Weshalb bin ich hier? - Helen Perkins - E-Book

Weshalb bin ich hier? E-Book

Helen Perkins

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! Lisa Wagner blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Staubgrau lag die Dämmerung des frühen Märzmorgens über dem weitläufigen, parkähnlichen Garten in einer der besseren Gegenden Münchens. Die Villa stammte aus der Zeit der letzten Jahrhundertwende. Ein reicher Tuchhändler hatte sie nach dem damaligen Geschmack für sich und seine Familie erbauen lassen. Das hieß hohe Räume, Stuck, knarrendes Parkett, Bleiglas und hier und da eine bunte Einlegearbeit aus Künstlerhand. Der Tuchhändler hatte hier nur wenige Jahre gelebt, seine Frau war früh verstorben, eines der Kinder an Diphterie. Danach war er einsam gewesen, hatte das Haus verkauft, die Stadt verlassen. Ein arrivierter Kunstmaler hatte den Besitz erstanden, hier viele Jahre verbracht und war hoch betagt in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda aus gesägtem Naturstein gestorben. Später war das Haus von wechselnden Regimes und Machthabern besetzt worden, abgewohnt, zerschlissen. Es hatte Jahre lang leer gestanden, war schließlich zu einem sehr moderaten Preis von Kai Wagner erstanden und grundsaniert worden. Der begüterte Unternehmer hatte ein Schmuckkästchen daraus gemacht, umgeben von einem herrlichen Garten in englischen Stil. Lisa hatte sich mit der Geschichte des Hauses beschäftigt, in langen, einsamen Stunden. Sie seufzte leise und fuhr sich mit einer unbewussten Geste über ihren rechten Unterarm. Ein unangenehmes Jucken hatte sich dort ausgebreitet. Sie strich über den Pulloverärmel aus feinstem Kaschmir, ohne ihn nach oben zu schieben und die bläulichen Verfärbungen zu offenbaren, die ihren Unterarm in Form von fünf Fingern überzogen. Unvermittelt musste sie an das denken, was ihre Mutter immer gesagt hatte, wenn sie sich als Kind verletzt hatte. »Wenn's juckt, dann heilt's.« Edith Hansen war eine einfache, aber kluge Frau gewesen, geboren und gestorben in Ulm, nach einem Leben mit Mann und zwei Kindern, Hausarbeit und ab und an einer Ferienreise in die Berge. Es heilt nicht, Mama, dachte Lisa in einem Anflug von kalter Verzweiflung. Sie dachte an die wenigen Jahre mit Rolf, ihrer Jugendliebe.

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Chefarzt Dr. Norden – 1161 –

Weshalb bin ich hier?

Vielleicht wartet jemand verzweifelt auf mich …

Helen Perkins

Lisa Wagner blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Staubgrau lag die Dämmerung des frühen Märzmorgens über dem weitläufigen, parkähnlichen Garten in einer der besseren Gegenden Münchens. Die Villa stammte aus der Zeit der letzten Jahrhundertwende. Ein reicher Tuchhändler hatte sie nach dem damaligen Geschmack für sich und seine Familie erbauen lassen. Das hieß hohe Räume, Stuck, knarrendes Parkett, Bleiglas und hier und da eine bunte Einlegearbeit aus Künstlerhand.

Der Tuchhändler hatte hier nur wenige Jahre gelebt, seine Frau war früh verstorben, eines der Kinder an Diphterie. Danach war er einsam gewesen, hatte das Haus verkauft, die Stadt verlassen. Ein arrivierter Kunstmaler hatte den Besitz erstanden, hier viele Jahre verbracht und war hoch betagt in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda aus gesägtem Naturstein gestorben. Später war das Haus von wechselnden Regimes und Machthabern besetzt worden, abgewohnt, zerschlissen. Es hatte Jahre lang leer gestanden, war schließlich zu einem sehr moderaten Preis von Kai Wagner erstanden und grundsaniert worden.

Der begüterte Unternehmer hatte ein Schmuckkästchen daraus gemacht, umgeben von einem herrlichen Garten in englischen Stil.

Lisa hatte sich mit der Geschichte des Hauses beschäftigt, in langen, einsamen Stunden. Sie seufzte leise und fuhr sich mit einer unbewussten Geste über ihren rechten Unterarm. Ein unangenehmes Jucken hatte sich dort ausgebreitet. Sie strich über den Pulloverärmel aus feinstem Kaschmir, ohne ihn nach oben zu schieben und die bläulichen Verfärbungen zu offenbaren, die ihren Unterarm in Form von fünf Fingern überzogen.

Unvermittelt musste sie an das denken, was ihre Mutter immer gesagt hatte, wenn sie sich als Kind verletzt hatte. »Wenn’s juckt, dann heilt’s.«

Edith Hansen war eine einfache, aber kluge Frau gewesen, geboren und gestorben in Ulm, nach einem Leben mit Mann und zwei Kindern, Hausarbeit und ab und an einer Ferienreise in die Berge.

Es heilt nicht, Mama, dachte Lisa in einem Anflug von kalter Verzweiflung. Es kann nicht heilen …

Sie dachte an die wenigen Jahre mit Rolf, ihrer Jugendliebe. Rolf Schubert, der Junge von nebenan. Sie hatten sich verliebt und waren ein Pärchen gewesen, hatten am Samstagabend in der Disco Händchen gehalten und Zukunftspläne geschmiedet. Rolf hatte Mechaniker gelernt, war ganz verrück gewesen nach allem, was schnell und gefährlich war. Verliebt, verlobt, verheiratet. Und dann war Torben auf die Welt gekommen. Rolf hatte ihr hoch und heilig versprochen, endlich einen Kombi zu kaufen und sich von seinem Motorrad zu trennen. Ein letztes Mal noch eine Runde drehen, das hatte er gesagt mit Wehmut in den Augen. Eine letzte Runde im Novembernebel, bei schlechter Sicht und tückischer Straßenglätte. Und dann war Lisa Witwe geworden, mit Anfang zwanzig und einem Baby.

Lisas Eltern hatten sich gekümmert, auch Mark, ihr älterer Bruder war regelmäßig heim nach Ulm gekommen, um ihr zu helfen, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Damals, fünf Jahre war das nun her, hatte er noch in München studiert. In der Zwischenzeit war er Wasserbauingenieur, projektierte überall auf der Welt, zuletzt eine riesige Brückenanlage im westlichen Kenia. Lisa und Mark standen sich sehr nahe, noch näher jetzt, nachdem die Eltern kurz hintereinander gestorben waren und sie nur noch einander hatten. Trotzdem hatte Lisa sich einsam gefühlt in ihrer Heimatstadt, überall nur noch Erinnerungen, Vergangenheit. Sie wollte weg, irgendwo neu anfangen. Und dann hatte sie eine Stelle in der PR-Agentur Wagner in München angenommen. Der Ortswechsel hatte ihr gut getan, Torben hatte sich problemlos im neuen Kindergarten eingewöhnt. Nach und nach verblassten die Bilder ihres früheren Lebens, vernarbten die Wunden, die Schmerz und Trauer gerissen hatten. Und dann hatte Lisa sich wieder verliebt, in ihren Chef Kai Wagner. Der schlimmste Fehler ihres Lebens, wie sie nun wusste.

Kai war gut aussehend, charmant und begütert. Er besaß Geschmack, war gebildet. All das, was man sich nur wünschen konnte. Als er angefangen hatte, Lisa zu umwerben, hatte sie sich gefühlt wie im Märchen. Kai liebte sie. Er war ein wunderbarer Vater für Torben. Lisa tauschte ihr altes Durchschnittsleben gegen einen Traum, aus dem es jedoch schon sehr bald ein überaus bitteres Erwachen geben sollte.

Es fing wenige Monate nach ihrer Hochzeit mit Kleinigkeiten an. Lisa musste feststellen, dass ihr Mann kleinlich war, pingelig. Alles hatte genau so zu sein, wie er das wollte. Wenn nicht, reagierte er gereizt, auffahrend. Er bestimmte alles in ihrem Leben, jedes Detail. Sie durfte nicht mehr arbeiten, hatte zu Hause auf ihn zu warten, obwohl sie nicht mehr zu tun hatte, als Torben zur Schule zu bringen und abzuholen, seine Hausaufgaben zu kontrollieren. Die tüchtige Haushälterin Elfriede Kramer hatte alles im Griff, zudem kam mehrmals die Woche eine junge Frau für die groben Arbeiten. Lisa blieb nur, daheim auf ihren Mann zu warten, bis er, meist übellaunig und abweisend heimkam. Er ließ sie nicht mehr an dem Leben außerhalb der Villa teilhaben. Er schloss sie von allem aus. Im Gegenzug verlangte er von ihr über jede Minute ihres Tages Rechenschaft. Er entpuppt sich als Tyrann, krankhaft eifersüchtig und ein echter Kontrollfreak. Doch das war nicht alles. Lisa konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als ihm zum ersten Mal die Hand gegen sie ausgerutscht war. Es war nur eine leichte Ohrfeige gewesen. Doch sie wusste heute, dass Kai damit eine Grenze überschritten hatte. Das Land, das dahinter lag, hieß Demütigung, Gewalt, Verzweiflung.

Lisa stöhnte gepeinigt auf bei diesem Gedanken. Sie war in den vergangenen Monaten durch die Hölle gegangen. Unzählige Male hatte sie versucht, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie war mit Torben fortgefahren, sie war weggelaufen, einmal sogar nachts und barfuß. Doch Kai hatte sie immer wieder zurückgeholt. Er duldete keine Flucht, er betrachtete sie mittlerweile als sein Eigentum. Lisa war zutiefst verzweifelt, sie sah keinen Ausweg. Einzig mit Mark hatte sie darüber gesprochen. Er hatte sie holen wollen, aber sie mochte ihn nicht in ihr Unglück hinein ziehen. Dachte sie an Kais Anfälle von Jähzorn, die immer heftiger wurden, fürchtete sie nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für jeden anderen, den sie um Hilfe anging. Elfriede Kramer stand auf ihrer Seite. Sie war schon lange im Haus, hatte die Dramen der beiden vorangegangenen Ehen miterlebt, von denen Lisa nicht einmal etwas geahnt hatte. Die Haushälterin hatte es gewagt, ihr bei jeder Flucht zu helfen, doch sie hatten nichts erreichen können. Es war wie ein Anrennen gegen Betonmauern.

Nun hatte sich etwas geändert. Am Vortag hatte Kai Torben wegen einer Kleinigkeit geschlagen. Das hatte für Lisa den Ausschlag gegeben, sich nun nachdrücklich um Hilfe zu bemühen. Es konnte so nicht weitergehen. Schlimm genug, was sie zu erdulden hatte. Doch sie würde es nicht zulassen, dass ihr Sohn nun ebenfalls zum Opfer wurde. Etwas musste geschehen!

»Fertig, Mama!« Torbens Stimme holte Lisa aus ihren trüben Gedanken. Die schlanke Blondine mit den tiefblauen Augen wandte sich vom Fenster ab, trat neben den Küchentisch, an dem der Junge eben seine Müslischüssel gelehrt hatte, wuschelte ihm die blonden Locken und sagte mit erzwungener Fröhlichkeit: »Schön, dann zieh deine Jacke an, wir müssen allmählich los.«

Elfriede Kramer betrat die Küche, die beiden Frauen tauschten einen einvernehmlichen Blick. Die rundliche Mittfünfzigerin besaß ein mütterlich mitfühlendes Herz. Sie hatte mit Kai Wagners beiden ersten Frauen gelitten, doch für Lisa empfand sie beinahe wie für ihre eigene Tochter. Und der kleine Bub war ihr ganz fest ans Herz gewachsen.

Die Haushälterin stellte das Frühstücksgeschirr aus dem Esszimmer ab, wo Kai Wagner stets allein aß, dann strich sie Lisa mit einem aufmunternden Lächeln über den Arm.

»Das wird schon. Denken Sie daran, Ihren Bruder anzurufen. Er müsste längst wieder in Ulm sein.« Sie schaute die junge Frau ernst an. »Sie dürfen keine Zeit mehr verlieren, Lisa.«

»Ja, ich weiß«, murmelte diese mit brüchiger Stimme.

Torben wartete bereits gestiefelt und gespornt in der weitläufigen Diele. Lisa zog ihren Mantel über und folgte dem Buben, der es nun eilig hatte. Torben ging gern in die Schule, er hatte viele Freunde und lernte leicht. Alles hätte so schön sein können, wenn … Ja, wenn sie sich nicht in Kai Wagner verliebt hätte und seine Frau geworden wäre.

Lisa nahm ihren Sohn an die Hand, sie verließen das Haus, spazierten durch die ruhige Allee. Die hohen Bäume waren noch kahl, die breiten Stämme feucht vom Nacht­regen. Doch die Knospen schwollen jeden Tag ein wenig mehr, und erste Meisen hüpften zwitschernd in den Ästen herum.

»Mama, guck mal, da vorne sind Nils und Lucy! Darf ich mit denen gehen? Sie sind in meiner Klasse, weißt du?«

»Ja, ich weiß, lauf nur«, sagte sie lächelnd.

Torben strahlte sie mit seiner Zahnlücke an, die sie immer wieder daran erinnerte, dass er bald die letzten Milchzähne verloren hatte. Ein weiterer Schritt ins Leben, weg von der Zeit an Mamas Rockzipfel, voller Neugierde auf das, was hinter dem Horizont der frühen Kindheit wartete und lockte.

»Bis heute Mittag, Mama!« Weg war, wuselte auf seinen noch kurzen Beinen zu den beiden anderen ABC-Schützen, die lachend und knuffend Richtung Schultor stiefelten. Unbeschwerte Kindheit. Was für ein Hohn. Bitterkeit stieg in Lisa auf. Sie war nun dafür verantwortlich, dass er wieder so wurde und blieb. Torben hatte die Ohrfeige klaglos weggesteckt, er war ein robustes Kind, das nicht so leicht erschrak. Doch das, was am Vortag geschehen war, durfte sich nicht wiederholen. Nie mehr.

Die junge Frau hatte die Grundschule erreicht, es klingelte eben zur ersten Stunde. Lisa blieb vor dem großen, geöffneten Tor stehen, schaute zu, wie die Kinder schreiend und lachend ins Gebäude strömten. Das Trampeln ungezählter Füße, das leiser wurde und schließlich verstummte. Dann senkte sich Stille über den Platz. Im nahen Park sang ein Buchfink sein Frühlingslied.

Mit einem leisen Seufzen kehrte Lisa nach Hause zurück.

Elfriede Kramer war damit beschäftigt, das Mittagessen vorzubereiten. Lisa setzte sich an den großen Küchentisch und begann, Kartoffeln zu schälen. »Das sollen Sie doch nicht tun«, mahnte die Haushälterin nachsichtig. »Rufen Sie lieber Ihren Bruder an.«

»Ich weiß nicht, ob das richtig ist.«

»Aber, Lisa, Sie brauchen Hilfe. Mehr, als ich Ihnen bieten kann. Sie brauchen jemanden, dem Sie ganz vertrauen können.«

»Ja, ich weiß.« Sie schloss die Augen, denn sie spürte nun Tränen in sich aufsteigen. Aber sie wollte nicht weinen, nicht mehr. Sie hatte viel zu viele Tränen vergossen. »Ich habe nur Angst, dass ich Mark auch in Gefahr bringe. Kai mag meinen Bruder nicht, das wissen Sie. Und wenn er mir nun hilft …«

»Was wollen Sie sonst tun?« Elfriede Kramer blieb sachlich, auch wenn sie wusste, dass es die junge Frau große Überwindung kosten würde, ihren geliebten Bruder in diese unglückliche Geschichte hineinzuziehen. Aber es musste sein. Lisa musste überzeugt werden. Nur dann konnte dieses Drama noch einen halbwegs guten Ausgang nehmen.

»Ich weiß nicht …« Sie atmete tief durch und nickte. »Ja, Sie haben vermutlich recht. Es gibt keinen anderen Weg. Ich werde wieder nach Ulm ziehen und die Scheidung einreichen.«

»Eine weise Entscheidung. Sie brauchen dabei aber Hilfe«, erinnerte die Haushälterin sie noch einmal eindringlich. »Jemanden, der Sie schützt, wenn Ihr Mann herausfindet, wo Sie sind. Jemanden, der Ihnen nach der Trennung beisteht.«

Lisa erhob sich mit einem Seufzen. »Ich rufe Mark an.«

Elfriede Kramer nickte und schaute ihr bekümmert hinterher. Es würde schwer werden, sie fort zu lassen. Das Haus würde dann wieder leer und trostlos sein. Doch es gab keinen anderen Weg.

*

Mark Hansen saß an seinem Schreibtisch in seiner geräumigen Wohnung mit Blick auf das Ulmer Münster und war damit beschäftigt, seine Unterlagen zu ordnen. Er war am Vortag aus Nairobi zurückgekehrt und litt noch unter dem Jetlag. Er konnte nicht schlafen, musste erst mal mit der Klimaumstellung zurecht kommen. Das beste Rezept war für ihn in einer solchen Situation, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Er war zwei Monate in Kenia gewesen und hatte nun eine Woche Urlaub. Die brauchte er nach einem solchen Projekt erfahrungsgemäß, um wieder fit zu werden und seinen Bürojob auszufüllen, bis sein Boss mit einem neuen Projekt aufkreuzte. Er hielt große Stücke auf Mark, der ganz in seinem Beruf aufging und schon viel geleistet hatte.

Projekte in Afrika, Asien und Europa wechselten sich für die Hochtief Schuhmann ab. Mark hatte quasi auf allen Kontinenten seine baulichen Spuren hinterlassen. Er war auf Dämme, Brücken und maritime Bauwerke spezialisiert und liebte seine Tätigkeit.

Sein Privatleben litt unter seinem beruflichen Engagement. Er betrachtete Lisa und Torben als seine Familie. Eine eigene zu gründen, das wollte er schon, aber dafür hatten ihm bislang schlicht Zeit und Gelegenheit gefehlt. Er war nicht der Typ, der gern in Bars ging oder zu gesellschaftlichen Anlässen. Dating-Plattformen wie Tinder waren ihm fremd und peinlich. Wenn er nach einem langen Auslandsaufenthalt heimkam, rief er Lisa an. Ihre Stimme zu hören, ihr Lachen, das bedeutete für ihn Heimat.

Als das Telefon sich nun meldete, lächelte der junge Mann mit dem gut geschnittenen Gesicht und den erstaunlich blauen Augen.

»Lisa, ich habe gerade an dich gedacht. Wie geht’s euch?«

Eine kurze Pause entstand, die bereits nicht Gutes verhieß. Dann die Stimme seiner Schwester, sehr bemüht, ruhig und gefasst zu klingen. Doch er hörte die unterdrückten Tränen darin und machte sich sofort Sorgen. »Nicht gut. Es hat sich nichts geändert seit unserem letzten Gespräch, Mark. Es ist … eher noch schlimmer geworden. Viel schlimmer.« Sie verstummte, als ihre Stimme kippte.

Der junge Mann schwieg einen Moment, dann bat er behutsam: »Erzähl mir, was passiert ist. Erzähl mir alles, bitte.«

Lisa brauchte eine Weile, um das zu tun. Immer wieder musste sie Pausen einlegen, weil die Tränen sich nicht länger zurückhalten ließen, weil die Verzweiflung sie so massiv überwältigte, dass ihr einfach die Worte fehlten, sie ihr Leid nicht mehr ausdrücken konnte. Mark kannte das bereits.

Der junge Mann litt mit seiner Schwester. Und er spürte Zorn und Empörung, wenn er an seinen Schwager dachte. Diesen eingebildeten Schnösel, der ihn wie einen Bittsteller behandelt hatte, der sich ihm gegenüber stets hochnäsig und gönnerhaft gab. Wie hätte es ihm wohl gefallen zu wissen, dass Lisas Bruder über ihn Bescheid wusste, sein kleines, dreckiges Geheimnis kannte? Seine Schwäche, seine Minderwertigkeitsgefühle, die er mit Schreien und Schlagen zu kompensieren suchte? Gerne hätte Mark ihm all das einmal ins Gesicht gesagt. Doch es ging hier nicht um seinen gekränkten Stolz oder eine persönliche Abneigung, sondern nur um Lisa, darum, ihr Leben endlich wieder in Ordnung zu bringen.