Whisper Network - Chandler Baker - E-Book
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Whisper Network E-Book

Chandler Baker

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Beschreibung

Hättet ihr doch nur auf uns gehört, dann wäre das alles nicht passiert

Sloane, Ardie, Grace und Rosalita leiden seit Jahren unter ihrem Vorgesetzten Ames. Zu seinem Verhalten Frauen gegenüber gab es schon immer Gerüchte. Gerüchte, die die Firmenleitung stets ignorierte oder unter den Teppich kehrte. Aber jetzt soll Ames zum Geschäftsführer befördert werden. Allerdings haben die Zeiten sich geändert, und genug ist genug. Die vier Frauen wissen: Sie müssen Ames‘ Aufstieg unbedingt verhindern. Und wenn ihre Worte wie üblich nicht gehört werden, dann müssen sie eben handeln ...

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Seitenzahl: 497

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Das Buch

»Hättet ihr doch nur auf uns gehört, dann wäre das alles nicht passiert.«

Eigentlich haben Sloane, Ardie und Grace schon lange den Glauben daran verloren, dass ihre Stimmen im Arbeitsleben gehört werden. Und das, obwohl sie beim großen Sportbekleidungshersteller Truviv in Dallas Karriere gemacht haben. Untereinander aber halten sie zusammen, und sie vertrauen auf das Whisper Network berufstätiger Frauen: geflüsterte Warnungen, vor welchen Männern man sich in der Arbeitswelt von Dallas hüten muss. Eine Liste mit Namen wird heimlich weitergereicht.

Dann stirbt der Geschäftsführer von Truviv, und Ames, der übergriffige Vorgesetzte der Freundinnen, bringt sich als Nachfolger in Position. Sloane, Ardie und Grace wissen: Das darf nie geschehen. Sloane setzt Ames auf die Namensliste – doch kurz darauf wird die Liste öffentlich. Ein Sturm der Entrüstung bricht los. Und nur wenig später ist Ames tot. Selbstmord? Mord? Oder haben unberechtigte Anschuldigungen ihn in den Tod getrieben? Und welche Rolle spielen Sloane, Ardie und Grace dabei?

Die Autorin

Chandler Baker ist studierte Juristin und arbeitete unter anderem bei einer großen Sportfirma in Dallas. Mittlerweile ist sie als Firmenanwältin in Austin tätig, wo sie auch mit ihrem Mann und ihrem kleinen Kind lebt. »Whisper Network« stand gleich nach dem Erscheinen auf der New-York-Times-Bestsellerliste und wurde von Lesern und Leserinnen wie von der Kritik gefeiert.

CHANDLER BAKER

WHISPERNETWORK

ROMAN

Aus dem Amerikanischenvon Astrid Finke

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

WHISPER NETWORK

bei Flatiron Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Für alle Frauen, die mir oder der Welt ihre Geschichte erzählt und die zu der kollektiven Stimme auf diesen Seiten und zu einer Bewegung, die nicht mehr zu ignorieren ist, beigetragen haben: Wir hören euch.

Copyright © 2019 by Chandler Baker

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Martina Vogl

Herstellung: Helga Schörnig

Umschlaggestaltung und Artwork: Eisele Grafik·Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-25924-2V001

www.heyne.de

PROLOG

Hättet ihr doch nur auf uns gehört, dann wäre das alles nicht passiert.

AUGENZEUGENBERICHTE

12. APRIL

AUGENZEUGE 1    Ich war gerade vor die Tür gegangen, als ich ein – keine Ahnung – irgendwas sah, eine Bewegung oder so, auf der anderen Seite des Platzes, und erst dachte ich, es wäre ein riesiger Vogel, und dann, eine Bombe, Terroristen. Einen Sekundenbruchteil später wurde mir dann klar, dass es ein Mensch war. Ob Mann oder Frau, konnte ich nicht erkennen. Die Leute in dieser Gegend sind ziemlich konventionell. Die tragen noch Anzug. Wie früher. Schwarze Hose und flatterndes Jackett. Jedenfalls ist das ein ziemlich tiefer Sturz von da oben.

AUGENZEUGE 2    Es war gegen halb zwei. Ich hatte gerade mit einem Kunden bei Dakota’s gegessen. Mir wäre beinahe mein Fitness-Salat wieder hochgekommen.

AUGENZEUGE 3    Ich sage nicht, dass es mir nicht leidtut. Das schon, es ist schrecklich. Aber man muss doch auch ziemlich egoistisch sein, um so was zu machen, finde ich. Da waren Leute auf der Straße. Es war kurz nach Mittag. Wenn man unbedingt muss, wenn man wirklich nicht anders kann, dann sollte man das privat machen, ohne so viele Leute drum herum. Ich mein ja nur.

1

Drei Wochen vorher:Der Tag, an dem es begann

20. MÄRZ

Vor jenem Tag raste unser Leben auf einem unsichtbaren Achterbahngleis vor sich hin, wie ein Wagen, den Mechanismen und Kräfte auf den Schienen hielten, die wir nicht ganz durchschauten, trotz unserer Überfülle an akademischen Abschlüssen. Wir waren mit einem Gefühl von kontrolliertem Chaos unterwegs.

Wir waren Expertinnen für Trockenshampoos. Wir brauchten vier Tage für eine gesamte Staffel von Der Bachelor. Wir schliefen mit überhitzten Laptops auf dem Schoß ein, die uns die Oberschenkel verbrannten. Wir machten zweistündige Pausen, um unseren Kleinkindern Gutenachtgeschichten vorzulesen, und mieden es, die Gesamtzahl der als Mutter und Angestellte gearbeiteten Stunden auszurechnen, unsicher, was davon an erster Stelle stand. Wir waren überqualifiziert und unterfordert, hatten immer das letzte Wort und immer recht. Wir hatten einen festen Händedruck und satte Kreditkartenumsätze. Wir vergaßen unser Mittagessen auf dem Küchenschrank.

Jeder Tag war genau gleich. Und dann nicht mehr. An dem Morgen, als unser CEO starb, sahen wir auf und stellten plötzlich fest, dass der Achterbahnwagen ein kaputtes Rad hatte und wir jeden Moment aus den Schienen springen konnten.

Ardie Valdez – eine geduldige Frau mit praktischen, hochwertigen italienischen Schuhen – ahnte als Erste den nahenden Knall. Sie beschloss, in Deckung zu gehen.

»Grace?« Sie stand im Flur (steril, aber mit unerschwinglicher Kunst) und klopfte an eine schlichte Tür, an der ein Magnet in Form einer Kuh hing. »Ich bin’s, Ardie. Darf ich reinkommen?«

Sie wartete und lauschte, bis sie ein Rascheln hinter der Tür hörte. Das gesetzlich vorgeschriebene Schloss klickte.

Hastig trat sie in die kleine Kammer und verriegelte die Tür hinter sich. Unterdessen ließ Grace sich schon wieder auf dem Ledersofa nieder, die Seidenbluse schief über zwei an ihren Brüsten befestigte Plastiktrichter gezogen.

Ardie sah sich um. Ein Mini-Kühlschrank. Die durchgesessene Couch. Ein kleiner Fernseher, auf dem Ellen lief. Draußen waren Stimmen zu hören, schnelle Schritte, Telefonate, Kopierer. Anerkennend runzelte sie die Stirn. »Das hier ist wie dein eigenes kleines Privatversteck.«

Grace tastete nach dem Regler für die Milchpumpe, woraufhin das methodische Brummen einsetzte. »Oder wie meine eigene kleine Privatgruft«, sagte sie ungezwungen.

Grace’ Sinn für schwarzen Humor überraschte Ardie immer wieder. Von außen wirkte Grace so unkompliziert. Sie hatte eine leicht toupierte, wasserstoffblonde Frisur, war aktives Mitglied des Ehemaligenverbands ihrer Uni und ging sonntags mit ihrem großen, dunkelhaarigen und karierte Hemden tragenden Mann Liam in die presbyterianische Kirche von Preston Hollow. Die beiden hatten auf der Gästeliste der Eröffnung der George-W.-Bush-Präsidentenbibliothek gestanden und waren bekennende »mitfühlende Konservative«, was in Ardies Verständnis bedeutete, dass sie für die Homo-Ehe waren, aber vorzogen, so niedrige Steuern wie möglich zu zahlen. Außerdem besaßen sie mindestens eine Schusswaffe, die sie in einem Tresor in Grace’ begehbarem Kleiderschrank aufbewahrten, und dass Ardie Grace trotz alledem mochte, sagte einiges.

»Wie viel sollten Babys überhaupt trinken? Andauernd bin ich am Pumpen. Ich meine, Scheiße, Ardie, ich sitze am helllichten Tag vor dem Fernseher.«

Normalerweise sagte Grace nicht »Scheiße«.

Ardie erinnerte sich noch daran, wie lang ihr die Tage vorgekommen waren, als ihr Sohn Michael nur wenige Stunden am Stück geschlafen hatte. Ihr gesamter Körper hatte sich schwer und klebrig angefühlt, als wäre sie von Kopf bis Fuß von einem dünnen Schmutzfilm überzogen gewesen. Wie ungeputzte Zähne.

Sie wühlte in ihrer geräumigen Handtasche und holte zwei schwitzende Dosen La Croix heraus. Eine davon reichte sie Grace und ließ sich dann auf dem Boden vor dem Sofa nieder. Ardie konnte einfach im Büro auf dem Boden sitzen, weil sie – und sie wäre die Erste, die das zugegeben hätte – sich ausgeklinkt hatte. Schon vor Jahren. Statt sich morgens eine Stunde mit Frisur und Make-up zu befassen, schlief sie länger. Sie ging praktisch nie shoppen. Sie verbrachte keine Minute ihrer kostbaren Zeit mit Pilates. Es war das Befreiendste, was sie je getan hatte.

Jetzt schielte sie nach ihrem Handy. Immer noch nichts.

»Also«, sagte sie jetzt, »Bankole ist gestorben. Zu Hause, heute Morgen, während er sich für die Arbeit fertig machte.« Sie übermittelte die Nachricht ganz sachlich. Eine andere Art, Nachrichten zu übermitteln, kannte sie nicht. Es hieß immer: Meine Mutter hat Krebs oder Tony und ich lassen uns scheiden.

»Was? Wie das denn?« Grace ließ die Schläuche fallen, die sie gerade wieder in die trichterförmigen Vorrichtungen zu schieben versucht hatte.

»Herzinfarkt. Seine Frau hat ihn im Bad gefunden.« Ardie stützte die Ellbogen auf den Knien ab und sah zu Grace auf. »Hab ich gerade erfahren.«

Ardie hatte den Geschäftsführer der Firma, Desmond Bankole, nur ein einziges Mal getroffen, ein Händedruck im Aufzug, da er Wert darauf legte, jeden Menschen, der in seinem Gebäude arbeitete, wenigstens ein Mal persönlich zu begrüßen, bis hinunter zum Reinigungspersonal. Seine Zähne waren sehr weiß gewesen. Ardie hatte ihn sich größer vorgestellt, seine Handgelenke unter dem Sakko hatten vogelähnlich gewirkt.

»Übrigens verstecke ich mich«, sagte Ardie und fügte, ehe Grace fragen konnte, hinzu: »Vor Ames. Er nervt mich andauernd, wo Sloane ist. Ich hab ihm gesagt, wahrscheinlich in der Mittagspause. Er meinte, er hätte ihr nicht erlaubt, heute Mittagspause zu machen. Daraufhin ich: Sie ist Chefin der Nordamerika-Rechtsabteilung und braucht seine Erlaubnis nicht, um Mittagspause zu machen und …«

»Das hast du zu ihm gesagt?« Grace setzte sich auf. Sie war ihre Freundin, streng genommen aber auch ihre Chefin, weshalb Ames der Chef ihrer Chefin war.

»Natürlich nicht mit den Worten. Spinnst du?«

»Ach so.« Grace blinzelte. Sie spielte mit dem kleinen Diamantkreuz an ihrer Halskette. Immer noch brummte die Pumpe.

»Deshalb verkrieche ich mich hier so feige«, erklärte Ardie. »Und warte darauf, dass Sloane zurückruft.« In der Regel interessierten sich Männer wie Ames nicht für Ardie. Er hasste es, jemandem zuzuhören, der ihm äußerlich nicht gefiel. Als er sie nach Sloane gefragt hatte, war sein Blick hektisch über und um sie herum gehuscht, und sobald er konnte, war er gegangen. Diesen Teil erwähnte sie Grace gegenüber nicht.

Ardie fühlte sich unbehaglich. Grace’ Brüste konnten in diesem winzigen Raum nicht ignoriert werden. »Die Trichterdinger saugen sie ja richtig rein, eben haben sie wie Torpedos ausgesehen. Tut das nicht weh?« Ardie hatte ihren Sohn vor vier Jahren adoptiert, ein Happy End nach Jahren des Kampfes gegen die Unfruchtbarkeit. Sie selbst hatte nie gestillt, sich darunter aber immer ein friedliches Nuckeln vorgestellt, ersehnten Hautkontakt, für die eher Schamhaften unter einem handgewebten Tuch. Nicht dieses brutale Gezerre, das sie nun von Nahem sah.

»Nicht so schlimm wie Emma Kates Mund, wenn ich mal ehrlich bin.« (Stillen sollte schmerzlos sein, sagte man uns. Stillen war wunderschön, meinten sie. Tja, wir würden ihre Brustwarzen gern mal über Asphalt schleifen und fragen, wie schmerzlos und wunderschön sie das fanden.)

»Mein Gott, es gibt per App steuerbare Zahnbürsten«, sagte Ardie. »Mein Saugroboter findet abends allein ins Bett, und wir können keinen Apparat erfinden, der Milch ein bisschen sanfter aussaugt als das da?« Das Gerät war auf groteske Art faszinierend.

»Männer haben Zähne.« Grace zog die Augenbrauen hoch. »Und Fußböden.«

Ardie nahm einen tiefen Schluck von dem Mineralwasser mit Grapefruitgeschmack, während im Fernsehen Ellen DeGeneres einen jungen Mann auf der Bühne begrüßte. Er sah aus, als wäre er noch nicht volljährig, und Ardie hatte keinen blassen Schimmer, wer er war. Wieder tippte sie auf ihr Handy: nichts Neues.

»Ich hatte gerade einen gruseligen Gedanken«, sagte sie einen Moment später. »Ames könnte der neue CEO werden.«

»Nein. Meinst du?«

»Er sieht aus wie ein CEO. Er ist groß. Groß mögen die Leute.« Ardie ballte abwechselnd die Faust und löste sie wieder, Dehnübungen für den Karpaltunnel, der eine ständige Bedrohung ihres Handgelenks darstellte. »Wart’s nur ab«, sagte sie. »Dieser Arsch könnte unsere Firma leiten, und was wird dann aus uns?«

Es ging nicht nur um die Gerüchte bezüglich einer Praktikantin. Oder um den Vorfall mit seiner Chefassistentin bei dem Byron-Nelson-Golfturnier, nach dem wer wohl gefeuert worden war? Achtung, Spoiler: nicht Ames. Nicht einmal darum, dass Konzernkultur an der Spitze geprägt wurde und Ames als Geschäftsführer von Truviv hieße, die Jagdsaison zu eröffnen.

Es ging darum, dass Ames Garrett Ardie hasste.

»Ich weiß nicht«, meinte Grace. »Zu mir war er immer nett.«

Ardie beließ es dabei. Grace war ein paar Jahre jünger als Ardie und klammerte sich noch an die Vorstellung, dass jemand trotz seines Verhaltens ein »guter Mensch« sein konnte, als verriete nicht eben das Verhalten den eigentlichen Menschen. Und Ardie hatte schon erlebt, wie Ames Garrett sich verhalten konnte.

Trotzdem, es gab Themen, über die man nicht diskutierte, nicht einmal unter Freundinnen – Religion, Geld und vielleicht auch Ames.

Grace drehte am Regler ihrer Pumpe, um die Saugkraft zu erhöhen. Einer der Schläuche rutschte heraus und zuckte auf dem Boden herum. Ein weißer Tropfen fiel auf Grace’ Rock. Sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, ihre Nasenflügel sanken ein. Als sie die Augen wieder aufschlug, glänzten sie. Grace rieb sich mit dem Handgelenk die Nase und hob den flüchtigen Schlauch demonstrativ ruhig wieder auf. Zweimal verfehlte sie das Loch, als sie ihn wieder einsetzen wollte. Der dritte Versuch war ein Treffer. »Das mit Bankole ist aber wirklich deprimierend.« Sie richtete den Blick auf den Fernseher. »Ist es schlimm, dass wir nicht trauriger sind?«

Darauf erwiderte Ardie nichts, weil Grace tatsächlich sehr traurig wirkte.

Erneut sah Ardie auf ihr Handy. Nur ein Balken Empfang.

Wo zum Henker steckte Sloane?

2

20. MÄRZ

Sloane starrte an die Decke des Aufzugs, betete, er möge schneller fahren, und raste, sobald die Tür sich im vierzehnten Stock öffnete, los wie ein Rennpferd.

»Alle sind im Konferenzr…« Ihre Sekretärin Beatrice beugte sich über den Schreibtisch, das Telefonkabel straff gezogen bis zum Hörer an ihrem Ohr.

»Ich weiß, Beatrice. Ich weiß.« Sloane stürmte an ihr vorbei durch den Flur. »Und ich bin jetzt schon total am Arsch.«

Nur fürs Protokoll, zwei Stunden vorher, als sie sich mit ihrem Mann und dem Schulleiter ihrer zehnjährigen Tochter Abigail an einen Tisch gesetzt hatte, war noch alles in bester Ordnung gewesen. Verantwortungsbewusst hatte Sloane ihr Telefon in ihre Müllhalde von einer Handtasche gesteckt, weil sie eine gute Mutter war, was in diesem Fall eine unabgelenkte Mutter bedeutete. Zumindest war das die Rolle, die sie vor Rektor Clark zu spielen beabsichtigt hatte.

Und jetzt das!

Nach dem Termin hatte sie Ardies Nachrichten gefunden:

Desmond ist tot.

Herzinfarkt.

Ames sucht dich.

O.K., im Ernst, wo bist du??

Sloane??

Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich von ihrem Mann zu verabschieden.

Als sie endlich vor dem Konferenzraum stand, klopfte ihr Herz so heftig, dass sie Angst hatte, sie könnte ebenfalls einen Infarkt bekommen. Häufigste Todesursache bei Frauen über vierzig! Das hatte sie irgendwo gehört. Vielleicht in einer Frauen-Talkshow. Sie drückte die Klinke und trat ein.

Sieben Juristen auf Abteilungsleiterebene oder höher saßen am Tisch. Ames, Chefjustiziar. Kunal aus der Unternehmenskommunikation, Mark für Personal, Ardie Steuern, Philip kümmerte sich um Risiko, Joe um Rechtsstreitigkeiten, und Grace leitete den Bereich Compliance. Außerdem eine jüngere Frau mit dunkelbraunem Kurzhaarschnitt und Schneewittchen-Wangen, die Sloane noch nie gesehen hatte. Alle drehten sich zu ihr um.

»Entschuldigung, dass ich zu spät bin.« Sie setzte sich auf den leeren Platz neben Ames. Die Frau mit den kurzen Haaren lächelte sie höflich an.

Ames sah kurz von einem Papierstapel auf. Ein weißer Streifen zog sich wellig durch seine dicken Haare, die, abgesehen von erstem Silbergrau über den Ohren, die Farbe von schwarzem Kaffee hatten. »Wo warst du?«

»Ich war …« Sloane wog kurz ab, wie der Satz zu beenden war. (Das machten wir alle. Ob bei Dates oder im Büro, uns war bewusst, dass es unter Umständen klüger war zu tun, als gäbe es unsere Kinder nicht. Ein Mann konnte sagen, dass er sich den Tag freinahm, um mit seinem Sohn zu angeln, während eine Mutter besser verschwieg, dass sie ihre Mittagspause verlängerte, um mit ihrem Kind zum Arzt zu gehen. Kinder machten aus Männern Helden und aus Müttern weniger brauchbare Angestellte, wenn wir unsere Karten nicht richtig ausspielten.) »Ich war kurz draußen.« Sie räusperte sich.

»Ohne Handy?« Ames leckte sich die Fingerspitze, um das Blättern zu erleichtern. Einige der Anwesenden rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen herum.

»Ich war vorübergehend nicht erreichbar, ja«, sagte sie. »Schlechter Empfang.« Keine tolle Ausrede, in ihrer Welt.

Ames machte ein undefinierbares Geräusch und schob den Klumpen Zimtkaubonbons in seinem Mund von einer Wange in die andere.

Sie sah ihn unverwandt an, widerstand dem Drang, den anderen sieben auf sie gerichteten Augenpaaren zu begegnen.

Dann zwinkerte Ames. Immer mit dem linken Auge. Die feinen Krähenfüße breiteten sich rasch bis zur Schläfe aus. Er war der einzige Mann, den sie kannte, der immer noch zum Zwinkern griff. Bei ihm funktionierte es sogar. Es hieß: Alles gut, aber gleichzeitig auch: Ich bin der Boss.

Er breitete die Hände aus. »Das hier ist Sloane Glover.« Als stellte er einen Comedian auf der Bühne vor. Innerlich sträubte Sloane sich, aber ihre Miene blieb gelassen. Mit Ames zusammenzuarbeiten war, wie neben jemandem zu sitzen, der einem andauernd unter dem Tisch gegen das Schienbein trat. »Wie schön, dass wir endlich anfangen können. Sollen wir dann mal?«

Verlegenes Nicken. Philip schob unauffällig seinen Block und Stift zu Sloane hinüber. Sie presste sich die Hand an die Stelle zwischen ihren Rippen und atmete aus. Lautlos bedankte sie sich bei Philip, und er, dessen Schlips immer schief hing, zuckte die Achseln. Könnten doch alle Männer im Büro mehr wie Philip sein.

»Ich nehme an, alle haben inzwischen von dem bedauerlichen Tod unseres CEOs Desmond Bankole gehört«, sagte Ames. »Der Termin für die Trauerfeier wird in den nächsten Tagen bekannt gegeben. Ich darf doch sicherlich damit rechnen, viele von euch bei der Beerdigung zu sehen.«

Während Ames über Bankoles Verdienste sprach, brachte Sloane hektisch die Aktionspunkte zu Papier, die sie sich auf der Fahrt zurück ins Büro überlegt hatte.

Ames sah sie von der Seite an.

Sie legte den Stift weg.

»Bleiben wir doch alle mal bitte kurz bei der Sache.« Er verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Ich habe Grace gebeten, uns zum Einstieg sämtliche gesetzlichen Auflagen vorzutragen, die Truviv als börsennotiertes Unternehmen hat. Grace?«

Grace drückte den Rücken durch. Sloane fragte sich oft, ob ihr Gesicht die gleiche Verwandlung durchlief, wenn sie bei einem beruflichen Thema souverän wirken musste. Als junge Frau auf jeden Fall. Damals spürte sie immer, wie sie sich die Maske des Selbstvertrauens überstreifte, die Stimme senkte, die »Alsos« aus ihren Sätzen tilgte, das Knie ruhig hielt, sich gut zuredete, dass sie, ja, qualifiziert war. Grace verriet sich weniger auffällig. Ein Heben des Kinns. Ein Straffen der Schultern. Bei männlichen Kollegen entdeckte Sloane – wie die meisten von uns – solche winzigen Anzeichen von Selbstvergewisserung selten. Lag das daran, dass es sie nicht gab? Oder konnten wir uns nicht gut genug in sie hineinversetzen, um sie zu bemerken?

»Gern«, sagte Grace und begann einen Vortrag über die Börsenaufsichtsbehörde, über die erforderlichen 8-K-Formulare und das Updaten der Firmen-Website. Im Fall der unerwarteten Abwesenheit eines Geschäftsführers sei Transparenz, erklärte Grace, entscheidend. »Ich werde noch ein Rundschreiben verschicken, das leichter verdaulich ist.«

»Und wir arbeiten an einer Pressemitteilung.« Zur Betonung bohrte Kunal den Zeigefinger in die Tischplatte. »Bis die verfügbar ist, antwortet bitte auf etwaige Medienanfragen damit, dass wir sowohl persönlich als auch beruflich sehr traurig über den Verlust von Desmond sind.« Seine großen braunen Augen nahmen jedes Gesicht im Raum zur Kenntnis. »Sagt auf gar keinen Fall ›kein Kommentar‹. Aktionäre hassen ›kein Kommentar‹. Klar? Angepeilt ist, die Erklärung morgen früh fertig zu haben. Klingt das gut für dich, Sloane?«

Sloane setzte sich zurück. »Klingt machbar«, sagte sie bestimmt. Männer durften vage bleiben. Bei ihnen wirkte das rücksichtsvoll. Wenn Sloane schwafeln würde, klänge es, als hätte sie von Tuten und Blasen keine Ahnung. »Wir müssen unsere Nachfolgeregelung herausstellen und uns jüngere Beispiele von Firmen ansehen, die besonders gut mit dem Tod oder der Krankheit eines CEOs umgegangen sind. Spontan fallen mir da ein paar ein, etwa Mc…«

»Also«, unterbrach Ames. Reflexhaft zog Sloane die Zehen ein. »Meiner Ansicht nach sollten wir uns McDonald’s ansehen. Die hatten eine ähnliche Situation. Zwei Geschäftsführer in zwei Jahren gestorben. Der erste plötzlich. Und Imation. Das sind die beiden Beispiele, an denen ich mich orientieren würde, Kunal.«

Sloane schluckte die aufwallende Frustration hinunter. Mittlerweile hatte sie jede mögliche Reaktion ausprobiert. Ihr Lieblingssatz war ein höfliches: »Interessant, das klingt ganz ähnlich wie das, was ich gerade gesagt habe«, in ihrem schönsten Südstaatenakzent. Aber dieses Mal erwiderte sie schlicht: »Super Idee, Ames.«

Der rieb sich zufrieden die Hände. »Also gut, wir haben alle unseren Marschbefehl. Meine Tür steht immer offen, falls mich jemand braucht.«

Sie standen auf. Sloane klickte die Mine in den Kuli. Tintenflecke sprenkelten die Innenseite ihres rechten Mittelfingers. Ardie und Grace, die nebeneinander ihr gegenüber gesessen hatten, drehten eine Schleife durch den Raum, um bei ihr vorbeizulaufen. »Sorry«, flüsterte Ardie ihr ins Ohr und schüttelte dabei den Kopf.

Grace presste die Lippen zusammen und drückte kurz Sloanes Hand. Dabei bemerkte Sloane einen feuchten Fleck auf Grace’ Seidenbluse, der, das wusste sie, ohne nachzudenken, sich nicht auswaschen ließe. Solange man stillte, hatte es keinen Sinn, Seide zu tragen. Das musste sie Grace sagen.

»Katherine.« Mit gerecktem Finger sprach Ames die Neue an, die den Raum nicht mit den anderen zusammen verlassen hatte. »Warten Sie bitte einen Moment hier. Ich muss nur schnell für Sloane den Mitteilungsentwurf von meinem Schreibtisch holen.« Er sah Sloane an. »Du hast doch nichts dagegen, kurz mit in mein Büro zu kommen?«

*   *   *

Ames’ Tür stand eigentlich nicht, wie er behauptet hatte, immer offen. Weder buchstäblich noch im übertragenen Sinne. Sloane war ihm mit zwei Schritten Abstand durch den schmalen Flur gefolgt.

Jetzt betraten sie nacheinander den Tempel: eine Fotogalerie von Ames mit berühmten Sportlern. Truviv, Inc., war der Weltmarktführer für Sportbekleidung und sponserte die erfolgreichsten Spitzenathleten des Landes. Da spielte Ames mit Tiger Woods Golf. Hier saß er mit einem verletzten Kevin Durant am Spielfeldrand. Und dort – Wahnsinn! – noch ein Schnappschuss, auf dem er sich mit Justin Verlander und dessen Frau Kate Upton Bälle zuwarf. Falls Ames bewusst war, dass die an seiner Wand verewigten Männer und Frauen möglicherweise nur mit ihm befreundet waren, weil Truviv einen Großteil ihrer Sponsorenschecks ausstellte, war es ihm egal. So oder so betrachtete Sloane den Tempel als das semi-salonfähige Äquivalent eines Penisvergleichs.

»Also.« Er drehte sich um und lehnte sich an seinen Schreibtisch. Er war ein Mann mittleren Alters, der eine gute Figur im anthrazitfarbenen Anzug machte und es schaffte, mit den Jahren besser auszusehen. Zumindest wusste Sloane objektiv, dass das stimmte, wenn es ihr persönlich auch schwerfiel, sein gutes Aussehen noch zu erkennen. Es war zu einem der diversen Fakten über Ames geworden, die sie nicht ganz glaubte. »Desmond ist tot.« Er massierte sich die Augen mit den Daumen. »Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.«

»Es … ja, das tut mir so leid.« Sloane gestattete sich, tiefer in den Raum zu schlendern. Dies war der erste Moment, seit sie davon erfahren hatte, in dem sie den Tod des Firmenchefs im Geiste mit Anteilnahme verband. Es war schrecklich. Er hatte Kinder, zwei, glaubte sie, beide nur wenig älter als Abigail. Sie nahm sich vor, das heute Abend mit ihrem Mann Derek bei einem Glas Wein zu verarbeiten – dem edelsten Chardonnay, den ihr Kühlschrank zu bieten hatte. Sie würde Desmond für seine lebhafte, aufmerksame Miene in Erinnerung behalten, mit der er auf dem vordersten Stuhl auf der linken Seite des Konferenztischs saß, wenn er Sloanes vierteljährlichen Präsentationen vor der Geschäftsleitung lauschte.

»Weißt du noch, wie er dich immer Miss Sloane genannt hat?« Ames verschränkte die Arme. Seine Schultern bebten von einem stillen, freundlichen Lachen. »Als wärst du eine Erzieherin in einem Kindergarten?«

Die Erinnerung entlockte ihr ein schwaches Lächeln. »Ja, mein Gott. Es hat mich gar nicht richtig gestört. Bei ihm.«

»Er mochte dich.« Ames stieß sich vom Schreibtisch ab und stellte sich auf die andere Seite, wo er anfing, auf der Tastatur zu tippen, ohne sich extra hinzusetzen. Sie wartete einen Moment, unsicher, wie viel von seiner Aufmerksamkeit für das, was er da am Computer machte, gefordert war.

»Tut mir leid, wenn ich das Thema wechsle, aber wer war die Frau?«, fragte Sloane. »Katherine, richtig?«

Er zog eine Schublade auf, schüttelte ein paar Kaubonbons aus der Schachtel (eine orale Ersatzbefriedigung, um das Rauchen im Zaum zu halten) und steckte sie sich in den Mund. »Das war Katherine Bell. Ich stelle euch noch vor. Hab ich ganz verschwitzt in dem Trubel. Eine Sekunde, bitte.« Er tippte noch ein paar Buchstaben und sah dann wieder zu Sloane auf.

Sie hatte das Gefühl, dass Ames manchmal an einer leichten selektiven Amnesie litt hinsichtlich ihrer ersten Jahre bei der Firma. Dann wieder schien es das Einzige, was er überhaupt noch von ihr wusste. An diesem Tag war er eindeutig in der Stimmung, so zu tun, als gäbe es keine Vergangenheit. »Die haben wir neu eingestellt«, sagte er. »Haufenweise Erfahrung. Sie wird in deiner Abteilung arbeiten. Ich bin sicher, du wirst sie als wertvolle Bereicherung empfinden.«

Sloane legte sich die Hand ans Ohr, als hätte sie nicht richtig gehört. »Meiner Abteilung?« Sie wiederholte es als Frage.

»Genau.«

»Und du kommst nicht auf die Idee, mit mir zu sprechen, bevor du jemanden einstellst?« Ihre Stimme klang zu hoch. Schrill würde er sie vielleicht nennen. »Ich leite diese Abteilung.«

Es war Jahre her, dass Ames so eine Nummer mit ihr abgezogen hatte, Jahre! Und das alles, diese zahllosen Monate, in denen sie die Ruhe bewahrt, sich mit Ames und seinem Riesenmist herumgeschlagen hatte, machte Sloane jetzt beinahe durch einen Ausbruch ungezügelter Wut zunichte.

Ames beugte sich wieder zu seinem Computer vor. »Und ich bin Chefjustiziar«, sagte er. »Sollen wir uns gegenseitig unsere Lebensläufe zeigen?«

Sloane wusste jetzt schon, dass sie dieses Gespräch abends beim Zähneputzen vor dem Spiegel noch einmal durchkauen und sich wünschen würde, es wäre anders verlaufen.

»Wo ist Katherines Büro?« Sie änderte den Kurs.

»Ich dachte mir, darum könntest du dich kümmern. Immerhin« – er grinste entwaffnend, und in seinem Kinn tauchte ein Grübchen auf – »leitest du ja diese Abteilung.«

»Richtig.« Sie holte tief Luft, schob ihren Ärger beiseite und konzentrierte sich auf das Anstehende. Man konnte ja schlecht eine Volljuristin, selbst eine, um die Sloane nicht gebeten hatte, ewig im Konferenzraum Däumchen drehen lassen. Daher legte sie sich ihren Block auf den Unterarm und fügte der Liste von Aktionspunkten ganz oben an erster Stelle hinzu: Büro für Katherine suchen. Was für ein wenig verheißungsvoller erster Arbeitstag. Und hatte sie nicht jung ausgesehen, ihre Haut so straff? Das Wort »mädchenhaft« war Sloane durch den Kopf geschossen, obwohl das lächerlich war. Katherine musste mindestens dreißig sein, älter als Sloane, als sie bei Truviv anfing.

Sie wandte sich zum Gehen und vergaß dabei kurz, warum sie mitgekommen war.

»Sloane. Die Erklärung.« Ames hatte endlich den Entschluss getroffen, sich hinzusetzen, und klickte sich durch eine Seite, die Sloane nicht erkennen konnte, weil sein Bildschirm gekippt war. Mit dem Kopf deutete er auf einen Block auf seinem Schreibtisch. »Ich hab schon mal einen ersten Entwurf geschrieben. Die Endfassung will ich sehen, ehe sie rausgeht.«

Sloane lief zu seinem Schreibtisch zurück. Auf dem Block lag eine geöffnete Schere. Die silbernen Klingen malten ein grelles X auf die gelben Blätter. Sloane spürte Schlafmangel und stapelweise ungeöffnete Rechnungen und Wut. Ihre Finger schwebten über dem kühlen Metall. Manchmal, an sehr hohen Plätzen, hatte sie Angst, ein Drang zu springen könnte sie ergreifen. Das Gefühl konnten wir alle nachvollziehen, dass mit einer knappen Handbewegung Sloane – oder jede andere von uns – sich die Schere schnappen und Ames’ Halsschlagader durchtrennen konnte.

Sie zog den Block zu sich heran, ihre Fingerspitzen klebten wegen eines dünnen Schweißfilms an den Seiten. »In einer Stunde hast du sie zurück.« Ein falscher Ton schlich sich in ihre Stimme, als sie Ames Garretts Büro fluchtartig verließ, nicht zum ersten Mal.

MITSCHRIFT DER ZEUGENBEFRAGUNG UNTER EID

26. APRIL

MS. SHARPE    Nennen Sie bitte Ihren Namen.

BEFRAGTE 1    Sloane Glover.

MS. SHARPE    Was für einen Beruf üben Sie aus, Ms. Glover?

BEFRAGTE 1    Ich arbeite als Justiziarin bei Truviv. Mein offizieller Titel lautet Senior Vice President der Rechtsabteilung für den Raum Nordamerika.

MS. SHARPE    Wie lange arbeiten Sie schon bei Truviv?

BEFRAGTE 1    Ungefähr dreizehn Jahre.

MS. SHARPE    Ein beachtlicher Zeitraum. Länger, als die meisten Menschen bei ein und demselben Arbeitgeber bleiben, kann ich mir vorstellen. Was hat Sie so viele Jahre bei Truviv gehalten?

BEFRAGTE 1    Meine Position dort ist sehr attraktiv. Festanstellungen, erst recht gut bezahlte, sind schwer zu finden. Truviv ist eine weltbekannte Marke. Viele Leute würden für so einen Job töten – Verzeihung, das meinte ich nicht so. Es gibt genug Leute, die gern meinen Job hätten.

MS. SHARPE    Und wie haben Sie Ames Garrett kennengelernt?

BEFRAGTE 1    Ames war bei dem Vorstellungsgespräch anwesend, das ich vor meinem Wechsel von Jaxon Brockwell führte, das heißt, da müssen wir uns wohl zum ersten Mal begegnet sein.

MS. SHARPE    Haben Sie eng mit Mr. Garrett zusammengearbeitet?

BEFRAGTE 1    Erst, seit wir mit der Veräußerung einer unserer Marken befasst waren. Zu dem Zeitpunkt arbeitete er ungefähr fünf Jahre bei der Firma, glaube ich. Er koordinierte damals die Übergabe der relevanten Prüfunterlagen an die Käuferseite, und ich assistierte ihm dabei.

MS. SHARPE    Und wie würden Sie Ihr Verhältnis zu dem Zeitpunkt beschreiben?

BEFRAGTE 1    Es war gut.

MS. SHARPE    Was meinen Sie mit »gut«, Ms. Glover?

BEFRAGTE 1    Ich fand Ames klug und ehrgeizig. Er brachte mir viel über den Ablauf eines Verkaufsprozesses bei. Wir kamen miteinander klar.

MS. SHARPE    Ich verstehe. Und wann begann Ihre Affäre?

3

20. MÄRZ

Wir haben Lean In gelesen. Glaubt uns, das Buch war praktisch Pflichtlektüre unter den berufstätigen Frauen in unserer Stadt. Wenn unsere Freundinnen einen Rat brauchten, empfanden wir es als Ehrensache, ihnen aufrichtig, weise und eindringlich mitzuteilen: Meine Liebe, du musst dich mehr einbringen, du musst dich mit an den Tisch setzen, dich vorbeugen.

Also lasen wir es, sämtliche dreihundertzwanzig Seiten, während wir Strähnchen gemacht bekamen, oder legten das Hörbuch in unserem Land Rover auf der Autobahn ein. Um uns vor Augen zu führen, dass wir nicht genug Geld verdienten oder nicht schnell genug aufstiegen oder unsere Ellbogen nicht weit genug ausfuhren. Wir schwelgten in Tagträumen über unsere Karriere, wir besuchten Frauen-Networking-Veranstaltungen, wir hielten Ausschau nach beruflichen Risiken, die wir eingehen konnten. Wir hielten uns an das Rezept und stellten die Eieruhr auf achtzehn Monate und rechneten damit, dass die Glasdecke bis dahin durch die Kraft all der Frauen, die sich dagegenstemmten, zersprungen sein müsste.

Wann genau begriffen wir, dass es nicht funktionierte? War es die Wahl? Vorher? Unterschiede im Status quo wahrzunehmen ist schwierig. Genau wie leichte Temperaturrückgänge ohne Thermometer zu messen. Aber mit einem hatte Sheryl Sandberg recht: Wir mussten uns vorbeugen.

Sonst konnte man das Flüstern nicht hören.

*   *   *

Alle drei Minuten versprühte ein Automat Desinfektionsmittel mit Zitrusduft, wodurch Grace zurück ins Hier und Jetzt gerissen wurde. In einer öffentlichen Toilette. Auf einem Klo. Geistlos durch ihren Instagram-Feed scrollend. Die Unterhose auf den Knöcheln.

Das hatte die Mutterschaft aus ihr gemacht. Es lag am Schlafmangel. Alle versicherten ihr, es gehe vorbei. Bald schon werde ihr altes Ich wieder zum Vorschein kommen.

Sie wünschte, ihr altes Ich würde sich verflucht noch mal beeilen.

Die Tür zum Flur wurde geöffnet, und zwei Paar Pumps traten ein.

Grace hätte sich zu erkennen geben können, indem sie etwas Papier von der Rolle abwickelte oder aufstand, sodass die automatische Spülung ausgelöst wurde, aber ehe sie sich rühren konnte, blieb ein Paar Pumps vor dem Spiegel stehen und sagte: »Danielle hat mir diese Tabelle weitergeleitet. Mein Gott, wer hätte geahnt, dass es so viele schmierige Kerle in Dallas gibt?«

Argwöhnisch sah Grace von ihrem Handy auf. Legte den Kopf schief, um die Schuhe zu erkennen, die vor dem Spiegel standen: rosa, ganz hübsch, aber nicht superschick. Steve Madden vielleicht.

Die junge Frau nahm offenbar ein paar Gesichts-Wartungsarbeiten vor. Die andere, in hohen Lederpumps, ging in eine Kabine und schloss ab. »Hättest du doch was gesagt. Ich hab sie schon vor drei Tagen gekriegt.«

Grace konnte die Stimme nicht ganz zuordnen. (Unsere Stimmen waren mehr ein Kunstprodukt als alles andere. Wir lebten in Zeiten von tiefem Pseudoschnarren und als Fragen formulierten Aussagesätzen. Und wir hassten uns dafür.) Sich auf der Toilette zu unterhalten vermischte zwei Tätigkeiten miteinander, die an sich nicht zur selben Zeit stattfinden sollten, aber Grace erinnerte sich an jüngere Jahre, als es ein Symbol von Nähe war, zusammen in eine Kabine zu gehen, zu quatschen und sich abwechselnd über eine unappetitliche Klobrille zu hocken. Sie spürte eine schwache Sehnsucht nach diesen Tagen.

»Das Verrückte ist«, fuhr Lederpumps fort, »dass einer von den Typen da drauf der beste Freund meines Vaters ist.«

Rosa Pumps am Waschbecken sagte: »Krass.« Grace hörte eine Puderdose zuschnappen. »Und war er nie irgendwie eklig zu dir?«

Grace war sich ihrer eigenen Ferragamos mit der Schleife bewusst, die man doch bestimmt unter der Tür entdecken konnte, wenn eine der jungen Frauen auf die Idee käme nachzusehen. Sollte sie sie hochheben? Oder ging das zu weit?

Da sie sich nicht entscheiden konnte, was sie tun sollte, tat sie gar nichts.

»Nein, er war immer echt nett. Also, normal nett, da bin ich mir ziemlich sicher. Meine Familie war letzten Monat mit ihm beim Essen.«

»Aber kannst du dir vorstellen, wenn das dein Vater wäre?«, fragte rosa Pumps. »Weil, darum geht’s doch. Das sind die. Jemandes Vater, meine ich. Stell dir vor, das landet in deinem Posteingang, und da steht der Name deines Vaters und daneben: ›Wollte von mir, dass ich ihm den Finger in den Arsch stecke.‹ Könntest du ihn je wieder so sehen wie zuvor?« Mittlerweile glaubte Grace, dass rosa Pumps die Aushilfe war, eine Jurastudentin, die zwei Tage pro Woche bei Truviv arbeitete. Nicht von einer der besseren Unis, falls sie sich recht erinnerte. Wie hieß sie noch, Olivia? Sophia? Eins von beidem.

»Also, entschuldige mal«, sagte Lederpumps. »Mark Souls ist ein anständiger Mann. Und auf das Bild im Kopf kann ich gut verzichten.« Genau, das war die Stimme von Alexandra Souls, einer jungen Anwältin, die Sloane im letzten Jahr eingestellt hatte. Grace mochte Alexandra. Und Alexandra und Olivia-oder-Sophia kannten sich noch vom College, oder?

Das Interessante war: Grace hatte an diesem Tag niemanden über etwas anderes als Bankole reden hören. Vielleicht waren diese beiden Frauen zu jung oder zu weit unten in der Hierarchie, um sich dafür zu interessieren.

Oder vielleicht war es in ihren Augen die weniger wichtige Neuigkeit.

Sie sollten wirklich unter den Toilettentüren nachsehen.

»Glaubst du, das stimmt überhaupt? Das mit dem … Arsch?« Olivia-Sophia klang eher aufgeregt als entrüstet.

Alexandra lachte nur.

Die Spitzen von Olivia-Sophias Schuhen drehten sich zu den Kabinen um. »Hast du jemanden draufgeschrieben?«, fragte sie.

Grace hörte die Toilettenspülung. »Nein, ich, äh, nein.« Die Reaktion wirkte wie eine geladene Waffe. Die Scharniere quietschten, als Alexandra aus der Kabine kam. »Du?«

Doch dann wusch Alexandra sich offenbar die Hände, denn der Wasserhahn übertönte ihre Stimmen. Im Anschluss der Trockner.

Grace massierte sich die Schläfe. Sie versuchte, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Es gab eine Datei, die Alexandra und Olivia-Sophia erhalten hatten. Und dabei musste es sich um eine Liste handeln. Eine Liste von schmierigen Männern, hatten sie gesagt. Und die reichten sie untereinander herum. Sprachen darüber. (Grace war noch nicht auf dem neuesten Stand, aber einige von uns hatten die Liste bereits gesehen. Sie auch ergänzt. Wir verwendeten Schein-E-Mail-Adressen, falsche Usernamen und Blindkopien, als kämen sie schneller aus der Mode als Jumpsuits und geschlitzte Ärmel.)

Plötzlich wurde das Wasser abgestellt.

»Ist doch egal«, sagte Alexandra gerade. »Der Typ hat offensichtlich jemandem ans Bein gepisst. Also geschieht es ihm bestimmt recht. Die sollten alle ihren Job verlieren.«

Grace zuckte zusammen. Was ist mit dem Recht auf ein faires Gerichtsverfahren?, dachte sie, obwohl sie sich sofort wie eine Jura-Streberin vorkam, was sie vermutlich tatsächlich gewesen war.

Alexandra und Olivia-Sophia verließen die Toilette, weshalb Grace den Rest ihrer Unterhaltung nicht mehr hörte, nur ein durch die zufallende Tür abgeschnittenes Murmeln. Sie blieb allein und mit einem beklommenen Gefühl zurück.

Wobei sie das, bei näherer Betrachtung, vielleicht schon vorher gehabt hatte.

4

20. MÄRZ

Keine von uns hatte Zeit. Für nichts. Wäre Zeit eine Währung gewesen, wären wir alle pleitegegangen. Manchmal landete ein Buch mit einem vielversprechenden Titel, zum Beispiel Ich weiß, wie sie das macht oder Überfordert, auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Ein paar Wochen lang reichten wir es dann untereinander herum, versuchten, die Ratschläge wie eine hippe neue Ernährungsweise anzuwenden. Aber für uns alle gab es – wie formulieren die schlauen Leute das heutzutage noch gleich? – institutionelle Hürden.

Zum einen hatten wir weniger Zeit zur Verfügung als unsere männlichen Kollegen. Das war einfach eine Tatsache. Dreißig Minuten Föhnen morgens. Zehn Minuten zum Glätten und Lockendrehen. Fünfzehn zum Schminken. Drei Minuten für Schmuck. Sechzehn, um ein Outfit auszusuchen. Abends fünfundvierzig Minuten Kardiotraining, ab und zu gefolgt von einer Viertelstunde Bauchmuskelübungen. Wer glaubt, das denken wir uns nur aus, dem empfehlen wir einen kurzen Blick auf die Personalfotos der Firmenwebsite.

Es gab auch Skaleneffekte. Zeit war eine endliche Ressource, wer also sollte den Großteil davon erhalten? Die Mütter unter uns hatten das überzeugendste Argument: Denkt an die Kinder! Aber was war mit den anderen? Wir saßen in unseren Büros und lauschten dem Ticken unserer biologischen Uhr, die jedes verpasste Date mitzählte, jede verpasste Zufallsbegegnung, jede verpasste Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, mit dem wir vielleicht tatsächlich Kinder bekommen wollten. Und dann das dicke Ende. Wurden wir wirklich Ehefrau und Mutter, stieg der Wert unserer Zeit an, während die Menge stark zurückging.

Das waren keine fixen Abschreibungen. Möglicherweise entschlossen wir uns, auf die Weihnachtskartenfotos von Kindern in Schottenkaro zu verzichten und keinen Nachwuchs zu bekommen. Aber allzu oft erschien das wie eine Entscheidung für den Beruf, und nur den Beruf. Ein stillschweigender Beschluss, unsere Freizeit an der Garderobe abzugeben, bitte und danke. Wir bräuchten ein Hauptseminar über Zeitmanagement. Ob Shonda Rhimes vielleicht verfügbar wäre?

Sloane starrte schon zu lange auf ihren Bildschirm. Draußen war die Sonne untergegangen. Die Skyline von Dallas – die glitzernde Kugel und die schimmernden Hängebrücken – verblasste allmählich hinter der grell blinkenden Betonfassade des Omni-Hotels.

Sie rieb sich die Augen, ohne sich noch darum zu kümmern, ob sie danach schwarz verschmiert waren. Kurz nach dem Studium, als sie in einer Kanzlei arbeitete, hätte sie exakt gewusst, wie lange sie bereits das Formular vor sich Korrektur las. Kanzleien zwangen ihre Anwälte, sich die Zeit in Sechs-Minuten-Abschnitte einzuteilen. Aber das war mittlerweile weit über zehn Jahre und zwei Büros her. Allerdings ertappte Sloane sich immer noch dabei, im Geiste Buch über ihre Zeit zu führen:

0,1 Std. Pho essen

0,2 Std. mit Derek und Abigail simsen

0,1 Std. Online-Klatschzeitungen lesen

4,5 Std. Pressemitteilungen und Tabellenanhänge für Einreichungen bei der Börsenaufsichtsbehörde überprüfen.

Ihr Handy vibrierte. Es war Derek. Sie hob beim zweiten Ton ab.

»Sie lebt!« Sloane liebte die Stimme ihres Mannes. Sie stellte ihn sich an die Kücheninsel gelehnt vor, die kupferfarbenen Haare etwas zu lang über den Ohren, in einem an den Schultern spannenden, ausgewaschenen Nirvana-Shirt – demselben, das er an dem Tag getragen hatte, als sie sich kennenlernten, und das sie immer noch mindestens ein Mal pro Woche klaute, um es als Nachthemd anzuziehen.

Sie hatte vier Anrufe in Abwesenheit. »Sorry, sorry. Ich bin furchtbar. Hast du schon mal überlegt, dir eine neue Frau anzuschaffen?«

Jahre zuvor hatte Derek die Regel aufgestellt, dass Sloane sich nicht mehr für ihren Job entschuldigen durfte. Aber sie durfte gegen die Regel verstoßen, fand sie.

»Mach dir keinen Kopf«, sagte er auf seine lockere Art. Nicht, dass seine Arbeit nicht stressig war. Derek war Lehrer für die Mittelstufe, und Jungs in dem Alter waren ein Albtraum. Es war eben eine andere Form von Stress, und sie mussten nie gegeneinander aufrechnen. »Ich wollte nur mal hören, wie’s dir geht. Ach, ich habe Abigails Anmeldung für den Benefizlauf nächste Woche abgeschickt und den Scheck für den Klavierabend abgegeben, also kannst du die beiden Punkte schon mal von deiner Liste streichen.«

»Du weißt ja, wie ich Durchstreichen liebe.« Sie las eine Zeile, die sie bereits dreimal zu lesen versucht hatte. Die Anmeldungen hatte sie komplett vergessen gehabt. »Danke.«

Es entstand eine kurze Stille, gerade lang genug, dass beide sich an ihren Streit am vergangenen Abend erinnern konnten. Je länger sie verheiratet waren, desto leichter war es, bei einer heftigen Auseinandersetzung auf »Pause« zu drücken und sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzugreifen, vorzugsweise vor Sloanes Schlafenszeit. Aber da war sie wieder. Wie ein kleiner gemeinsamer Bluterguss, von dem ihr gerade erst wieder einfiel, wie er entstanden war.

»Wie geht es ihr?«, fragte Sloane genau im selben Moment, in dem Derek sagte: »Es scheint ihr gut zu gehen. Ich beobachte sie, seit sie nach Hause gekommen ist.«

Der Streit hatte sich um Abigail gedreht. Dieser Tage ging es immer um Abigail. Sloane konnte Derek fast in ihrem Kopf hören, es sei kein Streit gewesen, sondern eine Meinungsverschiedenheit. Mochte ja sein, aber Sloane hatte einen Hang zur Übertreibung und fühlte sich, was ihre Tochter betraf, dazu berechtigt.

Es hatte vor etwa zwei Monaten begonnen. Abigail war mürrisch geworden. Sie hatte nicht mehr mit ihren Puppen gespielt. Sloane hatte sie relativ harmlos gebeten, ihr Zimmer aufzuräumen, und ihre Tochter hatte gebrüllt, dass – und das war jetzt eine Umschreibung – vielleicht alle glücklicher wären, wenn Abigail tot wäre.

Derek fand, dass Sloane überreagierte. Dass er Englisch in der siebten Klasse unterrichtete, machte ihn, seiner Ansicht nach, zum führenden Experten für kindliche Entwicklung. Nur war Sloane eben die führende Expertin für Abigail. Also ging sie mit ihr zu einer Psychologin, die ihr versicherte, eine »Tod-und-Sterben-Phase« sei in dem Alter vollkommen normal. »Sag ich doch, Sloane. Vollkommen normal«, hatte Derek auf dem Heimweg wiederholt, als besäße auch er einen Doktor in Psychologie.

Doch ein paar Tage später hatte Sloane die Nachrichten auf Abigails Handy entdeckt. Schlampe. Zicke. Blöde Fotze. Jede fühlte sich an wie eine Pistolenkugel ins Herz. Davor hatte sie niemand gewarnt, bevor sie Mutter wurde. Dass schlagartig die sorgsam aufgebaute Immunität gegen all diese Dinge, gegen Schimpfworte und Beliebtheitswettbewerbe, sich in Luft auflöste, wenn das eigene Kind die Zielscheibe war.

Sie hatte Derek Abigails Handy unter die Nase gehalten und geschrien: »Ist das normal? Ist das volllllkommen normal, Derek?«

Natürlich war das ihm gegenüber nicht fair gewesen, dem Papa, der die Namen sämtlicher Klassenkameraden Abigails kannte und den Lehrern Donuts mitbrachte. Beim Lesen dieser Nachrichten hatte er so erschreckend vatertypisch reagiert, dass es geradezu sexy gewesen war.

Sloane wollte den Schulbezirk verklagen. Abhilfemaßnahmen. Angemessener Schutz. Rechtliche Konsequenzen, sollte man sie nicht ernst nehmen. Aber der Schulbezirk war gleichzeitig Dereks Arbeitgeber, was bedeutete, er wollte »den Ball flach halten«. Exakt diese Formulierung hatte er benutzt.

Bei dem Termin in der Schule waren sie geschlossen aufgetreten, und Sloane hatte Derek das Wort führen lassen, worum er vorher gebeten hatte. Eigentlich hatte er darauf bestanden. Es war nicht sonderlich angenehm gewesen.

Jetzt am Telefon hörte sie ihn sich an seinem rauen Kinn kratzen. Sloane tippte während dieser Pause, weil sie sich nicht leisten konnte, die Zeit nicht zu nutzen. »Sloane, tut mir leid, ich …«

Ein leises Klopfen an der Tür veranlasste sie, sich mit dem Stuhl umzudrehen. Ardie lehnte im Türrahmen, der schwarze Blazer und die Hose waren noch zerknitterter als üblich.

»Derek, entschuldige, ich muss auflegen.« Sie hörte ihn seufzen und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Ich liebe dich.«

»Arbeite nicht zu viel«, sagte er noch, und Sloane wusste, dass er das wirklich im altruistischen Sinne von »bitte bekomm mir keinen Nervenzusammenbruch« meinte, so wie er oft nach elf Uhr ihren Laptop konfiszierte, weil er gelesen hatte, dass blaues Hintergrundlicht den Schlaf beeinträchtigte.

Sloane legte das Handy hinter die Tastatur. »Stehst du schon lange da?«

Ardie kam ins Zimmer und stützte die Hände auf Sloanes Gästestuhl. »Lang genug, um zu wissen, dass du nach Hause musst.« Sie reichte Sloane eine braune Fächermappe. »Hier sind die Steuerunterlagen für das Fabrikgelände in Waco. Sorry, noch mehr Arbeit für dich, ich weiß. Falls es dich tröstet: Mit den Steuermodellen für die neue Abo-Boxen-Firma hab ich noch nicht mal angefangen.«

Sloane ließ die Mappe auf ihren Schreibtisch fallen. Klonk. Wochenlang nahm sie sich schon vor, mit Ardie zu sprechen, seit klar geworden war, dass das winzige Geheimnis, das sie vor ihrer Freundin hatte – eigentlich war es gar nichts –, sich zu einem Dauerthema entwickelte. Nur, na ja, heute war wirklich nicht der passende Tag, um ein solches Fass aufzumachen. Ja, sicher, das klang leicht nach Ausrede, war es aber nicht. Eher eine Strategie.

»Ich hab gehört, der Vertrieb hat sich den restlichen Tag freigenommen, um Bankoles Tod zu betrauern, kannst du das fassen?«, fragte Sloane stattdessen.

Ardie riss theatralisch die Augen auf. »Mach dich bitte nicht lustig, Sloane. Die Gefühle dieser jungen Menschen sind total legitim.« Sie legte die Handflächen wie zum Meditieren zusammen. »Man kann nicht von ihnen erwarten, dass sie gleichzeitig arbeiten und fühlen. Bisschen Empathie, wenn’s geht, ja?«

Was sie an Ardie mit am meisten mochte, war, dass sie auch mal ein klein wenig gemein sein konnte, genau wenn Sloane es brauchte. Sloanes wichtigster Grundsatz lautete, dass Frauen keine echten Freundinnen sein konnten, wenn sie nicht bereit waren, miteinander Blödsinn zu quatschen. Sozusagen Blutsschwesternschaft ohne Messer.

»Ach, ich bitte vielmals um Verzeihung.« Sloane legte sich die Hand aufs Herz und runzelte mit vorgeschobenen Lippen die Stirn, zumindest hoffte sie das. Vor Kurzem hatte sie eine Botox-Kur angefangen – immerhin war sie ganz, ganz knapp jenseits der vierzig – und war daher nicht mehr immer so sicher, wie ihr Gesicht aussah. »Wenn sie schlau wären, würden sie auszutüfteln versuchen, wer der nächste CEO wird.«

»Wenn sie schlau wären, würden sie sich Gedanken um den Wert ihrer Belegschaftsaktien machen.«

»Glaubst du, sie holen jemanden von außen?«, fragte Sloane.

»Schwer zu sagen, aber ich tippe darauf, dass das zu lange dauern würde. Wie dem auch sei.« Sie seufzte. »Michaels Kita berechnet einen Dollar pro Minute, die ich ihn zu spät abhole, was bedeutet, ich schulde denen jetzt schon …« Sie sah kurz auf die Uhr. »Eine Trillion Dollar.«

»Ich dachte, wir bezahlen dich dafür, gut rechnen zu können.«

»Stimmt ja auch. Glaub mir, die Zahl ist zutr…«

Sie schreckten auf.

Im Türrahmen stand Katherine, den Pulli über einen Arm gelegt. Sie sah zwischen den beiden hin und her. »Sloane, wenn du nichts dagegen hast, wollte ich für heute Schluss machen.«

Sie strich sich sittsam eine Haarsträhne hinter das Ohr. Merkwürdig, dachte Sloane, denn Katherines Haare waren viel zu kurz, um irgendwohin gestrichen zu werden. Es war, wie nach einem Phantomglied zu greifen.

Trotz all ihrer mehr als berechtigten Empörung hatte Sloane Katherine schon fast vergessen. Sie hatte nicht gewusst, was sie an ihrem ersten Tag mit ihr anfangen sollte. Katherine war auf eine Art und Weise hübsch, dass Sloane sich selbst ermahnen musste, sie zu mögen. Je älter sie wurde, desto stärker lehnte sie unwillkürlich junge, hübsche Frauen ab. Es war ein schrecklicher Impuls und einer, den Sloane sorgsam in Schranken hielt.

Sie lächelte erschöpft. »Ach, klar, bitte, geh nach Hause und berichte mir morgen, wie so ein Zuhause eigentlich aussieht. Ist so was gemütlich? Gibt es dort Betten? Daunenkissen? Bewahren Menschen dort ihren Schlafanz…« Sie verstummte. Sie hatte etwas bemerkt, einen langen Schatten im Flur. Barfuß stand sie auf und schlich sich auf Zehenspitzen Richtung Tür, um an Katherine vorbeizuspähen. »Schleicht da einer hinter dir rum?«, fragte sie.

Ames steckte den Kopf herein und räusperte sich. »Nein, nein, bin nur ich.« Er grüßte Ardie mit einer Handbewegung und Sloane mit einem Nicken. »Ich habe Katherine versprochen, mit ihr noch was trinken zu gehen, so zum Einstieg.«

Versprochen. Das Wort schrillte in Sloanes Kopf. Es klang so väterlich bei Ames.

Sloane wusste, dass sie etwas sagen sollte. Ihr Gehirn arbeitete so langsam. Es war einfach viel passiert an diesem Tag. Desmond war gestorben. Vor weniger als zwölf Stunden, genauer gesagt. Er war möglicherweise noch nicht einmal kalt, und doch lud Ames diese neue Frau, Katherine, in eine Bar ein. Das konnte doch nicht richtig sein, oder? Aber die beiden standen dort und warteten, und ja, sie hatte richtig gehört. Ganz sicher. Ames wollte mit Katherine etwas trinken gehen. Heute.

Die Erinnerung kam ungebeten.

Eine leise Warnung, die Sloane von ihrer Mentorin Elizabeth Moretti damals bei Jaxon Brockwell erhalten hatte, an dem Tag, an dem sie verkündet hatte, sie werde die Stelle bei Truviv annehmen. In ihren zwei Jahren bei Jaxon hatte Elizabeth sie genau zwei Mal mit dieser Miene beiseitegenommen, mit diesem unausgesprochenen Ich bin älter und weiser als du und habe einiges erlebt. An jenem Tag hatte sie zu Sloane gesagt: »Nimm dich vor Ames Garrett in Acht.« Und dabei hatte sie es belassen.

Tja. Geholfen hatte es nicht so wahnsinnig viel, denn Sloane hatte Ames am ersten Tag bei Truviv selbstbewusst die Hand geschüttelt, und sechs Monate später gingen sie miteinander ins Bett.

Jetzt beobachtete Ames sie. Ardie beobachtete sie. Und Katherine sah zwischen ihnen allen hin und her, als verstünde sie nur Bahnhof. Sloane warf einen Blick auf ihren Schreibtisch. Rückrufe, die sie erledigen musste. E-Mails, die sie schreiben musste. Sie kniff die Augen zu, ein Zeichen, dass sie kurz davorstand, etwas kolossal Blödes zu tun.

»Super Idee«, sagte sie. »Ich hol nur schnell meine Tasche.«

Ames und Katherine starrten sie an. Scheiße, sie hatte doch nicht gesagt, sie wolle zum Zirkus gehen.

»Ich dachte, du steckst bis zum Hals in Arbeit?«, meinte Ames amüsiert.

»Die läuft mir nicht weg.« Auch sie konnte temporäre Amnesie haben.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Toll«, sagte er. »Dann treffen wir uns am Aufzug.« Im Vorbeigehen klopfte er zweimal auf den Türrahmen, als er und Katherine den Raum verließen.

Ardie drehte sich zu Sloane um. »Bist du dir da sicher?«

Mit nach oben gedrehten Händen sah Sloane zur Decke. »Nein, natürlich nicht, Ardie.«

»Willst du mir dann erklären, warum?«

»Du weißt genau, warum.«

Ardie verschränkte die Arme und zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch.

»Ach, ich weiß auch nicht«, sagte Sloane entnervt. Sie zeigte auf die Tür und senkte die Stimme. »Vielleicht würde ich dieses Mal einfach gern die Schlachtung des Opferlamms verhindern. Hast du sie dir angesehen? Um die eins fünfundsechzig. Kurze Haare. Puppengesicht. Zufrieden?« Sie hängte sich ihre Tasche über die rechte Schulter. »Es ist ja nur ein Gläschen.« Sie hielt Ardie einen Finger vor das skeptische Gesicht.

»Eins«, erlaubte Ardie widerstrebend. »Und ich rufe beim Karma an und lege ein gutes Wort für dich ein.«

Erschöpft schloss Sloane die Augen. Sie spürte, wie die nicht mehr vorhandenen Falten sich in ihren Nasenrücken graben wollten. Wenn sie Ardie darum bäte, auch nur andeutungsweise, käme sie mit, Kita-Abholungszeiten hin oder her, das wusste Sloane. Da hatte sie echtes Glück.

»Auf dich würde es garantiert hören.« Sie umschloss das Handgelenk ihrer Freundin eine Sekunde lang, sie wäre gern geblieben. Im Aktenschrank stand immer noch eine halb volle Flasche Gin vom letzten Mal, als sie beide eine Frau vor Ames Garrett retten mussten. Nur, dass die Frau bei diesem letzten Mal Sloane gewesen war.

TRUVIV INSTANT MESSENGER

21. 4., 16:31

Empfänger: Sloane Glover

Absender: [verborgen]

Schlampe.

Zicke.

Blöde Fotze.

5

20. MÄRZ

Wie wenig wir im Aufzug miteinander sprachen. Wir traten immer ein, frisch nach Shampoo und Mundspülung riechend. Der sanfte Druck unter unseren Füßen, dann wurden wir hinauf in unsere Etagen geschoben. Jedes Mal, wenn die Tür sich öffnete, tauchte ein kleines Portal in eine andere Welt auf.

Wir beherrschten perfekt, einander unserem jeweiligen Stockwerk zuzuordnen, bevor auch nur der Knopf gedrückt wurde. Marketing? Willkommen im siebten, auf dem Friedhof ehemaliger Cheerleader, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nun nach dem College noch weiterstudieren sollten oder nicht. Neukundenakquise im elften? Wir errieten es an den frisch manikürten Nägeln, mit denen sie auf ihrem Handy herumtippte, an der Designer-Handtasche, die hinausposaunte, dass sie offenbar ein richtig gutes Jahr hatte. Vielleicht fragten wir eine Produktentwicklungsassistentin leise, woher sie ihre neue Brille hatte. Oder machten Platz für die Frau in dem schwarzen Kostüm, die hinter uns eingestiegen war und resolut den Knopf für den vierzehnten gedrückt hatte.

Aber was wussten wir tatsächlich übereinander? Uns trennten Stahl und Beton. Unsere Universen standen nicht miteinander in Verbindung, stießen nur aufgrund räumlicher Nähe hin und wieder zusammen. Zumindest glaubten wir das.

Wir hätten nur an die Tür der anderen klopfen müssen, um zu erfahren, wie unsere Geschichten miteinander verflochten waren, sich zu einer Schlinge verwoben, die wir uns selbst um den Hals legten.

Genau das passierte fast, als Rosalita und Crystal, die Neue, vor einem Büro im vierzehnten Stock standen. Erschrocken zischte Crystal: »Da ist jemand drin.« Sie sprang von der Tür zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Rosalitas langsames Ausatmen verbarg ihren Unmut nicht, was genau ihre Absicht war.

Es war halb zehn Uhr abends. Zusammen hatten Rosalita und Crystal sich durch das dunkle Gebäude gearbeitet, gesaugt und Mülleimer ausgeleert, Tische abgewischt und Toilettenpapier nachgefüllt. Die Bürofenster waren schwarze Löcher, die ins Leere ragten. Innen erhellte die automatische Flurbeleuchtung jeweils den Bereich, in dem die beiden Frauen sich gerade aufhielten. Wenn sie weiterzogen, schaltete sie sich wieder aus.

Früher hatten Rosalita die Lampen gestört. Sie fühlte sich wie unter einem Scheinwerfer, beobachtet. Schlimmer noch, manchmal flackerte eine am Ende eines Flurs auf, und Rosalita erstarrte mit wild pochendem Herzen, wartete, ob jemand auftauchte. Wenn das nicht geschah, setzte sie ihre Runde fort, aber nie, ohne sich ständig über die Schulter zu sehen.

»Motten«, hatte ihre Vorgesetzte ihr einmal erklärt. Das war Jahre her, ein paar Monate, nachdem ihr Onkel sie und ihre Schwester in einem stickigen Lieferwagen aus dem Rio Grande Valley hierhergebracht hatte. Irgendwann hatten andere Sorgen die Beleuchtung verdrängt.

»Macht nichts«, sagte Rosalita zu Crystal, während sie akkurate Haken auf das Blatt auf ihrem Klemmbrett setzte, um die bereits gereinigten Büros zu markieren. Bei der Schichtbesprechung war sie froh gewesen, wieder auf ihren üblichen Etagen eingeteilt zu werden. Einer der Chefs war gestorben, und bald stand sicherlich die Räumung seines Büros an. Damit wollte Rosalita nichts zu tun haben.

»Soll ich klopfen?«, fragte Crystal.

Schnellen Schrittes lief Rosalita an ihr vorbei, klopfte kurz zweimal an die offene Tür und betrat dann, ohne auf eine Reaktion zu warten, energisch den Raum. Sie schnappte sich den Papierkorb und trug ihn in den Flur hinaus.

So musste es der Neuen gezeigt werden.

Rosalita hatte gelernt, dass das Geheimnis der Unsichtbarkeit darin bestand, nicht auf Zehenspitzen am Rande herumzuschleichen. Das erregte nur Aufmerksamkeit, und zudem fühlten sich alle anderen dabei unwohl. Nein, der Trick war Schnelligkeit und Entschlossenheit. Das ermöglichte den anderen, sich zu entspannen und ihrer Arbeit nachzugehen, als wäre man gar nicht da.

Rosalita leerte den Abfall in den fahrbaren Container. Sie legte eine neue Mülltüte ein und trug den Papierkorb in das Büro zurück. Die blonde Frau sah von ihrem Bildschirm auf. »Wie läuft Ihr Arbeitstag?«, fragte sie Rosalita freundlich.

Rosalita stellte den Eimer in der Ecke ab und wischte sich die Handschuhe ab.

Sie erkannte diese federnde, blonde Frau. Sloane Glover, der Name stand auf dem silbernen Schild an der Tür. Sie erinnerte Rosalita an eine Talkshow-Moderatorin, blitzblank und funkelnd. Genau die Sorte weiße Frau, die einen internationalen Mediensturm entfachte, sollte sie jemals verschwinden.

»Gut, danke«, antwortete Rosalita. »Und Ihrer?«

Seufzend lehnte die Frau sich in ihrem Stuhl zurück. »Wie sagt man ›beschissen‹ auf Spanisch?«

Rosalita stieß ein schnaubendes Lachen aus, eines, in dem geteiltes Leid schwang.

Abrupt hob Sloane den Kopf. »Ach Gott. Verzeihung.« Sie schüttelte den Kopf und drückte sich die Finger an die Schläfen. An diesem Tag wirkte sie nicht so federnd und funkelnd. Ihre Augen, bemerkte Rosalita, waren rot. Nicht Arbeit, sondern eine Onlineshoppingseite leuchtete auf dem Bildschirm. »Ich wollte nicht … Ich bin so blöd. Das war unhöflich. Ihnen das zu unterstellen, meine ich.« Sloane sah Rosalita direkt in die Augen. »Es war ein langer Tag. Was trotzdem keine Entschuldigung ist.« Sie hielt eine Hand hoch, wie um sich vor einem Schlag zu schützen.

Rosalita wartete geduldig, bis die Sloane-Frau fertig war. Sie wusste viele Wörter, und alle wollten offenbar gleichzeitig heraus. »De mierda«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Beschissen. De mierda.« Stirnrunzelnd überlegte Rosalita. »Oder, no vale mierda. De pura mierda. Suchen Sie sich eins aus.« Sie zuckte die Achseln. Hätte Rosalita von Sloanes Annahme gekränkt sein müssen, dann wusste sie nicht, warum. Sie hatte dunkle, lockige Haare und braune Haut. Sie sprach mit einem starken Akzent. Und außerdem hatte sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr in Guanajuato gelebt. Sicher, es gab Momente, in denen sie nicht gern gebeten wurde, Spanisch zu sprechen, hauptsächlich, wenn die Bitte von Männern kam (ein Fetisch). Aber sonst fühlte sie sich nicht so gekränkt, nicht wie viele der jüngeren Frauen. Es kostete einfach zu viel Energie.

Sloane lächelte dankbar. »De mierda, genau. Danke.« Ihr Blick huschte zu ihrem Bildschirm und dann, als es ihr auffiel, wieder zu Rosalita. Ihr Lächeln erlosch. »Entschuldigung«, sagte sie zum zweiten Mal in weniger als fünf Minuten.

Rosalita wusste, dass sie entlassen war. Sie nahm es Sloane nicht übel, die den Eindruck machte, als hätte sie vor Stunden nach Hause gehen sollen.

Draußen im Flur malte sie einen Haken in das Kästchen neben Sloane Glovers Büro. »Hol Mrs. Glover eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank«, sagte sie zu Crystal. »Ich übernehme das nächste.« Crystal gehorchte. Sie war jung und möglicherweise schwanger, vermutete Rosalita, obwohl sie es unter dem weiten Firmenshirt gut verbarg.

Langsam, methodisch schob sie den Putzwagen über den Teppich. Was sie wusste, mit der Gewissheit eines Menschen, der es schon zu oft erlebt hatte, war, dass Sloane Glover an diesem Abend betrunken war.

ARDIE VALDEZ

Also, wie lief’s? Was hast du erfahren? Was ist sie für eine?

GRACE STANTON

Wie lief was? Wovon sprechen wir? Wer?

ARDIE VALDEZ

Sloane war gestern mit Ames und Katherine was trinken. Katherine ist die Neue aus der Sitzung gestern. War ihr erster Tag. Ames hat sie eingestellt, ohne mit Sloane zu sprechen. Klassiker.

GRACE STANTON

Sorry, hab ich nicht mitbekommen. Was trinken, mit Ames? Echt?

SLOANE GLOVER

Sorry! Hier bin ich. Komme gerade im Büro an. Jedenfalls, ja, was trinken mit Ames. Ereignislos. Hat sich tadellos benommen. Katherine ist superedel. Quasi reinrassig. Uni Harvard. Angestellt bei Frost Klein. Gruß aus Boston. (Daher die Schuhe?) Nicht gerade viel »Südstaaten-Herzlichkeit«, wenn ihr wisst, was ich meine. Könnte dauern, bis sie auftaut. Aber scheißegal, ich ersticke in Arbeit. Tina Fey sei Dank ist sie schlau.

ARDIE VALDEZ

Hey, warum stehen die ganzen Sekretärinnen um Beatrices Computer rum? Irgendwas von einer Tabelle. Hat jemand ein dickes Excel-Projekt am Laufen?

GRACE STANTON

Weiß nicht, aber ich hab gestern die Aushilfen über eine Liste reden hören. Irgendwas von schmierigen Anzugträgern in Dallas. Hab ich ganz vergessen zu erzählen. Hat jemand einen Müsliriegel? Ich bin am Verhungern.

ARDIE VALDEZ

Nein, tut mir leid. Aber ich habe Gemüsechips im Schreibtisch. Nimm dir einfach.

6

21. MÄRZ

Wir hielten ständig Ausschau nach dem perfekten Mann. Selbst diejenigen unter uns, die nicht dem traditionellen, heteronormativen Verein angehörten, waren fasziniert von der anthropologischen Suche nach einem der Einhorn-ähnlich seltenen Exemplare. Verheiratet oder Single, entweder waren wir auf der Pirsch nach ihm, oder wir versuchten, ihn aus einem, den wir bereits hatten, zu formen. Dieser perfekte Vertreter würde über die folgenden Merkmale verfügen:

Er teilte sein Essen und bestellte immer Nachtisch. Wenn wir ein Buch empfahlen, kaufte er es, ohne sich unseren Vorschlag zuerst von einem Freund bestätigen lassen zu müssen. Er wusste von allein, wie man eine Windeltasche packte. Er war ein echter Südstaaten-Gentleman mit einer Mutter von der Ostküste, die seine unaufdringlich fortschrittlichen Regungen gefördert hatte. Er sagte »Ich liebe dich« nach zweieinhalb Monaten. Er betrank sich nicht. Er konnte Steuererklärungen ausfüllen. Er stellte nie unsere feministischen Ideale infrage, wenn wir uns weigerten, Käfer zu zertreten oder einen Ölwechsel zu machen. Er setzte sich nicht, um seine Schuhe anzuziehen. Er hatte genug Geld für den Ruhestand. Er wünschte sich inständig das hormonale Verhütungsmittel für den Mann. Er empfand ein leises Unbehagen gegenüber dem Konzept rasierter Vulven, aber nicht so stark, dass er konkret Stellung dafür oder dagegen bezog. Er fand Mindy Kaling witzig. Er mochte Kissenschlachten. Ihm war egal, wenn wir mehr Geld als er verdienten. Er mochte Frauen seines Alters.

Wir waren vernünftig und irrational, zynisch und naiv, aber immer, immer auf der Jagd.