Westfalengau - Hans W. Cramer - E-Book

Westfalengau E-Book

Hans W. Cramer

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Der 90. Geburtstag von Sabines Großmutter steht an. In der ländlichen Idylle am äußersten Rand des Dortmunder Nordens sind alle zu dem fröhlichen Fest eingeladen. Doch die friedliche Atmosphäre trügt. Am nächsten Morgen ist das Geburtstagskind spurlos verschwunden. Die entsetzte Sabine recherchiert mit Hilfe ihrer Freunde Raster, Philo und Susanne. Es scheint, als drehe sich alles um ein verschwundenes Gemälde. Die Spur führt Sabine weit in die dunkle Geschichte ihrer Familie. Und dann wird sie selbst auch noch entführt …

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Seitenzahl: 329

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Hans W. Cramer

Westfalengau

Kriminalroman

Zum Buch

Drama in Westfalen Der 90. Geburtstag von Sabines Großmutter steht an. In der ländlichen Idylle am äußersten Rand des Dortmunder Nordens sind alle eingeladen. Ein fröhliches Fest beginnt. Doch die friedliche Atmosphäre trügt. Am nächsten Morgen ist das Geburtstagskind spurlos verschwunden. Die entsetzte Sabine recherchiert mit Hilfe ihrer Freunde Raster, Philo und Susanne. Es scheint, als drehe sich alles um ein verschwundenes Gemälde, das Sabines Urgroßvater gehört hat. Aber keiner weiß, um welches Bild es sich handelt. Furchtbare Dinge passieren. Die vier kommen mit ihren Ermittlungen keinen Schritt weiter. Fast ein Jahr später tauchen neue Hinweise auf. Aber wer ist der fremde Engländer, der ihnen seine Hilfe anbietet? Spielt das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund eine wichtige Rolle? Und dann wird auch noch Sabine entführt. Schnell wird ihr klar, dass sie nicht lebend aus der Sache herauskommen wird …

Hans W. Cramer wurde im Bergischen Land geboren. Bereits mit 14 Jahren schrieb er erste Gedichte, Kurzgeschichten und Märchen. Trotz seiner Ausbildung zum Frauenarzt und der Arbeit in eigener Praxis, ließ ihn das Schreiben nie los. Seit 2013 werden seine Kriminalromane erfolgreich veröffentlicht. Mit seiner Familie lebt der Autor am südlichen Rand des Ruhrgebiets.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Johnny / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6812-4

Widmung

Für Frank Fischer

Schwager Freund Lehrer

 

 

Prolog

Dortmund-Hörde, September 1996

Er schrak zusammen, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. So wie jedes Mal in den letzten drei Wochen. Innerhalb von Sekunden zeigten sich feine Schweißperlen auf der Stirn, und sein Herz begann zu rasen.

Es war ein herrlicher Spätsommersamstag. Die Temperaturen hatten am Nachmittag nochmals 23 Grad erreicht, und er hatte es tatsächlich geschafft, mit seiner Frau den Garten soweit in Schuss zu bringen, dass mit einem weiteren Beschnitt Ende Oktober alles winterfest sein würde. Redlich müde von der anstrengenden Arbeit lag sie jetzt sicherlich vor dem Fernseher im Wohnzimmer und war friedlich eingeschlafen.

Bei ihm war an Schlaf nicht zu denken. Seit dem ersten Anruf vor drei Wochen und diesen seltsamen Forderungen eines ihm fremden Mannes wuchs seine Unruhe von Tag zu Tag. Wenn er doch nur wüsste, was der überhaupt wollte. Mit feuchten Händen nahm er das Telefon von der Ladestation und drückte auf die grüne Taste. »Hallo?«

»Sie wissen genau, warum ich anrufe. Und dieser Anruf ist der vorletzte. Ich gebe Ihnen noch eine Chance, mir zu verraten, wo sich das Objekt befindet. Sollten Sie es wirklich nicht wissen – was ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann – kriegen Sie es, verdammt noch mal, raus. Ansonsten wird es Ihrer Frau an den Kragen gehen. Als Nächstes ist Ihre kleine süße Tochter dran und so weiter. Also: keine Spielchen mehr. Ich rufe Sie morgen um dieselbe Zeit erneut an und dann erwarte ich Antworten.«

»Warten Sie! Ich habe von solchen Dingen überhaupt keine Ahnung. Ich bin Arzt, das wissen Sie. Lassen Sie mich und meine Familie bitte in Ruhe. Sie fragen den Falschen! So glauben Sie mir doch endlich!«

Die Leitung war tot.

Zum wiederholten Mal überlegte er, ob er seine Familie oder die Polizei einweihen sollte. Es ging hier ja schließlich um eine massive Bedrohung. Aber seine Frau und seine Tochter würden sich nur ängstigen. Und die Polizei? Was könnte die schon ausrichten? Nein, er musste konsequent bleiben und noch mehr auf seine Familie achten. Es würde schon nichts passieren.

Am Montagmorgen saßen er und seine Frau am Frühstückstisch. Das Telefonat am Vorabend war wie angekündigt verlaufen: Keine Erpressungsversuche mehr, sondern die eiskalte Aussage, er müsse sich auf Konsequenzen einstellen.

Die Tochter war unterwegs zu einer Erstsemesterveranstaltung für Mediziner an der Uni Bochum. Er war stolz, dass seine »Kleine«, wie er sie immer noch nannte, wenn sie nicht anwesend war, in die Fußstapfen des Vaters treten wollte. Wer weiß? Vielleicht würde sie ja eines Tages die Praxis übernehmen? Im Moment war sie dabei, mit zwei Freunden aus Jugendtagen eine WG zu beziehen. Tja, die Kleinen wurden eben flügge. Sie würde ihm fehlen. Es war ihm schon schwergefallen, die anderen Kinder ziehen zu lassen. Aber gerade bei ihr tat es richtig weh. Ihr Verhältnis war mehr als einfach Vater und Tochter. Sie waren gleichzeitig beste Freunde und Kumpels. Er glaubte zu spüren, dass er für seine Tochter außerdem ein großes Vorbild darstellte. Was ihn natürlich auf der einen Seite mächtig stolz machte, auf der anderen Seite verspürte er ein wenig Angst, ob sie nicht zu viel in ihren Vater hineininterpretierte. Unwillkürlich stieß er einen leisen Seufzer aus.

»Was hast du?«, riss ihn seine Frau aus den Gedanken und biss beherzt in ihr Marmeladenbrötchen.

»Ach nichts, ist schon gut«, murmelte er.

»Ich fahr übrigens gleich zu IKEA nach Kamen. Brauchst du irgendetwas?«

Erschrocken wandte er sich seiner Frau zu. »Fährst du allein dahin?«

Überrascht sah sie ihn an. »Natürlich. Wer sollte denn mitkommen. Unsere Kleine ist nicht da, und du wirst ja wohl gleich in die Praxis müssen.« Sie lachte. »Machst du dir etwa Gedanken darüber, wie ich die Sachen ins Auto bekomme? Keine Sorge! Ich will nur ein paar Kleinigkeiten besorgen.«

»Ach, weißt du, ich glaube, ich habe heute Morgen gar nicht so viele Termine. Lass mich schnell anrufen, dann komme ich einfach mit. Was hältst du davon?«

»An einem Montagmorgen? Ich bitte dich! Was sollen denn die Patienten sagen? Sag mal, warum guckst du denn so besorgt? Ist irgendwas, was ich wissen sollte?«

»Nein, nein. Lass mich nur machen!« Damit stand er abrupt auf und verschwand im Arbeitszimmer. Nur wenige Augenblicke später erschien er mit einem strahlenden Grinsen auf dem Gesicht wieder in der Küche. »Alles klar! Ich komme mit«, verkündete er fröhlich. »Ich ziehe mich eben um.«

Nur wer ihn sehr gut kannte, hätte gemerkt, dass dieses Grinsen reichlich gekünstelt wirkte und etwas ganz anderes dahinter steckte. So wie seine Frau, die sich aber nur wunderte und keine Ahnung hatte, was das sein könnte.

Wenige Minuten später saßen sie in ihrem Suzuki Jimny, den sie für solche Einkäufe immer am liebsten nahm. Sie fuhren Richtung Schwerte, wo sie auf die A1 wechseln wollten. Der schnellste Weg nach Kamen, wie sie behauptete, obwohl er fand, dass man so einen Umweg in Kauf nähme. Er wäre über die B1 durch die Stadt gefahren. Vielleicht etwas längere Fahrtzeit, aber der kürzere Weg. Doch sie saß am Steuer und hatte damit das Sagen.

Gerade hatten sie das berühmte Waldlokal Freischütz passiert. Die Hörderstraße führte hier steil hinunter nach Schwerte.

»Schatz, entschuldige! Aber willst du nicht ein wenig langsamer fahren?« Besorgt sah er seiner Frau ins Gesicht, und was er dort zu sehen bekam, war die reine Panik.

»Die Bremsen, die Kupplung! Nichts geht mehr …«

Der blaue Jimny krachte in dem alltäglichen Stau vor der Kreuzung Heidestraße schräg auf einen Lieferwagen, sprang nach links auf die falsche Spur und stieß frontal mit einem Lkw zusammen, der sich den Berg hinaufquälte. Feuer züngelte aus dem Motorblock des kleinen Jeeps, und Sekunden später stand der ganze Wagen in Flammen.

Der Mann und seine Frau hinterließen fünf Kinder. Die Zweitjüngste wurde am frühen Nachmittag von der Polizei informiert und musste anschließend mit einem Schock in die Städtischen Kliniken eingeliefert werden.

1. Teil

Alles, was entsteht,

ist wert, dass es zugrunde geht.

 

Johann Wolfgang von Goethe

1. Kapitel

Dortmund, Juli, 2019

Ein Stück lauwarmer Apfelkuchen mit einem dicken Schlag Sahne und dem unvergleichlichen Duft nach Zimt, warmen Äpfeln und süßen Rosinen. Das war für sie ihre Großmutter. Dazu kamen 1.000 Erinnerungen an endlose verregnete Spielenachmittage, Reitausflüge auf viel zu breiten Pferderücken, Spaziergänge mit spannenden Erzählungen aus einer Zeit, als es in Deutschland noch Krieg gab, köstliche Rinderrouladen mit Kartoffeln, Erbsen und Möhren, sowie der besten Bratensoße, die jemals gekocht worden war.

Ein breites Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Viel zu lange hatte sie ihre Großmutter nicht mehr besucht, das letzte Mal zu Weihnachten vor über sieben Monaten, und heute wurde sie 90 Jahre alt.

»Sabine! Hast du meine guten Schuhe gesehen?«, schallte es aus Rasters Zimmer.

»Wie wäre es, wenn du mal im Schuhschrank nachschaust?«

»Wir haben einen Schuhschrank?«

Sabine musste lachen. »Ja, du Schlaumeier«, rief sie. »Das ist das vermackelte Ding im Flur, wo du immer deinen Schlüssel draufknallst.«

Wenige Minuten später kam ein unglücklich dreinschauender schlaksiger Mann in Sabines Zimmer. Raster hieß eigentlich Hans Schulz, wurde aber wegen seiner Rastalocken, die er sich als Jugendlicher in der Karibik hatte machen lassen, nur Raster genannt. »Muss ich denn wirklich mit? Ich kenne da doch keinen«, maulte er wie ein kleiner Junge.

»Bist du 40 oder gerade erst 14 geworden?«, fragte Sabine prompt. »Oma freut sich so sehr darauf, endlich meinen Freund kennenzulernen, und außerdem kennst du sehr wohl meine Schwester Hanna und ihre Tochter Klarissa. Was hast du dir da eigentlich angezogen?« Sabine wies mit einer fragenden Geste auf die Erscheinung, die vor ihr stand.

Raster hatte sich in einen viel zu kleinen Anzug gezwängt, der ihm wahrscheinlich zur Konfirmation gepasst hatte. Darunter trug er ein schief geknöpftes, zerknittertes weißes Hemd und eine Krawatte, deren Knoten höchstens einem Seemann alle Ehre gemacht hätte.

»Du brauchst dich für meine Oma nicht so, äh, schick zu machen«, prustete sie. »Mist! Jetzt muss ich meine Wimperntusche neu auftragen«, lachte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Nein. Mal im Ernst. Es reicht, wenn du saubere Jeans und ein vernünftiges T-Shirt anziehst. Meine Großmutter steht nicht so auf Konventionen.«

In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür geöffnet, und herein kam der dritte Bewohner der Wohngemeinschaft im Dortmunder Kreuzviertel.

»Ach, ihr seid noch da?«, wunderte sich Philo, der in Wirklichkeit Friedrich Sachse hieß, wegen seiner Tätigkeit als Philosophiegeschichtsdozent von den meisten aber nur Philo genannt wurde. »Wie siehst du denn aus?«, fragte er seinen Freund. »Willst du etwa so auf den Geburtstag von Sabines Großmutter gehen?«

»Ist ja schon gut«, maulte Raster. Er hatte als IT-Spezialist und EDV-Nerd in all den Jahren einfach kein Gefühl für Äußerlichkeiten aufbauen können.

Sabine verabschiedete sich ins Badezimmer, um die verwischte Wimperntusche zu erneuern, während sich die beiden Männer in Rasters Zimmer um dessen Garderobe kümmerten.

Mitten in der typischen Aufwärtsbewegung mit der kleinen Bürste hielt Sabine inne und betrachtete ihr Spiegelbild. Was sie sah, gefiel ihr, zumindest äußerlich. Die kleinen Fältchen um Augen und Mund waren für eine 43-Jährige altersentsprechend und eher durch häufiges Lachen denn durch Sorgen entstanden. Und doch war ihr bewusst, dass sie die letzten Jahre gezeichnet hatten. Nicht nur, dass ihre dunkelblonden Haare zunehmend an den Ansätzen grau wurden, was sie noch mit stoischer Gelassenheit zu ignorieren versuchte. Nein, es waren die inneren Risse, die Narben hinterlassen hatten: Eine unglückliche Beziehung einige Jahre zuvor, die sie zutiefst verletzt hatte. Dann die späte Erkenntnis, dass ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit einer überhöhten Verehrung ihres verstorbenen Vaters entsprang, den sie in ihrem Leben zu ersetzen versuchte. Diese Einsicht hatte tiefe Spuren hinterlassen. Denn nach und nach hatte sie begriffen, dass nicht nur ihre Beziehungsprobleme darauf zurückzuführen waren, sondern auch ihre Rastlosigkeit und Unbeständigkeit in ihrem Beruf. Nicht, dass sie als Ärztin unzuverlässig oder gar fahrlässig gewesen wäre. Im Gegenteil: Sabine arbeitete immer höchst professionell und akribisch. Doch die Tatsache, dass sie sich seit ihrer Facharztausbildung zur Internistin und Notfallmedizinerin nicht auf eine Festanstellung in einem Krankenhaus oder den Erwerb einer eigenen Praxis eingelassen hatte, sprach für sie mittlerweile Bände. Freie Jobs auf Rettungswagen der verschiedenen Anbieter in Dortmund, unregelmäßige Arbeitszeiten, immer die Möglichkeit, auch einmal nein sagen zu können, das war über Jahre hinweg ihr Credo gewesen. An sich nicht schlimm, aber mittlerweile war ihr bewusst, dass die Ursache dafür in einer inneren Unzufriedenheit und Fluchttendenzen zu suchen war, und das machte sie traurig.

Der erste feste Job als überqualifizierte ärztliche Krankenpflegerin im letzten Jahr war in einer Katastrophe geendet und hatte sie fast das Leben gekostet.

Sabine seufzte einmal tief, während sie das Bürstchen erneut über ihre Wimpern streichen ließ. Sie sollte sich nicht in Selbstmitleid verlieren. Immerhin war sie seit letztem Jahr mit Raster zusammen, den sie Jahrzehnte kannte und mochte, der für sie aber bis zu den einschneidenden Erlebnissen nur ein guter Freund gewesen war. Sie war glücklich, konstatierte sie für sich selbst. Und auch beruflich bahnte sich eine neue Herausforderung an: Ein niedergelassener Internist aus der Innenstadt hatte sie zu einem Gespräch eingeladen. Er wolle seine Praxis aus Altersgründen verkaufen und hatte von Doktor Sabine Funda als fachlich kompetente Kollegin gehört. Man würde sich in der nächsten Woche einmal zusammensetzen.

Sie beendete ihre gedankenreiche Aufhübschung und trat zeitgleich mit Raster und Philo in den Flur.

»Wollte Susanne nicht auch heute zurückkommen?«, fragte Sabine Philo, der seinem Freund imaginäre Schuppen von der Schulter klopfte.

»Ja, eigentlich schon. Aber die Ärzte in der Reha haben gemeint, dass sie dieses Wochenende noch zur Erholung in Bad Sassendorf bleiben sollte. Am Montag hole ich sie ab.«

Susanne, Philos deutlich jüngere Freundin, war bei den Ereignissen des letzten Jahres schwer verletzt worden und absolvierte gerade ihre zweite Reha-Maßnahme. Ein geistig verwirrter Mehrfachmörder hatte ihr, als er sich in die Enge getrieben fühlte, in den Rücken geschossen. Auch für sie wird sich vieles ändern, dachte Sabine traurig. Als Polizistin schon mit 25 Jahren berufsunfähig zu werden, war ein harter Schlag. Wie es mit ihr weitergehen sollte, stand noch in den Sternen, aber Philo kümmerte sich so rührend um sie, dass Sabine sich keine allzu großen Sorgen machte.

»Können wir?«, fragte sie ihren Freund, der sich offensichtlich in seinem neuen Outfit bestehend aus Jeans, T-Shirt und einfachem Sakko deutlich wohler fühlte.

Eine halbe Stunde später quälten sich Sabine und Raster durch den erwarteten Freitagnachmittagstau am Autobahnkreuz Dortmund-Nordwest.

»Wir hätten vielleicht doch durch die Stadt fahren sollen«, meinte Sabine mehr zu sich selbst als zu Raster.

»Macht doch nichts. So haben wir Zeit für uns.« Er stemmte die Füße auf die vordere Ablage und erntete dafür einen ärgerlichen Blick seiner Freundin, den er geflissentlich ignorierte. »Erzähl mir ein bisschen mehr von deiner Großmutter. Wie ist sie so, was hatte sie für ein Leben, wo wohnt sie überhaupt genau? Wir hatten noch gar keine Gelegenheit dazu«, bat er.

»Ach, ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll«, meinte Sabine zögerlich. »Für mich war sie halt unglaublich wichtig, nachdem meine Eltern damals bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind. Ich war oft bei ihr, wir haben uns unterhalten, vor allem natürlich über meine Eltern, aber auch Kindheitserinnerungen aufgefrischt. Die Ferien bei meiner Großmutter waren immer das Größte. Sie hat einen großen Gutshof in der Nähe von Holthausen, nördlich von Dortmund-Eving. Ein kleines Dorf mit zwei Kneipen, ein paar Handwerkern und sogar einer Tankstelle. Knapp drei Kilometer außerhalb liegt der Gutshof. Früher, ich glaube seit 1820 oder so, wurde dort intensiv Landwirtschaft betrieben. Durch die beiden Weltkriege ging dann alles den Bach runter, bis mein Urgroßvater den Hof wieder aufgebaut hat. Mittlerweile sind die Stallungen an einen Pferdebesitzer verpachtet, der wiederum zwei Ferienwohnungen vermietet. Der Reitbetrieb geht nach wie vor ganz gut, soweit ich weiß. Früher bin ich auch oft geritten.«

»Gut, das waren alles richtig wichtige Infos«, grinste Raster, »was ich aber eigentlich wissen wollte, war, wie sie so ist. Was ist sie für ein Typ?«

Sabine schwieg eine ganze Weile, während sie sich auf den mittlerweile etwas flüssigeren Verkehr konzentrierte. »Oma ist der beste, klügste und warmherzigste Mensch, den ich kenne«, brach es schließlich aus ihr heraus.

Raster wartete einen Moment, bis er sie fragend anschaute. »Aber?«

»Hast du das Aber tatsächlich gehört? Du bist doch sonst nicht so sensibel. Nein, im Ernst. Da ist nichts. Sowohl als Kind als auch später während des Studiums waren die Zeiten bei Oma immer die Highlights. Das Tolle war, dass ich schon früh mit fünf Jahren ein Nachbarmädchen kennengelernt habe, mit dem ich die wildesten Abenteuer erlebt habe.«

»Was denn für Abenteuer?«, fragte Raster neugierig.

»Na ja. Kleine Katzenbabys versorgen, Ponyreiten, auf Bäume klettern, Äpfel von den Bäumen stibitzen und solche Sachen halt.«

»Ach, diese Abenteuer. Ich verstehe«, meinte Raster und verdrehte die Augen.

Und natürlich gab es ein Aber, dachte Sabine. Doch wie sollte sie ihm davon erzählen, wenn sie es sich selbst nicht erklären konnte.

2. Kapitel

Brighton, Südengland, April 2017

Paul Fisher stand am Fenster der kleinen Wohnung im ersten Stock eines heruntergekommenen Hauses in der Portland Road. Er starrte durch das beschlagene Fenster auf die regennasse Straße, wo nur wenige Passanten, den Pfützen ausweichend, ihrem Ziel entgegen eilten. Wiederholt strich er sich mit beiden Händen über die Arme, um sich etwas Wärme zu verschaffen. Er trug einen dunkelgrauen, kratzigen Wollpullover und feste Bluejeans. Seine Füße steckten in ledernen knöchelhohen Boots. Trotzdem griff ihn die klamme Kälte der Wohnung mehr an, als ihm lieb war. Die meiste Wärme wurde durch den ständig röhrenden alten Kühlschrank produziert, der an einer Wand des nur karg eingerichteten Raumes stand. Außerdem juckte seine Narbe unterhalb des rechten Auges, was immer schon ein schlechtes Zeichen war. Die Narbe hatte er sich bei einer Kneipenschlägerei vor Urzeiten zugezogen. Sie war zwar klein, zog aber das rechte Unterlid ein paar Millimeter Richtung Nase, wodurch diese Gesichtshälfte immer traurig aussah, auch wenn die andere Seite lachte.

Der Coop-Laden gegenüber war mal wieder aus unerfindlichen Gründen geschlossen, stellte Paul in einem weit peripher liegenden Teils seines Gehirns fest, während seine Gedanken woanders ihre Bahnen zogen.

Was konnte er schon dafür, dass er hier gelandet war? An ihm lag es nun wirklich nicht. Es war ihm bewusst, dass er klug genug war, um etwas anderes als das hier, auf die Beine zu stellen. Aber welche Chancen hatte das Leben ihm denn gegeben? Ach was, das Leben; seine Eltern hatten ihm letztendlich das alles eingebrockt. Allen voran sein Vater, der alte Hurenbock. Eines Tages hatte es seiner Mutter gereicht, ständig Beweise für eine neue Schlampe zu finden, die er unbedingt hatte abschleppen müssen. Die Trennung war unvermeidlich. Aber damit hatte das Drama erst so richtig an Fahrt aufgenommen. Er selbst war damals gerade einmal zehn Jahre alt, sein neun Jahre älterer Bruder diente seit Kurzem in der Marine, und so war er dem, was kam, hilflos ausgeliefert. Sein Vater weigerte sich, Unterhalt zu zahlen, sodass die Mutter mit drei Putzjobs die kleine Familie erhalten musste. Die bisherige Wohnung konnte sie trotzdem nicht finanzieren, und so fanden sie sich schon bald in einem Drecksloch von Sozialwohnung in Preston wieder. Hier, im Preston Park, lernte Paul mit 13 seine erste Gang kennen, mit der er kleinere Unternehmungen startete, die am Rande der Legalität lagen. Aber was hätte er denn anderes machen können? Die Mutter wiederholte mantramäßig, dass sie alles tun würde, damit das Geld reiche, und sein Job wäre es, verdammt noch mal, alles dafür zu tun, dass er eine vernünftige Schulausbildung bekäme. Die Schule, ha! Es war einfach alles nur langweilig. Paul hatte schon früh gemerkt, dass der angebotene Stoff für ihn ein Klacks war. Das Wissen, dass er die schulischen Inhalte beherrschen könnte, reichte ihm völlig. Folglich wurden die Noten trotz Ermahnungen der Lehrer und der Mutter immer schlechter, bis er nach der elften Klasse mit einem miserablen Zeugnis die Comprehensive School beendete. Andere Dinge waren eben interessanter und spannender.

Er begann unter massivem Druck seiner Mutter eine Ausbildung in einer Autowerkstatt, wo er seine erste große Liebe traf: Sarah, Tochter seines Chefs und mit einer unersättlichen Lebensfreude ausgestattet. Sie schmiss das Büro der kleinen Werkstatt, pflegte die Kundschaft auf ihre unnachahmliche, charmante Weise, schäkerte und flirtete, wo es nur ging und verdrehte schlichtweg der gesamten Männerwelt die Köpfe. Eines Tages, Paul erinnerte sich noch gut daran, es war der Abend nach seinem 18. Geburtstag, ergab es sich dann, dass Sarah, die Sarah Dickinson, Tochter von Peter Dickinson und Schwarm aller normalfühlenden Männer, ihn, den schmächtigen Paul, zu einem Drink einlud. Danach ging es sehr schnell. Es waren die wunderbarsten Tage in Pauls bisherigem Leben. Vergessen waren die Kumpel im Preston Park, vergessen die kleinen und größeren Gaunereien. Es gab nur noch Sarah. Aber es waren eben auch nur Tage. Wenige. Denn nach genau zwei Wochen war alles vorbei. Ohne Angabe von Gründen wurde Paul von Sarah versetzt, und nur drei Tage später steckte ihm ein Kollege in der Werkstatt, dass sie mit so einem Typen aus der Innenstadt rumhängen würde.

Das war zu viel. Er schmiss die Ausbildung, zog von zu Hause aus und kroch bei seinem Freund Keith unter. Ab diesem Zeitpunkt begann die eigentliche kriminelle Karriere des Paul Fisher. Aber mal ehrlich: Was konnte er denn dafür?

»Werden die Reds es dieses Jahr schaffen? Was meinst du, Paul? Seitdem dieser Klopp Trainer ist, geht es echt spürbar bergauf!«

Jäh aus seinen Gedanken gerissen, drehte sich der Angesprochene seufzend um und betrachtete kopfschüttelnd seine drei Kumpel, die auf den Sofas der zerschlissenen Sitzecke herumlümmelten.

Rechts saß sein alter Freund Keith, ein Bein lässig über die Lehne des Sessels geschwungen. Wie immer cool und abgeklärt, eine halb abgebrannte Kippe im Mund, dünn wie ein Spargel und fast immer grinsend. Er war der Einzige, der aus der Zeit des Preston Parks übriggeblieben war. Genauso alt wie er, waren sie über all die Jahre – Paul dachte kurz nach, es waren tatsächlich schon 21 – unzertrennlich geblieben. Sogar das eine Mal, als Paul für zwei Jahre hatte einfahren müssen, hatten sie zusammen im Gefängnis verbracht.

Mit dem Rücken zu ihm, fragend das Gesicht Paul zugewandt, saß Simon. Ein dunkelhäutiger Typ, gerade einmal 23 Jahre alt, der erst seit wenigen Monaten bei ihnen war. Eigentlich ein ganz cleverer Bursche, wenn er nur nicht so viel reden würde, dachte Paul. Und vor allem fast ausschließlich über Fußball, es war zum Haareraufen.

»Lass Paul in Ruhe, Simon«, antwortete der Vierte im Bunde. »Er hat bestimmt noch wichtige Dinge durchzuspielen, bevor es morgen ernst wird, stimmt’s, Paul?« Ethan war klein, so schmal wie Keith, hatte aber eine ganz andere Körpersprache. Den Rücken immer krumm, machte er sich noch kleiner, als er sowieso schon war. Dazu kamen die fettigen Haare, deren größter Teil schräg auf seiner linken Stirn klebte. Auch die stets abgerissene Kleidung zeigte sein fehlendes Selbstbewusstsein. Wie er vor etwa einem Jahr zu ihrer Gruppe gestoßen war, konnte Paul kaum noch erinnern. Bei einem kleineren Coup war er zufällig da gewesen und hatte ihnen geholfen. Na, hoffen wir das Beste, dachte Paul besorgt. Morgen wird es sich zeigen. »Ist schon gut, Ethan. Lass Simon ruhig quatschen. Mir ist das vollkommen schnuppe, wer dieses Jahr Meister wird. Ich möchte nur, dass alles glatt läuft. Sollen wir noch einmal die einzelnen Schritte durchgehen? Keith?«

»Von mir aus. Dann komm aber her, sonst bekommt Simon eine Genickstarre. Schnapp dir ein Bier und setz dich zu uns.«

Paul tat, wie ihm geheißen. Nach dem ersten Schluck Lagerbier aus der Flasche begann er zum vielleicht 100. Mal, seinen Plan für den kommenden Tag zu erläutern. Eine gute halbe Stunde, einige Nachfragen und entsprechende Antworten später kam Paul zum Schluss. »Also, Leute. Nochmal das Wichtigste zum Mitschreiben. Völlig egal, was ihr in den Kassen vermutet, haltet euch nicht damit auf. Es geht ausschließlich um die Schließfächer. Ist das klar? Ich weiß zwar nicht, was wir dort finden, aber die Wahrscheinlichkeit, dass das wesentlich mehr ist als alles Bargeld, das die da vorrätig haben könnten, ist enorm. Mein Kumpel war da ganz sicher. Und wehe, einer von euch vergisst sein Spezialwerkzeug!«

»Ja, Papa. Wie oft denn noch? Alles klar. Jetzt lasst uns ein paar Bier zischen, und dann geht’s bald in die Falle, okay?«

Widerstrebend nickte Paul. Es musste einfach klappen. Die Chance war einmalig. Es hatte damit begonnen, dass er einige Monate zuvor in einem Pub in Worthing am Tresen auf sein Bier wartete. Warum er an diesem Abend in Worthing war, wusste er nicht mehr. Neben ihm standen zwei Anzugträger, die sich lautstark über ihre Arbeit unterhielten. Offensichtlich Banker, wie Paul dem Inhalt des Gesprächs entnehmen konnte. Er bekam sein Bier und wollte gerade an seinen Tisch zurückgehen, da schnappte er einen Satz auf, der ihn stutzig machte und ihn bewegte, am Tresen stehen zu bleiben.

»Es wird auch höchste Zeit, dass diese alten Fächer ausgetauscht werden. Wann soll das gemacht werden?«, fragte gerade der eine, dessen rotgeränderte Augen von mehr als einem konsumierten Pint Zeugnis gaben.

»Im nächsten Mai. Also ehrlich. Wenn ich etwas Wertvolles einlagern wollte, dann sicherlich nicht bei uns. Der Vertreter der Firma, die die neuen Schließfächer einbauen wird, hat mir gestern erst gezeigt, wie leicht man diese alten Dinger aus den 60er-Jahren aufbekommt.« Es folgte eine detaillierte Beschreibung der notwendigen Werkzeuge und des Verfahrens. Paul wollte seinen Ohren nicht trauen. Was waren das denn für Knalltüten? Wenn ihr Chef wüsste, was die hier in aller Öffentlichkeit breittraten, würden die beiden keinen Job mehr bei irgendeiner Bank in England bekommen. Er folgte dem einen der beiden nach der Sperrstunde zu seinem Haus, notierte den zugehörigen Namen und zwei Tage später wusste er, bei welcher Filiale in Worthing die beiden arbeiteten.

Paul hatte all seine finanziellen Reserven aufgebraucht und sich zwei Reihen der alten Schließfächer sowie vier der Spezialwerkzeuge bauen lassen.

Man musste, so hatte er es verstanden, einen flachen, vorne zu einer Art Haken gebogenen Stahlstab unterhalb eines Faches in den Schlitz einführen, um dann mit einer ruckartigen Bewegung nach rechts und zu sich hin eine Arretierung zu lösen. Wochenlang hatten er und seine drei Kumpel gefummelt, geübt, verbessert und weiter geübt, bis sie schließlich alle das Öffnen im Schlaf beherrschten. Die Probefächer waren mittlerweile fachgerecht entsorgt worden, und auch die Haken würden morgen auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Natürlich konnte Paul sich nicht sicher sein, dass sich der ganze Aufwand lohnen würde, aber Worthing war ein altes, nicht unvermögendes Städtchen. Viele wohlhabende Damen in fortgeschrittenem Alter waren hier nach mehrfachen Kuraufenthalten hängengeblieben, und deren Schmuck und Wertgegenstände mussten ja nun einmal sicher aufbewahrt werden. Also standen die Chancen nicht schlecht. Dazu kam, dass Paul im Laufe seiner Karriere diverse Hehler, Antikhändler und Schmuckspezialisten kennengelernt hatte, sodass er davon ausging, nicht allzu lange auf der erhofften Beute sitzen zu bleiben. Denn das war, wie er aus leidiger Erfahrung wusste, die gefährlichste Zeit.

Müde rieb er sich mit den Händen übers Gesicht und strich seine langen braunen Locken nach hinten. »Leute. Ich pack’s dann mal, und ihr haut euch jetzt auch aufs Ohr. Kein Bier mehr, verstanden? Ich will nichts riskieren, nur weil einer von euch morgen verkatert ist.«

3. Kapitel

Im Norden Dortmunds, Juli 2019

Nachdem sie Holthausen in nordöstlicher Richtung verlassen hatten, tauchten sie in eine ganz eigene Welt ein: weitläufige Wiesen mit Hecken und kleinen Baumgruppen. Hier und da eine Kuhherde mit Kälbern, die träge wiederkäuten und dem Auto hinterherschauten. Nach fünf Minuten Fahrt durch diese Idylle machte Raster ein Wäldchen aus, durch das das rote Dach eines stattlichen Gebäudes zu erkennen war. »Ist es das?«, fragte er.

»Das ist es«, antwortete Sabine, ohne etwas Stolz in ihrer Stimme verbergen zu können.

Sie bogen nach links in eine schnurgerade Allee ein, die beiderseits von alten Eichen gesäumt war. Nach 500 Metern öffnete sich der Blick auf ein hufeisenförmiges flaches Gebäude. In der Mitte befand sich eine überdachte Durchfahrt, hinter der man einen kiesbedeckten Innenhof erreichte. An der gegenüberliegenden Seite erhob sich der eigentliche Gutshof. Ein klassischer Herrensitz, eigentlich eher typisch für das Münsterland, das allerdings auch in Steinwurfnähe begann: breit mit mittiger Eingangstreppe, rotem Giebeldach und drei Etagen. »Die übrigen Gebäude beherbergen die Stallungen, die zwei Ferienwohnungen und Wirtschaftsräume«, erklärte Sabine ihrem Freund, während sie am rechten Rand des Vorplatzes den Wagen parkte. »Der Verwalter lebt auch im Haupthaus, da ganz links. Ist ein total netter Typ. Friedrich Ehlert heißt er, wird aber von allen nur Fritz genannt. Du wirst ihn mögen.«

Sabine und Raster schnappten ihre Taschen aus dem Kofferraum und steuerten auf die breite Freitreppe zu.

»Es scheinen ja schon einige Leute da zu sein«, meinte Raster und wies auf mehrere Fahrzeuge, die weiter links geparkt waren. In diesem Augenblick öffnete sich die reich verzierte Haustür, und heraus trat eine freundlich lächelnde alte Dame. Schlank und mit geradem Rücken hätte man sie auch als 70-Jährige durchgehen lassen können, wenn da nicht die unendlich vielen Falten und Fältchen in ihrem Gesicht gewesen wären. Sie trug ein nachtblaues elegantes Kostüm, das nicht so recht zu ihrem freundlichen und natürlichen Lächeln passen wollte. Das noch volle weiße Haar hatte sie zu einem akkuraten Dutt aufgesteckt.

»Ist das deine Großmutter?«, flüsterte Raster.

»Oma! Ist das schön, dich endlich wiederzusehen! Und alles, alles Gute zum Geburtstag!«, rief Sabine, ohne auf seine Frage direkt einzugehen, und sprang die Stufen hinauf, um ihrer Großmutter in die Arme zu fallen.

»Das ist sie ja wohl«, murmelte Raster und folgte seiner Freundin.

»Raster, darf ich dir meine liebe Oma vorstellen? Frau Lina Funda. Oma, das ist mein Freund Raster, ich meine Hans Schulz«, verbesserte sie sich.

Erneut öffneten sich die Arme der alten Dame, und ein warmes Lachen verschönerte aufs Neue das faltenreiche Gesicht. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, dass meine Sabine endlich jemanden gefunden hat. Und wen sie liebt, den mag ich schon mal erst recht. Ich bin Lina, darf ich auch einfach Raster sagen?«

»Selbstverständlich, gerne. Und auch von mir meinen herzlichsten Glückwunsch!«, antwortete Raster etwas unsicher.

»Jetzt kommt mal erst rein«, half ihm Lina über seine Verlegenheit hinweg. »Es sind schon fast alle da.« Sie dirigierte die beiden durch einen breiten Flur zu einer geschwungenen Treppe, die in die oberen Etagen führte, und neben der einige antike Stühle standen. »Lasst eure Taschen hier. Wir sitzen im Garten.«

Raster folgte Sabine und ihrer Großmutter durch eine hohe Tür hinter der Treppe in den rechten Flügel des Hauses. Sie betraten ein helles Wohnzimmer mit großen Fenstern und einer Terrassentür, die in den Garten führte. Der etwa drei Meter hohe Raum war geschmackvoll mit alten Möbeln eingerichtet, wobei Raster keine Ahnung hatte, aus welcher Epoche sie stammten. An den Wänden hingen, wie schon in der Diele, wertvoll aussehende Gemälde, die er aber nicht weiter einordnen konnte. Draußen, auf dem Rasen, war eine lange Kaffeetafel aufgebaut. Vergnügtes Geplapper von mehreren Menschen drang bis ins Wohnzimmer. Raster holte einmal tief Luft und trat dann hinter Sabine nach auf die Terrasse.

»Alles gut«, flüsterte sie. »Ist doch nur meine bucklige Verwandtschaft.«

Als ob mir das helfen würde, dachte Raster und bereute in diesem Moment, überhaupt mitgekommen zu sein. Wie gerne säße er jetzt zu Hause an seinem PC und tüftelte an kniffligen Fragen zur Entwicklung eines neuen Computerspiels.

Die Gespräche waren mit einem Schlag verstummt, als die Gesellschaft die beiden Neuankömmlinge bemerkte. Nur Hanna, Sabines jüngere Schwester, war aufgesprungen und eilte den beiden entgegen.

Na, wenigstens eine, die ich kenne, dachte Raster erfreut.

»Keine Sorge«, flüsterte Hanna ihm während der Begrüßungsumarmung ins Ohr, »die sind alle nur schrecklich neugierig, wen Sabine da mitgebracht hat. Alles ganz harmlos.«

»Ihr Lieben!«, hob in diesem Moment das Geburtstagskind an. »Sabine kennt ihr ja alle. Und das ist ihr Freund, Hans Schulz, aufgrund dieser unübersehbaren Haarpracht von allen nur Raster genannt. Nehmt ihn herzlich in eurer Mitte auf, denn wer meine Sabine glücklich macht, der gehört wahrlich zu uns.«

Applaus brandete auf, und spätestens in diesem Moment sehnte sich Raster nach irgendeiner Art Zeitmaschine, die ihn von hier wegbrächte.

»Komm, wir setzen uns. Dann erzähl ich dir, wer wer ist. Oma ist manchmal ein wenig pathetisch. Nimm es ihr nicht übel. Und die Leute da sind fast alle richtig nett.«

Nachdem sie die obligatorische Begrüßungsrunde vollzogen hatten, setzten sie sich auf zwei leere Stühle, die Gott sei Dank nebeneinanderstanden, wie Raster immer noch leicht nervös bemerkte. Sofort steuerte eine junge Frau mit weißer Schürze auf sie zu, die er vorher gar nicht wahrgenommen hatte. »Darf ich Ihnen Kaffee einschenken?«, fragte sie, eine Porzellankanne in der Hand haltend.

Beide ließen sich gerne bedienen und genossen schon bald den selbstgemachten Apfelkuchen, der Sabine ein ums andere Mal zum Schwärmen brachte. Nach den ersten Bissen hielt sie inne und legte ihre Gabel auf den Teller. »Also fangen wir mal an. Rechts von dir, die beiden Mädchen, müsstest du ja eigentlich kennen.«

Raster nickte. Klarissa, Hannas Tochter, und Lydia, ein Pflegekind von Hanna, das von seiner Mutter verstoßen wurde und dessen Vater im Gefängnis saß. Woran Raster, Philo und Sabine nicht gerade unbeteiligt waren. Beide standen am Anfang der Pubertät. Lydia hatte das Downsyndrom, machte aber in der Schule gute Fortschritte und war mit Klarissa ein Herz und eine Seele. Sie freuten sich riesig auf die Pferde, und die Urgroßmutter hatte ihnen für den Spätnachmittag einen kleinen Reitausflug versprochen, wie Klarissa Raster stolz berichtete.

»Dahinter kommen Hanna und ihr Freund Klaus. Den kennst du, glaube ich, noch nicht?«

Raster schüttelte den Kopf.

»Ist ein richtig Netter. Kommt super gut mit den Mädchen klar und wohnt wie Hanna auch in Herne. Ich wette, die ziehen bald zusammen. So, weiter im Text: Links von mir sitzen zwei befreundete Paare aus dem Dorf. Ich habe die früher zwar öfter hier gesehen, aber frag mich nicht nach den Namen. Uns gegenüber fangen wir mal ganz rechts an. Da ist zunächst Tante Frieda, Omas älteste Tochter. Sie ist schon lange verwitwet. Links neben ihr sitzt ihre Tochter Barbara, also meine Cousine.«

»Moment mal. Nicht so schnell«, fuhr Raster dazwischen. »Wie viele Kinder hat denn deine Oma?«

»Drei«, antwortete Sabine, »Frieda, mein Vater und Günter Funda. Der sitzt neben Barbara, mit seiner Frau Helga und dem Sohn Gernot. Die Fundas wohnen in Münster und Gernot in der Nähe von Dülmen.«

»Was macht der denn beruflich? Er sieht ein wenig ungepflegt aus, so ein bisschen wie ich früher.«

Sabine lachte. »Das kann schon hinkommen. Er ist arbeitslos und schlägt sich, soweit ich das mitbekommen habe, mit Gelegenheitsjobs durch. Ehrlich gesagt mag ich ihn nicht besonders. Aber wir hatten nie engeren Kontakt. Wenn ich mir das recht überlege, eigentlich keiner von uns. Weder meine vier Geschwister noch Barbara. Aber egal. Die Nächsten sind mein Bruder Ralf – den kennst du von meinem 40. Geburtstag – mit seiner Frau Sarah und dem Sohn Max. Und dann sind da noch mein Bruder Christoph mit Freundin Claudia. Ah, und da kommen die Ehrengäste.«

Oma Lina war aufgestanden und eilte einem Paar entgegen, das von einer weiteren Angestellten in den Garten geführt wurde. Dahinter folgte in gebührendem Abstand, dem Talar zufolge, der Pfarrer des Dorfes.

»Das ist der Bürgermeister von Brechten Hans Fleischhauer nebst Gattin Petra und Pfarrer Hilgenstock«, erklärte Sabine.

»Was hat denn der Bürgermeister um den Hals hängen?«, fragte Raster erstaunt, der eine solch breite und opulente Kette, geschweige denn bei einem Mann, noch nie gesehen hatte.

»Das ist die Amtskette, du Ignorant«, meinte Sabine. »Wird bei allen hohen Anlässen vom Bürgermeister getragen. Also auch beim 90. Geburtstag einer hochgestellten Persönlichkeit.«

»Wieso ist deine Großmutter eine hochgestellte Persönlichkeit? Okay, sie hat offensichtlich Vermögen, aber das heißt ja nicht automatisch, dass sie etwas Besonderes im politischen Sinne darstellt.«

Ein Schatten huschte über Sabines Gesicht, und kurzzeitig war ihr Lachen verschwunden. »Ich erkläre dir das später«, meinte sie nur und nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.

Raster war in Gedanken schon wieder ganz woanders und hatte die Veränderung im Gesicht seiner Freundin gar nicht mitbekommen. Er beobachtete interessiert die Küsschen links und rechts, die die Bürgermeistersgattin der Jubilarin auf die Wangen drückte. Gut, dass endlich jemand anderes im Mittelpunkt steht, dachte er erleichtert.

4. Kapitel

Brighton, Südengland, April 2017

Paul beobachtete verstohlen seine drei Kumpel. Dies war eine äußerst gefährliche Zeit. Er wusste, dass von diversen Brüchen vorher. Wenn alles, wie in diesem Fall, so glatt lief, verbreitete sich schnell eine Art Euphorie in der Truppe, die zu Fehlern führen konnte. Mit verheerenden Folgen für alle.

Keith und Simon wirkten noch einigermaßen überlegen, während sie angefangen hatten, das Diebesgut aus den großen Sporttaschen zu sortieren. Aber auch sie kamen aus dem breiten Grinsen nicht mehr heraus. Ethan allerdings wirkte übermütig und fahrig. Entgegen seiner sonst so stillen Art juchzte er jedes Mal wie ein kleiner Junge auf, wenn er ein Stück aus seiner Tasche klaubte. Außerdem ging er nicht gerade sorgsam mit den Dingen um. Paul musste ihn im Auge behalten.

Im Wohnzimmer der Wohnung hatte sich ein saurer Schweißgeruch in die klamme Kälte gemischt. Ein solcher Überfall war immer mit Stress verbunden, und das merkte man deutlich. Aber es war perfekt gelaufen. Vonseiten der Bankangestellten hatte es kaum Widerstand gegeben. Die drei Notfallknöpfe hatten sie innerhalb weniger Sekunden entdeckt und dafür gesorgt, dass sich keiner in ihrer Nähe aufhielt. Der Filialleiter hatte ohne Zögern die schwere Tür zu dem Raum mit den Schließfächern geöffnet, woraufhin alles sehr schnell gegangen war. Die Spezialwerkzeuge taten, was sie sollten, und innerhalb von wenigen Minuten waren sämtliche Fächer geleert, in denen sie vermeintlich Wertvolles gefunden hatten. Auch der Rückzug war schon fast zu glatt gegangen. Eine Warnung an die Angestellten hatte ausgereicht, ihnen einen ausreichenden Vorsprung zu verschaffen. Keine Sirene ertönte, und so waren sie ohne Hast in ihrer Wohnung in Brighton angekommen. Der kleine Umweg über einen befreundeten Schrotthändler, wo sie den Zweitwagen geparkt hatten, hatte sie gerade einmal 15 Minuten gekostet. Das Tatfahrzeug war sicherlich längst zusammen mit den Spezialwerkzeugen zu einem koffergroßen Metallblock zusammengepresst worden.

Auf den ersten Blick sah die Beute vielversprechend aus. Pauls Einschätzung über den Inhalt der Schließfächer schien ein Volltreffer zu sein. Er konnte Dutzende Colliers, Armreifen, Ketten und andere Schmuckgegenstände ausmachen. Dazu kamen antik aussehende Kästchen, Reiseaccessoires und diverse Papiere wie Schuldverschreibungen, Wertpapiere und Dokumente, die er zu einem späteren Zeitpunkt sichten wollte. Dies konnte sich zu seinem bisher größten Coup entwickeln, dachte Paul. Wenn seine Truppe sich in den nächsten Wochen zusammenriss, und wenn der Verkauf über diverse Hehler wie geplant über die Bühne ging.

»Also, Leute. Erst mal: super Arbeit. Ich denke, wir können stolz auf uns sein. Mit ein bisschen Glück könnten wir für einige Zeit ausgesorgt haben. Aber«, Paul verschärfte seinen Tonfall, »das funktioniert nur, wenn wir uns exakt daran halten, was wir vorher besprochen haben. Ist das allen klar?«

Allgemeines Kopfnicken unterbrach kurz das Grinsen und Händereiben.

»Das heißt: Jeder begibt sich an seinen vereinbarten Ort. Wir verteilen uns und halten die Füße still. Ihr bleibt während der ganzen Zeit getrennt. Achtet darauf, dass ihr nicht zu viel trinkt. Ihr wisst, was dann passieren kann!«

»Paul. Jetzt lass doch nicht dermaßen den Schulmeister raushängen! Wir wissen Bescheid. Aber ein bisschen Feiern ist ja wohl erlaubt, oder?«, maulte Simon.

»Ihr wisst selbst ganz genau, was ich meine, Leute. Wenn einem von euch was rausrutscht, sind wir alle dran, und die ganze Arbeit war für die Katz. Und noch etwas: Es wird die Zeit kommen, dass ihr ungeduldig werdet. Ich weiß das. In zwei oder drei Wochen werdet ihr denken: Wo bleibt denn nur der alte Paul mit dem Schotter? Hat der sich etwa aus dem Staub gemacht? Und dann passieren Fehler. Glaubt mir, ich hab es selbst schon erlebt. Ihr müsst mir vertrauen. Anders funktioniert das nicht. Und es kann dauern. Einen solchen Haufen vernünftig zu verkaufen, geht nicht innerhalb von ein bis zwei Wochen.«

Ethan rutschte auf der Sessellehne herum, auf der er Platz genommen hatte. Seine Augen glitten unstet hin und her. »Aber du meldest dich ganz bestimmt bei uns, Paul?«

»Ich verspreche es.«