Baumann standen da auch auf dem Gang. Ich erzählte ihnen, was ich gesehen hatte, und Johanna, also Frau Schwarzenbach, hat es unserer Sekretärin gemeldet.

Frau Schwarzenbach, können Sie diese Aussage bestätigen?

Ja.

Sie selbst haben die Toilette nicht betreten.

Nein, keiner außer Simon.

Haben Sie an diesem Morgen irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt?

Nein. Alles war wie immer.

Warum kamen Sie so früh in das Institut?

Ich hatte mich mit Simon Menzel verabredet. Hatte ihn gebeten, mich noch vor der üblichen Öffnungszeit in unsere Institutsbibliothek zu lassen, weil ich in Ruhe dort etwas recherchieren wollte.

Ich möchte die gleiche Frage auch an die anderen hier Anwesenden richten. Frau Mahenke?

Ich war mit Helge Baumann verabredet, weil wir ein Referat, das wir an diesem Vormittag in einem Hauptseminar von Professor Urlach halten sollten, noch einmal durchgehen wollten.

Mochten Sie Professor Urlach?

Ja, seine Vorlesungen waren sehr anschaulich, nicht so trocken wie die der meisten Professoren.

Herr Baumann. Können Sie die Aussagen von Frau Mahenke bestätigen?

Ja.

Frau Nolte …

Ich bin überhaupt erst eingetroffen, nachdem Frau Rudolph von der Toilette kam und ins Geschäftszimmer lief. Ich war gekommen, um einen Auftrag für Professor Schauer zu erledigen. Ich wollte seine Korrespondenz eintüten.

Meine Damen und Herren, wir danken Ihnen für Ihre bereitwilligen Auskünfte.

Mittwoch 15 Uhr 52Die Wohnung von Bruno und Carola Schauer

Die Amsel

Als Bruno gegen sechzehn Uhr müde, etwas verschwitzt, mit aufgeknöpftem Hemdkragen und gelockertem Krawattenknoten seine Wohnung betrat, fand er Carola in ihrem Arbeitszimmer. Sie saß aufrecht auf einem Stuhl und sah aus dem geöffneten Fenster. Ihr Blick war auf einen Ast gerichtet, auf dem eine Amsel saß. Es sah aus, als würde sie einem Maler Modell sitzen für das Gemälde einer Frau, die auf einem Stuhl sitzt und aus dem Fenster schaut auf einen Ast, auf dem ein Vogel sitzt.

»Was machst du?« fragte Bruno und schleuderte seine Aktentasche (wüst) gegen ein Beistelltischchen (Empire, um 1810), das stark schwankend diesen Anschlag nur knapp überstand.

»Ich schlage die Zeit tot«, antwortete Carola.

»Wie geht das?«

»Magie! Sobald man darüber nachdenkt, geht es eben nicht mehr. Es funktioniert nur im Stande lasziver Unschuld. Deine Frage hat alles zerstört. Ich muß jetzt wieder an die alltäglichen Absichten.«

Sie schaute noch immer aus dem Fenster. Es war, als spräche sie zu dem Vogel, aber ihr zuvor etwas somnambuler Ton nahm jetzt einen gleichmütigen Gewohnheitsklang an.

»Du kommst spät. Ich habe früher mit dir gerechnet. Hattest du noch irgendeine Sitzung?«

»Nein. Es gab einen Mord«, sagte er möglichst lässig. Es gelang ihm nicht gut. (Lässigkeit war seine Sache nicht.)

Sie fuhr hoch:

»Wie bitte???«

»Ja, richtig, du hast richtig gehört, dein langweiliger Mann war mit einem Ruck im Zentrum eines Kapitalverbrechens.«

»Ach«, sagte sie, und dann nochmals sichtlich belebt: »Ach.« Und dann: »Das ist ja furchtbar aufregend … Ich meine, das ist ja furchtbar.«

Bruno schüttelte indigniert den Kopf.

Die Amsel flog davon, als wolle sie mit dieser Sache nichts zu tun haben, aber Carola bemerkte das nicht, weil sie sich ganz Bruno zugewandt hatte:

»Nun rede doch schon. Wer wurde ermordet? Wo? Bei dir im Institut?«

Bevor Bruno ihr antwortete, ließ er eine kurze Pause. Die er genoß.

»Der Kollege Ulf Urlach wurde ermordet. Jedenfalls glaube ich, daß es Kollege Urlach war. Ich hatte keine Gelegenheit ihn, oder besser: die Leiche, in Augenschein zu nehmen.«

Du liebe Güte, dachte Carola, Bruno nimmt Leichen »in Augenschein«. Sie sagte aber nichts dazu, machte keine spöttische Bemerkung (das hätte aufgehalten), sie war neugierig, wollte schnell mehr hören.

Und Bruno quälte sie nicht, nein, er spannte sie auf keine Folter (wie man so sagt), obwohl er das gerne getan hätte, auch er wollte keine Unterbrechung, war (das verbarg er vor sich) stolz, im Besitz solch brisanter Neuigkeiten zu sein.

»Also, ich traf etwa um neun Uhr dreißig im Institut ein, ging dann in meinem Arbeitszimmer nochmals die Aufzeichnungen für die Vorlesung durch. (An diese Lüge glaubte er inzwischen selbst.) Du weißt, es ist zugleich die erste Fassung der Einleitung für mein neues Buch (Carola hielt an sich), war ganz vertieft in die Arbeit, als auf dem Flur ein kolossaler Lärm ausbrach. Offensichtlich hatten einige Leute …«

»Was für Leute?« unterbrach Carola.

»Na, Frau Rudolph, Herr Menzel und irgendwelche Studenten … ist doch egal …«

Er setzte neu an:

»Offensichtlich hatten einige Leute die Leiche auf dem Boden der Toilette entdeckt …«

»Auf dem Klo? Wie sonderbar, auf welchem Klo?«

»Auf dem für das Personal.«

»Und woher wußten sie, daß der Mann ermordet wurde?«

»Er hatte ein Messer im Rücken.«

»Das ist sicher nicht einfach …« sagte Carola nachdenklich.

»Was meinst du?«

»Jemanden so umzubringen, mit einem Messer, das ist nicht leicht, da muß man sich auskennen. Man muß es irgendwie von unten nach oben führen …« Sie vollzog (ein imaginäres Messer in geschlossener Faust) eine kraftvolle Armbewegung.

»Das habe ich einmal bei Borges gelesen.«

Sie hielt inne, und er sah sie an, als habe er eine Geisteskranke vor sich.

Dann sagte sie:

»Aber im Grunde ist das doch ein Klischee. Ein blödes Agatha-Christie-Klischee. So ein Messer im Rücken und eine Leiche auf dem Personalklo … Ich muß schon sagen …«

Bruno fiel ihr ins Wort: »Klischee oder nicht. Jedenfalls haben wir dann die Polizei angerufen.«

»Hast du die Polizei …?«

»Nein, ich glaube, das war Frau Rudolph.«

»Und dann?«

Bruno zuckte (kleinmütig) mit den Schultern: