Westeuropäische Buchmalerei - Anrdei Sterligov - E-Book

Westeuropäische Buchmalerei E-Book

Anrdei Sterligov

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Beschreibung

Westeuropäische Buchmalerei

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Tamara Woronowa

Andrej Sterligov

Text: Tamara Woronowa, Andrej Sterligow

Layout: Stéphanie Angoh

© Confidential Concepts, Worldwide, USA

© Parkstone Press USA, New York

© Image Bar www.image-bar.com

ISBN: 978-1-64461-798-4

Weltweit alle Rechte vorbehalten

Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Photographen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung

Inhalt

Einleitung

Frankreich

Spanien

England

Deutschland

Italien

Niederlande

Verzeichnis der abgekürzten Literaturquellen

Einleitung

Wer einmal ein mittelalterliches illuminiertes Manuskript in die Hand genommen hat, kennt die freudige Erregung, die er bei dessen Durchblättern empfindet. Man spürt darin den unmittelbaren Kontakt mit längst vergangenen Zeiten, hier finden sich Schöpfungen berühmter, manchmal aber auch unbekannt gebliebener alter Autoren aus dem Bereich der Philosophie, der Naturwissenschaft und der Theologie, von Ritterromanen und Courtoisie-Poemen, Werke von Humanisten und gelehrten Theologen, welche die Werke antiker Klassiker übersetzten und kommentierten, von Reisenden, die ihre phantastischen Wanderungen beschrieben oder von Chronisten, die mit großem Eifer historische Ereignisse für die Nachkommen aufgeschrieben haben. In unserer Vorstellung sehen wir einen Kopisten, der sich von früh bis spät in einer mittelalterlichen Werkstatt abmüht, oder einen Klosterschreiber, der in der Stille des Skriptoriums peinlich genau die Texte der Heiligen Schrift wieder und wieder niederschrieb.

Der Zauber des alten Manuskripts ist um so stärker, je reicher und verworrener seine historische Vergangenheit ist, je mehr Menschen es zu unterschiedlichen Zeiten gelesen, besessen oder sich an ihm erfreut haben. Zur Freude am Literarischen kommt auch die Freude an der Buchmalerei hinzu, einem Zweig der bildenden Kunst, der hohe professionelle Perfektion, einen reichen Sinngehalt und feinste Gestaltung abverlangte. Der harmonische Ausgleich zwischen Schrift und künstlerischer Ausstattung mehrt die starke, emotionale Wirkung. Die dicken Folianten der historischen Chroniken und Bibeln, die Werke antiker und mittelalterlicher Autoren, sowie die kleinen erlesenen Stundenbücher verwandelten sich unter der Hand der Buchmaler in kleine Ansammlungen von Bildern, die zwischen den Seiten versteckt lagen. Zum Glück erhielt die Zeit für uns die Meisterwerke der byzantinischen, südslawischen, altrussischen, armenischen, georgischen, persischen und indischen Miniatur, die eine wichtige Rolle in der Geschichte der Weltkunst gespielt haben. Unser Bildband ist der Miniatur in westeuropäischen Handschriften gewidmet. Ihr Charakter und ihre Bedeutung werden der Gegenstand weiterer Ausführungen sein.

Was die Fresken anbelangt, so konnten sie in seltenen Fällen auch dann ihr ursprüngliches Kolorit nicht bewahren, wenn sie in späteren Epochen dem neuen Geschmack entsprechend nicht übermalt wurden und die Gebäude, die sie schmückten, weder grösseren Umbauten noch Beschädigungen unterlagen, denn auch Temperaturschwankungen und atmosphärische Einflüsse wirkten sich schädlich auf sie aus.

Etwas günstiger erwiesen sich die Umstände für die Tafelmalerei, doch auch hier bewirkten Licht- und Lufteinflüsse, dass die Farben sich änderten, stellenweise abbröckelten, oft nachgemalt oder aufgefrischt wurden. Die Farben der prächtigen Gobelins verblassten, und das brüchige Glas der Fenstermalerei überlebte häufig nicht die stürmischen historischen Ereignisse. Nur die zwischen den Buchseiten sorgfältig verwahrte Miniatur war gegen Feuchtigkeit, Luft, Licht und Staub geschützt, und ihr Kolorit erhielt für uns seine ursprüngliche Frische.

Ein wichtiger Grund für den guten Erhaltungszustand der Miniaturen ist auch die äußerste Sorgfalt, die Gewissenhaftigkeit und die hohe Technik der Maler. Für die Mönche in den Skriptorien war ihre Tätigkeit mit Ehrfurcht und Andacht verbunden, die keine Nachlässigkeit duldeten. Die weltlichen Meister wiederum dachten an die Ehre der Zunft, die Ehre ihrer Werkstatt, denn von der hohen technischen Ausführung hingen die Aufträge ab, und schließlich waren die Auftraggeber nicht irgend jemand, so dass eine nachlässige Arbeit undenkbar war. Die illuminierten Handschriften wurden für die Aristokratie, die hohe Geistlichkeit sowie für die emporstrebende Finanz- und Handelsbourgeoisie angefertigt. Sie waren wahre Kleinodien, die in ihrer virtuosen Ausführung und im Preis mit den kostbarsten Juweliererzeugnissen wetteifern konnten. Das Schicksal der illuminierten Handschriften gestaltete sich auch deshalb günstig, weil sie stets ein Objekt des Sammelns waren. Die Bibliotheken waren in der Regel Vorläufer der Museen.

Aber nicht nur ihr relativ glückliches Schicksal bestimmte die Bedeutung der Buchmalerei. Ihre immer umfassendere Erforschung hat in den letzten Jahren gezeigt, dass sie im Kunstsystem jener Zeit einen sehr wichtigen Platz eingenommen hat. Ohne die Beachtung ihrer Errungenschaften kann man die Kunstkultur der Vergangenheit heute unmöglich verstehen.

Die Miniatur wurde für den Leser geschaffen, sie war für die obere Intelligenzschicht der Gesellschaft gedacht. Das Analphabetentum der breiten Schichten und der hohe Preis der unikalen Handschriften schränkte in großem Maße den Kreis jener Menschen ein, an die der Maler sein Werk richtete. Aber das Elitäre an der Miniatur führte nicht zu einer erstarrten Technik. Im Gegenteil, als die Anfertigung von Büchern größtenteils Sache der städtischen Handwerker wurde, machte man gerade in der Miniatur immer öfter maltechnische Entdeckungen, die die gesamte bildende Kunst beeinflusst haben. Die heutigen Forscher bezeichnen sie oft als »Versuchsfeld« der Malerei, als »Laboratorium neuer Techniken«. Die Erarbeitung einer neuen Kunstsprache — die Ausarbeitung des Raumes, die Wiedergabe von Masse und Volumen, Bewegung usw. — ging zum großen Teil aus den Werkstätten der Buchmaler hervor. Die illustrative Funktion der Miniaturen führte die Maler zum Narrativen, dazu, nicht nur den Raum, sondern auch den Zeitverlauf darzustellen. »Die frühe französische Malerei ist auf dem Pergament kühner als auf den Holztafeln«, schreib Grete Ring, eine bekannte Expertin der französischen Kunst.

Eine große Rolle spielte auch die Miniatur beim Aufkommen neuer Genres, in erster Linie der Landschafts- und Porträtmalerei. Das ist einleuchtend, denn die freien Sujets und der breite Themenkreis sind in der Miniatur weitreichender als in der Tafelmalerei. Man kann jetzt nicht umhin, die Kühnheit, die schöpferische Energie und den Erfindergeist der Buchmaler zu bewundern, denn gerade sie förderten die Malkunst, obwohl sie streng an feste Traditionen und Vorbilder gebunden waren. Einer nach dem anderen brachten sie etwas Neues in die Zeichnung, in das Kolorit und die Komposition ein, erweiterten den Kreis der Szenen, der Objekte und der dekorativen Motive, indem sie in ihr Schaffen immer eindringlicher Beobachtungen aus dem täglichen Leben aufnahmen.

Bei der Einschätzung der Rolle, welche die Miniatur für die Geschichte der Kunst gespielt hat, ist hier noch ein weiterer Umstand zu berücksichtigen. Das illustrierte Buch ist ebenso wie die Erzeugnisse des Kunsthandwerks eine der mobilsten Kunstarten. Die Kaufleute brachten neben anderen Waren auch illuminierte Manuskripte mit. Prinzessinnen, die ins Ausland heirateten, hatten in ihrem Heiratsgut Werke der besten Buchmaler, und die Söhne, die neue Besitztümer erhielten, nahmen ererbte Bücher mit sich. Bücher gehörten auch zu den Siegestrophäen. Auf diese Weise wanderten die illuminierten Handschriften durch Europa und waren Wegbereiter neuer Ideen, neuer Geschmacks- und Stilrichtungen. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Einfluss der Pariser Kunst auf viele Länder in der zweiten Hälfte des 14. bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts in nicht geringem Maße gerade durch die Verbreitung der Buchmalerei zu erklären ist.

Die Miniatur steht nicht nur mit der Tafelmalerei in fester Wechselbeziehung, sondern auch mit der Skulptur, denn bei der Ausarbeitung des plastischen Dekors von romanischen und gotischen Kathedralen dienten die illustrierten Handschriften als Inspirationsquellen von Themen, Gestalten und der Ikonographie. Emailmaler, Elfenbeinschnitzer, Weber, Meister der Glasmalerei und sogar Architekten schöpften die Anregungen für ihre Darstellungen aus den Handschriften. Selbstverständlich existierte dann auch eine, bisweilen starke, Rückwirkung, wenn sich die Errungenschaften anderer plastischer Künste auf die Miniatur fruchtbringend auswirkten. Doch auch in diesem Fall trägt ihre Erforschung viel zur Erfassung der Kultur vergangener Zeiten bei. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, bis einschließlich Jean Fouquet, wurden die Meister der französischen Miniatur von der vortrefflichen Skulptur der Hochgotik inspiriert.

Im 13. Jahrhundert ist die Miniatur stark von der Glasmalerei, im 14. Jahrhundert von den italienischen Fresken beeinflusst worden, und im 15. Jahrhundert konnte sie nicht an den prinzipiellen Entdeckungen der niederländischen Maler, der italienischen Architekten und Bildhauer sowie der Maler des Quattrocento vorbeigehen. Betont sei, dass in dieser komplizierten und fruchtbringenden Wechselwirkung von Schulen, Genres und Kunstarten der Miniatur eine selbständige und gewichtige Rolle zukam.

Das Sammeln, Erforschen und Veröffentlichen von Miniaturen erwies sich als so wichtig für die Kunstgeschichte, dass eine abermalige Überprüfung von ganzen kunsthistorischen Konzeptionen vonnöten war. Wenn man z.B. früher den Trend zum Beobachten, das aufmerksame Studieren der Details und das Interesse an der Landschaft in der europäischen Malerei nördlich der Alpen im 15. Jahrhundert vorwiegend mit dem Einfluss der großen niederländischen Meister in Verbindung brachte, so wird jetzt angenommen, dass diese Eigenschaften in großem Maße ein Erbe der Pariser Schule der Miniaturmalerei aus der Wende zum 15. Jahrhundert gewesen sind. Ohne die bis auf uns gekommene Buchmalerei würden ganze Jahrhunderte in einer Reihe von Ländern zu Jahrhunderten ohne Malerei geblieben sein, denn viele große Meister sind nur durch ihre Buchmalereien bekannt geworden.

Nicht nur die Kunsthistoriker erforschen mit wachsendem Interesse die Miniaturen, denn wie kein anderer Zweig der bildenden Kunst gibt sie uns einen Einblick in vergangene Zeiten. Als »sekundäre Kunst«, als Interpretation eines literarischen Werks ist die Miniatur ein unschätzbares Dokument dafür, wie die Menschen jener Zeit die Literatur verstanden und deuteten, welche Empfindungen die antiken Werke bei ihnen hervorriefen, wie diese der entsprechenden Zeit angepasst wurden und wie sie mit den Auffassungen der folgenden Entwicklungsetappe der geistigen Kultur korrelierten.

Trotz alledem ist die Buchmalerei in erster Linie als eigenständiges Kunstwerk aufzufassen, das als ein wichtiger Bestandteil in das Kulturerbe der heutigen Menschheit eingeschlossen werden muss. Bisweilen vergleicht man die Miniatur mit der Kammermusik, während die Tafel- und Monumentalmalerei Assoziationen an die sinfonische Musik hervorruft. Dieser Vergleich ist nur zum Teil berechtigt, denn die Miniatur setzt einen intimen Konnex mit dem Betrachter voraus. Sie ist nicht auf ein breites Auditorium ausgerichtet. Hier gibt es einen anderen Begriff von Monumentalität und Maßstab. Wenn man jedoch die Mannigfaltigkeit und die Prägnanz der Ausdrucksmittel, die Möglichkeit der Orchestrierung in Betracht zieht, so erweist sich die Miniatur nicht minder sinfonisch als die ihr zeitgleiche große Malerei.

Das Illuminieren von Handschriften ist eine äußerst wichtige Etappe in der Geschichte der Buchgestaltung. Das Ausschmückungssystem des Manuskripts wird immer komplizierter und reichhaltiger, bis es im 14. und 15. Jahrhundert zur vollen Blüte gelangte. Die Initialen haben verschiedene Größe, unterschiedlichen Charakter und Inhalt, die Rubriken im Text sind mit Farben und Gold gemalt, es gibt horizontale ornamentale Verzierungen im Bereich einer Textzeile und mit reichem Pflanzenornament gesättigte Bordüren, Darstellungen von realen und phantastischen Wesen, Menschenfigürchen und verschiedene Monstren, ein auf das Randfeld übergehendes filigranes Ornament, ausgedehnte Kompositionen auf dem unteren Feldrand und schließlich selbständige Illustrationen in Form von Miniaturen. Wenn die Handschrift ausgeschmückt, illuminiert, werden sollte, so ließ der Schreiber Platz frei für die Initialen, Felder, Medaillons, halb- und ganzseitigen Illustrationen. Manchmal wurden neben diesen leeren Stellen, die für die zu illustrierenden Sujets oder »Historien«, wie man sie damals zu nennen pflegte, am Rande Hinweise für den Maler geschrieben, was er darzustellen hatte.

Danach begann die Arbeit der Maler. Zu der Zeit, als sich der Schwerpunkt für die Herstellung von Handschriften aus den Klöstern in die weltlichen, städtischen Werkstätten verlegte, begann sich eine Spezialisierung durchzusetzen. Der Hauptmeister leitete den gesamten Prozess, fertigte die Skizzen an und führte die wichtigsten Stellen selbst aus (bei besonders verantwortungsvollen Aufträgen war es die gesamte Illuminierung bzw. ihr größter Teil). Einer der Gehilfen trug, gemäß den Vorlagen und den Hinweisen des Werkstattleiters, die Zeichnung mit Tinte oder einem Blei-bzw. Silberstift auf, ein anderer vergoldete die nötigen Stellen, ein dritter legte die Farben auf usw. Eine solche Spezialisierung förderte die Leistungsfähigkeit der Werkstatt und gewährte eine hohe Qualität. Die Ehre aber, eine neue Technik entwickelt, ein Sujet auf neue Weise interpretiert und eine kunsttechnische Entdeckung eingeführt zu haben, kam allein dem Leiter der Werkstatt zu.

Die Arbeit des Schreibers und des Miniaturmalers war sehr schwer. Uns haben die Worte eines Klosterschreibers aus der Abtei Corbie erreicht: »Lieber Leser, wenn du diese Blätter mit den Fingern wendest, so gib acht, dass die Schrift nicht beschädigt wird. Außer dem Schreiber macht sich keiner einen Begriff davon, was für eine schwere Arbeit das ist. Für den Schreiber ist es die gleiche Wonne, die letzte Linie zu führen, wie für den Seemann, in den heimatlichen Hafen zurückzukehren. Nur drei Finger des Meisters hielten das Kalam (Rohrfeder), es litt aber sein ganzes Wesen bei dieser Arbeit.« Die alten Traktate lehrten, dass man das Gold zuerst zart, danach aber immer stärker polieren muss, und schließlich mit solcher Energie, dass der Schweiß auf die Stirn tritt.

Bisweilen trug man die Farbe in sieben Lagen auf und musste oft mehrere Tage warten, bis die vorige Schicht getrocknet war. Die mühselige Arbeit der Meister wurde jedoch durch das glänzende Resultat belohnt. Emile Male, ein namhafter Kenner der mittelalterlichen Kunst, beschrieb eine bestimmte Handschrift folgendermaßen: »Der Psalter Ludwigs IX. scheint ein Kleinod aus Gold und Email zu sein. Man weiß nicht, ob es das Erzeugnis eines Malers oder eines Juweliers ist. Wenn der König sein Gebetbuch in Sainte-Chapelle aufschlug, so harmonierten die Miniaturen mit dem Lasurblau der Gewölbe, mit den farbigen Glasfenstern und den kostbaren Reliquienschreinen.«

Die virtuose Meisterschaft der alten Buchmaler ist bewunderungswürdig. Die kalligraphische Zeichnung und die Harmonie von Gold und Farbe sind eine Augenweide. Um aber die künstlerische Qualität der Miniaturen in vollem Maße würdigen zu können, genügt es nicht, nur ihre Herstellungstechnik zu kennen, ihre abstrakte Schönheit zu empfinden und ihren materiellen Wert zu erfassen. Wir, die heute im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts leben, müssen uns bemühen, die Darstellungen maximal zu begreifen. Die Miniaturen illustrierten nicht nur das Sujet oder eine gewisse Idee, sie riefen gewisse Stimmungen hervor, wie das Gefühl der Freude oder der Trauer, des Schönen oder des Hässlichen, der Angst oder der Liebe. Die Sprache der religiösen Symbole und der poetischen Allegorien war den Menschen jener Zeit verständlich. Alle Realien waren nah und erkennbar, und der Konnex des Menschen mit dem Buch, und damit auch mit der Miniatur, war von ernsthafter Natur und erlaubte keine Hast.

Der spezifisch intime Charakter der Miniatur, die fest mit dem Buchtext verknüpft ist, erschwert die Möglichkeit, die Handschriften so zu exponieren, dass die Besucher der Ausstellung alle Miniaturen betrachten können. Deshalb ist die Buchmalerei nur einem engen Kreis von Fachleuten zugänglich, die Kunstliebhaber müssen jedoch mit Reproduktionen in Büchern und Bildbänden vorliebnehmen. Die Miniatur ist besonders gut für die vorliegende Edition geeignet, denn im Unterschied zur Tafel- und Monumentalmalerei können hier die Ausmaße oft in Originalgröße wiedergegeben werden. Außerdem kann man die Miniaturen wie in ferner Vergangenheit in der stillen Abgeschiedenheit des Zimmers, am Fenster oder bei Lampenlicht beschaulich und eingehend betrachten. Geduld und Aufmerksamkeit werden durch die sich dabei eröffnende Welt reichlich belohnt.

Die reiche Sammlung an westeuropäischen Handschriften in der Öffentlichen Bibliothek ermöglicht es, den vorliegenden Bildband nach historischem Prinzip aufzubauen. Obwohl nicht alle nationalen Schulen und nicht alle Perioden in unserer Sammlung vertreten sind — es fehlt die ottonische Miniatur und die romanische Epoche weist nur englische und germanische Handschriften auf - ist es dennoch gelungen, viele Grundetappen in der tausendjährigen Entwicklung der Buchmalerei auszuweisen, und zwar von ihren ersten Errungenschaften auf den Britischen Inseln bis zu den letzten Beispielen dieser erlesenen Kunst im 16. Jahrhundert. Besonders vollständig wird die gotische Miniatur für die Zeit vorgestellt, in der Frankreich zweifellos der erste Platz in Europa zukam. Unser Bericht ist entsprechend der Entstehungsgeschichte und dem Bestand der Leningrader Sammlung aufgebaut. Es ist keine kurzgefasste Übersicht über die Geschichte der Miniatur, sondern eher eine Art Wegbegleiter durch den Bildband, der, wie wir hoffen, dem Leser helfen wird, jede Handschrift und jede Miniatur im kunsthistorischen Kontext besser einzuschätzen.

Wenn Byzanz die von der Antike ererbte Tradition in der künstlerischen Gestaltung des Buches beibehalten hatte, so entstand in Westeuropa die Illuminierung der Codices eigentlich erst im 6. Jahrhundert. Die ersten Handschriften mit illuminiertem Text erschienen in Italien und auf dem Gebiet des heutigen Frankreichs. Hier entwickelte sich vom Ende des 5. bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts eine Kunstkultur, die nach der herrschenden Dynastie den Namen merowingische Kultur erhielt.

Die wenigen Handschriften aus der Mitte des 7. bis zur zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, die uns erreicht haben, zeigen, dass in der merowingischen Illuminierung der graphische Stil vorherrschte, der den Einfluss sowohl der spätrömischen Kunst, der Lombardei und Norditaliens (Figurendarstellung und architektonische Motive) als auch der des Orients, in erster Linie des koptischen Ägyptens (Ornamentik und Farbe), widerspiegelte. Die führenden Zentren für die Anfertigung von Handschriften waren die Klöster in Fleury und Tours (Loiretal), in Luxeuil (Burgund) und in Corbie (Picardie). Ein gutes Beispiel für die Buchmalerei von Corbie ist das Blatt aus den Sendschreiben des Hieronymus, wo wir eine für die merowingische Epoche äußerst seltene Darstellung des Menschen finden. Diese Miniatur, die früheste in diesem Bildband, demonstriert die Hauptmerkmale der merowingischen Buchmalerei, nämlich eine zügige und emotionale Zeichnung.

Am prägnantesten und originellsten bildete sich die Kunst der Miniatur auf den Britischen Inseln nach der Annahme des Christentums aus. Nach der Meinung von Carl Nordenfalk »beleuchtet sie die »dunklen Zeiten« besser als irgendeine andere Kunstgattung«. In letzter Zeit wird diese Kunst als »insulare Buchmalerei« angesprochen. Dieser gut gewählte Terminus schlichtet den Meinungsstreit zwischen den Anhängern der irischen, keltischen oder angelsächsischen Priorität in der Herkunft dieser für die Geschichte der europäischen Kultur so wichtigen Erscheinung.

Die insularen Buchmaler benutzten und entwickelten die lokalen Ornamenttraditionen des dekorativen Kunsthandwerks. Es gelang ihnen, diese Traditionen schöpferisch bei der Ausschmückung der Manuskripte zu werten, indem sie den grenzenlosen Reichtum der geometrischen, pflanzlichen, zoomorphen Muster, die dynamische Selbstentwicklung und Varianz des Flechtwerkmotivs der rechteckigen Blattform des Codex unterordneten. Zu Pflegestätten dieser Kunst wurden die Klöster in Irland und im angelsächsischen Staat Northumbrien, in deren Skriptorien die ersten Meisterwerke der westeuropäischen Buchmalerei geschaffen wurden.

Zu den eigenartigsten Zentren der Buchmalerei gehören die northumbrischen Klöster St. Petri in Wearmouth (gegründet 674) und St. Pauli in Jarrow (gegründet 681). Aus einer Reise nach Rom brachte der Abt Ceolfrid hierher nicht nur Reliquien, sondern auch Bücher, darunter eine Kopie der berühmten Kassiodorbibel (Codex Grandior, 6. Jahrhundert).

Das Bestreben der Schreiber, die italienischen Vorbilder nachzuahmen, machte das Skriptorium Wearmouth-Jarrow zur Hauptstätte des mittelmeerischen Einflusses auf die insulare Buchmalerei. Hier entstand auch der Leningrader Beda (1, Mitte des 8. Jahrhunderts). Die Einzigartigkeit des Codex und seine Bedeutung für die Geschichte der Miniatur wird nicht nur dadurch bestimmt, dass es eines der frühesten Beispiele für die Gestaltung eines weltlichen Werks ist, sondern auch durch das erste uns bekannte Aufkommen in Westeuropa einer Initiale mit einer eingefügten Figur, mit anderen Worten, der ersten »historischen Initiale«.

Die schöpferische Energie der irischen und angelsächsischen Meister äußerte sich mit größter Prägnanz bei der Gestaltung von heiligen Büchern, den Tetraevangelien. Die Pietät vor dem Wort Gottes in den Büchern erweckte den Wunsch, sie zu schmücken, ihnen Kunstwert zu verleihen. Hier bestätigt sich das Grundprinzip der frühmittelalterlichen westeuropäischen Miniatur. Die antike Idee des Illustrierens wird hier durch die Ausschmückung ersetzt. Nicht von ungefähr hat die insulare Buchmalerei so viel Ähnlichkeit mit der Juwelierkunst. Das Ornament ergreift als Hauptmittel der Ausschmückung eine immer größere Fläche des Pergamentblattes. Geschmückt wurden hauptsächlich die Schutzblätter, die durchweg von einem Muster ausgefüllt waren (»carpet page«), und die Initialen, die ersten Buchstaben und Worte eines jeden der vier Evangelien.

Die bescheidenen Ausmaße und die strenge Graphik der antiken Versalien erfahren eine subsequente Entwicklung. Sie werden komplizierter, größer, schließen in die ornamentale Komposition die darauffolgenden Lettern der Anfangsworte ein und verwandeln sich allmählich in ganzseitige Titelblätter, wo das Wort selbst zum Kunstobjekt wird. Unerschöpflich ist der Erfindergeist der Buchmaler. Sie schaffen ornamentale Kompositionen von grenzenloser Mannigfaltigkeit. Rechteckige und kurvige Formen, Fragmente und Paneele verknüpfen sich oder lösen einander ab. Aus ihnen entstehen wie aus Smalten Mosaikmuster. Mosaikartig war auch der Farbeinsatz.

Die Meilensteine dieser grundlegenden, »klassischen« Linie der insularen Kunst bilden die berühmten Tetraevangelien aus Durham (Cathedral Library MS. A. II. 16; die Versalien sind bescheiden in ihren Ausmaßen), aus Durrow (Dublin, Trinity College, Library 57; um 675; die Initialen nehmen ein Drittel der Seite ein); aus Lindisfarne (London, British Library, Cotton Ms. Nero D. IV; um 690; fast ganzseitige Initialen), aus Kells (Dublin, Trinity College, Library 58; um 800; vollentwickeltes System).

Im Evangeliar aus dem northumbrischen Kloster Lindisfarne wird die Handschrift erstmalig durch eine effektvolle Einleitung in Form von Kanontafeln eröffnet. Diese Tafeln (Canones evangeliorum) sind eine tabellarische Zusammenstellung aller inhaltlich gleichen Textstellen der vier Evangelien. Sie wurden um 330 von Eusebius aus Caesarea angefertigt und danach vom hl. Hieronymus benutzt. Von Anfang an hatten sie die Form von Arkaden, doch nur auf den Britischen Inseln gelang es, daraus einen vorzüglichen künstlerischen Effekt zu erzielen. Nicht umsonst werden die Bogen der insularen Tafeln mit einem schlanken Portikus bzw. mit einem feierlichen Portal verglichen, die in das Buchgebäude führen. In der Gestaltung des Tetraevangeliums aus der Öffentlichen Bibliothek, sowohl in den Arkaden der Tabellen als auch in den Initialblättern, sind Entdeckungen verwertet worden, die im Scriptorium von Lindisfarne gemacht wurden. Der Struktur, der hohen Qualität und dem kalligraphischen Stil nach gehört die Handschrift zum reifen Entwicklungsstadium der insularen Miniatur, etwa in die Herstellungszeit des Book of Kells.

Die insulare Buchmalerei blieb keine lokale Episode in der Geschichte der westeuropäischen Kunst. Die von den Britischen Inseln gekommenen Buchmaler haben eine wichtige Rolle im Schicksal, bisweilen sogar bei der Gründung von Klosterzentren auf dem Kontinent, gespielt, indem sie sowohl ornamentale Motive als auch Ausschmückungstechniken der Manuskripte mit sich brachten. Der insulare Einfluss ist sogar noch in der karolingischen Epoche spürbar, die in der Geschichte der Miniatur zur nächsten Etappe schöpferischer Suche und künstlerischer Errungenschaften wurde.

Etwa 150 Jahre lang, vom Ausgang des 8. bis zum Anfang des 10. Jahrhunderts, florierte in den Ländern des von Karl dem Großen geschaffenen Frankenreiches, hauptsächlich auf dem Gebiet des künftigen Frankreichs, Deutschlands und Südflanderns, eine Kunst, die bisweilen »karolingische Renaissance« genannt wird. Das politische und ideologische Programm steckte sich das Ziel einer »renovatio« des weströmischen Kaiserreiches als Gegengewicht zum oströmischen byzantinischen Reich. In kultureller Hinsicht lief es auf ein ebenso klares ästhetisches Programm hinaus, das auch den Versuch einer Wiederbelebung der Antike beinhaltete. Unter den Denkmälern der karolingischen bildenden Kunst, die uns erreicht haben, nimmt die Miniatur, was die Fülle und die Prägnanz anbetrifft, zweifellos den ersten Platz ein, in denen die künstlerischen Ideen der Epoche zum Ausdruck kamen.

Die karolingischen Meister erstrebten eine größere Einheitlichkeit und Organisation des gesamten Buchensembles, als es bei ihren Vorgängern der Fall war. Dekor und Text harmonieren besser miteinander, die reiche Fülle der ornamentalen Motive der merowingischen und der insularen Kunst ist geregelter und ordnet sich strenger der Blattform unter. Es steigt der eigenständige Wert der illustrierenden Miniatur, in der sich eine Tendenz bei der Wiedergabe der menschlichen Gestalt in ihrer Körperlichkeit bemerkbar macht. Der Wunsch, den byzantinischen Kaisern gleichzukommen und sie an Prunk sogar zu übertreffen, führte in der Gestaltung zum üppigen Einsatz von Silber und Gold. Offensichtlich wurden ganz besonders die byzantinischen Manuskripte geschätzt, die mit kostbaren Lettern auf purpurgefärbtem Pergament geschrieben waren, eine Tradition, die auf die Carmina figurata zurückgeht, eine prächtige Handschrift, die für Konstantin den Großen von seinem Hofdichter Publius Optatianus Porphyrius verfasst wurde. In den Miniaturen kommt auch ein Goldgrund auf. Auf diese Weise wurde in der karolingischen Zeit der Grundstein für einige der künstlerischen Hauptprinzipien in der Entwicklung der westeuropäischen Buchmalerei gelegt.

Trotz der gemeinsamen ästhetischen Grundprinzipien differierten die karolingischen Miniaturen je nach Herstellungsort und -zeit der einzelnen Codices in Manier und Stil. Zur Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger, unter denen sich Karl der Kahle durch seine Vorliebe für schöne Bücher auszeichnete, bildeten sich mehrere Hauptzentren der Buchanfertigung heraus. Außer den Palastwerkstätten in Aachen, der Lieblingsstadt Karls des Großen, florierte die Kunst der Buchmalerei auch an anderen Stellen des Rheintals und in Tours, Reims und Metz. Die in den Bildband aufgenommenen Miniaturen weisen die Stilunterschiede einiger dieser Schulen oder Richtungen auf.

Ein Beispiel für die Prunksucht, als das Buch nicht nur zur Verherrlichung des heiligen Gotteswortes, sondern auch zum Ruhm des Auftraggebers und zur Befriedigung seines Ehrgeizes geschaffen wurde, ist das sogenannte Purpurevangeliar. Es ist ein Nachklang der vorzüglichen Kunst jener Palastwerkstatt Aachens, in der das Krönungsevangeliar (Wien, Weltliche Schatzkammer) entstanden ist, auf dem dann im Laufe von vielen Jahrhunderten die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches den Treueschwur ablegten.

Über die Herkunft der Künstler dieser Werkstatt, die hier zu Beginn des 9. Jahrhunderts tätig waren und den hellenistischen Traditionen besonders nahe standen, äußern die Forscher bis auf den heutigen Tag verschiedene Vermutungen. Die »griechische« Modellierung, die spezifische Maltechnik, die silbernen und goldenen Lettern auf dem Purpurpergament zeichnen die Handschriften aus, die von den Forschern unter dem Namen der sogenannten Krönungsschule vereint sind. Sie erschienen bis Ausgang des 9. Jahrhunderts. Vermutlich haben an der Quelle dieser Richtung tatsächlich griechische Maler gestanden, die am Hof Karls des Großen Zuflucht vor den Verfolgungen der Ikonoklasten gesucht hatten.

Das Sakramentar wurde im Kloster St. Amand hergestellt, wo Bücher für die Umgebung Karls des Kahlen geschaffen wurden. Dieser besondere Zweig der karolingischen Miniatur aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts wird mitunter als franko-insulare Miniatur bezeichnet, da hier ornamentale Motive angewandt werden, die von den Britischen Inseln gekommen waren.

Die lebendigen Traditionen der karolingischen Renaissance im 10. Jahrhundert zeigen sich im Tetraevangelium aus Tours. Hier, an den Klöstern St. Martin und Marmoutier, existierte seit dem Abt Alcuin (796–804) die wohl produktivste Werkstatt zur Herstellung von Handschriften, die ihre Blüte zur Zeit der Äbte Adalhard (834 bis 843) und Vivien (844 bis 851) erreichte. Nach der normannischen Zerstörung Mitte des 9. Jahrhunderts erlebte die Schule von Tours einen erneuten Aufschwung, und es gelang ihr, dabei die wesentlichsten Züge — eine logisch klar angelegte Komposition, den Einsatz von antikisierten ornamentalen Motiven, die Übereinstimmung der reinen Formen von Initialen und Rahmen mit dem Text — zu bewahren. Womöglich gehören die Miniaturen aus einem anderen Tetraevangelium bereits zur ottonischen Periode, obwohl hier immer noch die Traditionen am Hofe Karls des Großen spürbar sind.

Als großartig kann man in der Geschichte der Miniatur die romanische Epoche bezeichnen. Die Meister der Buchgestaltung haben wohl nie mehr eine so feste Verschmelzung sämtlicher Elemente erreicht: des Buchformats und der Proportionen von Lettern und Text, der Faktur des Blattes und der flächigen Miniatur sowie der historisierten Initialen, der Harmonie zwischen dem schwarzen Text und dem weißen Pergament sowie der vielfarbigen Ausschmückung, wobei das Gold eine immer größere Rolle zu spielen begann, besonders das funkelnde Blattgold, das fest am Blatt haftete. Einige allgemeine Züge der romanischen bildenden Kunst — die lakonische und ausdrucksstarke Silhouette, die Lokalfarbe, das Monumentale, die rhythmische Ordnung der stabilen Kompositionen, der Trend zur Symmetrie — erwiesen sich für die Erreichung einer solchen Einheit als sehr günstig. Diese Periode ist wohl die strengste in der Entwicklung der Buchmalerei, als die Meister die alten Vorbilder der karolingischen und byzantinischen Miniatur schöpferisch verwerteten und dabei ihre eigene Kunstsprache mit einem festen Satz von zeitbeständigen Stereotypen und Symbolen schufen. Das veranlasste Focillon von einer »ewigen Stabilität der romanischen Kunst« zu sprechen.

Die Gestaltung der Blätter wird sparsamer und gesammelter, sie durchdringt gleichsam die einzelnen Miniaturen, besonders aber die Initialen, die in den romanischen Handschriften den Kern der Illuminierung bilden. In den historisierten Initialen der monumentalen, oft vielbändigen Bibeln, die in den Klöstern mit großen Lettern kopiert wurden, erscheinen Figürchen von Akrobaten und verschiedenen Phantasiewesen, die in das Ornament eingeflochten sind (Bibel aus Weissenau).

In der romanischen Epoche erweitert sich der Themenkreis der illuminierten Handschriften. Es wurden immer mehr Werke antiker Autoren kopiert, es mehrten sich die Chroniken, die Vitenliteratur, es kamen verschiedene juridische, belehrende, geographische und naturphilosophische Werke auf. Ein Beispiel dafür ist ein Bestiar, das in die Periode der größten Blütezeit der englischen romanischen Miniatur gehört. Der Einsatz von alten ikonographischen Schemata wird hier in gewissem Masse durch lebensnahe Beobachtungen des Künstlers bei der Darstellung ihm gut bekannter Wesen bereichert, aber auch ihre Figuren sind heraldisch aufgebaut und gleichsam auf die Oberfläche der Pergamentblätter geklebt. Sie bilden mit diesen ein unzertrennbares Ganzes. Die bisweilen expressiven Bewegungen erstarren für immer und ergeben den typisch romanischen Eindruck der »mobilen Stabilität«. Sowohl die Miniaturen in ihren rechteckigen Rahmen als auch der Text sind einem einheitlichen Modul, einem bestimmten Blattformat untergeordnet, wobei die gesamte Codex-Illumination sich in den Miniaturen konzentriert.

Die Periodisierung der romanischen Miniatur ist für verschiedene nationale Schulen unterschiedlich. Wenn in Frankreich und Großbritannien diese Periode das 11. und 12. Jahrhundert umfasste und zu Beginn des 13. Jahrhunderts bereits zur Gotik überging, so ist in Deutschland das 11. Jahrhundert noch eng mit dem ottonischen Kreis verbunden. Dafür wurden aber hier im 13. Jahrhundert Meisterstücke der romanischen Kunst erzeugt. Zu ihnen gehören die Prophetenbücher aus dem Weingartenkloster, die im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts vom Meister des Berthold-Missales illuminiert worden sind. Die romanische Buchkunst ist fast ausschließlich monastisch. Die Bücher waren nach Jean Porchet das wichtigste »Instrument der Klosterkultur«.

Deshalb war der Gestaltungscharakter der Handschriften nicht nur von der religiösen Weltanschauung beeinflusst, sondern auch von den Traditionen des Ordens, der konkreten Abtei, vom Geschmack des Priors und von den Manuskriptvorbildern, die in der Klosterbibliothek aufbewahrt wurden. Aber alle diese Einwirkungen und Einflüsse vermochten nicht, das individuelle Talent des Künstlers zu hemmen. Die große Begabung des Meisters aus dem schwäbischen Weingartenkloster, die starke Plastik und die emotionale Spannung seiner Prophetenfiguren veranlassten Carl Nordenfalk, in ihm einerseits einen Erben der »fast hypnotischen Kraft« der Miniaturen der zweihundert Jahre alten Reichenau-Schule, andererseits den fernen Verkünder von Sluter und Michelangelo zu sehen.

Wenn wir gezwungen waren, die frühen Perioden in der Geschichte der Buchmalerei in diesem Bildband nur durch einzelne Beispiele zu veranschaulichen, so ist die gotische Miniatur hier — dank der reichen Leningrader Sammlung von französischen Codices, von denen weiterhin ausführlich die Rede sein wird, — in ausreichender Fülle und Folgerichtigkeit vertreten. Die Geschichte der französischen Miniatur als Erscheinung der nationalen Kultur begann erst seit dem 10. Jahrhundert mit der Kapetinger-Dynastie, da man bis zu dieser Zeit nur von einzelnen, wenn auch wichtigen Quellen der Buchfertigung sprechen konnte, die auf dem Gebiet des jetzigen Frankreichs existierten (z.B. Reims bzw. Tours). Seit dem 13. Jahrhundert florierte die französische Buchmalerei, die zweifellos den ersten Platz in Westeuropa einnahm und anderen Nationalschulen ihre Kunst diktierte.

Das 13. Jahrhundert ist nicht nur die Zeit des Übergangs vom romanischen zum gotischen Stil. Es ist die Zeit der grundsätzlichen Wandlungen in der Buchmalerei, eines entschiedenen Umbruchs in ihrem Gestaltungsprinzip. Die Epoche der klösterlichen Buchanfertigung ging ihrem Ende zu, denn eine führende Stellung nahmen nun die höfischen Werkstätten und die Städte mit ihren weltlichen Werkstätten ein. In Frankreich wird Paris zum führenden Kulturzentrum. Der Grund dafür ist in der Tätigkeit der Pariser Universität, der führenden Lehr- und Forschungsstätte jener Zeit in Westeuropa, und der erfolgreichen Vereinigungspolitik der französischen Könige, deren Hof für lange Zeit zum Auftraggeber für die prunkvollen Manuskripte wurde, zu finden. Eben hier begannen sich solche typischen französischen Züge herauszubilden, wie eine hohe technische Perfektion, eine klare kalligraphische Zeichnung und ein harmonisches Kolorit, das auf Gold und dem Rot-Weiß-Blau-Dreiklang aufbaute, sowie ein gut durchdachtes Dekorsystem. Ein Beispiel für diese Richtung ist der in den Pariser königlichen Werkstätten in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hergestellte Psalter.

In den Pariser Steuerlisten für das Jahr 1292 werden neben Baumeistern, Malern und Bildhauern, Glasmalern, Goldschmieden, Schnitzern und Gobelinwebern auch schon 17 Meister der Buchmalerei erwähnt. Sie kannten nicht nur die künstlerischen Errungenschaften der Pariser Meister, sondern auch die letzten Novitäten in der Kunst anderer Länder, die Kaufleute und Wanderkünstler mit sich brachten. Dieses Kunstgut wurde schöpferisch verwertet und kehrte dann in bereicherter, vom Pariser Geschmack geprägter Form in die Nachbarländer zurück. Der große Dante schrieb über die Kunst der Pariser Meister, und Petrarca klagte bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die ganze Welt hänge von den Launen der Pariser Mode ab, so dass man »gezwungen sei, ihre Kalligraphen und Buchmaler heranzuziehen«. Dank der zentralisierenden Rolle von Paris wird die französische Miniatur des 13. und 14. Jahrhunderts zu einer einheitlichen Kunsterscheinung.

Der soziale und kulturelle Wandel, der Kreis neuer Leser und Auftraggeber untergrub die Hegemonie der liturgischen Literatur. Es erscheinen immer mehr profane Werke, Ritterromane, Traktate, historische Abhandlungen, die in die Miniatur neue Sujets einbringen, oft mit einem durchaus weltlichen, lebensnahen Charakter. Die Entwicklung der französischen höfischen Kultur wird für lange Zeit das Anwachsen der Courtoisie-Tendenzen, der Verfeinerung und Raffinesse zur Folge haben. Roland, der Held früherer Zeiten, wird von Tristan und Isolde abgelöst. Zum Hauptobjekt der religiösen Verehrung wird die Jungfrau Maria, deren Wundertaten poetische Werke und große Miniaturzyklen gewidmet werden (Wunder der Jungfrau Maria