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Band 4 Ob die Granatbäume blühen «Wo immer man diese Ausgabe aufschlägt, wird man weg getragen vom lautlosen, mäandrischen Sprachfluss dieses grossen Poeten, weg ins Reich des ‹Spirituellen›, weg ins Zentrum der Schöpfung. Seinem Dorf am Jurasüdfuss ist Meier zeitlebens treu geblieben. Die Freiheit, es Amrain zu nennen und in einen poetischen Ort zu verwandeln, hat er sich nicht nehmenlassen. Es bedeutet ihm nicht die Welt. Nur ein Fenster zu allen Orten dieser Welt.» Süddeutsche Zeitung
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2017
Vierter Band
herausgegeben von Werner Morlang
Umschlagbild: C. D. Friedrich
Die Frau am Fenster
© 2017 Zytglogge Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7296-0774-3
eISBN (ePUB) 978-3-7296-2176-3
eISBN (mobi) 978-3-7296-2177-0
E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch
www.zytglogge.ch
Ob die Granatbäume blühen
Nachträge
Editorische Vorbemerkung
Gedichte aus «Das Gras grünt» (1964)
Gedichte aus «Im Schatten der Sonnenblumen» (1967)
Prosaskizzen aus «Kübelpalmen träumen von Oasen» (1969)
Prosaskizzen aus «Es regnet in meinem Dorf» (1971)
Verstreute Texte
Gedichte verschiedener Herkunft
Prosaskizzen aus Zeitungen
Hörspiel
Schriftliche Beantwortung einer Autorenumfrage
Dankesreden
Winterreise nach Graz
Der grüne Zweig
Sieben Briefe
Der Mann, der Veilchen mochte
Biographische Skizze
Gedichte «Meinem Dorli»
Materialien
Rezensionen
Das Gras grünt (1964)
Im Schatten der Sonnenblumen (1967)
Kübelpalmen träumen von Oasen (1969)
Es regnet in meinem Dorf (1971)
Einige Häuser nebenan (1973)
Der andere Tag (1974)
Papierrosen (1976)
Der Besuch (1976)
Der schnurgerade Kanal (1978)
Toteninsel (1979)
Borodino (1982)
Die Ballade vom Schneien (1985)
Land der Winde (1990)
Das dunkle Fest des Lebens (1995)
Ob die Granatbäume blühen (2005)
Varia
Urs Widmer: Laudatio zum Petrarca-Preis 1983
Peter von Matt: Wind, Tod, Schmetterlinge
Reinhard Stumm: Ein Summton im Getriebe des Kosmos
Anna Stüssi: Niederbipp und die Welt
Gertrud Leutenegger: Novemberreise
Werner Morlang: Genügsamkeit und Weite
Nachwort
Dank
2005
Die du wohnest in den Gärten,
lass mich deine Stimme hören.
Hoheslied, 8, 13
«Nachdem der Reisende am 1. Dezember 1987 lange die Schnitzfiguren am Holzportal der Kathedrale von Split betrachtet hatte, mit dem Johannes, der beim Letzten Abendmahl wieder den traurigen Kopf an die Schulter des Jesus legt, dabei mit einer Hand – Variante – Trost suchend im Ärmel seines Meisters, ging er hinunter auf die sonnige Strandpromenade, wo er einen greisen Schuhputzer sah, wie er, wohl schon lange unbeschäftigt, anfing, sich selber die Schuhe zu putzen.»
So beginnt eines der kleinen Epen aus Peter Handkes um fünf Texte erweiterter Sammlung Noch einmal für Thukydides, deren Druckfahnen eines Tages in Sils-Maria eintrafen, wo du und ich im Nietzsche-Haus als geladene Gäste einquartiert waren, neben Friedrich Nietzsches Wohn- und Arbeitszimmer, von diesem getrennt durch eine Bretterwand. Der Geist des grossen Wanderers scheint noch in den Räumen vorhanden zu sein, so dass dieser auch durch die Fahnen geweht haben musste, nachts vor allem, denn tagsüber führten wir diese mit, bis ins Bergell zum Beispiel, nach Soglio, dort, wo’s den Palazzo Salis gibt, mit dem Garten dahinter, dem sogenannt historischen, den man auf Anhieb als paradiesisch empfindet, als Anklang an Eden. Rainer Maria Rilke ist dort den Rosen nachgelaufen, hat an diesen gerochen, hat gelesen, Briefe geschrieben, seinen Elegien nachgehangen, die er in Duino begonnen und in Soglio zu vollenden gedacht hatte. Dort setzten wir uns hin, Dorli, unter einen der beiden Mammutbäume, während die Rittersporne herumstanden, die Rosen, der Phlox, die abgeblühten Pfingstrosen, die kümmerlichen Apfel-, Birn- und Kirschbäume, wobei niedrige Buchshecken die Bäume, Rosen, den Phlox zusammenzuhalten versuchten und die Berge hereinschauten, aus angemessener Entfernung.
Dort setzten wir uns also hin und lasen in den mitgeführten Fahnen, wobei wir unter anderem mitbekamen, wie der Schuhputzer von Split die eigenen Schuhe zu putzen anfing, die es auch nötig hatten, und wie sorgfältig, wie für jemand anderen, er das tat, wie er langsam, bedachtsam Lederstück für Lederstück anstrich und wie er zuletzt die Schuhe streichelte, die nun zu glänzen begannen unter den Palmen, wo der Schuhputzer sass. Und erfuhren dann, wie sich der Reisende zum Schuhputzer gesellte, sich die Schuhe ebenfalls putzen liess, wobei die gebogene Staubbürste seine Schuhe bestrich, dass sich die Kuppen seiner Zehen freuten. Beobachteten, wie er fingernagelkleine Klumpen Creme, Tupfer um Tupfer, auf den Schäften der knöchelhohen Schuhe verteilte, sorgsam umging mit jeder Hocke, ja sogar aus dem Deckel der Dose den letzten Rest der Schuhcreme herausklaubte, wie er die Schuhbändel in den Schäften versorgte, auf dass diese nicht mit Creme verschmutzt würden. Dabei hingen dem Schuhputzer die Socken herunter und der lange Saum der Unterhose, letztere eingeschwärzt wie der Hemdkragen, was den Mann mit einer Einsamkeit zu versehen schien. Und wenn die Glanzbürsten über das Leder strichen, entstanden Töne, die zu hören waren, wenn auch nur als leise, rauschende, begeisternde Melodie, die als Beiklang aufzutreten beliebte zum Mahnlied des Muezzin auf dem Minarett, während sich der Kopf des Schuhputzers in einer Pfütze vom Vortag spiegelte. Und allemal, wenn der Reisende den Fuss wechseln sollte, erklang ein hartes, kurzes Klopfen mit dem Bürstenholz auf die Kiste. Zuletzt zückte der Schuhputzer das Glanztuch, strich zum Ausklang noch einmal über das Leder, dass dieses aufleuchtete, durchzogen von Ritzen und Rillen. Nach kurzem Abklopfen des Arbeitsvorganges verzog sich der Reisen-de im Strahlen seiner Schuhe, hielt im Restaurant die Füsse unter den Sitz und erinnerte sich, wie er den greisen Schuhputzer quasi als Porträtzeichner empfunden hatte, als einen Heiligen der Sorgsamkeit. Bei Regen liess er die Schuhe im Zimmer zurück, trug diese dann aber im Schnee von Makedonien, in den Bergen des Peloponnes, im Sand der Libyschen Wüste, auch der Arabischen, wonach es in Japan genügt habe, mit einem Tuch über das Leder zu streichen, um den ursprünglichen Glanz wieder erstehen zu lassen.
Dorli, als wir von den Fahnen aufblickten, schauten noch immer die Berge herein und standen die Rosen herum. Einzig ein neuer Duft hing über dem Garten, der Duft einer Epopöe, die dem Licht entsprungen ist, den Rhythmen und Klängen Handke’scher Sätze. Dabei kamen mir die Schnitzereien vor Augen, jene vom Hauptportal der Kathedrale von Split, wo Johannes beim letzten Abendmahl den Kopf an die Schulter jenes Mannes legt, der ihm und den anderen gelegentlich die Füsse gewaschen hatte. Im Weggehen setzte ich die Schuhe sorgfältiger auf, obschon ich wildlederne trug.
Auf dem Weg zum Silser See kamen wir jeweils am Hotel Alpenrose vorüber, wo um die Jahrhundertwende Marcel Proust abgestiegen war, zusammen mit zwei Freunden, einem Juristen und einem Diplomaten, wenn ich mich recht erinnere. Und immer wenn ich an der jetzigen Ruine hinaufschaute, dachte ich mir: Hier, auf einem dieser Balkone, muss er gestanden haben, der Marcel Proust, an seine Schmetterlinge denkend «über dem kostbar getönten See, der in seinen Farben einer grossen sterbenden Blüte glich». Auf der Fassade zum See hin stand noch «Alpenrose» geschrieben, bruchstückhaft freilich, und auf einem gemauerten Gartenpfosten «Hoteleingang». Der Garten war verwildert, aber in seiner Art ebenso schön, beinahe, wie jener hinter dem Palazzo Salis zu Soglio, umstanden von Ebereschen, Gottfried Benns Baum.
Und wenn wir dann über die Matte schritten, die grosse Matte zwischen Sils-Maria und dem See (die Fahnen mit dabei), dachten die Blumen über die Geschicke der Leute nach, bis zurück zu Thukydides, was vor allem bei Gegenlicht der Fall war, während zu den übrigen Tageszeiten Frédéric Chopin die Gräser und Blüten zu wiegen schien.
Auf der Halbinsel schritt man die Pfade Friedrich Nietzsches ab; stiess auf Fluhnelken, die genauso dufteten wie jene, die ich als Knabe von der Lehnfluh heruntergeholt hatte, und gelangte zur Granittafel mit Nietzsches Trunkenem Lied, das mit den Worten endet: «Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit!» Durch die Nadelbäume strich der Wind, was an- und abschwellende Zischlaute zeitigte. Ich bekam den schnauzbärtigen Mann vor Augen, der das Leben ohne Gott vorweggenommen, sich an den Hals eines Pferdes geworfen und zu guter Letzt das Reich der Schatten betreten hatte – ohne wiederzukehren.
Wir setzten uns auf die Holzbank, schauten auf den See und hinüber nach Isola, wo wir früher jeweils eine Bündner Gerstensuppe gelöffelt hatten auf unseren Wanderungen von Sils-Maria nach Maloja. Der Wind strich durch unsere Haare, als wären es Nadeln der Lärchen. Ich dachte an Handkes Epopöen, an den Schnee, der unter der Lupe Russ aufwies; sah Palmfächer zittern, als wärens tausend Vögel gegen Abend und am Sonntag und am Meer; bekam das Wetterleuchten mit auf der Insel Krk, die Promenade von Split, die Frau auf dem Oberdeck, aufs Meer hinausschauend; die kleinen Tiere, die, von Landkindern auf die heisse Herdplatte gelegt, sofort verschrumpelten. Dann rückten die Glühwürmchen heran, die Stunden zwischen Schwalbe und Fledermaus, der Bahnhof Lyon-Perrache, das Geltenlassen der Dinge und der Drang, auf der Stelle sofort zurückzukehren. –
Der See glich nun in «seinen Farben einer grossen sterbenden Blüte», die zu duften schien wie Tage zuvor der Garten des Palazzo Salis zu Soglio.
Dorli, Tage danach spielten Musiker des Leipziger Gewandhaus-Orchesters Joseph Haydns Lerchen-Quartett. Gelegentlich glaubte man, die Melodie der Bürsten des Schuhputzers von Split herauszuhören. Das war in Celerina, in der Kirche San Gian, die zwei Türme hat, wovon der höhere als Ruine in den Himmel ragt, der sich an jenem Spätnachmittag locker bewölkt über die Oberengadiner Seenplatte spannte, auch über das Bergell.
Nicht lange nach deinem Abschied ist am Himmel ein Komet erschienen, knapp über dem Jura, dort, wo einer seiner Ausläufer nach Walden abfällt, ein wenig westlich der Raststätte des Grossen Bären.
Am Abend bin ich dann oft am Laubenfenster gestanden, Dorli, habe zu dem Kometen Hale-Bopp hinaufgeschaut und dabei auch an jene amerikanischen Sektierer gedacht, die sich eigens entleibt hatten, um mit Hilfe dieses Kometen der Erde zu entfliehn.
Ich bin ihm auch ein bisschen entgegengefahren, dem Hale-Bopp, zusammen mit Peter, Susanne, Christina, und zwar bis auf den Güggel hinauf, den Güggel südlich von Walden, in den ich vor Jahren die Mondsichel habe eindringen und dies von Baur und Bindschädler habe beobachten lassen, durch das Filigran der Krone unseres Holunderbaums hindurch, den es nicht mehr gibt. Wobei die Männer Caspar David Friedrichs Bild nachgestellt haben: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes.
Den Holunderbaum hast du noch fotografiert, Dorli, vor allem dessen hohlen Stamm mit dem Ohr, dem grossen, das wir etwa als das Ohr der Erde deklarierten, Enkelkindern oder Besuchern gegenüber. Der Film mit deiner Aufnahme steckt noch in der Kamera; wie auch deine Gartenschuhe und Stiefel unter dem Tisch im Schuppen stehn, dem Tisch mit den gedrechselten Beinen, die ich zu stark eingekürzt und dadurch das Möbel um sein Niveau gebracht habe. Diese Gartenschuhe stelle ich manchmal ein bisschen zur Seite, um herangewehtes Laub wegzuwischen, Halme, trockene Erde. Dann stelle ich sie wieder hin, deine Schuhe, unter den Tisch mit den zu kurzen Beinen, auf dem sich immer noch die goldfarbene Schuhschachtel befindet, voller Wäscheklammern, mit denen du Bettzeug, Tischtücher, Hemden festgemacht hast an der Leine im Schuppen, auch an jener im Freien.
Wir sind also dem Kometen bis auf den Güggel entgegengefahren, sind dort lange herumgestanden, haben gefröstelt, nach den Sternen ausgeschaut, die hier oben grösser waren und zahlreicher. Aber vor allem haben wir auf das Licht des Kometen geachtet, dessen Tönung, durch den Feldstecher beobachtet, an Heckenrosen gemahnte, an Kastanienblust. Und der Raum war durchdrungen von Klang, dem grossen, jenem aus dem Sternbild der Jagdhunde – eben.
Dorli, in letzter Zeit regnete es bei uns, regnete, regnete, stürmte. In Mittelamerika gabs Tausende von Toten. Nun aber tragen sie Schleier, die Birken unseres Gartens, wie auch die Kirschbäume, die Sträucher, lichte, geradezu hauchfeine Schleier.
Im Frühsommer übrigens bin ich noch einmal in Russland gewesen. Ruth hat die Reise vorgeschlagen, auch organisiert. Eigentlich hatte ich Angst, Moskau, St. Petersburg, den Weiten Russlands erneut zu begegnen. Per Schiff glitten wir durch ein verlorenes Land. Schwebten Sonnenuntergängen entgegen, die nicht enden wollten. Hörten dem Barpianisten zu, der Rachmaninow spielte, Tschaikowsky, Borodin. Und die Nächte waren weiss. Als ich wieder zu Hause war, holte ich aus dem Garten Pfingstrosen herein, machte zwei stattliche Sträusse daraus, einen für die obere und einen für die untere Stube.
Und Ende Juni schrieb ich an Hanne:
Heute trägt der Südwind die Samen der Weidenröschen über die Thujahecke hin. Das liess mich an Hermann Lenz denken, der die Weidenröschen gewiss auch gemocht hat, besonders jene aus dem Bayerischen Wald.
Wir, meine zwei Töchter und ich, waren am Tag von Hermanns Verabschiedung in Russland, auf dem Wasserweg von St. Petersburg nach Moskau. Und angesichts der grossen karelischen Wälder und des noch grösseren Himmels darüber (jeweils mit gigantischen Wolkenformationen bestückt) dachte ich ebenfalls an Hermann, und was er Dorli und mir bedeutet hat – und mir weiterhin bedeuten wird.
Nun haben sie, Dorli und Hermann, andere Chargen. Vielleicht hilft Hermann jetzt dem Kaiser Franz Joseph die Sonnentage gegen die Frostnächte aufzurechnen, die sein Reich von Galizien bis Venedig zu bestimmen beliebten. Während Dorli sich nun nützlich machen wird bei den Schmetterlingen, zusammen mit der Natascha, dem Fürsten Andrej, Schiwagos Lara; indes vor der Zentrale der Falter die Heckenrosen blühn, auch die Kastanien, als handle es sich um den Park von Schönbrunn.
Dora Meier-Vogel wurde am 26. Juli 1917 in Wangen an der Aare geboren. Ihre Eltern waren Pietisten, hatten drei Töchter, drei Söhne und betrieben eine Gemüsegärtnerei.
Dorli und ich lernten uns auf dem Weissenstein kennen, als Wanderer, bei Sonnenaufgang. Am Tag unserer Trauung – 13. Februar 1937 – schneite es. In der Kirche zu Bolligen blühte eine Klivie. Der Pfarrer gab uns das Gleichnis vom Senfkorn mit. Und vor der Kirche die Buchsbäume trugen ein noch dunkleres Grün.
Architektur und Literatur hatte ich aufgegeben. Fertigte nun Lampen an. Man wohnte in der Gärtnerei. Unsere Tochter Ruth wurde geboren. Der Zweite Weltkrieg brach aus. Ich rückte zum Militärdienst ein. Susanne, die zweite Tochter, erblickte das Licht der Welt, ein Jahr danach der Sohn Peter. Die Familie übersiedelte nach Amrain (Scharnageln). Dorli pflanzte Gemüse, ging waschen, gab Sonntagsschule, besuchte Gebrechliche, Verlassene. Erkrankte an Tuberkulose.
Zwei Jahre nach Kriegsende bezogen wir mein Elternhaus. Dorli baute Beeren an, pflanzte Lauch, Sellerie, Zwiebeln; pflückte Kirschen, Pflaumen, Äpfel; machte im Kirchengemeinderat mit, im Verein für das Alter. Hegte Buschwindröschen, Akeleien, Pfingstrosen, Mohn und Fingerhut, japanische Anemonen, Phlox und Dahlien und Winterastern, wobei Dorli letztere an Kranke und Alte verteilte, wenn der Jura eine weisse Schärpe trug.
Ruth wurde Buchhändlerin und Puppenmacherin; Susanne Kindergärtnerin und Kinderbuchautorin; Peter brachte es zum Buchhändler, Antiquar, dann zum Maler.
Im Jahr 1971 kehrte ich ganz in die Literatur zurück. Dorli verkaufte nun Zeitungen, Zigaretten, Schokolade am Kiosk. An Sonntagen erzählte Dorli den Kindern vom Meister aus Nazareth, der gelegentlich mit dabei war, wenn seine Jünger ausfuhren zum Fischfang auf dem Galiläischen Meer. Und die Wildkirschen blühten, jeweils, dann die Pfingstrosen, die Herbstzeitlosen, dann schneite es.
1979 überwies uns Peter Handke die Hälfte von seinem Kafka-Preis. Dorli und ich reisten nach Paris. Dort legten wir Marcel Proust zwei Rosen hin, der Maria Walewska eine – auf dem Friedhof Père Lachaise. Im Invalidendom meditierten wir über die Schlacht bei Borodino, das brennende Moskau, den Schutthaufen Stalingrad, den Schutthaufen Berlin. In Vézelay holten wir den Petrarca-Preis ab. In Israel wanderten Dorli und ich vom Berg der Seligpreisungen nach Kapernaum hinunter; gingen in Jerusalem die Via Dolorosa hoch; setzten uns in den Garten Gethsemane; schauten vom Ölberg auf den Felsendom, die Minarette – im Gegenlicht; standen am Galiläischen, am Toten und am Roten Meer.
Im Sommer 1994 filmten Friedrich Kappeler, Pio Corradi, Martin Witz mit Dorli und mir in Jasnaja Poljana, Moskau, St. Petersburg und auf der Insel Rügen, wo gerade der Mohn blühte und Schafe auf einem alten Friedhof grasten. Als der Film an den Solothurner Filmtagen 1995 uraufgeführt wurde, waren Dorlis Kräfte bereits am Schwinden. Anderthalb Jahre später lag die Diagnose vor: Amyotrophische Lateralsklerose.
Dorli und ich machten noch kleine Spaziergänge. Die Herbstzeitlosen stellten sich ein, die Schwalben zogen davon. Die Novembersonne leuchtete hier einen Kirschbaum an, dort zwei, drei Birken. Dann kam der Schnee.
Einmal blieb Dorli an ihrem Wägelchen stehn, schaute zum Berg hinauf, zur Lehnfluh, hinüber zum Gehöft.
Am Morgen danach – es war der 17. Januar 1997 – rief ich Dorli bei ihrem Namen und – alles blieb still.
Dorli, als ich diese Worte zu deinem Abschied skizziert und mich nach Mitternacht hingelegt hatte, flammte in der Wohnstube Licht auf, pastellfarbenes, wallendes Licht.
«In allen Dingen erweisen wir uns als Diener Gottes: in grosser Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.» (2. Kor. 6,4 + 10)
Das waren deine Lieblingsverse. Wir setzten sie auf die Todesanzeige. Viele Leute kamen, um sich von dir zu verabschieden.
Der Berg war verhangen. Die Ulme stützte den Himmel. Man reichte dir zweihundert Rosen nach. Und Pio Corradi stand lange am Grab.
In der Kirche sang man das Lied vom Mond, dem aufgegangenen, und das Lied vom Herzen, das auszugehen und Freude zu suchen hat. Der Pfarrer verlas meine Worte zu deinem Abschied; sprach bewegend über dein Wesen, dein Wirken, deine Nähe zu Gott und dessen Sohn. Zwei Cellowerke von Bach wurden gespielt. Auf dem mittleren Chorfenster schritt Jesus über die Wolken. Auf dem Chorfenster links hielt er die linke Hand auf dem Haupt eines der Mädchen. Auf dem Chorfenster rechts begegnete Maria Magdalena dem auferstandenen Herrn.
Und du, Dorli, schrittest über den Schattenteppich der Eukalypten am Ufer des Galiläischen Meers.
Ein paar Monate nach deinem Abschied verlieh mir Amrain das Ehrenbürgerrecht. Anschliessend an eine Gemeindeversammlung fand eine kleine Feier statt. Ein Pianist spielte Werke von Eric Satie und Frédéric Chopin. Der Gemeindepräsident erklärte den Anlass, überreichte mir eine Urkunde und verkündete, dass der Weg, an dem der Ehrenbürger wohne, künftig auch dessen Namen trage.
Werner Morlang begann sein Referat mit den Worten: «Im Grunde genommen ist es vermessen von mir, einem Auswärtigen, Ihnen etwas über den Geehrten und Amrain erzählen zu wollen. Die meisten von Ihnen kennen ihn seit Jahrzehnten als selbstverständliche Erscheinung des Dorfbildes. Und noch besser als ihn haben Sie womöglich seine Frau Dorli gekannt, die zu unser aller Leid im Januar dieses Jahres gestorben ist. Dorli war der Gemeinde in vielfältiger Weise aktiv verbunden: als Sonntagsschullehrerin, Kirchgemeinderätin, Leiterin des Vereins für das Alter und nicht zuletzt als Betreuerin des Kiosks, bei der Chäsi …»
«Liebe Frauen und Männer von Amrain, liebe Gäste», sagte ich, «dankbar bin ich für alles, was ich habe schreiben dürfen. Das, was Sie gemacht haben und weiterhin machen werden, ist natürlich ein bisschen nützlicher. Trotzdem würdigen Sie meine Schreibe. Geschieht solches, weil doch gelegentlich offenbar wird, dass ein Bild, ein Text oder ein Lied [ – zum Beispiel das vom Vreneli ab em Guggisbärg – ] einem Menschen auf Erden etwas bedeuten kann? Manchmal sogar fast ein wenig mehr als Brot. Was aber, um Gottes willen, nicht heissen soll, ich hätte etwas gegen das Brot.
Ich danke dem Gemeindepräsidenten, dem Gemeinderat, den Leuten von Amrain, den Gästen, dem Werner Morlang, meinem Dorli und dem lieben Gott, der uns alles gibt und alles nimmt.»
Dorli, am 6. April 1998, 9.15 Uhr, glitt ein Schattenboot, Wolkenschattenboot, von Walden her über die Waldenalp hin, Richtung Lehnfluh. Am Tag zuvor hatte eine Meise ans Laubenfenster geklopft. Der Wind kräuselte das Gras am Hang, und darüber flirrte das Licht.
In der Waldbucht blühten die Wildkirschen. Ich sah im Geist, wie unsere Urenkel hinter Ostereiern her waren am unteren Ende der Waldbucht, dort wos die Buschwindröschen gibt und wo Jakobs Haus gestanden hat, das Haus mit der Kastanie beim Brunnen, den Nuss- und Zwetschgenbäumen, dem Garten gegen Morgen hin, bestückt mit Lilien.
Jakobs Augen hatten die Farbe des Wiesensalbeis, wie du weisst. Das hat mich oft an Kusine Lisa erinnert, obschon Lisa Seerosenaugen hatte. Und als ich einmal in der unteren Stube in einen Strauss der gelben, margeritenähnlichen Blüten aus deinem Blumenfloss schaute, blickte mich plötzlich die Lisa an, die Frau mit den Seerosenaugen, als wollte sie mir erneut kundtun, dass sie wirklich an Heimweh gestorben sei, in Thierachern, an Heimweh nach Amrain. Dass ihr die Beete mit den Steckzwiebeln gefehlt hätten, Beete mit Bläulingen darüber. Dass sie das Sticken vermisst habe, auch das Weissnähen, die Pflaumen-, Zwetschgen- und Kirschbäume am Hang hinter dem Haus, den Nussbaum vorn an der Strasse. Dass ihr die Amrainer Kirchgänge gefehlt hätten, zu welchen sie den weissen Rock getragen habe, den langen, bestickten; die Handschuhe mit den Stulpen, den breitrandigen Hut, durch welchen der Wind gestrichen sei, der Amrainer Sommerwind.
Mit Ruth bin ich einmal auf Schloss Brunegg gewesen. Die Schlossherrin und Ruth hatten sich auf einer Russlandreise kennengelernt. Im unteren Terrassengarten gingen die Schlossherrin, Ruth und ich die Rabatte entlang, die sich an der Stützmauer des oberen Gartens hinzieht. Ich beroch die Rosen, die Lilien, berührte den Rittersporn, den Phlox, grüsste die Blumen, deren Namen ich nicht kannte, zwinkerte den Kastanien zu, die sich räkelten, legte den Kopf in den Nacken, um die Bruchsteinfassade des Schlosses mitzubekommen, die ein Klee’sches Bild imitierte, wenn auch gebleicht, verwaschen, unter einem Himmel von makellosem Blau.
Joseph von Eichendorff war sozusagen zugegen, auch Matthias Claudius, dessen Mond Licht auszugiessen hätte über Schloss und Rosen und Lilien und Phlox.
Beim Portal stand eine Kastanie, und im Halbdunkel der Halle roch man die Zeit. An der Wand war eine kleine Kanone mit dickwandigem Rohr, die früher zu donnern hatte, im Freien natürlich, bei Brand in Brunegg. In einem der Zimmer befand sich ein Klavier, auf dem Jean Rudolf von Salis gewiss auch improvisiert hatte, über das Beresinalied zum Beispiel. In der Nähe des Fensters hing ein Bildnis Napoleons.
In Jean Rudolf von Salis’ Arbeitszimmer öffnete die Schlossherrin den verglasten Bücherschrank, was einen Duft nach Rosen freisetzte, einen leisen freilich, der mit Rainer Maria Rilkes Malte Laurids Brigge zu tun haben mochte, den Duineser Elegien und meiner Erinnerung, mit dir, Dorli, an Rilkes Grab gestanden und die Inschrift gelesen zu haben: «Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern.» Beim Anblick von Marcel Prousts Büchern kam mir die Stelle in den Sinn, wo auf einer Seite der Felder die Sonne erlischt, über der andern bereits der Mond sein Licht ausgiesst, die Schafe als bläuliche Dreiecke durch Combrays Gassen wackeln und Marcel mit seinem Schatten hinter sich her wie ein Boot dahinzieht, das durch verzauberte Weiten schifft.
Im Rittersaal gabs einen Tisch mit vielen Stühlen darum herum. Auch einen Blumenstrauss gabs, Rüstungen und Ahnenbilder. Neben der Tür hing der Stammbaum, erstellt vom jungen Jean Rudolf von Salis.
Unlängst blätterte ich in deinem Fotobuch, Dorli, wo die Siegessäule abgebildet ist, das Moltke- und das noch grössere Bismarckdenkmal, das Jagdschloss Glienicke am Wannsee, die Glienicker Brücke, das Schiff Havel Queen und der Wannsee im Märzlicht, mit Bäumen und Schilf im Vordergrund. Das Bild Wannsee im Märzlicht gefällt mir am besten. «War das ein stiller Morgen!», hast du darunter geschrieben. Christina hat uns damals nach Berlin begleitet, wo wir in der Akademie der Künste untergebracht waren, im Tiergarten spazierengingen, mit der Trambahn bis hinaus zur Glienicker Brücke fuhren, in dem Jagdschlösschen der Hohenzollern zu Mittag assen, am bewaldeten Ufer des Wannsees entlangflanierten, dabei Heinrich von Kleist gedenkend; um uns dann wieder in der Akademie einzufinden, wo ich am Abend über Theodor Fontane sagte: «Zuweilen, wenn ich wieder einmal an klingende Prosa herankommen möchte, lese ich den ersten und zweiten Abschnitt von Theodor Fontanes Roman Der Stechlin. Und für gewöhnlich stellt sich der erwartete Celloklang ein, während der See sich einfach breitmacht, ohne den Wasserstrahl, den krähenden Hahn, den roten, woraus zu schliessen wäre, dass es auf Island und Java ruhig ist, dass weit darüber hinaus nichts Schreckliches passiert sein musste, wie zum Beispiel damals in Lissabon, vor zweihundert Jahren. –
In einem Brief an Paul von Szczepanski äusserte sich Fontane zu seinem Stechlin: ‹Der Stoff, so-weit von einem solchen die Rede sein kann – denn es ist eigentlich bloss eine Idee, die sich einkleidet –, dieser Stoff wird sehr wahrscheinlich mit einer Art Sicherheit Ihre Zustimmung erfahren. Aber die Geschichte, das, was erzählt wird. Die Mache! Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts!› –
Das war im Spätsommer 1897. –
1852, am 16. Januar, hat Gustave Flaubert an Louise Colet geschrieben: ‹Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts …›»
Dorli, im Traum bist du einmal auf mich zugekommen, mehr schwebend als gehend, hast mich bei meinem Namen gerufen, hast wie Sulamith gesagt: «Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und auf den Dörfern bleiben, dass wir früh aufstehen zu den Weinbergen, dass wir sehen, ob der Weinstock sprosse und seine Blüten aufgehen, ob die Granatbäume blühen; da will ich dir meine Liebe geben.» (Hoheslied 7, 12–13)
Am 10. August 1998 schrieb ich an Werner Morlang:
Dein Artikel zu Altenberg versetzte mich wechselweise in Wehmut und Heiterkeit und erinnerte mich daran, dass ich früher sein Reclam-Bändchen eine Zeitlang mit mir herumgetragen und gelegentlich in dieses hineingehorcht habe, im Rosengarten zum Beispiel, hoch über Bern.
Peter Altenbergs Texte waren damals für mich so etwas wie Partituren für ein Schifferklavier, die einen das Lied von den Bootsstegen hören liessen, das Lied vom Sommer, der um keinen Winter weiss, das Lied von der Brise, die von Brody herkommend über das untergegangene Galizien hinstreicht, sich in die Ringstrasse ergiesst, die Gardinen der Kaffeehäuser bauscht, so dass aus Gardinen zeitweilig weisse Fahnen werden, schwingend vor kaisergelben Fassaden. Altenberg hat mich beizeiten mit dem Heimweh nach Kaffeehäusern infiziert, nach Gardinen und Brisen. Sein Nachfahre hingegen, der Mann aus Brody, Joseph Roth, schaffte es, aus Dorli und mir Eingeborene jenes Reiches zu machen, dessen Untergang Roth in seinem Radetzkymarsch besingt. Das mag Dorli und mich bewogen haben, nach Wien zu reisen, im 19. Bezirk, nahe des Pötzleinsdorfer Friedhofs, Quartier zu beziehen, die Kapuzinergruft zu besuchen, wo das Kupfergehäuse des Kaisers Franz Joseph am Fussende einen frischen Kranz aufwies, der Sarkophag Sissis einen Strauss frischer Gartenblumen, jener des Sohnes lose hingelegte Margeriten vom Feld.
Im Stadtpark schrie ein Pfau unter einem Kaiserbaum, was eine befremdliche Erregung auslöste, welche durch den Frühsommerabend und den einsetzenden Radetzkymarsch noch verstärkt wurde, auch durch den Greis, der nahe beim Dirigenten seinen Körper verrenkte im Rhythmus des Marsches.
Die Ringstrasse wurde beehrt, die Hofburg, Schloss Schönbrunn, dessen Audienzsaal, wo der Bezirkshauptmann Trotta den Kaiser Franz Joseph um Gnade gebeten hatte, um Gnade für seinen Sohn. In den Alleen blühten die Kastanienbäume. In Baden bei Wien stand Joseph Haydn in einer Heckennische des Kurparks. In weiteren Nischen gabs weitere Musiker. Alle in Stein. Alle horchten sie hin.
Auf dem Pötzleinsdorfer Friedhof, im roten Licht unruhiger Kerzen, lispelten Akazien, als entzifferten sie Partituren für ein Schifferklavier.
Das Dorf, wo ich herkomme, heisst Amrain. Amrain liegt am Jurasüdfuss, unterhalb des Weilers Walden. Östlich von Amrain verläuft die bernisch/solothurnische Kantons-, Mundart- und Konfessionsgrenze. Benachbarte Grenzorte sind: Kestenholz, Oensingen, Klus. Kestenholz hatte, wenn die Kirschbäume blühten, eine halbe Stunde länger Sonne als wir. Oensingen hatte einfach seine Leute. Diese Leute wiederum hatten ihren Himmel. Und dieser ihr Himmel war blöu. Klus, der dritte Grenzort, ist von Amrain aus nicht zu sehen. Bei Nordwind aber und Frost waren die Sirenen des Eisenwerks zu hören, wonach dann Gestalten in schwarzen Pelerinen unsere Wege belebten (Giesser und Gussputzer eben), die einzeln, zu zweit, in Gruppen oder Prozessionen ihren Behausungen zustrebten, ohne zu reden.
Einer von ihnen machte winters beim Theaterspielen mit, im gemischten Chor, glaube ich. Er war etwas dicklich, hatte einen leichten Sprachfehler und verfügte über ein wundervolles Pathos.
Diese zwei Männer unter einer Pelerine konnte ich nie auseinanderhalten, ich, der ich als Kind an Frühlingsabenden nach Kestenholz hinüberstaunte, im Sommer über Oensingen einen blöuen Himmel und als Erwachsener beim Kunstmuseum Solothurn den bronzenen Josef Joachim vorfand, den Volksschriftsteller aus Kestenholz, der unentwegt Richtung Kestenholz starrt und den ich in Verbindung brachte mit der längeren Sonneneinstrahlung auf Kestenholz.
Noch zu erwähnen, dass dieser Giesser und Schauspieler auch noch dem Veloklub zugehörte, der an Sonntagen im Sommer die Lüfte pflügte, unter dem Klatschen der Standarte und dem Hornen des Klubhorns, wäre unangemessen, denn dadurch erhielte diese Gestalt ein Übergewicht gegenüber all den dunklen Gestalten.
Weitere Nachbarorte, bernische freilich, sind Schwarzhäusern, wo Willy Burkhard herstammte, der Musiker, und Bannwil, wo es ein hölzernes Stationsgebäude gibt, wie es sie geben muss an der Strecke Moskau–Wladiwostok.
Solothurn übrigens war die erste Stadt, die ich kennenlernte; Solothurn mit der St.-Ursen-Kathedrale, dem Hotel Krone, der Kaffeehalle, der Jesuitenkirche (mit der Steinheiligen auf dem Dach), dem Kapuzinerkloster, dem Sommerhaus Vigier, dem Kloster Namen Jesu, Schloss Blumenstein und der neuen Kantonsschule, erbaut nach den Plänen von Architekt Bracher, bei dem ich gerne in die Lehre gegangen wäre.
In dieser Stadt hauste für kurze Zeit auch Robert Walser. Die St.-Ursen-Kathedrale empfand er als etwas zu gross geraten. Die St.-Niklaus-Kapelle hingegen müsste ihm zugesagt haben, auch der Friedhof darum herum, wo Charles Sealsfield, der Mann mit dem Indianerroman Die weisse Rose, begraben liegt und auch Frank Buchser, der Maler, und Josef Reinhart, der Dichter vom Galmis.
Auf der Befestigungsanlage im Nordosten der Stadt stülpten wir uns gegenseitig die Ringe über, Dorli und ich, angesichts des Kunstmuseums und einer Wolke im Westen, die Schnee verhiess.
Und auf Solothurns Hausberg, dem Weissenstein, hatten wir uns kennengelernt, anlässlich eines Sonnenaufgangs. So wurde aus dem Weissenstein so etwas wie ein Fudschijama.
In späteren Jahren war man noch einmal oben, sass zu viert auf der Hotelterrasse, unter einem weissen Sonnenschirm. Durch den Schleier über dem Landstrich blitzte die Aare auf. Den Kaffee trank man auf dem Hinterweissenstein. Unterwegs wies Ernst Burren, der Mundartdichter vom Weissenstein, auf den Wegweiser Althüsli hin, was einen an seinen Herrn Tannascht erinnerte, welcher der Anna die Brille überliess, weil Anna Althüsli nicht hatte lesen können, worauf Anna jedes einzelne Gräslein sah, Tannennadeln, Staubgefässe – die vielen roten und braunen Pünktlein auf Herrn Tannaschts Gesicht.
Nachzutragen wäre noch, dass ich im Laufe der Jahre Amrains Wege mit immer mehr Windfiguren belebte, die einzeln, zu zweit, in Gruppen oder Prozessionen mittaten. Und dass auf dem Kamm der südlichsten Jurakette (nördlich von Amrain) die bernisch / solothurnische Kantons-, Mundart- und Konfessionsgrenze eine Zeitlang Richtung Weissenstein verläuft. Und dass im Osten die Kleinstadt Olten liegt, wo Baur und Bindschädler ihren Rundgang machten, wobei es am Abend zu schneien begann.
Und zu vermelden ist, dass in den Morgenstunden des 17. Januars 1997 mein Dorli starb. Und dass ein paar Wochen später am Himmel ein Komet erschien, knapp über dem Jura, dort, wo einer seiner Ausläufer nach Walden abfällt, ein wenig westlich der Raststätte des Grossen Bären.
Seither sind mir die Kohlweisslinge zugetan, Distelfalter, Abendpfauenaugen, besonders wenn die Malven blühn, die Glyzinien, die Sterne, oder wenn der Phlox in Blüte steht. –
Vor Monaten wurde mir der Heinrich-Böll-Preis zuerkannt. Nun übte ich den aufrechten Gang und machte mich wieder einmal an eine Dame heran, an Alberto Giacomettis überlebensgrosse Dame aus wenig Bronze und auf grossem Fuss. –
Dorli, diesen Text habe ich in Köln vorgetragen, im historischen Rathaus. Peter Hamm hat die Laudatio gehalten.
An der Stätte, wo dein Leib zu Erde werden muss, westlich der Ulme, die an Sommerabenden umtanzt wird von Schwalben, bei Rauhreif sich ziert, als wäre sie ein Wesen von drüben, denke ich auch etwa an Bindschädler, der nördlich der Ulme am Grab Baurs gestanden und dabei Heimweh nach Russland gehabt hat, dem Birkenland.
Manchmal lese ich die zwei, drei ersten Seiten von Marcel Prousts Wiedergefundener Zeit, Dorli, und erfahre, dass man wegen der heissen Jahreszeit, aber auch, weil Gilberte am Nachmittag in der Schlosskapelle malte, erst etwa zwei Stunden vor dem Abendessen einen Spaziergang machte, oft denselben, den Marcel einst als Kind unternommen hatte, wobei ihn, in noch viel stärkerem Ausmass als ehedem, jetzt das Gefühl überkommen habe, er, Marcel, werde zum Schreiben niemals befähigt sein.
Oft auch haben es mir die letzten Seiten der Wiedergefundenen Zeit angetan, wo Marcel noch einmal von dem Glöckchen des Gartentors in Combray spricht und sich vornimmt, falls er sein Werk überhaupt vollenden könne, dessen Protagonisten als Wesen darzustellen, die gleichzeitig an weit auseinanderliegende Epochen rührten, als wesende Riesen der Zeit. –
Dorli, ist die Zeit wirklich die alterslose Schöne, die das Nordlicht mag, die grosse Lyra, den Tanz? Trägt sie wirklich Roben aus Morgenröte, Abendhauch, Sternenstaub? –
Täglich danke ich dem Herrn, dass du und ich sechzig Jahre zusammensein durften. Verneige mich der Schreibe wegen, die er mir sozusagen zugesprochen hat. Rezitiere: «In allen Dingen erweisen wir uns als Diener Gottes: In grosser Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.»
Und wenn ich mit dem Raddampfer Lötschberg von Interlaken nach Brienz fahre, beachte ich in Iseltwald die Burg, richte mein Augenmerk auf die herannahende Insel, wo ich dich seinerzeit auf die Arme genommen und ins Boot getragen habe, einer Schlange wegen; schaue hinauf zum Hotel Giessbach, wo du und ich ein paarmal in den Ferien gewesen sind und wo zum Abendessen ein Pianist gespielt hat, Melodien aus dem Fin de siècle. In Brienz, auf der Strandpromenade, kommst du manchmal auf mich zu, mehr schwebend als gehend und strahlend vor Glück. An Ostern waren wir bei Susanne eingeladen, zu deiner Kartoffelsuppe, Ostereiern, Brot und Wein. Peter brachte einen Schlehdornzweig. Irgendwer sagte: «Bald kommen die Schwalben.» Antonia, Sergio und Stephanie spielten dem Osterwind Seifenblasen zu (in meiner Erinnerung, natürlich). Antonia ist übrigens bereits verheiratet – mit einem Hufschmied aus Deutschland – und lebt in Australien. –
Dorli, bei einem Grossbrand auf dem Gugelmann-Areal wurde Peters Atelier zerstört. Seine Bilder, seine grosse Bibliothek und viele seiner liebsten Dinge gingen zugrunde. Versichert war nichts.
Am 29. Oktober 1999 schrieb ich an Frau Dr. Dorota Sośnicka: