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«Wo immer man diese Ausgabe aufschlägt, wird man weg getragen vom lautlosen, mäandrischen Sprachfluss dieses grossen Poeten, weg ins Reich des ‹Spirituellen›, weg ins Zentrum der Schöpfung. Seinem Dorf am Jurasüdfuss ist Meier zeitlebens treu geblieben. Die Freiheit, es Amrain zu nennen und in einen poetischen Ort zu verwandeln, hat er sich nicht nehmenlassen. Es bedeutet ihm nicht die Welt. Nur ein Fenster zu allen Orten dieser Welt.» Süddeutsche Zeitung
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Seitenzahl: 557
Veröffentlichungsjahr: 2017
Gerhard Meier
Baur und Bindschädler
Gerhard Meier
Amrainer Tetralogie
Zum Buch:
Die Amrainer Tetralogie Baur und Bindschädler besteht aus vier Romanen:
Erster TeilToteninsel (1979) 11. November 1977. Baur und Bindschädler, alte Dienstkameraden, machen einen Rundgang in Olten. Ungefähr in der Hälfte der Wegstrecke sagt Baur zu Bindschädler: «Ohne dich nun mit meinem Literaturverständnis quälen zu wollen, muss ich doch sagen, dass für mich der Roman einem Teppich vergleichbar ist, einem handgewobenen, bei dessen Herstellung besonders auf die Farben, Motive achtgegeben wird, die sich wiederholen, abgewandelt natürlich, eben handwerklich gefertigt, beinahe mit einer gewissen Schwerfälligkeit behaftet, und der einen an ein Mädchen aus der Schulzeit erinnert und an eine Blumenmatte mit Kirschbäumen darauf, die gerade blühen; wobei man über diese Blumenmatte schreiten möchte, zumindest noch einmal und natürlich nicht allein.» Am Schluss beginnt es zu schneien.
Zweiter TeilBorodino (1982) Zweieinviertel Jahre nach dem Rundgang in Olten besucht Bindschädler seinen Dienstkameraden Baur zum ersten Mal in Amrain. Bindschädler hatte zuvor Leo Tolstois Krieg und Frieden gelesen. Immer wieder steigen ihm Bilder daraus hoch, sich mit Baurs Gerede vermischend, dem Landstrich, dem Amrainer Karneval.
Dritter TeilDie Ballade vom Schneien (1985) Jahre später liegt Baur krank im Spital zu Amrain. Bindschädler begleitet ihn durch seine letzte Nacht. Baur, euphorisiert durch Morphium, erzählt aus seinem Leben. Am Morgen hört es auf zu schneien. Über Amrain treibt Nebel hin, der sich verfärbt in der aufgehenden Sonne.
Vierter TeilLand der Winde (1990) Zum erstenmal seit Baurs Tod ist Bindschädler wieder in Amrain, auf dem Friedhof, wo die Toten aus den Gräbern zu ihren Vertrauen sprechen. Bindschädler lauscht Baurs Rede aus dem Grab, dem märchenhaften Totenreich im Drüben. Die Worte weisen den Weg zurück in die Vergangenheit, in die Erinnerung. Eingetaucht in Baurs visionäre Worte, begeht Bindschädler die alten Wege, und im Gedächtnis auferstehen Amrains Tote: Baurs Vater und Mutter, die von der Insel Rügen stammte – dem Land der Winde, das in den Bildern Caspar David Friedrichs festgehalten ist. Und zum erstenmal auch trifft Bindschädler Katharina Baur wieder, die Witwe des Verstorbenen, mit der er in gemeinsamer Erinnerung seine Reise in die Vergangenheit teilen – aber auch dem Heute gegenüberstellen kann, dem Russland Tolstois die Sowjetunion Gorbatschows. Fliessend werden die Grenzen zwischen hier und anderswo, Sein und Gewesensein, Amrain und Baurs fernen «Heimwehländern».
Über der Autor
Gerhard MeierGeb. am 20. Juni 1917, gestorben 22. Juni 2008 in Niederbipp. Er brach ein Hochbaustudium in Burgdorf ab und arbeitete 33 Jahre lang in einer Lampenfabrik bevor er mit 47 Jahren seine ersten Texte veröffentlichte. Gerhard Meier erhielt u.a. den Petrarca-Preis, den Fontane-Preis, den Gottfried-Keller-Preis und den Heinrich-Böll-Preis. Er zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts.
© 2017 Zytglogge Verlag AG, Basel
© Printausgabe Zytglogge Verlag 1987, 3. Auflage 1999
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Willi Schmid
eISBN: 978-3-7296-2174-9 (epub)
eISBN: 978-3-7296-2175-6 (mobi)
www.zytglogge.ch
Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts.
«Bindschädler, mit drei, vier, fünf Jahren zehrt man von den Bildern, Gedanken, die man mitbekommen hat, als Mitgift fürs Leben. – Mit drei-, vier-, fünfundsechzig Jahren geht man einem Fluß entlang, samstags, deklariert diesen als einen nordamerikanischen, empfindet dessen Grau-, Orange-, Gelbtöne als indianische Töne, halluziniert ein Kanu darauf, mit dem letzten Mohikaner darin, gekrönt mit zwei, drei bunten Federn. Und man begreift, mit Blick auf die Eichen am Fluß, daß die Germanen die Eichen verehrten. Und man schaut zurück auf die Jahrzehnte erfüllter Bürgerpflichten», Baur stolperte, «das heißt auf Jahrzehnte, da man Schuhe produzierte zum Beispiel, Gewehre, Backsteine, Ziegel machte, Velos, Autos, Fernseher und so weiter, oder sich sonstwie nützlich gab, bedacht darauf, Arbeitsbeginn, Arbeitsschluß pünktlich einzuhalten, vor allem den Arbeitsbeginn. Und man erinnert sich daran, versucht zu haben, den Leib und seine Glieder sauberzuhalten, in all diesen Jahren, die Beschmutzungen, die von innen herrühren, und jene, die von außen kommen, von der Straße zum Beispiel, von der Drehbank, von der Marmelade, wegzubekommen, auch den Schmutz zwischen den Zehen und sonstigen Partien. Und man gedenkt des Eau de Cologne, das man in die linke Hand goß, die Stirne zu bestreichen, den Nacken, den Hals, die Backen. Und man gedenkt des Eau de Cologne, das man in die rechte Hand goß, die Backen zu bestreichen, den Hals, den Nacken, die Stirn. Man sieht die Kleider vor sich, die vielen Kleider, die man sich zulegte all diese Jahre; vor allem die Hosen hat man vor Augen, und von diesen wiederum besonders die Beine, die nicht zu lang sein durften, nicht zu eng oder zu weit; aber auch die Kittel hatten gewissen Ansprüchen zu entsprechen, sie hatten zum Beispiel vorne unbedingt zwei und nicht etwa drei Knöpfe zu haben, mußten gleichsam Ellenbogenfreiheit gewähren, hatten Taschen möglichst mit Klappen aufzuweisen; ganz ähnlich die Mäntel, Mäntel in Gabardine oder mit Fischgrätenmuster; und daß sich dabei auch Schirme in die Erinnerung drängen (die jüngsten übrigens automatisch aufspringend), Hüte, Baskenmützen und vor allem natürlich Schuhe, die einen durch ihren Geruch, ihre Farbe (besonders Kastanienbraun), ihre Gestalt immer wieder faszinierten, ist eigentlich klar. Und man gedenkt der Verbindungen, die man eingegangen ist mit dem zarten Geschlecht, das heißt mit einer ganz bestimmten Vertreterin dieses zarten Geschlechts. Und man wundert sich, daß eine Bindung dieser Art über Jahrzehnte halten kann, was unmöglich auf eigene Verdienste zurückzuführen wäre (wobei das mit dem zartenGeschlecht freilich eine Farce ist). Und man bekommt die Kinder vor Augen, die dieser Verbindung entsprossen sind, den Sohn zum Beispiel als drei-, vier-, fünfjährigen Knaben im Spätsommer, Nachsommer oder Herbst, und wie er sich freut an den herauskollernden Kartoffeln, diese an einen Haufen legend, als zählte er sie, oder man bekommt eine der Töchter als drei-, vier-, fünfjähriges Mädchen zu Gesicht, wie es wilde Möhren gräbt auf dem Trassee der Amrainer Lokalbahn, zwischen den Schienen also, von wo es nur herunterzubringen war durch die Drohung seiner Gespielinnen, man hole die Polizei», sagte Baur, blieb stehen, schaute drei Möwen nach, die flußaufwärts flogen, ungefähr in Eichenhöhe, absetzten, sich treiben ließen, sich bemühend, die Blickrichtung flußaufwärts beizubehalten.
«An dies alles erinnert man sich, Bindschädler, ganz zu schweigen von den Orgasmen, welche das Leben krönen, wie die Federn das Haupt des letzten Mohikaners», sagte Baur, die linke Ferse abhebend (an Ort und Stelle), aufsetzend, abhebend und so weiter, mit einer Miene, die auf angespannte Sinne schließen ließ.
Waggons prallten aufeinander, weit ab. Auf dem Fluß trieben die Möwen vorüber. Ein Windstoß brachte Abgase heran. Man ging weiter.
«Wir räumten Rabatten ab», sagte Baur, «denn man wollte umgraben, Komposterde ausbringen. Die Bäume, zumindest jene, die noch die Blätter hatten, den Großteil ihrer Blätter, standen als Fackeln da, vor allem natürlich die Kirsch- und Birnbäume. Es war hart vor Abend. Zuweilen vibrierten die Blätter der Kirschbäume gleichsam kommandiert, um dann ebenso gleichgeschaltet in eine gewisse Reglosigkeit zu verfallen. Und weißt, Bindschädler, ich bin ein Augenmensch: Die Stämme und Äste waren schwarz, vor allem die Stämme der Kirschbäume, so daß diese also Fackeln darstellten auf schwarzen Pfosten, gelegentlich überflogen oder gar umschwärmt von Krähen, wobei hier auf deren Schwärze hinzuweisen eine unnötige Präzisierung bedeutete, denn Krähen sind nun einmal schwarz. Wenn sie, die Krähen, aber zu häufig und in ungewohnter Zahl auftreten, dann ist mir nicht ganz wohl, denn Krähen scheinen zuweilen mit bevorstehendem Unheil einherzugehen, was freilich beinahe an Aberglaube grenzen könnte, eben das mit den Krähen und dem Unheil. Also, als meine Frau und ich kürzlich im Garten arbeiteten, hörten wir Stimmen von der Ostseite des Hauses her, dabei hatte man noch so etwas wie Chopin-Etüden im Kopf, denn jenes seltsame Gebaren der Blätter evozierte in einem Klaviermusik, und warum dann nicht gerade solche von Chopin eben, denn dessen Musik scheint ja wirklich durchtränkt mit polnischen, galizischen Herbsten, mit Fackeln auf schwarzen Pfosten, deren Hüllen, wer weiß aus welchen Gründen, zuweilen zu erschauern pflegen, um dann wieder reglos ein Licht zu umschließen, das von Krähen umschwärmt wird. Man hörte also von der Ostseite des Hauses her Stimmen, schritt diesen entgegen, um unvermittelt vor drei Frauen zu stehen, Frauen mit Winterastern, deren Sträuße ein Ausmaß hatten, daß sie diese auf den Armen zu tragen gezwungen waren, was dann dazu führte, in diesen drei Frauen Taufpatinnen zu sehen, mit Täuflingen in oder auf den Armen, eingebettet in pastellfarbene Winterastern, das wiederum eine Entsprechung aus der Kunst heraufbeschwor, nämlich Picassos Frau mit Hahn, meiner Meinung nach übrigens Picassos schönstes Bild, wobei man dieses schönstes als fehl am Platz empfindet, denn die superlativischen, parolenhaften Gesten vertragen sich eigentlich schlecht mit einer anständigen Auseinandersetzung mit Bildern, Texten oder musikalischen Erzeugnissen», sagte Baur, mit einer Miene wiederum, als hätte er irgendwelche Geräusche auszumachen. Über der Stadt kreiste ein Sportflugzeug, setzte zur Landung an auf dem nahegelegenen Sportflugplatz. Die Fassaden am gegenüberliegenden Ufer gaben sich klassizistisch und trugen Züge des Jugendstils oder aber die simplen unserer Tage. «Was die drei Frauen mit Winterastern von richtigen Taufpatinnen unterschied, war ihre Kleidung: Zwei trugen schwarze Mäntel, eine trug bloß eine Jacke. Zudem waren alle drei sehr alt: meine drei Schwestern namens Julia, Gisela, Johanna. Julia war die mit der Jacke. Man begrüßte sich, bat die drei Schwestern ins Haus, ihr Elternhaus, Gisela und Julia auffordernd, ihre Mäntel abzulegen, setzte sich um den Tisch. Gisela und Johanna erzählten, daß sie in Zürich die Gräber von Hans, Benno, Niklaus, Karl und Ludwig aufgesucht hätten, gestern dann nach Werdenburg gefahren seien, das Grab Ferdinands aufzusuchen (das Grab des Mannes der Gisela), und heute nun sei man nach Amrain gekommen, um zusammen mit Julia auf den Friedhof von Amrain zu gehen, wobei man auf dem frisch bepflanzten Grab der Mutter zwischen die Stiefmütterchen einen Erikastock eingepflanzt habe, was natürlich einen gewissen Eingriff in die Neubepflanzung bedeute, den man bitte entschuldigen wolle. Man habe, nach den Jahreszahlen auf dem Stein, festgestellt, daß Mutter vor über hundert Jahren geboren sei, auf der Insel Rügen eben (das mich an Caspar David Friedrich denken ließ, denn für mich tun sich die Insel Rügen, Caspar David Friedrich, meine Mutter und blühende Luzerne immer wieder zusammen, ich weiß aber nicht, ob das mit der Luzerne stimmt, denn ich bin noch nie auf der Insel Rügen gewesen, habe dort also keine blühende Luzerne gesehen haben können, was mich andererseits nicht berechtigt, korrigierend in dieses Bild einzugreifen), wo sie drei, Gisela, Julia, Johanna, und auch Bruder Benno ebenfalls geboren seien, und man habe mit schmerzlichem Befremden festgestellt, daß das Grab des Vaters eingeebnet sei, auch das der Schwägerin Lina, der ersten Frau des Philipp, des zweitältesten Bruders, wobei ihre Gebeine immer noch am selben Ort lägen, vorläufig zumindest, nur daß jetzt Rasen darüber wachse, kein Stein mehr da sei, keine Blume, und man habe die neuerstellte Aufbahrungshalle besichtigt, womit der Friedhof eigentlich seinen dörflichen Charakter verloren habe, fehlen tue einem vor allem auch die Ulme vorn, welche sicher Hunderte von Jahren die Grabstätten beschattet, während winters Rauhreif die Krone in ein Geweih verwandelt habe, einem Wesen zugehörig, das der Auferweckung harrt der Ewigschlummernden, um diese dorthin zu geleiten, wo keine Schatten sind, kein Winter; wobei einen das alles an Reproduktionen gemahne, die früher die Wände der Schlafzimmer geschmückt und welche die Toteninsel dargestellt hätten, was nicht heißen wolle, sie, Johanna, habe jene Reproduktionen besonders gemocht, worauf Gisela sagte, der Grabstein Ferdinands sei aber wunderbar erhalten, weise keine Spuren von Moosen oder Flechten auf. Das nötigte einen, einzugestehen, man wisse leider nicht mehr, um was für einen Stein es sich bei Ferdinand handle. Es stellte sich heraus, daß es um einen schwarzen Marmor ging, was einen wiederum verstehen ließ, daß, im Gegensatz zum Kalkstein, Jurastein, keine Flechten und Moose darauf gedeihen können (auf einem glanzgeschliffenen Marmor eben). Das verleitete mich einzuwenden, ich fände die Patina aus Moosen und Flechten hübsch, was mir eine energische Gegenrede einbrachte und die Aufforderung, den Grabstein der Mutter doch einmal zu waschen.
Bindschädler, auf dem Gräberfeld zu Amrain sind auch einige unserer Verwandten beerdigt, die Bergers zum Beispiel, von denen einer ein Leben darauf verwandte, ein Erbe aus England freizubekommen, so daß er nur nebenher Eisenwerkarbeiter und Kleinbauer war. Da liegt auch mein Cousin Albert Baur, Uhrmacher von Beruf, zeitlebens Uhrmacher, und der ein steifes, kürzeres Bein hatte, ein Spezialvelo, zumeist einen Stumpen im Mund, so etwas wie Schalk in den Augen, und der mir bei meinem einzigen Besuch sein Atelier zeigte, das in einer großen Dachkammer untergebracht war, an deren Wänden lauter Uhren tickten. Cousin Albert starb zur Zeit, als die Roßkastanien fielen. Später, als auch seine Frau gestorben war, übernahm ein Prediger die Liegenschaft, entfernte die Affiche über dem Eingang, eine Emailaffiche, auf welcher schwarz auf weiß geschrieben stand Albert Baur / Uhrmacher, strich das Haus, überstrich dabei auch die Aufschrift, die groß an der Südfassade prangte und ebenfalls Albert Baur / Uhrmacher beinhaltete, aber nur von wenigen Leuten gelesen werden konnte, von wenigen Kirchgängern zum Beispiel, die auf dem Heimweg das Kirchgäßchen benutzten, oder von den paar Nachbarn, die ihn, Albert Baur, Uhrmacher, ohnehin kannten. Jetzt ist die Fassade südseitig, gegen das offene Gelände hin, in einem Grauton gehalten, reinlich und unbeschriftet», sagte Baur, nach dem Blatt eines Strauches langend, dieses abzupfend, im Gehen, so daß der betroffene Zweig heftig zurückschnellte, während das Blatt in Baurs Hand sich um die eigene Achse drehte, bald rechtsum, bald linksum.
«Ich kann mir», sagte Baur, «meine älteste Schwester, die Gisela, kaum vorstellen, ohne nicht auch gleich ihren Mann, den Ferdinand, ins Gesichtsfeld zu bekommen, der, wenn sie beide auf Besuch nach Amrain kamen, hinters Haus ging und angesichts des Kirschbaums sagte: ‹Ich lasse keinen meiner Kirschbäume mehr so hoch werden. Ich säge jeden oben ab. Ich will keine hohen Kirschbäume mehr.› Dieser Kirschbaum, Bindschädler, steht übrigens heute noch. Man schnitt ihm jeweils die abgestorbenen Äste weg, um ein zu rasches Absterben zu verhindern. Die Rinde des Stammes ist arg gerissen, wird aber regelmäßig von einem Specht auf Schädlinge hin überprüft, indem dieser rückwärts von oben nach unten hüpfend die Rinde beklopft, immer wieder hinhorchend, wobei das Aufschlagen des Schnabels mit einer Heftigkeit geschieht, daß man sich sorgt um die Gehirnmasse des Spechts. Bindschädler, wenn ich den Kirschbaum gelegentlich anschaue, kann es passieren, daß Schwager Ferdinand sagt: ‹Ich lasse keinen meiner Kirschbäume mehr so hoch werden. Ich säge jeden oben ab. Ich will keine hohen Kirschbäume mehr.› Was vermutlich aus jenem Reich herüber geschieht, wo es keine Schatten, keinen Winter gibt (frei nach Johanna).
Man trank Tee, meine drei Schwestern (die ihre Sträuße unten auf einer Bank deponiert hatten), meine Frau und ich. Und man sagte sich, es sei ja ohnehin die Zeit der Toten, strenggenommen wären es aber der 1. und der 2. November, wo man der Toten besonders gedenke, sie aufsuche auf den Friedhöfen, das heiße deren Gräber, diese schmücke, sogar mit einer Schale Reis versehe, manchmal seien es auch nur Teigwaren, und vielerorts stelle man Kerzen hin, oder die Frauen setzten sich auf die Gräber. Gisela sagte, es habe sie immer gemüht, daß Benno, man wisse ja, an jener Mauer und eingeengt liegen müsse. Der neue Friedhof sei damals noch nicht fertig gewesen, so daß auf dem alten die letzten Toten möglichst nahe beieinander plaziert hätten werden müssen. Das brachte mir Bruder Benno vor Augen, als Aufgebahrten auf besagtem Friedhof, dann als jungen Menschen, wie ich ihn von den Fotos her kannte, das Turnerband um die Brust, besetzt mit zwei, drei Festabzeichen. Dann schob sich ein Turnerdiplom vor, das Monate früher per Zufall im Gerümpel zum Vorschein gekommen war und das er, Benno, ziemlich genau ein Jahr vor meiner Geburt herausgeturnt gehabt haben mußte und das seitdem in unserem Stammsitz herumgelegen hatte, wo ich, wie gesagt, ein Jahr danach zu schnaufen, schreien, stuhlen, trinken begonnen hatte (die Muttermilch übrigens mit einer Notarstochter teilend, einem Mädchen aus Amrain)», sagte Baur. Die Reifen eines Autos quietschten. Ein rückwärts fahrendes Auto stoppte. Der Fahrer des quietschenden Autos bohrte mit dem linken Zeigefinger an der linken Schläfe herum. Es roch nach Benzin. «Warum, Bindschädler, hat man im Alter dieses verrückte Bedürfnis – zurückzuschauen oder mit dem Gestern zu leben, oder immer wieder die Fäden in den Griff zu bekommen, die einen verbinden mit dem Verflossenen, Dahingegangenen, Unwiederbringlichen, das sich irgendwo aufgelöst haben müßte und das doch präsent, nicht wegzuschaffen ist? Das dann irgenwie mit uns in die Erde gelegt wird, wo es sich auflösen, verflüchtigen oder miteingehen müßte ins Mineralische, Stoffliche, um dann in den Blumen, den Lilien zum Beispiel, den Astern, Schneeglöckchen, Vergißmeinnicht über uns wiederum präsent zu werden, als deren Duft (sofern sie solchen abzugeben belieben) zu verströmen», sagte Baur. Durch die nahezu kahlen Bäume hindurch konnte man die ruhig dahinfließende Aare beobachten, ihre Farbtöne, die sie sich zugelegt hatte von den Färbungen der Ufer, aber auch von jenen des Himmels.
«Sind die Plastik-Blumen», sagte Baur, «die immer häufiger auftretenden Plastik-Blumen auf unseren Gräbern, ein Zeichen dafür, daß wir immer weniger mit hineinnehmen in unsere Gräber, immer wenigerVerflossenes, Dahingegangenes, Unwiederbringliches, das dann eingeht in die Lilien über uns, in die Vergißmeinnicht, die Schneeglöckchen und als deren Duft (falls sie solchen abzugeben belieben) dann verströmt? Worauf dieser Duft in den Hinterbliebenen wiederum jenes verrückte Bedürfnis auslösen kann – zurückzuschauen oder mit dem Gestern zu leben. So rundherum kann es laufen, Bindschädler. Wobei die Plastik-Blumen natürlich etwas ganz Besonderes an sich haben können, geradezu eine neue Epoche zu signalisieren vermögen, eine Epoche, die in Konkurrenz zur Natur zu treten versucht, und zwar auf linkisch-schmerzliche Weise, und wo diese Konkurrenzprodukte höhnischerweise die echten Produkte, die Plastik-Lilien die gewöhnlichen Lilien zum Beispiel, um ein Vielfaches überdauern.» Baur griff nach einem Kastanienblatt. «So daß den Plastik-Blumen etwas Schmerzliches anhaftet, indem sie das Rührend-Linkische aufweisen, das Machwerke kennzeichnet, besonders eben Sträuße aus Plastik», sagte Baur, im Augenblick mit dem Rücken der linken Hand über eine Plakatwand an der Gösgerstraße streichend, über das Plakat: PATRIA / IHRE / SICHERHEIT / 99 JAHRE PATRIA / FÜR UMFASSENDEN VERSICHERUNGSSCHUTZ.
«Bindschädler, ich gehe gelegentlich durchs Dorf, um am anderen Ende Brot einzukaufen, morgens, und zwar in jener Bäckerei, in der meine Schulfreundin Linda aufgewachsen ist. Diese Liegenschaft gehört heute noch Linda, die aber nicht mehr in Amrain lebt. Lindas Vater war ebenfalls Kunstturner, sogar Kranzturner. Ich glaube, er hatte ein doppeltes Turnerband um, wenn er ausrückte zu festlichen Anlässen des Turnvereins.
Nähere ich mich jeweils Lindas Liegenschaft, Bindschädler, dann frage ich mich: ‹Ist der Bäcker, Lindas Vater, wirklich durch diese Türe eingetreten, gelegentlich mit einem Schlaufenkranz aus Lorbeer gekrönt, das doppelte Turnerband um die Brust?› Und wenn der Bäcker ausrückte zu festlichen Turneranlässen, mußte er durch diese Türe hinausgetreten, über diese Terrasse geschritten sein, die noch dieselben Risse aufweist, denn diese müssen alt sein. Und der Bäcker wird zur Pergola hingeschaut haben, die mit sehr alten Glyzinien bewachsen ist, welche die zwei Fenster der Backstube beschatten, in der Linda und ich Abschied nahmen vor ungefähr fünfundvierzig Jahren, um nach dem Schulaustritt auszuziehen, das Fürchten zu lernen. Bindschädler, ich spüre heute noch Lindas feuchte Wangen. Zur Schulzeit wagte ich nicht, diesen Laden zu betreten, denn ich fürchtete, der Bäcker wisse um unsere Liebe. Manchmal, Bindschädler, kann ich in diesem Laden, der heute gut doppelt so groß ist wie zu Lindas Zeiten, stehen, weil zum Beispiel der Sattler von nebenan Brot und Wein einkauft und dann, weil er schlecht sieht, eine Handvoll Kleingeld auf den Ladentisch legt, dann noch eine und wieder eine, dabei an seiner Pfeife ziehend, an der Speichel entlangläuft, der sich jeweils unten am Pfeifenkopf zu Tropfen zusammentut, die eine Zeitlang hängen bleiben, sich im Längerwerden langsam von diesem lösen, um dann hinunterzufallen, lautlos natürlich, wobei die Aufschläge in Wirklichkeit ein dumpfes, wenn auch leises Geräusch verursachen müssen auf jenem Boden, über den Linda als Kind geschritten ist, und heute sicherlich zuweilen noch schreitet. Und ich schaue mir die Türe an, die in den Hausflur führt, ennet jenem eine Stube ist, die als Durchgang zur Backstube dient.
Früher schimmerte ein rötliches Licht durch die schweren Gardinen dieser Stube, das vermutlich von einem roten Lampenschirm herrührte. Bindschädler, wenn ich dieses Licht vor mir sehe, dann schneit es auch immer – leise (als ob es auch schon laut geschneit hätte), und Weihnachten steht vor der Tür, und auf den Zweigen der Glyzinie liegt eine Handbreit Schnee.
Die Türe, die auf den Hausflur führt, ennet dem eben die Stube liegt, die zu Lindas Zeiten abends als Wohnstube diente, muß noch dieselbe sein, nach der Falle zu schließen, die arg abgegriffen, deren Halterungslappen (oder wie man dem sagen will) zumindest einen Zentimeter abgewetzt ist. Ein andermal schwang sich der Bub der Bäckersleute, an der Falle hängend, in den Laden hinein, zum Hausflur hin, zum ... und so weiter.
Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Hauptstraße, liegt der Fleischerladen, der seither von verschiedenen Metzgersleuten betrieben wurde und in dem bis vor ein paar Jahren einer jener wundervollen Fleischertische gestanden hatte, die in Marmor und Gold ausgeführt waren, das heißt, zumindest die Jahreszahl (in diesem Fall 1904) war in Gold ausgelegt, und in dem ebenfalls einiges unverändert geblieben ist, die Türen zum Beispiel, das Schaufenster (vor dem es also seither einige Male geschneit hat), die Fastäferdecke (weiß gestrichen), einige Fleischhaken. Die Bäckers- und die Metzgersleute von damals hatten sich vermutlich nicht besonders gemocht, denn ich erinnere mich, daß Linda in der Schule erzählte, man habe einen Mäuseschwanz gefunden in einer Wurst aus dem Laden gegenüber – einen richtigen Mäuseschwanz», sagte Baur, das Kastanienblatt drehend am Stiel, wobei dieses einem flatternden Huhn glich, das Ganze etwas an sich hatte von einem «Mann mit Huhn».
Wenn man sich der Bäckerei nähert (in meinem Fall zumindest), bekommt man die Ostseite der Liegenschaft zu Gesicht. Das war früher nicht der Fall, denn es war ein Bauernhaus darangebaut, das mittlerweile abgerissen wurde. So steht nun die Ostseite der Liegenschaft Lindas entblößt da, den Schnitt des abgerissenen Hauses aufweisend, so daß man über die Tiefe, Höhe, Farbe oder Täferung der Zimmer noch etwelchen Aufschluß erhält, auch über deren Fußleisten, von welchen noch vorhanden sind, ganz zu schweigen von Überresten von Lattenrosten, Spuren von Rohren. Das erinnert einen an Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, wo auch so eine Wand beschrieben ist», sagte Baur, im Moment das Kastanienblatt loslassend, das einem Sattelschlepper nachflatterte, während man der Kolonne entlangschritt, die sich hinter dem Sattelschlepper gebildet hatte.
«Eines Morgens, Bindschädler, ich schickte mich an, Brot zu holen, freute mich bereits darauf, Amrain zu durchqueren, an der Schmiede vorbeizukommen, deren erster Besitzer unter die Lokalbahn geriet, Kunstturner war, Oberturner zu Amrain, ein doppeltes Turnerband umhatte bei turnerischen Festlichkeiten, und der (im Gegensatz zum Bäcker) grazil, aber, wie es sich eines Schmieds geziemt, sehr sehnig gebaut war – als ich mich anschickte, Brot zu holen, hörte ich in der Küche eine Schmeißfliege summen, etwas gedämpfter als üblich, aber irritierend genug. Ich stellte der Schmeißfliege nach, öffnete die Türe, machte Licht in der Laube. Ich mußte unwillkürlich an die Schmeißfliege Dámaso Alonsos denken, von der ich tags zuvor an Amanshauser geschrieben hatte, daß dieser jene umgebracht habe, um ein Gedicht zu Ende schreiben zu können, was ihn im nachhinein bewogen habe, eines zu schreiben auf den Tod einer Schmeißfliege. Denn Amanshauser hatte mir von einer Fliege geschrieben, einer länglichen, durchsichtigen, zartgrünen Fliege mit Goldknopf-Augen, geschwungenen Fühlern, die gerade flatternd vor ihm trinke und die im Herbst ins Zimmer komme, den ganzen Winter bleibe, aber so schwach werde, daß er nicht glaube, sie könnte noch ein Frühjahr haben.
Bindschädler, die Schmeißfliege fliegt also in die Laube, an ein Fenster. Beginnt zu zappeln. Eine Spinne kommt, eine kleine, vom oberen Fensterrand her. Spinne und Fliege geraten aneinander, heftig, kurz. Die Spinne zieht sich zurück, nicht ohne zuvor die Schmeißfliege umwunden zu haben. Die Schmeißfliege zappelt, so gut es noch geht. Das Licht mischt sich drein, die Wolken, die Blätter. Die Schmeißfliege verfängt sich mehr und mehr. Wird frei! Fällt einige Zentimeter. Bleibt hängen. Die Spinne ist da. Umwickelt die Schmeißfliege. Verschwindet nach oben. Blätter tanzen zu Lande, zur Luft, vibrieren an Zweigen. Am Hang leuchten Kirschbäume auf. Weiter unten Birnbäume. Der Hang ergrünt stellenweise. Die Schmeißfliege zappelt und zap ... kommt los! Fliegt zum nächsten Fenster. Bleibt hängen. Eine Spinne ... (eine größere diesmal). Gezappel, Gez ... Die Spinne weicht. Rückt von unten, hinten an die Schmeißfliege heran. Beißt zu! Die Schmeißfliege zuckt. Die Zuckungen verebben. Die Spinne zieht sich zurück. Die Fliege hängt tot im Raum. – Lichtkegel fallen auf diese, bald auf jene Partie der Staffage. Drei, vier, fünf Birnbäume leuchten auf, phosphoreszierend. Dann einige Zwetschgenbäume. Ein Kirschbaum. Über den Jura hin ziehen die Wolken, und zwar parallel zu diesem, bei Westwind.»
Baur bückte sich, löste die Schnüre am rechten Schuh, griff mit Zeige- und Mittelfinger unter dessen Zunge, zerrte nach oben, knüpfte die Schnüre, wiederholte dasselbe am linken Schuh.
«Jene Wolken über dem Jura, die in ziemlich raschem Tempo daherflogen, trugen pastellfarbene Tönungen, die aber nicht als monochrome Flächen auftraten. Eine Wolke konnte zum Beispiel ein Rosa unterschiedlicher Intensität aufweisen, an der Spitze und am Ende in Alabastertöne auslaufend. Das Ganze nahm sich aus wie ein abrollendes abstraktes Gemälde von riesigem Längenmaß.
Gelegentlich traten Wolkenlöcher auf, wie gesagt, durch welche das Sonnenlicht flutete, als fiele Scheinwerferlicht bald auf eine Gruppe Kirschbäume, bald auf zwei, drei Zwetschgenbäume, um dann einen einzelnen Birnbaum aufleuchten zu lassen.
Als ich zurück war aus der Bäckerei Lindas, Bindschädler, hing die tote Schmeißfliege nicht mehr am Faden. Die Spinne hatte sie nach oben geholt. In jenen Tagen las ich Gottfried Kellers ‹Grünen Heinrich›. Das Geschick des Meretleins und die letzten paar Minuten der Schmeißfliege taten sich zusammen. Meretleins Bild habe übrigens in einem Pfarrhaus gehangen. Meretlein muß ein schönes Kind gewesen sein, für das Bild aufgeputzt mit einem grünen Damastkleid, goldener Kette, Kopfschmuck aus Gold- und Silberflitter, durchwirkt mit seidenen Schnüren, Perlen. Auf dem Bild habe das Mädchen einen Kindertotenschädel in den Händen gehalten und eine weiße Rose.
Ich fragte mich erneut, warum einem ältere Literatur – ältere Kunst schlechthin – so nobel, so gekonnt vorkomme. Dabei glaubt man, ihr gewisse Mogeleien unterschieben zu können. Man denkt an Landvermesser, die in Karten, das heißt in deren weiße Flächen, fiktive Flüsse, Berge, Dörfer, Ebenen oder Tundren mogeln. Andererseits findet sich heutige Kunst gelegentlich ab mit weißen, zumindest monochromen Flächen.
Unser Leben, Bindschädler, mag ein Landstrich sein mit Flüssen, Bergen, Dörfern, Ebenen oder Tundren, ganz zu schweigen von den Karstlandschaften, Eisfeldern, Buchten unter Mitternachtssonne. Diesem Landstrich beizukommen, mag stets der Leute Anliegen gewesen sein. Bindschädler, wenn ich sie ausschwärmen sehe zum Wochenende, angetan in roten Strümpfen, dann muß ich an die Landvermesser denken, auch an jene, welche in die weißen Flächen der Karten fiktive Flüsse mogeln, Tundren und so weiter. Auch die andern drängen sich auf, die dorthin zu gelangen versuchen, wo’s keine Schatten, keinen Winter gibt, um zumindest Geräusche auszumachen, Balalaikaklänge vielleicht», sagte Baur, augenzwinkernd, um dann Häuserfluchten zu verfolgen jenseits der Aare, sichtbehindert durch das Gezweig der Eichen, Roßkastanien, Akazien.
«Dieses Meretlein, Bindschädler, versteckt sich vor mir immer wieder hinter dem Mädchen auf rotem Grund. Das Mädchen auf rotem Grund wurde von Albert Anker gemalt. Das Bild hängt im Museum zu Solothurn, und zwar an der Südwand (bis auf weiteres zumindest). Und wenn ich länger hinschaue, hält auch dieses Mädchen einen Kindertotenkopf in Händen und eine weiße Rose. Wobei sich diese (Rose) als jene herausstellt, welche der Leonore Beauregard entglitten und ins Meer hinausgeschwommen sein mußte (jener Stormschen Leonore Beauregard).» Baur schwieg. Ich bekam ihn als Waffengefährten vor Augen, aus der Zeit des Aktivdienstes, und wie er vor mir schritt in der Einerkolonne, während die Sternschnuppen fielen; oder ich wähnte ihn neben mir hergehen auf einem Nachtmarsch durch das Große Moos, und hatte die Villen um mich, ganze Villenviertel, welche uns die Birken evozierten, im Halbschlaf eben.
«Am Tag nach dem Besuch der drei Frauen mit Winterastern bin ich am Garten vorbeigekommen, aus dem ihre Sträuße gestammt haben mußten. Hier blühten Winterastern, kurzstielige, langstielige, rosafarbene, lilafarbene, aber auch solche, die sich in einem von leisem Rosa durchzogenen Weiß präsentierten. Sie wiegten sich, diese Winterastern, gleichsam von innen heraus und sinnend. Und ich dachte dabei an ihre Ausdünstung, ihren Geruch, ihren Duft. Und ich verglich den Duft der Blumen mit dem Geruch, den Ausdünstungen der Leute. Und ich hielt es für möglich, daß der Duft der Blumen – dem Geruch unserer Genitalien, unserer Ausscheidungen schlechthin entspricht. Wobei im Falle der Blumen die Gerüche eben als Düfte gelten, als herrliches Aroma, ohne es handle sich gerade um Winterastern, die – zwischen den Fingern zerrieben – den Geruch des Todes an sich haben, einen Geruch zumindest, den Leichname auszuströmen pflegen», sagte Baur.
Ein Kastenwagen überholte uns. Durch das Große Moos schritt man in Viererkolonne, im Halbschlaf, Villenviertel halluzinierend. Sternschnuppen fielen. Es war Winter.
«Bindschädler, du hättest sie sehen sollen, die drei Frauen mit Winterastern: fellinische Figuren. Du weißt, Fellini sucht seine Figuren unter Hunderten aus, unter Tausenden, wenn es sein muß. Er ist hinter Gesichtern her, hinter Leibern, durch die so etwas wie Weltenwind streicht.» Baur blieb stehn, schaute mich an, sagte: «Aus diesen drei Frauen mit Winterastern ist mir ein Bild geworden, aufgehängt an der Ostwand der Seele, in Augenhöhe. Um dieses Bild wird natürlich immer November sein, auch mitten im Sommer. Und die Pfiffe der Lokalbahn werden versuchen, das Bild in der Diagonale zu ritzen. Und der Geruch galizischer Herbste wird ihm bleiben, ganz zu schweigen vom Spektakel der Krähen aus dem galizischen Raum.» Baur lächelte, drehte sich ab, begann wieder zu gehen. Ich beachtete die Dampflokomotive, die als Denkmal vor den Werkstätten der SBB steht. Dabei wurden mir drei Gesichter gegenwärtig, opalfarbene übrigens, nuanciert durch ihren Umriß, ihr Lächeln (differenzierten Verlegenheiten entstammend). Und ich stellte fest, daß alle drei etwas auszumachen versuchten, Landvermesser vielleicht, rotbestrumpfte, tief hinten im Landstrich.
«So hängt also das Bild Drei Frauen mit Winterastern an der Ostwand der Seele, in Augenhöhe, wie Meretleins Bild im Pfarrhaus hing oder an der Südwand des Museums zu Solothurn das Mädchen auf rotem Grund», sagte Baur. Ich stellte mir Solothurns Roßkastanienalleen vor, besonders jene beim Baseltor, während mir Leninistische Sprüche aufstießen: ‹Nieder mit der Küche.› ... ‹Weg mit Töpfen und Pfannen.› ... ‹Die Soßenschüssel ist der Feind der Parteizelle.›...
«Du bist Eisenbahner, Bindschädler, und ich liebe die Eisenbahn. Was natürlich nicht ausschließt, daß nicht auch du eine gewisse Neigung zur Eisenbahn haben dürftest. Die Dampflokomotive dort drüben, die als Souvenir vor den Werkstätten der SBB steht, macht mich immer wieder betroffen. Und wenn’s geht, bleibe ich jeweils stehen, schaue mir zum x-tenmal deren Leib an, dessen Kupfergedärme (das auswendige zumindest), den Kamin, die Räder; empfinde einerseits die Plumpheit dieses Gebildes, um andererseits die jugendstil-, ja geradezu pflanzenhafte Grazilität einiger Partien zu bewundern und auf Eigenschaften zu stoßen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: jungmädchenhafte Unbekümmertheit – Zielstrebigkeit (wenn auch schwerfällige), die an Mutter Courage erinnert. Ich würdige jeweils aber auch den Kohlenwagen. Denn was wäre eine Dampflokomotive ohne Kohlenwagen? Und verfalle zu guter Letzt dem Dampflokomotivenschwarz, um daraus üblicherweise im Wilden Westen aufzutauchen, inmitten von Indianern, Büffeln. Und aus den Viehwagen hinter der Dampflokomotive schießen Bleichgesichter wie wild auf die Büffel. Und Indianer zu Pferd (bewaffnet mit Bogen und Pfeil) verfolgen das Spiel aus der Deckung heraus. Und der toten Büffel werden immer mehr. Und Das Lied vom Tod breitet sich aus über die Prärie. Aus seinen Klängen steigen Bahnhöfe. Auf stoppelbärtige Gesichter setzen Schmeißfliegen ab. Eine davon gerät ins Rohr eines Revolvers. Über die Mündung des Revolvers schiebt sich die Zeigefingerspitze eines Stoppelbärtigen. Der Stoppelbärtige horcht grinsend dem Gesumme der Schmeißfliege. Riesenkerbeln wiegen sich unter der Rauchfahne der Lokomotive, deren Schwarz man eben zu verfallen beliebte, um aufzutauchen im Wilden Westen, inmitten von Indianern, Büffeln, schießenden Bleichgesichtern.»
Baur hielt die linke Hand in der Hosentasche, indessen die rechte frei schwang. Er musterte gleichsam das Trottoir, das überstreut war von Blättern, vor allem jener der Roßkastanien. Während Autos Abgase ausstießen, dann und wann eine Möwe schrie, die Aare stoisch ihres Weges floß.
«Bisweilen, Bindschädler, entläßt einen besagtes Dampflokomotivenschwarz auch in Sibirien. Man wähnt sich in der Transsibirischen Eisenbahn auf einer Reise durch Rußland», sagte Baur, erneut nach dem Stiel eines Roßkastanienblattes langend, das auf der Hecke lag, diesen zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her drehend, gleichsam ein flatterndes Huhn simulierend, dessen Kamm sich mehr und mehr hätte röten müssen. Über Baur begannen Sternschnuppen zu fallen. Die Spitze der Einerkolonne löste sich auf in der Nacht. In der Ferne bellten Kanonen. Durch das Gebell der Kanonen dröhnten Engelsche Sprüche: ‹Die Ursache der Unterdrückung der Frau ist ihr Ausschluß aus der gesellschaftlichen Produktion.› ... ‹Die erste Vorbedingung für ihre Befreiung ist die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie.› ...
Baur ließ das Blatt der Roßkastanie los. Es flatterte einem Volkswagen nach. Andere Blätter taten ihm gleich, um kurz danach abzusetzen, auf der Straße diesmal, wo sie unter die Räder der Autos gerieten.
«Man wähnt sich also in der Transsibirischen Eisenbahn. Man trinkt Tee, schaut in die Birkenwälder, überschaut die Tundren, die Weiten, gelangt nach Sibirien. 21 Grad unter dem Gefrierpunkt. Opalfarbener Landstrich. Man überholt Pferdeschlitten mit Langholz beladen. Man passiert Troikas. Es wird Nacht. Unter dem Mond (Vollmond natürlich) treiben Wolken dahin, duftige, in beachtlichem Tempo, Schattenschleier ziehend über die Schneefläche, die bläuliche, unendliche. Und fernab müßten jetzt Wölfe heulen (zum Vollmond natürlich), während die Lokomotive durch die Wälder dampft, über die Tundren, die Weiten, zusätzlich eine Schleppe aus Klängen hinter sich her ziehend, eine Schleppe aus Balalaikaklängen (durchwirkt mit dem Lallen Millionen Ermordeter), die ihrerseits Klangschatten wirft auf den Vollmond, die dahintreibenden Wolken, geklöppelte Klangschatten, gleichsam», sagte Baur. Er blieb stehen, ergriff mit der linken Hand die Bügelfalte des linken Hosenbeins, zog dieses hoch, dabei feststellend, daß sich die Verknüpfung der Schuhbändel gelöst hatte. Baur ließ das Hosenbein los, bückte sich, krempelte das linke Hosenbein etwas hoch, verknüpfte die Schuhbändel neu, brachte das Hosenbein in Ordnung, richtete sich auf, drehte sich mir zu (stehenbleibend) und sagte: «Siehst du, solche Grillen hat man im Kopf und an den Wänden der Seele die Bilder, Drei Frauen mit Winterastern unter anderen, an der Ostwand eben, in Augenhöhe, wie gesagt. Dabei gilt das Bild Drei Frauen mit Winterastern als Neuerwerbung, was ihm eigentlich eine übergebührliche Aufmerksamkeit einbringt. Und wenn man als Galerist (mit Grillen im Kopf) die Drei Frauen mit Winterastern betrachtet, besonders die Gisela, dann raunt einem Schwager Ferdinand über die Schultern ins Ohr: ‹Ich lasse keinen meiner Kirschbäume mehr so hoch werden. Ich säge jeden oben ab. Ich mag keine hohen Kirschbäume mehr.› Bindschädler, dieser Kirschbaum steht noch heute, arg mitgenommen freilich, denn man sägte ihm jeweils die abgestorbenen Äste weg, um ein zu rasches Absterben zu verhindern. Jetzt hat er also eine beschädigte Figur, ähnlich jenen Figuren, die aufzuerstehen hätten der Transsibirischen Strecke entlang, aus den Wäldern, Tundren, den riesigen Weiten in Weiß, blau getönt in Mondnächten, belegt mit Schattenschleiern duftiger Wolken, unter einem Baldachin geklöppelter Klangschatten. Und besagter Specht hüpft rückwärts den Kirschbaum hinunter, auf die Rinde klopfend, hinhorchend, klopfend ..., derart, daß man sich sorgt um seine Gehirnmasse. Im November, Bindschädler, gibt’s auch mehr Elstern. Vielleicht sieht man sie bloß besser im November? Der November ist der intensivste Monat, Bindschädler, in bezug auf Farben zumindest, Bewegung, Licht; in bezug aber auch auf Verzweiflung, Verzückung. Gelegentlich freilich gibt er sich apathisch, dieser November, hüllt sich gleichsam in Nebel ein, und zwar über Tage hin, über Wochen, so daß auf den Feldern die Steinkreuze triefen, die Gehöfte vor sich hin dösen, als existierten die Leute, Kühe, die Felder, als existierten die Nußbäume nicht, die Marder, die nachts auf Dielen Dinge verschieben, rumpelnd, als spuke es in den Gehöften. An Ketten liegen verdrossene Hunde. Wege drücken sich um die Gehöfte herum, in Kiesgruben endend, Wäldern, Ebenen, die aber als solche nicht zu erkennen sind. Briefträger in Pelerinen tragen Rechnungen aus für Licht, Wasser, Heizöl, für ein Buch, Onkel Toms Hütte, vielleicht», sagte Baur, armeschwingend. Einige Möwen flogen flußaufwärts, ungefähr auf Eichenhöhe, eine davon zwei-, dreimal schreiend.
«Bindschädler, glaube mir: Die Poesie ist das Salz des Lebens», sagte Baur. «Es mag geschehen, was will: Es mögen Schweinwerfer Kirschbäume anleuchten (überirdische, alabasterfarbene); es mag schneien, Nebel triefen ... (Nebenbei, Bindschädler, hast du auch schon bemerkt, daß vor Stürmen die Häuser blau werden, vor allem deren weiße Fassaden?) ... es mag also geschehen, was will: Es mag der Bauch einem grimmen; die Lenden mögen nach einem Weibe schreien; Lenden mögen Erfüllung finden; Maßliebchen mögen andeuten, die Leute könnten noch ein Frühjahr haben, auch die Fliegen und so weiter, es mag also geschehen, was will: Wenn nicht Poesie dazukommt, zumindest eine Prise, vegetativ, dann bleibt die Suppe ohne Salz.
Dabei kann ich dir nicht sagen, Bindschädler, was Poesie ist. Ich kann dir nicht einmal sagen, was Salz ist. Und warum unser Leib auf Salz hin angelegt ist, unser Leben auf Poesie hin, das pfeifen vermutlich die Spatzen von den Dächern. Aber verstehen müßte man’s, Bindschädler.»
Eine Lokomotive pfiff, nicht eine Dampflokomotive, natürlich. Erneut war der Aufprall zweier Waggons zu vernehmen, wobei sich Abgase dreinmischten von der Gösgerstraße her, Modergeruch vom Aarebord herauf. Vier, fünf Möwen trieben auf der Aare vorüber, rückwärts, während Baur jovial seinen rechten Arm schwang (die linke Hand in der Hosentasche), schweigend vor sich hin starrend. Alle Autos auf der Gösgerstraße fuhren im Moment Richtung Stadt.
Ich bemerkte zu Baur, daß die Poesie vielleicht als Spinne zu verstehen wäre, als Spinne in uns drin, die freilich nicht Schmeißfliegen zu fangen, sondern Fäden zu spannen hätte – zu den Dingen, auch zu jenen der Dielen. Und ich sagte von den Dingen, daß man gehört habe, man werde der früheren nicht mehr gedenken und niemand werde sich ihrer mehr erinnern, wenn ein neuer Himmel und eine neue Erde sei.
«Ich habe einmal im Elsaß in ein Beinhaus geschaut», sagte Baur, «in ein Steingewölbe, halb Keller, halb Schuppen, angelehnt an eine Kirche. Dort liegen die Knochen von Generationen: die Oberschenkelknochen der Mädchen neben Oberschenkelknochen der Greise, Beckenknochen der Greisinnen unter Mittelhandknochen der Jünglinge, Brustbeine bestandener Männer über Kreuzbeinen bestandener Frauen. – Und ein alter Wind geht darüber, quasi ein Schlachtenwind. Und während in angrenzenden Landstrichen Spielzeugelefanten (indische vor allem, gestopft mit Kapok, bestückt mit Glasperlen, Gold- und Silberflitter), während also in angrenzenden Landstrichen Spielzeugelefanten der Dinge harren, Blickrichtung Osten, und während in meinem Fall zumindest an der Ostfront das Bild hängt Drei Frauen mit Winterastern, liegen sie einträchtiglich durcheinander, Bindschädler: die Becken-, Mittelhand- und alle die anderen Knochen, ganz zu schweigen von den Schädeln, die etwas von Rübenlichtern an sich haben, von Kindern durch die Nächte getragen zur Rübenlichterzeit.» Baur schwieg. Durch die Bäume strich ebenfalls ein Wind, wenn auch kein Schlachtenwind, da und dort ein Blatt lösend, das dann in die Aare fiel, aufs Bord oder aufs Trottoir. Ich dachte an Grillen. Und daß sie der ältesten Gruppe von Tieren zugehörig seien, die sich durch Lautäußerungen gegenseitig verständigen könnten. Und daß Grillen und Heuschrecken durch ihr stattliches Repertoire an Tönen diesbezüglich eine besondere Begabung aufwiesen. Und daß sich dabei die Arten durch Höhe und Dauer ihres Gezirpes unterschieden, das ebenso kennzeichnend sei wie etwa die Körperfarbe. Und daß die Insekten sängen mit der Hilfe instinkthafter rhythmischer Bewegungen. Grillen zum Beispiel erzeugten die Lautsignale mit ihren Flügeln, indem sie die Zähnchenleiste des einen Flügels gegen die Kante des anderen strichen.
Baur, leicht vornübergebeugt, starrte im Gehen auf den Asphalt, während ich ihn, gleichsam aus dem linken Augenwinkel heraus, ins Blickfeld bekam, wie er als Soldat dem Bütikofer mit Schnee den Waffenrock putzte, nachdem dieser am Hang – die Hosen hochziehend – ausgerutscht war. Die Tannen des Justistals, schneebehangen, gemahnten an Adalbert Stifter, den Schweiger aus Oberplan (Böhmerwald).
Ich erinnerte mich, Baur zu Weihnachten dann Stifters Werke in sechs Bänden geschenkt zu haben, ohne selber in deren Besitz gewesen zu sein. «Bindschädler, es ist eigentlich alles Bewegung», sagte Baur. «Ich glaube: Poesie, das ist nichts. Bewegung ist alles. Siehst du, die Große Newa fließt dahin, seit eh und je. Die Moskwa, die Aare, der Rhein, immer schieben sie Wasser (auch Kiesel), fallen über Fälle, so es diese gibt. In den Leibern fließt Blut, im Meer der Golf-, im Gehirn der Gedankenstrom, während Gedärme sich winden, die Erde sich dreht.»
Vor der Trimbacherbrücke überquerte man auf dem Fußgängerstreifen die Gösger-, dann die Industriestraße, um auf dem linken Trottoir weiterzugehen, dabei die Liegenschaft Dampfhammer passierend, an deren Südseite sich ein Platz befindet, der zum Teil mit Ahornbäumen bestanden ist, die der Liegenschaft (ein Zwischending aus Kantine, Schreinerei, Dependance eines russischen Landsitzes) so etwas wie historisches Umfeld verschaffen. Bald schritt man am ersten, dann an allen weiteren Ahornbäumen vorüber, die – von kleinerem Wuchs und kugelförmigen Kronen – an der äußeren Seite des Trottoirs stehen und die man zuweilen auch antrifft vor Café-Konditoreien, wo sie einem besonders im Frühjahr auffallen, ihrer gelbroten Gebilde wegen, die als Blüten und nicht etwa als Jugendstilerzeugnisse zu gelten hätten vor einem Himmel von eher verhaltenem Blau.
«Und alles, Bindschädler, alles dreht sich. Und bald ist das eine oben und bald ist das andere unten. Und da fischt man nach einem Pünktchen, einem einzelnen Leben in diesem Durcheinander, um es herauszustellen zusammen mit anderen Pünktchen, anderen Leben, wie man Fische, Forellen zum Beispiel, heraushebt an der Angel, mit dem Effekt freilich, daß ihr Leben in Zuckungen verebbt.» Baur schneuzte sich.
«Durch dieses Quartier marschiere ich gern. – Siehst du jene Bestandteile? Ausrangiertes Zubehör aus dem Bahnbau, vermutlich. Und obendurch der Himmel, blank zuweilen, verhangen, Sterne aufsetzend: Glühlichter über dem Feld voller Bestandteile. Da geh’ ich gern durch. Und wäre ich Fotograf, Bindschädler, diese Gebeine aus Eisen würden vermarktet, auf daß sie den Leuten verfügbar würden, ihre Wände zu schmücken», sagte Baur, im Moment mit dem Rücken der linken Hand über den Lattenzaun streichend, der die Lagerstätte gegen die Straße hin abgrenzt, gegen die Baumreihe auch, die am Anfang (wie gesagt) aus Ahornbäumen mit kugelförmigen Kronen besteht, was Klopfzeichen hervorrief, die jenen des Spechts geglichen haben mußten, der den Stamm des Kirschbaums, rückwärts von oben nach unten hüpfend, beklopfte.
Mittlerweile passierte man eine jener Schlingpflanzen, deren Ranken zu rauchen einem als Knabe zwiespältiges Vergnügen bereitete und die man von weitem erkennt, ihrer weißen Gespinste wegen.
«Dieses Feld voller Bestandteile, Bindschädler, ist mir zum Feld voller Gebeine geworden, aufgehängt an der Westwand der Seele (vis-à-vis der Drei Frauen mit Winterastern also)», sagte Baur lächelnd, diesmal den Ehering über die Latten gleiten lassend, was ein Geräusch verursachte, als klopfte ein Specht einem direkt ans Gehäuse.
Ich sagte zu Baur, daß die Seele vielleicht jenem kleinen Haus an der Ulica Dabrowiecka zu Warschau gleiche, das eine Sammlung von ungefähr siebentausend Bildwerken umfasse, die von Ludwig Zimmerer, dem Hausherrn, als paradiesischerKäfig deklariert werde. Der ständige Zustrom neuer Bildwerke erzwinge immer neue, technisch ausgeklügeltere platznutzende Präsentation, so daß sich dann von dahinter und darunter immer noch etwas hervorzaubern lasse. Die Intensität der Bildwerke, denen man mit der Kennzeichnung ‹naiv› nicht gerecht werde, lasse einen tief und unmittelbar in fremdartige mitmenschliche Innenwelten blicken. Da gebe es zum Beispiel von Jozef Lurka, der in Holz die Frohbotschaft verkünde, dabei in schlichter Frömmigkeit theologische Kühnheiten hervorbringend, eine Eva mit Forelle im Paradies, womit Lurka aber nicht auf das altchristliche Fischsymbol für Christus habe hinweisen wollen, sondern ihm sei es darum gegangen, das Paradiesische des Paradieses anschaulich zu machen: Wenn sich ein Löwe streicheln lasse, das sei noch nichts, aber eine Forelle – wo je, seit dem Sündenfall, habe eine Forelle sich streicheln lassen? Durch eine Reportage seien übrigens Fotos aus dem paradiesischen Käfig in Umlauf gekommen. Eine davon zeige den Wandausschnitt über der Treppenwange, wo unter dem Radiator Lenin, Abendmahl und Heilige Familie koexistierten, holzgeschnitzt. Ein weiteres Foto lasse in die Wohnstube blicken, deren Wände und Decke lückenlos bebildert seien. Auch der Fußboden sei bebildert, in drei Lagen, aufklappbar (laut Bildlegenden). Zudem seien einige Personen auf diesem Foto festgehalten. Eine davon, ein bekannter Kulturredaktor (wenn man sich nicht geirrt habe), starre gerade nach einem Bild an der Decke, während Zimmerer unter der Uhr stehe, die so etwas wie Weltenzeit simuliere, wobei einen das Dunkel hinter der zweiflügligen Glastür im nachhinein an seine (Baurs) Glühlichter erinnere, die über dem Feld voller Gebeine zu flimmern, hier nur intensiv zu flackern hätten in einem Weltenwind, der bei offener Tür sicherlich über diese Wände, Decke, diesen Boden streichen müßte.
«Bindschädler, da haben wir den Nago-Turm. – Bei uns krankt man an Übersättigung, kämpft gegen Übergewicht, gründet Klubs, um sich in regelmäßigen Abständen öffentlich zu wägen. Und hier, in diesem Nago-Turm, wird Kraftnahrung gemacht oder gelagert, um damit Junge zu mästen, zu treiben», sagte Baur, augenzwinkernd, als hätte er Arven vor Augen, auf Felsen im Licht. «Bindschädler, ob ich es schaffe – zu schreiben? Es ist eine Anmaßung, vielleicht. Das Reden schlechthin ist eine Anmaßung. Man sollte es halten wie die Winterastern», sagte Baur, anspielend auf ihr Schweigen in Schönheit; was einem andererseits deren genitale Düfte nahebrachte und die Vermutung Baurs, Blumen, das Kraut schlechthin, geruhten die Ausscheidungen der Kühe, der Leute als Schmackhaftigkeiten einzustufen.
«So könnte man sagen – auch die Bewegung ist es nicht: Die Stille ist’s! Alles ist Stille, könnte man sagen. – Die Poesie ist es nicht und die Bewegung ist es nicht: Die Stille ist’s! Bindschädler, jene Stille, die sich in Beinhäusern vorfindet, und zwar zwischen aufgeschichteten Oberschenkelknochen der Greise und jener der Mädchen, zwischen Beckenknochen der Knaben und Backenknochen der Greisinnen, zwischen den Brustbeinen der Bauern und den Schlüsselbeinen der Fabrikarbeiterinnen.
Und wenn einmal nichts mehr ist, Bindschädler, wenn die Blumen, die Gebeine, die Schmeißfliegen, die Flüsse nicht mehr sind; das heißt, wenn die Aare nicht mehr fließt, der Rhein, die Große Newa, die Moskwa nicht mehr fließen – dann wird alles Stille sein. – Und die Stille wird das A sein und das O. – Ja!»
Baur drehte sich um nach dem Turm mit dem Stoff, aus dem die Leiber werden. Er schneuzte sich erneut, griff an die Bügelfalte des rechten Hosenbeins, schüttelte daran, ließ los, ging weiter – armeschwingend.
Man näherte sich der Unterführung und verließ somit die riesige Lagerstätte ausrangierten Zubehörs. Über die Unterführung donnerte ein Zug, den man später auch über die Eisenbrücke rollen hörte. «Bindschädler, die drei Frauen mit Winterastern, weißt du, brachen dann auf; das heißt, Johanna brachte noch an, sie sei kürzlich bei Philipp gewesen. Es gehe ihm recht gut. Man sei zusammen essen gegangen, am gewohnten Ort. Man esse dort gut und billig. Philipp habe zum Essen ein einziges Bier getrunken. Und die Wirtsleute seien überaus freundlich gewesen, besonders der Wirt, der sogar noch an den Tisch gekommen sei, um von Hand zu grüßen. Philipp habe ihr dann mitzuteilen versucht, soweit er sich überhaupt noch verständigen könne, was es auf sich habe mit dieser Freundlichkeit. Es sei da nämlich einmal Streit ausgebrochen in der Gaststube, und da habe so ein Raufbold auch dem Wirt eine heruntergehauen. Er, Philipp, sei dann aufgestanden, sei an diesen Raufbold herangetreten, habe ihm einen Kinnhaken verabfolgt, sei wieder an seinen Platz gegangen. Man habe dann diesen Mann ins Freie getragen.
Das alles sei, man könne sich das ja vorstellen, lautlos vonstatten gegangen, wenigstens von seiten Philipps, denn dieser könne ja, des fehlenden Kehlkopfs wegen, sich kaum noch verständigen, so daß das Ganze sicherlich etwas von einer Stummfilmszene an sich gehabt haben müsse. Aber sonst gehe es ihm gut. Und sie hätten jetzt bei ihm oben, er wohne ja am Hang, auch noch so einen Wohnblock gebaut, was eigentlich unverständlich sei, eben solche Kästen an Hänge zu bauen, aber Philipp sehe trotzdem noch auf den See hinunter. Und er habe es ja gut bei jener Witfrau, die nett zu ihm sei. Und er habe ein eigenes WC dort im Kellergeschoß und eine Dusche. Sogar eine kleine Werkstatt stehe ihm zur Verfügung. Philipp habe sich eigenes Werkzeug zugelegt. Und er halte Ordnung in Kisten und Räumen. Ja, man sei in seinem Wohnquartier im allgemeinen sehr freundlich zu ihm. Man wisse wahrscheinlich, was auf ihm laste, was Philipp hinter sich habe. Und man grüße ihn häufig mit dem Vornamen, man sage: ‹Bonjour, Monsieur Philipp.›
Und man sei dann auch noch auf dem Grab von Jacques gewesen. Und das mühe eigentlich Philipp heute noch sehr, daß Jacques umgekommen, in jene Mauer gerast sei eines Sommermorgens in der Frühe, denn Jacques sei der einzige aus seiner Familie gewesen, der zu ihm gestanden sei, nachdem er (Philipp) die Stimme verloren gehabt habe.
‹Ja ... da ... ich weiß nicht warum ... aber ich muß immer fast weinen ... wenn ich hier bin ... mich umschaue ...›, sagte Julia, sich umschauend. Bindschädler, ich glaube, die Julia hatte nicht realisiert, daß sie in ihrem Elternhaus drin war. Aber irgendwie hat sie’s gespürt. Weißt, diese Veränderungen im Gehirn...
Dann baten die drei Frauen um ihre Mäntel, das heißt, die Gisela und die Johanna baten darum, denn die Julia hatte ja keinen. Man verließ die Wohnung, stieg die Treppe hinunter. Die drei Frauen behändigten ihre Winterastern. Man schritt an der Ostfront des Hauses entlang zur Straße hin, blieb stehen, betrachtete das Haus. Julia wandte sich ab, schaute nach einer Pappel, über welcher gerade Schäfchenwolken hingen. ‹Das ist ein wunderschöner Baum›, sagte Julia. ‹Wie heißt denn dieser Baum?› – ‹Das ist eine Pappel. Ja, ja, eine wunderschöne Pappel›, sagte ich.
Man begleitete Gisela, Julia, Johanna bis zur Hauptstraße und schritt somit den Weg ab, den Johanna, Julia, Gisela in ihrem Leben doch häufig gegangen waren.
Giselas Mann, Schwager Ferdinand, jener, der keine hohen Kirschbäume mochte, war übrigens Zellulose-Kocher. Er kochte Bäume, im Verlauf seines Lebens ganze Wälder, hielt sich eine Harley-Davidson, nebenbei einige Kühe, ein Pferd, zwei, drei Wagen, Erntewagen, einen Pflug, auch einen Kartoffelpflug, eine Egge, einen Schäferhund; pflanzte Kartoffeln an, Weizen, Runkelrüben, verfütterte diese winters vermischt mit Mehl, Häcksel, Kleie; wendete im Juni das geschnittene Gras auf den Matten, zusammen mit Gisela, den drei Söhnen, nachdem er nach Beendigung der Frühschicht zurückgekehrt war aus dem Zellulose-Werk, und zwar auf der Harley-Davidson, gelegentlich noch Hühner aufscheuchend der Straße entlang, die es damals noch gab – der Straße entlang. – Im Hauptberuf aber blieb Schwager Ferdinand Zellulose-Kocher, kochte also Bäume, im Verlauf seines Lebens ganze Wälder, kam gelegentlich nach Amrain, stellte sich hinters Haus und sagte: ‹Ich lasse keinen meiner Kirschbäume mehr so hoch werden. Ich säge jeden oben ab. Ich will keine hohen Kirschbäume mehr.› Am Montag dann kochte er wieder Holz, im Verlauf seines Lebens ganze Wälder, wie gesagt, wobei auch finnische Bäume darunter waren, die auf finnischen Strömen, danach auf der Eisenbahn ins Zellulose-Werk kamen, wo sie eben zerhackt, von Zellulose-Kochern gekocht wurden. So hatte Schwager Ferdinand Zeit seines Lebens viel mit Holz zu tun. Und am Ende, als er im Holzverschlag die Harley-Davidson, Haus und Familie verließ, um in der Erde zu ruhn, sagte Gisela, daß er nun kalt habe, und immer, wenn sie nach dem Friedhof schaue, friere auch sie. Indessen wurden im Zellulose-Werk Tannen gekocht, ganze Tannenwälder, damit Papier zur Verfügung stehe für Zeitungen, Bücher, Briefe und so weiter, auf daß festgehalten werde, minutiös gleichsam, was tagtäglich passiert, obgleich tagtäglich dasselbe passiert.
Ferdinand kochte also Bäume – quasi als Bauer. Philipp strich Häuser an (eine Zeitlang zumindest) – sozusagen als Boxer. In Langenthal gibt’s übrigens ein Landhaus, das Philipp angestrichen hat. Und immer, wenn ich daran vorbeikomme, muß ich an Philipp denken, den Boxer, der Häuser anstrich. Und es übernimmt mich das Erbarmen mit den Malern, die keine sind. Und wenn ich am Friedhof zu Werdenburg vorbeikomme, Bindschädler, sage ich mir: ‹Dort liegt Ferdinand und friert.› So hat man sich stets an etwas zu erinnern. Auch Tannen, Tannenwälder erinnern mich gelegentlich an Ferdinand, ganz zu schweigen von den Zeitungen, Büchern und so weiter. Ausnahmsweise tritt er, Schwager Ferdinand, sogar auf seiner Harley-Davidson auf, ein Moto-Cross veranstaltend auf dem Feld voller Gebeine, unter den Augen der drei Frauen mit Winterastern. Wobei dieses Moto-Cross in aller Stille passiert, dem Gelände, eben dem Feld voller Gebeine entsprechend.
Bindschädler, ich glaube, auch die Stille ist’s nicht – eben das A und das O. Ich glaube, die Liebe ist’s! Die Liebe ist mehr als die Poesie, die Bewegung, die Stille. Und bei der Geschlechterliebe ist die unerfüllte Liebe die große Liebe, eine Liebe, die einem Feld voller Winterastern gleicht, unter galizischem Licht, umstellt von Fackeln auf schwarzen Pfosten, deren Hüllen zuweilen zu erschauern pflegen, um wieder reglos ein Licht zu umschließen, umschwärmt von krächzenden Krähen. Ja!» sagte Baur, die linke Hand in der Hosentasche, die rechte schwingend. Es fröstelte einen.
«Ich bin abgewichen, Bindschädler. Aber vermutlich ist unser Leben, unser Denken ein stetes Abweichen. Man weiß aber nicht richtig, von was man abweicht, um dann zu guter Letzt abzuweichen dorthin, wo’s keine Schatten gibt, keinen Winter. So, Bindschädler, wird auch die Liebe nicht das Letzte sein: Gott ist’s. Gott, der alles in allem ist: Poesie, Bewegung, Stille, Liebe. Und er thront vermutlich in einer Geisterstadt, deren Häuser dem kleinen Haus an der Ulica Dabrowiecka gleichen, das eine Sammlung von ungefähr siebentausend Bildwerken umfaßt, deren ständiges Anwachsen eine ausgeklügelte Präsentation erfordert, so daß sich dann von dahinter und darunter immer noch etwas hervorzaubern läßt (frei nach Bindschädler)», sagte Baur, lächelnd, wobei die Eva die Forelle immer heftiger zu streicheln schien (zumindest jene des Bildwerks Eva mit Forelle im Paradies).
Dann wurden einem Tannen gegenwärtig, schneebehangene, was einen an Stifter erinnerte, den Schweiger aus Oberplan (Böhmerwald), gestorben in Linz, unweit des Klosters St. Florian, wo der Sarkophag Anton Bruckners steht, dessen Gehäuse mit der Fingerspitze berühren zu dürfen man das Vorrecht hatte, als man nach St. Florian zu Bruckner pilgerte, das heißt zu dessen Überresten im Sarkophag. Und man wurde bei dieser Gelegenheit gewahr, daß Klöster die Landschaft prägen, oder daß vielleicht umgekehrt spezifische Landschaften Klöster angezogen haben mögen. Aus den Werkhallen der BERNA traten gerade zwei, drei Herren, vermutlich Lastwagen-Interessenten.
«Apropos BERNA», sagte Baur, «hier hat ein Nachbar von uns die Lehre gemacht. Und dann hat er schrägaufwärts geschaut, unverwandt, und noch blauere Augen bekommen. Jetzt ist er Erzieher. Vorn, in der SBB-Werkstätte hat ein weiterer Nachbar die Lehre gemacht. Er ist später Briefträger, Postwachtmeister, daneben oder nebenbei Gemeinderat, Versicherungsagent, Mitarbeiter einer Därme verarbeitenden Firma zu Amrain geworden. Während des Aktivdienstes übermittelte er einem auf Postpaketen Grüße, was einen natürlich jeweils gefreut hat. Er hat sich eine Familie zugelegt, ein Haus, ein Auto. Er starb frühzeitig an Krebs. Und die Weichselkirschen an der Nordwand reifen immer wieder. Einzig der Kaninchenstall wurde zweckentfremdet. Die Hagebuchenhecke ist kaum noch zu bändigen. Die Birken mußten gerodet, die Fassaden gestrichen, die Straße zum Haus geteert, die Geschichte mit dem Abwasser in Ordnung gebracht werden.»
In der Luft lag jetzt Teergeruch. Von der Gösgerstraße, der man sich in einem Bogen wieder genähert hatte, drang Verkehrslärm herüber.
«Die Liegenschaft Dampfhammer vorn an der Industriestraße erinnert mich immer wieder an Rußland, Bindschädler, bringt mir streikende Eisenbahner vor Augen, um die sich ein Stadtviertel Moskaus formiert, durch dessen Gassen eisige Winde gehn. Und die Leute tragen schwarze Mäntel. Und über dem Viertel liegt Dämmerung, Schrecken. In den Werkstätten schlägt man sich tot. Ja! – Ich liebe diese Vorstadt-Landschaften, Bindschädler, diese Industriestraßen, obgleich sie etwas Unmenschliches an sich haben. Und hier, wie gesagt, haben also zwei unserer Nachbarn die Lehre als Maschinenschlosser gemacht, wovon der eine eben Briefträger, Feldpostwachtmeister, nebenbei Gemeinderat, Versicherungsagent, Mitarbeiter einer Därme verarbeitenden Firma zu Amrain wurde, um dann auf dem Friedhof zu ruhen, wo er vermutlich auch friert», sagte Baur.
«Und während also die vielen Uhren meines Cousins Albert Baur in seiner Dachstube wirr durcheinander tickten, die Zeit gleichsam um die Wette messend, aus einer Eitelkeit heraus, diese für sich herauszunehmen, um sie vorweg, allein, besser zu messen – während also die vielen Uhren an den vier Wänden der Dachstube meines Cousins (der übrigens hinkte, eines kürzeren Beines wegen, was ein Spezialvelo bedingte mit einer verkürzten Pedalstange, so daß das eine Bein, ich glaube das rechte, normale, das andere kaum merkliche Tretbewegungen vollführte) tickten, ritt mein Amrain mit, das heißt, machte die ausladende Bewegung aller benachbarten Punkte der Erdoberfläche mit, ritt durch das Weltall, drehte sich in der großen Drehung, drehte sich mit um die Erdachse, um die Sonne. Und es wurde gezeugt in diesem meinem Amrain, vor allem nachts, wenn die Lüfte um die Häuser strichen, in den Drähten sangen, den Telegrafendrähten; wobei das natürlich auch über Tag passieren konnte, zum Beispiel sonntags, morgens oder nach dem Mittagessen. Und es wurde gestorben in meinem Amrain. Und die Kinder gingen zur Schule, wenn sie nicht gerade Ferien hatten. Und jene, die noch nicht zur Schule gehen durften, beneideten die anderen, die zur Schule gehen konnten. Und die Kinder, die zur Schule gehen mußten, beneideten jene, welche die Schule bereits hinter sich hatten. Und jene, die aus der Schule waren, hingen den Erinnerungen nach an die Schulzeit. Und Vater betreute die Irren, Schwager Ferdinand kochte Bäume, Philipp strich Fassaden, zwei meiner Cousins spielten Trompete, in Viererkolonne mitmarschierend, die Fahne vorweg. Und Wolken zogen über Amrain hin bei Westwind, Ostwind. Zentralheizungsmonteure klopften Sand in die Rohre, um diese biegen zu können. Der Geruch fahrbarer Essen drang in die Schulstuben, auch das Klopfen der Monteure. Stare hingen an den Wänden der Schulstuben, Spatzen, Distelfinke, Schwalben, Krähen, Bussarde, Eulen, Spechte, Elstern, abgebildete natürlich. Mädchen schoben den Knaben Grüße zu. Unzeitige Fliegen ergingen sich auf Sträußen von Märzenglöckchen, Schlüsselblumen, Veilchen, welche die Pulte der Lehrerinnen schmückten. Lehrer erwarteten bereinigte Atlanten. Kaninchen fraßen den Löwenzahn.» Baur blieb stehen, steckte die Hände in die Hosentaschen, schaute zu den Werkhallen der BERNA hinüber, dann zum Kugeltank. «Eine feindliche Gegend, eigentlich», sagte Baur.
«Bindschädler, ein Psychiater hat mir seinerzeit eine Skizze der psychiatrischen Klinik Burghölzli angefertigt. Ich habe sie nie benutzt, das heißt, ich bin nie hingegangen. Irrenanstalten wurden früher häufig in ausgedienten Klöstern untergebracht.
Die Rosegg (solothurnische Nervenheilanstalt) habe ich kürzlich gemalt gesehen, und zwar von Rosa Wiggli, der Mutter des Eisenplastikers Oscar Wiggli. Das gemalte Gemäuer strahlte seltsames Licht aus», sagte Baur, das linke Hosenbein etwas hochhebend, vermutlich um die Verknüpfung der Schuhbändel zu kontrollieren.
«Während aus der Ferdinandschen Zellulose Papier gefertigt wurde, Bindschädler, Papier für Briefe an Bräute zum Beispiel, erlosch da oder dort ein Geschlecht, ein Volk beinahe, eine Vogelart auch; indes sich unzählige Tierarten durch ständige Zeugung, Anpassung haben erhalten können, unzählige Blumen auch: die Kapuzinerkresse zum Beispiel, das Veilchen, die Winteraster; unter den Bäumen sogar die Tanne», sagte Baur. Ich ertappte mich wieder über den Grillen, und daß sie eben musizierten, indem sie die Zähnchenleiste des einen Flügels gegen die Kante des anderen strichen. «Im Herbst, wenn jeweils die Zwetschgen gepflückt und trotzdem noch genügend Blautöne vorhanden waren, begann über Amrain hin das Rastergeräusch einer Obstpresse zu klingen; denn jetzt brachten die Bauern ihre Äpfel zum Schlosser, der eine Spindelpresse hatte, die aber von Hand bedient werden mußte, und zuletzt, wenn der Widerstand groß genug wurde, nur von Raster zu Raster gepreßt werden konnte, das jene hellen, metallischen Klänge auslöste, die über Amrain hinschwangen, durch windlose, blaue Tage, deren Stille höchstens gestört wurde durch den Schrei eines Kalbs, eines Schweins aus der Schlächterei. Die Herbstzeitlosen waren dann bereits verblüht, während die Dahlien in schmerzlicher Schönheit zum Himmel schauten. Die Bäuerinnen pflegten eine Ecke der Pflanzplätze mit Dahlien anzupflanzen, so daß dann gleichsam aus Feldern heraus und unvermittelt ein Dahlienstrauß ragte, durch den der Wind streichen konnte unter einem Himmel von september- oder oktoberlicher Bläue. In den Gaststuben zu Amrain roch es nach Bier, verschnittenem Wein. Jäger suchten sonntags die Wälder auf, um das Wild auszumachen, seine Standorte. Die Veloklubs fuhren ihre letzten Fahrten. Die Turnvereine absolvierten ihre Verbandsturntage. Kinder bastelten Drachen. Die Drescher hatten ihre große Zeit», sagte Baur. Ich betrachtete ihn von der Seite und bekam ihn vor Augen, wie er als Soldat vor mir her schritt in einem Eisstollen drin; wähnte mich von grünlichem Licht umflossen und von der Hoffnung erfüllt, Ausschau halten zu dürfen über einen nachsommerlichen Landstrich am Ende des Stollens.
«Bindschädler, wenn ich in diesen Tagen durch Amrain gehe, auf meinem Gang in die Bäckerei, die, wie gesagt, heute noch Linda gehört, wobei aber Linda nicht mehr in Amrain, sondern in jener Stadt wohnt, in deren Museum das Mädchen auf rotem Grund hängt – wenn ich also morgens durchs Dorf gehe und jene Wand zu Gesicht bekomme, die den Querschnitt der abgerissenen Liegenschaft festhält und jener Wand gleicht, die Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge beschrieben hat, dann kann es passieren, daß ich nicht durch ein verhangenes Amrain, sondern durch ein duftiges, pastellfarbenes Bild Joseph Mallord William Turners wandle, in welchem die Bäume kopfstehen, das heißt mit den Kronen in einem turnerschen Grunde wurzeln.