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Zum Buch Helene W., Ärztin in New York, besucht ihre Heimat und liegt auf einem Liegestuhl im Schatten eines Birnbaums am Ufer des Bodensees. Das Wasser schlägt an die Quaimauer, es ist heiss. Der Briefträger bringt ihr ein Journal mit Aufzeichnungen von Isidor A., dem Mann, für den sie als junge Studentin Gefühle hegte. Als einziger aus der Dreiergruppe, zu der auch K., der spätere Schriftsteller, gehörte, schloss Isidor das technische Studium ab. Die Aufzeichnungen, die Helene nun liest, hat Isidor – auch er ist nach langer Abwesenheit zurückgekehrt – in den letzten Tagen vor seinem Tod in Amrain verfasst. Wie bei Schriftsteller K. handeln Isidors Texte nicht etwa vom Berufsleben, nicht etwa von einem schnurgeraden Kanal, «dem seltsamen Symbol für eine technisierte Welt», sondern von Umwegen, von mäandernden Gegenwelten. Es ist die Vita contemplativa, die in Meiers Roman den grössten Raum bekommt.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2017
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© 2017 Zytglogge Verlag, Basel
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Coverfoto: Isolde Ohlbaum
Gesetzt aus: Stempel Garamond
E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch
ISBN: 978-3-7296-0967-9
eISBN (ePUB): 978-3-7296-2184-4
eISBN (mobi): 978-3-7296-2185-5
www.zytglogge.ch
Man hat von einem Kumpel gehört, der als Rentner ins Malen kam. Dieser Kumpel malte nicht etwa Kohlehalden, Kumpel, Rollwagen oder gar die Zeche als Ganzes, sondern ganz anderes: Dahlien zum Beispiel, überhaupt kleine Gärten, Weiden einem schnurgeraden Kanal entlang, Häuser, Mädchen, Wolken und Luft.
Apropos Luft: Von Caspar David Friedrich weiß man, daß dieser, wenn er Luft malte, kein Gerede vertrug.
Kürzlich verpaßte ich beinahe die Abdankungsfeier für meinen zweitletzten Cousin. Ich mußte durchs Dorf rennen, um rechtzeitig in die Kirche zu kommen. Es war ein lichter Januartag. In der Kirche waren ein paar Leute, und ich schaute mir die Gesichter an. Es waren vor allem Alte, die ich kannte. Ich erwischte gerade noch die letzten Akkorde des Orgelspiels.
Auch in der Kirche war es licht. Der Pfarrer sagte von meinem zweitletzten Cousin, daß es ihm schwergefallen sei, nach über dreißig Jahren Arbeit im Eisenwerk diese Arbeit aufzugeben, um zu Hause den erweiterten Kleinbauernbetrieb zu übernehmen. Mein zweitletzter Cousin ist übrigens Schmied gewesen, das heißt, er hat zumindest über dreißig Jahre in der Schmiede des Eisenwerks gearbeitet. Und sein Gesicht trug wirklich die Züge des Schmieds, auch die Sommersprossen. Sein Mund hatte einen Rest jener Verzerrung beibehalten, welche sich einstellte beim Biegen oder Schmieden des Eisens. Und auch ihm stand Spott im Gesicht, der Spott des Arbeiters denen gegenüber, die nicht dazugehören, die zum Beispiel das Eisen nicht kennen, dessen Glut, dessen Härte, Schwere, dessen klebrige Kälte im Januar. Und ich sagte mir, daß da auch die Hitze über dem Kornfeld hereingespielt haben muß, die Weite des Himmels (mit seinen Wetterzeichen), die Bise (dünner Ostwind), die Kälte über dem Mittelland. Dieses Schmiedegesicht glich übrigens dem Gesicht meines ältesten Bruders, welcher auch eine Zeitlang im Eisenwerk war, sich ebenfalls als Kleinbauer versuchte, dabei aber weniger Glück hatte.
Mein zweitletzter Cousin war unverheiratet. Er lebte in seiner Sippe, erblindete im sechsundsiebzigsten Lebensjahr, mied die Leute, wie alle meine Cousins die Leute mieden, mit Ausnahme eines Trompeters, der seiner Trompete zuliebe unter die Leute ging, gelegentlich lachend – ohne zu lachen. So mischte sich auf dem Gesicht meines zweitletzten Cousins Einsamkeit (wenn auch nicht hundertjährige) in die Überheblichkeit dessen, der um die Glut, die klebrige Kälte des Eisens weiß.
«Bei meinem letzten Besuch», sagte der Pfarrer, «lag er da wie ein müder Vogel, der kaum noch den Kopf zu bewegen vermag.»
Auf einem der Fenster im Chor segnete mittlerweile Jesus ein Kind, wobei sich im Hintergrund und fernab eine Stadt zeigte, zu welcher ein geradezu einladender Weg hinführte. Auf dem mittleren Fenster schritt Jesus über die Wolken. Auf dem Fenster rechts außen erschien er Maria Magdalena. Der Pfarrer bat, für Augenblicke des Verstorbenen zu gedenken. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit meinem zweitletzten Cousin das Werk abzuschreiten (was er früher mit mir bestimmt nicht gemacht hätte!). «Hier hat mein Vater Eisen gegossen», sagte er. «Da hat mein Bruder Guß geputzt.» Und ohne stehenzubleiben, wies er nach oben: «Dort ist der andere Bruder in den Drähten verbrannt.» Um die Schmiede machten wir einen Bogen. Wieder draußen, schien es, als atme er tief, dabei lag Ruß in der Luft und das Geheul einer Dogge vom schnurgeraden Kanal herüber. Daß es im Eisenwerk hapert, davon sagten wir nichts. Die Sonne brannte an die Kalkfelsen. Über das Werk strich der bekannte oder gewohnte Wind.
Dann hob die Orgel an. Es klang im Sinne von: Zusammenfassend läßt sich sagen ... Die Ansammlung von Gesichtern löste sich auf. Der Tag blieb licht.
Im Einnachten durchschritt ich das Dorf, um ans andere Ende zu gelangen. Ich wollte nachschauen, wie’s die Liegenschaft schafft ohne meinen zweitletzten Cousin. Sie krallte sich fest (geduckt gleichsam), den rasenden Lauf des Gestirns zu bestehn, denn jetzt drehte sie wieder, die Erde. Im Osten die drei Fenster strahlten in Rot wie zuvor. Übrigens war schon einer da, als ich hinkam. Er wollte vermutlich das gleiche. Wir genierten uns. Auf dem Rückweg mich umdrehend, stellte ich fest, daß er dastand, abgewandt, Blickrichtung Eisenwerk.
Die Nacht war trocken. Ein wenig Schnee und Nebel hellten sie auf. Ein bißchen Karneval lag schon drin. Auf Höhe der Sägerei erschien mir der andere, der jeweils im Frühling, wenn der Geruch frischgeschnittenen Grases zu arg in die Bude strömte, das Fenster schloß.
In jener Nacht begab man sich quasi mit Federico Fellini zur Ruhe, das heißt mit seinen Gesichtern. «Der einzig wahre Realist ist der Visionär», sagt Fellini.
Man sagte sich: Die Wirklichkeit übertrifft Fellinis Gesichte. Dann war der Kumpel da, der mit den Dahlien, den Mädchen. Man schritt dem schnurgeraden Kanal entlang, sprach über die Weiden, die Wolken – wich später einer Dogge aus...
Spinnen hatten sich erneut abgemüht, über Nacht Netze anzubringen vor den Fensteröffnungen zu ebener Erde, zum See hin, aber auch vor die Türöffnung, durch welche Frau Dr. Helene W., Schweizer Ärztin aus New York, jeweils hinaustrat auf den Rasen hinter dem Haus, welcher abgeschrankt wird durch eine Quaimauer aus Naturstein, die ungefähr fünfzig Zentimeter über den Rasen hinausragt, während sie etwa zwei Meter abfällt zum Wasserspiegel, welcher freilich nicht überall an die Mauer heranreichte: Größere Steine oder Geröll zerfransten den Wassersaum.
Dr. Helene W. war verwundert, das andere Ufer des Hudson in klarer Sicht vor sich zu haben, die Häuser also präzise umrissen, auch die Bäume. Jenes andere Ufer gab sich üblicherweise baumbestanden, als ein Landstrich, welcher es New York verwehrte, sich breitzumachen. Was natürlich ein Trugbild war, heraufbeschworen durch die verunreinigte Luft.
Dr. Helene W. griff nüchternen Magens ins Büchergestell, erwischte den ersten Band der gesammelten Werke Storms, Theodor Storms, betrachtete die Aufschrift. Heiterkeit stellte sich ein auf ihrem Gesicht. Sie schlug zufällig Seite 330 auf, las: «Viele Jahre sind seit jenem Morgen vergangen. – Auf dem Kirchhofe der Universitätsstadt, abseits im hohen Grase, liegt eine weiße Marmortafel; Leonore Beauregard steht darauf. – Drei Heimatsgenossen, in verschiedenen Teilen des deutschen Landes lebend, haben sie gestiftet.» Dr. Helene W. klappte den Band zu, den Zeigefinger als Buchzeichen verwendend, schritt zum Fenster, erheitert einerseits, Storm nach Jahrzehnten wieder begegnet zu sein, andererseits erstaunt darüber, getroffen worden zu sein von diesen Zeilen. Sie wähnte sich umstellt von Nippsachen, Marmorengeln, Kommodenschmuck. Dann schlug sie den Band erneut auf, las: «Als wir zwischen den Bäumen heraustraten, wurde ich fast vom Sonnenschein geblendet, der in vollem Glanze vor uns über die weite Meeresbucht gebreitet war. – Und in diesem Sonnenglanz lag auch sie; die Fischer traten bei unserer Annäherung zur Seite, und wir konnten sie ungestört betrachten. Es war kein Zweifel mehr. Das bleiche Gesichtchen ruhte auf dem kleinen Ufersande; die tanzenden Füße ragten jetzt regungslos unter dem Kleide hervor; Seetang und Muscheln hingen in den schwarzen triefenden Haaren. Die weiße Rose war fort; sie mochte ins Meer hinaus geschwommen sein.
Viele Jahre sind seit jenem Morgen vergangen. –
Auf dem Kirchhofe der Universitätsstadt ...»
Über dem Untersee hing derselbe Himmel, wie all die Tage zuvor. Es war ein Sommer aus dem Kinderbuch, ein Sommer, der Wolken am Himmel anbrachte, einzig um mit ihnen spielen zu können, nicht um sie regnen zu lassen; Wolken, aus denen Gesichter wurden, Marmorbilder oder Schiffe auf der Fahrt nach Orplid.
Dr. Helene W. lag im Schatten des Birnbaums, der hart an der Quaimauer steht. Sie schaute durch die Blätter des Rosenbogens, der sich über den Einschnitt wölbt, durch welchen vermutlich die Boote an Land gebracht werden oder vom Land ins Wasser. Die Öffnung in der Quaimauer ist mit einem Schmiedeisentor abgeschlossen. Wenn es zu heiß wurde, zog sich Dr. Helene W. sogar in diesen Geländeeinschnitt zurück und schaute vom Liegestuhl aus nach Gaienhofen hinüber, wo Hermann Hesse einige Jahre gehaust hatte. Aus den paar Stormsätzen ging gewissermaßen ein San Michele hervor, welches sich dann aber als das gewöhnliche Burgdorf entpuppte, wo sie, eben Helene W., K. (Schriftsteller K.) und Isidor A. (A wie Aschenbach), gemeinsam das Studium des Hochbaus oder der Architektur betrieben. –
Dr. Helene W. verspürte den Druck der Bremsung des Schnellzugs in den Hüften, faßte die Falle der Wagentür fester, parierte den letzten Ruck des anhaltenden Zuges, betrat Burgdorfer Boden und überließ sich einer Erregung, welche nur diese Region auszulösen imstande war. Unter einem ebenso hohen Hochsommerhimmel schritt sie Wege ab, die man gegangen war, als man hier studierte, nicht lang zwar, denn K. machte Schwierigkeiten, während ihre Neigung zu Isidor nicht auf eindeutige Erwiderung zu stoßen schien. K. verließ frühzeitig das Technikum, diese Backsteinliegenschaften, heiratete, trat für vorübergehend in eine Fabrik ein, wo er dann hängen blieb. Mit vierundfünfzig etablierte er sich als Schriftsteller.
Helene W. verließ ebenfalls frühzeitig das Technikum, die Architektur, um hinüberzuwechseln ins Medizinstudium, worauf sie als Ärztin nach New York kam und über Jahrzehnte als Internistin, Oberärztin, an einem New Yorker Spital tätig war. Einzig Isidor schloß sein Studium ab, blieb bei der Architektur. Er ging nach Australien. Man hatte sich seither nicht mehr gesehen, Helene W. und Isidor A.; während K. und Helene sich dann und wann doch auf einem ihrer Heimaturlaube getroffen hatten. Dr. Helene W. schritt also Alleen ab, Lindenalleen; roch diese Hochbaulandschaft, diese Backsteinliegenschaften, strich im Vorübergehen mit den Fingerspitzen über die mächtigen, rauhen Natursteinblöcke der Kellergeschosse; begegnete dem Lehrer für Baustatik, diesem würdigen Herrn mit Bart; begegnete dem Lehrer für Physik, welcher beim Experimentieren um sein Gehör, seine rechte Hand kam; betrat die Kirche neben dem Technikum, diese Schifferkirche gleichsam; hatte den Lehrer für Freihandzeichnen vor Augen, der in dieser Kirche sonntags die Orgel spielte; gedachte seiner Augen, seines Spitzbauchs, Vollbarts, seiner Locken, seiner Schürze, die unten weit vorstand, vorne natürlich, und gedachte des Winterabends nach Schulschluß, als sie oben im Technikum gemeinsam an einem Fenster standen, um in den Abend zu schauen, der verfärbt war, dabei über Haltung und Führung des Bleistifts redend.
Dr. Helene W. bog auf den Kiesplatz des Gymnasiums ein. Dieser Platz ist von vielen Linden bestanden. Zwei Reihen verlaufen parallel zur Längsseite der Liegenschaft, die ebenfalls als Backsteinbau anzusprechen ist, erbaut ein oder zwei Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende, mit prächtig durchgestalteten Fassaden, nach Homer riechend, Katull, nach Wilhelminischem auch, nach Pomade alter Geheimräte. Dr. Helene W. beschaute sich die Laterne über dem Eingang, bekam dadurch den Fassadenausschnitt über dem Eingang gleichsam als Stein- oder Architektursturzbach ab, drehte sich, um nach dem Rundbrunnen zu schauen, welcher auf der Querachse der Liegenschaft liegt und hinter den Linden. Das indische Blumenrohr glühte in den Rabatten.
Dr. Helene W. wandte sich ab. Aus einer Villa klang Klaviermusik herüber, eine Mazurka von Chopin vermutlich, was an Benn denken ließ. Das Haus Nr. 7 an der Alpenstraße hat sich wenig verändert: Erdgeschoß Mauerwerk, Obergeschoß Holzschalung, braun. Hier im Kellergeschoß und zum Garten hin hatte K. gewohnt. Seine Bude war ausgeschmückt mit Dichterporträts, aus Büchern herausgeschnitten, zwei, drei Quadratmeter bedeckend (war übrigens holzverschalt, diese Bude). Da hingen Kleist, Lenau, J. M. Lenz und so weiter.
Sie überquerte den Stadthügel, stieg jenseits hinunter, überquerte die große Straße, die Bahn, um ennet diesen in den Stadtfriedhof zu gelangen, welcher, durchzogen von Kastanienalleen, bestanden mit Eberschen (was wieder an Benn denken ließ), mit Rasenflächen durchsetzt, mit Steinen belastet, mit Fuchsienbäumchen geschmückt, mit Buchsbäumchen auch, von Mauern umgeben dalag, in der Hitze eben, voller Gerüche nach Kapuzinerkresse zum Beispiel, Lilien und Rosen, dalag unter einem Hoch, das sich weltweit, zumindest über Europa erstreckte, einen Sommer kreierend mit Gerüchen, Müdigkeiten. Und wie gesagt, die Wolken dienten dazu, als Porträts duftiger Dichterfürsten über den Wäldern zu hängen, vereinzelt auch als Gesichter gewöhnlicher Leute, als Gesicht des Isidors zum Beispiel oder als Schiffe eben von oder nach Orplid.
Dr. Helene W., Schweizer Ärztin aus New York, schritt zur Mauer hin, wo die Prominenz der Stadt aufgereiht der Ruhe pflegt. Sie stieß auf das Grab ihres ehemaligen Hauptlehrers: Karl Gabriel, Architekt, 1883–1935. Ein Wappen in Bronze schmückt den grünlichen Granitstein, auch die Schrift, die Jahreszahlen sind aus Bronze. Kurz vorher mußte man den Stein von Efeu befreit haben, denn die Spuren der Ranken, deren Haftstellen waren noch deutlich zu sehen. Sie schaute im Stehen über die Mauer, nach dem Hügel, auf dessen Rücken vor Jahren noch ein Gasthof mit Tierpark gestanden hatte. Sie schritt die Mauer ab, wo sie liegen, die Baumeister, die Fürsprecher, der Alkoholverwalter, die Mediziner, die Lehrer, der Schulinspektor, die Notare, und traf auf das Grab eines anderen ehemaligen Lehrers (sie hatte Darstellende Geometrie bei ihm): Carl Vollenweider, Direktor des kantonalen Technikums, 1861–1940. Hier handelt es sich um ein Familiengrab, des Direktors Frau ist also auch gleich da, seine zwei Söhne auch, wobei der jüngere der Söhne Diplomingenieur war, der ältere, später verstorbene, sogar Eidgenössischer Oberfeldarzt. Auch dieser Stein ist aus grünlichem Granit, ebenfalls in die Friedhofmauer eingelassen, von anderem Format freilich, da es sich hier eben um ein Familiengrab handelt. Müssen tüchtige Leute gewesen sein, sagte sich Dr. Helene W. im Weiterschreiten, bekam gleichzeitig deren Haus vor Augen, deren Villa, ebenfalls ein Backsteinbau, neben dem Technikum gelegen, in einem Gehölzgarten drin, von einem Schmiedeisenzaun umgeben, und fand, daß nun «sein» Technikum gleich auch noch sein Haus sich einverleibt hat, denn an dessen Stelle steht heute ein Erweiterungsbau, nicht mehr in Backstein freilich.
Dr. Helene W. verließ ihren Liegestuhl, schritt auf die Quaimauer zu, setzte sich auf die ungefähr fünfzig Zentimeter über den Rasen ragende Sitzgelegenheit, schaute auf den Untersee hinaus, schaute den Möwen zu, verfolgte dann eine einzelne Möwe, die nach einem Segler flog, der in einiger Entfernung verankert lag. Die Möwe plazierte sich auf die Mastspitze, hob ein paar Mal die Flügel leicht ab, nervös eigentlich.
Von Gaienhofen herüber war ein Schiffshorn zu hören. Über dem Zellersee, dem Gnadensee war der Himmel jetzt blank. Die Wälder am Horizont ließen an verschiedene Teile des deutschen Landes denken.
Von der Birnenlaube her kam der Briefträger. Er überreichte Dr. Helene W. ein stattliches Couvert, Absender: Pfarrer Anatol Z. aus Bachthalen.
Bachthalen, 2. August 1976
Sehr geehrte, liebe Frau Dr. Helene W.,
vorerst möchte ich Sie herzlich willkommen heißen. Haben Sie die Flugreise gut überstanden, und sind Sie wirklich gestern Sonntag von Kloten her in Berlingen eingetroffen? Vielen Dank noch dafür, daß Sie uns Ihren Urlaub angezeigt haben, Daten und Adresse. Wir hoffen sehr, Berlingen, die Bodenseegegend schlechthin, gewähre Ihnen einen gefreuten Heimaturlaub. Auch hoffen wir, Sie und Schriftsteller K. wieder einmal bei uns haben zu dürfen. Gerne erinnern wir uns des Zusammentreffens anläßlich Ihres letzten Urlaubs, den Sie damals ja im Winter «absolviert» haben.
Wissen Sie noch, wie sich Schriftsteller K. ereiferte, als wir ihn neckten, seiner seßhaften Lebensweise wegen; und wie er sich wand, als wir gerne etwas gehört hätten aus der Welt der Arbeit, worunter wir in jenem Fall eben die Welt der Fabriken meinten? Und wie er es vermied, im Jargon über seine doch sehr konkreten Erfahrungen aus dieser Arbeitswelt zu reden? Zu guter Letzt hat er uns dann über ein Bild hineinschauen lassen in jene nebulose Welt, nebulos in bezug auf die doch seltenen Signale, authentischen zumindest, welche zu empfangen sind von dorther, hat von seinem zweitletzten Cousin erzählt, von einem schnurgeraden Kanal, dem seltsamen Symbol für eine technisierte Welt vielleicht, und hat diesen in Verbindung gebracht mit einer Dogge oder gleich mit mehreren Doggen (heulende obendrein).
Aber besonders geblieben ist uns seine Laienpredigt, die er auf mein Monate zuvor stattgehabtes Drängen hin dann wirklich gehalten hat hier in der Kirche zu Bachthalen, und zwar nach einer kurzen Nacht, hatten wir doch zuvor eben zu lange geredet. Und wie er es vermied, in Vorhaltungen zu machen, wie er vielmehr konkret aufzeigte, warum gerade er sich zu den Christen geschlagen hat. Erinnern Sie sich seines Bekenntnisses zur Armut, zur Schwachheit?
Obgleich solche Wochenenden oder solche Treffen nicht wiederholbar sind, würden wir uns freuen, wenn es auch während Ihres jetzigen Urlaubs zu einer Wochenendbegegnung kommen dürfte, mit gleicher Besetzung wiederum.
Es trifft sich eigentlich etwas seltsam: Morgen fahre ich nach Amrain, die Abdankung zu halten für Tante Anna, die älteste Schwester Onkel Isidors. Sie wissen vielleicht, daß Anna über Jahre interniert war, und zwar bis zu ihrem nun erfolgten Tod. Daher stand das Haus mit der Linde über längere Zeit leer, bis Onkel Isidor eigentlich unerwartet, wenn auch für Monate nur, Beschlag nahm davon. Aber Näheres darüber dann vielleicht auf unserem Zusammentreffen.
Ich lege Ihnen eine Kopie meiner Ansprache bei, was etwas zu hoch geredet ist, denn es handelt sich dabei nur um stichwortartige Aufzeichnungen. Ich möchte diese Abdankung in Mundart halten und möglichst frei.
In diesen Tagen muß ich viel an das Haus in Amrain denken. Wie Sie bereits festgestellt haben werden, liegt meiner Post noch anderes bei. Ich nehme an, daß Sie daran ein gewisses Interesse haben werden. Es handelt sich um tagebuchartige Aufzeichnungen Onkel Isidors, welche man mir überlassen hat. Es sind einige Bündel vorhanden. Ihnen habe ich den Schluß dieser Aufzeichnungen beigelegt; wenn ich recht geschaut habe, Aufzeichnungen aus seinen letzten Tagen.
Eben ist «Kundschaft» eingetroffen. So muß ich schließen. Ich werde mich wieder melden.
Noch einmal: Gute Tage am Untersee!
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Anatol Z.
Ein Distelfalter flog seinen Zickzackflug. Sonnenstrahlen drängten sich durch die Lücken im Blattwerk der Birnenlaube. Die Umrisse der Schatten waren starr. Abgeschirmt durch den Winkel, den die Liegenschaft bildet, herrschte hier Windstille. Die Blumenrondelle gaben sich introvertiert, die Rinde der Birnenstämmchen krakeliert, leicht grünspanig auch. In der Liegenschaft drin: die Stiche von Dresden, das Bild vom Stammsitz der Sippe in Pommern, Bilder aus verschiedenen Teilen des deutschen Landes. Über dem Blumenrondell, und zwar über jenem gegenüber der Birnenlaube, schwebte für kurz eine Libelle.
Aus dem offenen Fenster der kleineren Schreibstube der Hausherrin, welche sich seeseitig im Obergeschoß befand, drang das Klavierkonzert von H. Gagnebin, einem Komponisten, den Dr. Helene W. nicht kannte. Es mußte sich um ein Versehen seitens der Hausherrin gehandelt haben, denn es war nicht deren Gepflogenheit, ihre Umgebung mit Musik zu versorgen. Der mittlere Satz dieses Klavierkonzerts war von bewegender Intensität. Und es dünkte Dr. Helene W., als würde mit jedem Schlag auf die Saiten der Raum ausgeweitet, so daß jene Gegenden mit einbezogen wurden, in denen Dr. Helene W. sich geträumt hatte, zumindest den Lebensabend zu verbringen – zusammen mit Isidor. Und so kam die Villa am
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