Widerstand - Hawa Mansaray - E-Book

Widerstand E-Book

Hawa Mansaray

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Beschreibung

Nach dem letzten Opfer verlassen Georgie und ihre Mitstreiter Südtirol und begeben sich in ihr zweites Geheimquartier nach Harbour Island. Ihre Ankunft sorgt auf der karibischen Insel für großes Chaos: Das Wetter spielt verrückt und Menschen verschwinden spurlos. Während die Malakhim auf ihre Verurteilung warten, kommt es zu großen Spannungen zwischen Ihnen. In all dem Durcheinander erscheint eine verloren geglaubte Person in Georgies Leben, die ihr Dasein als Halbengel in neue Bahnen lenkt. Die Grenzen verschwimmen und die junge Malakhim weiß nicht mehr, wem sie ihr Vertrauen schenken kann. Freunde werden zu Feinden, Feinde zu Freunden und das Böse kommt seinem Ziel stetig näher. Als Georgie darüber hinaus auch noch eine erschütternde Erkenntnis über das letzte Opfer macht, ist sie bereits mitten drin - gefangen in der Schlacht zwischen Licht und Dunkelheit.

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Seitenzahl: 560

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Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Epilog

© Talawah Verlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.talawah-verlag.de

www.facebook.com/talawahverlag

Text: Hawa Masaray

Lektorat: Sandra Florean, www.sandraflorean-autorin.blogspot.com

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss, www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial:

Frauenbild: © Shutterstock / Valua Vitaly

restliche Bilder: © Depositphotos.com

Illustrationen: Janina Robben, www.soulhuntress.de

Satz/Layout: Grittany Design, www.grittany-design.de

Printed in Poland 2018

1. Auflage 2018

ISBN: 978-3-947550-18-0 (Print)

ISBN: 978-3-947550-19-7 (Ebook)

Hawa Mansaray wurde 1992 im sonnigen Sierra Leone geboren und wuchs in den Städten Nürnberg und Fürth auf. Schon von klein an begeisterten sie Märchen, insbesondere von Hans Christian Andersen und der Gebrüder Grimm. Mit 11 Jahren begann sie eigene Kurzgeschichten zu verfassen und inzwischen ist das Schreiben ein fester Bestandteil ihres Lebens. Wenn sie nicht gerade schreibt, zeichnet sie unter dem Pseudonym „Hawa Ray“ leidenschaftlich gerne Portraits. Mit „Engelserwachen“ ist nun ihr Debüt und gleichzeitig der Auftakt zu Hawa‘s Urban-Fantasy-Reihe „Malakhim“ im Talawah Verlag erschienen.

Für meine Familie und Freunde

und für alle, die an mich glauben

Drei gewaltige Blitze durchzuckten den nächtlichen Himmel und erhellten das Firmament über Harbour Island. Die beschauliche Ruhe, in der die Insel vor wenigen Augenblicken noch geschwelgt hatte, war mit einem Mal vorbei. Selbst das Meer spürte die unmittelbare Veränderung: Seine Wellen rauschten nicht mehr sachte, sondern stiegen an und überschlugen sich.

Trüber Smog bildete sich am Himmel und schien die Sterne mit ihrem rapiden Wachstum vertreiben zu wollen. Mal färbte er sich schwarz, mal rot wie frisches Blut. Nachttiere begaben sich in Sicherheit. Sie ahnten die Gefahr, die sich über ihnen zusammenbraute. Eine Gefahr, die dermaßen zerstörerisch war, dass die gesamte Insel, mit ihr die Natur und die Tiere, zu erzittern begann. Es schien wie der Anfang des Jüngsten Gerichts.

Ein Lichtpunkt zeichnete sich inmitten des wabernden Nebelschleiers ab, so zart, dass kein menschliches Auge der Welt fähig wäre, ihn zu Gesicht zu bekommen. Ihre Farbe nahm von Minute zu Minute an Intensität zu, bis sie sich zu einem Leuchten steigerte. Helle Funken entstanden, die aufflammten. Die züngelnde Flamme ernährte sich wiederum von den Rauchfahnen um sie herum, sodass der Himmel bald einem lodernden Inferno glich.

Aus ihren Funken formte sich eine Gestalt so schön wie die Erde selbst und doch grausamer als die gesamte Menschheit zusammen. Ihr Inneres war von Flammen durchzogen, ihr Herz hingegen frostiger als Eiszapfen im Winter. Gigantische Flügel wuchsen aus ihrem schlanken Rücken hervor, die jeden Engel hätten staunen lassen. Dabei lösten sich einzelne, schwarze Federn von ihnen, die kurz in der Luft verweilten und sich daraufhin im ganzen Ort verteilten. Auf den Dächern der edlen und bescheidenen Häuser, auf Palmenblättern und Gräsern sowie auf dem feinen rosa farbenen Sand. Sobald sie mit ihnen in Berührung gerieten, zersetzten sie sich zu Staub.

Mit den Augen eines weisen Mannes und eines scharfsinnigen Falken ließ die Gestalt den Blick über die Ortschaft gleiten. Ihre Lippen formten sich zu einem infernalischen Grinsen, als ihre Augen auf die Person stießen, nach der sie gesucht hatten.

Die Zeichen der Zeit sprachen für sich. Der Tag der Vergeltung rückte von Stunde zu Stunde näher. Das Wesen spürte mit jeder Faser seines teuflischen Körpers, dass seine Zeit gekommen war. Jahrhunderte nach dem Zwist, Jahrhunderte nach dem uralten Schwur.

Seine Rache stand bevor. Während dieser unerträglich langen Zeit des Wartens hatte ihn sein Hass ernährt. Der Hass gegenüber dem Schöpfer, den er einst bedingungslos geliebt hatte.

Schon bald würde die Stunde der Vergeltung schlagen. Die Vergeltung dafür, dass der Allmächtige die Menschen über ihn gestellt hatte, und dafür, dass er sie überhaupt erschaffen hatte.

Bald würde er der Herrscher des Himmelreichs sein. Bald. Bis dahin stand noch eine Kleinigkeit bevor.

Seine teuflischen Augen wurden schmal wie die Augen einer Katze in der Dunkelheit. In seiner schwarzen Iris spiegelte sich das schlafende Gesicht eines jungen Mädchens wieder, dessen Aura heller strahlte als alles, was er jemals gesehen hatte. Ja, bald würde er der Herrscher des Himmelreichs sein. Doch bis dahin musste er sich etwas Wichtiges zurückholen. Etwas, das einst ihm gehört hatte.

Brennender Schmerz durchschoss meinen Körper, während sich die Angst wie eine Schlinge um meinen Hals legte. Ich fürchtete mich zu Tode, zitterte und schwitzte gleichermaßen. Die unerträgliche brennende Hitze raubte mir den Atem, lähmte mich. Die Kraft, mich von diesen Qualen zu befreien, war mir verloren gegangen.

Meine Umgebung war flammend rot, die Luft beißend und meine Kehle staubtrocken. Um mich herum erahnte ich schemenhafte Gestalten, die mit ihren schmerzverzerrten Fratzen und ihren Krallen ähnlichen Händen nach mir griffen. Ich riss den Mund auf, doch kein Schrei entrang sich meiner Kehle. Ihre Berührungen fühlten sich an wie Messerstiche. Höllenqualen …das waren Höllenqualen!

Erneut griff eine Hand nach mir, diesmal verspürte ich keine Schmerzen. Mit einem einzigen kräftigen Ruck zog sie mich aus der feuerroten Brunst, heraus aus der Hitze, heraus aus der Pein.

Ich fand mich in einem bekannten Ort wieder: Phoenix, Arizona – meine einstige Heimat. Die Nacht war hereingebrochen, und die Straßen waren menschenleer. Einzig der Mond ragte in seiner vollen Größe auf. Sein fahles Licht durchbrach die finstere Nacht und erhellte die Seitenstraßen. Mein Blick fiel auf eine Gestalt, die am Boden lag und vom Licht des Mondes erfasst wurde. Ein Mensch, mit dem Bauch nach unten.

Mein Inneres sagte mir, dass ich diese Person kenne und auf sie zugehen solle. Obwohl sich alles in mir sträubte, machte ich einen unsicheren Schritt nach vorn. Dann einen weiteren. Locken. Braune Haare. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging die letzten Schritte auf den leblosen Körper zu. Alle meine Muskeln waren angespannt und zum Angriff bereit, falls sich die Person unverhofft auf mich stürzen würde.

Ich kniete mich neben sie hin und drehte sie behutsam auf den Rücken. Das erste, was ich sah, war das Blut. In mir stieg ein Gefühl von Übelkeit auf. Als nächstes fiel mein Blick auf das Gesicht. Türkise Augen, Davids Augen. Ich schrie auf.

Ruckartig richtete ich mich im Bett auf und spürte die Tränen, die mir über die Wangen liefen. Mein Puls raste, als wäre ich einen Marathon gelaufen, und meine Brust hob und senkte sich in einem unregelmäßigen Takt.

Unruhig glitt mein Blick umher. Das Fenster vor mir war gekippt, die durchsichtigen Musselinvorhänge waren zurückgezogen. Ich sah hinaus in die Dunkelheit und bemerkte den Mond, der genauso dominant herausragte wie in meinem Traum.

Sein Licht warf gespenstige Schatten auf den Strand, und für einen Augenblick nahmen sie für meine gerade erwachten Augen die Gestalt von Dämonen an, die fröhlich umher tanzten und großen Spaß zu haben schienen.

Das sanfte Meeresrauschen wurde von dem Regen dominiert, und der Geruch von aufgeweichter Erde und feuchtem Sand drang mir in die Nase. Übertönt wurde das Prasseln wiederum vom Ticken der Schrankuhr, die auf der gegenüberliegenden Wand meines Zimmers stand.

Ich betrachtete den geräumigen Raum, während ich mir fahrig über das Gesicht fuhr, das schweißnass war. Ich erkannte einen antiken, viertürigen Kleiderschrank, der reiche Verzierungen und einen Spiegel besaß. Ein Schlüssel aus Messing steckte in einer der Türen.

Neben dem Schrank befand sich eine Holztruhe in elegantem Design. Auf einem farblich angepassten Hocker lag ein Berg von Hemden, T-Shirts und Röcken, die ich am Tag zuvor aussortiert hatte.

Ich brauche keine Angst zu haben! Ich bin zu Hause, redete ich mir beschwichtigend zu und wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß und die Tränen vom Gesicht. Dennoch wollte das Zittern, das meinen gesamten Leib beherrschte, nicht nachlassen.

Seit zehn Nächten schon!, stellte ich verzweifelt fest. Seit zehn Nächten sucht mich ein und derselbe Albtraum heim, und es scheint kein Ende nehmen zu wollen.

Es fing immer mit der unerträglichen Hitze und den grauenhaften Schmerzen an und wurde mit dem Anblick von Davids Leichnam beendet. Sobald ich aus dem Albtraum erwachte, empfing mich eine große, bedrohliche Angst, als ob das Horrorerlebnis noch nicht vorüber war, und ein weiterer Schock auf mich wartete.

Abermals fuhr ich mir über das Gesicht.

Ich schüttelte diese beunruhigenden Gedanken vorerst ab und griff nach dem Glas Wasser, das auf meinem Nachtkästchen stand. Zur gleichen Zeit traf mich ein stechender Schmerz in meiner rechten Schultergegend. Ich stieß einen leisen Schrei aus und ließ das Glas fallen. Ein dunkler Wasserfleck bildete sich auf meinen Lacken und der Decke.

Wie in Trance starrte ich auf die Sauerei, die ich angerichtet hatte, und führte die linke Hand langsam zu meiner rechten Schulter. Meine Finger zitterten, als sie über die betroffene Stelle fuhren. Es schmerzte, als hätte sie jemand auf eine glühende Herdplatte gelegt.

Ich ließ die Hand sinken, die nach wie vor bebte. Dann entfernte ich das nasse Laken und wechselte es gegen ein neues aus. Die Decke legte ich zum Trocknen auf die Heizung. Immer mal wieder berührte ich meine brennende Schulter und schüttelte irritiert den Kopf. Ich lehnte mich an die Heizung und fühlte, wie der Schmerz erst nachließ, aber dann stetig anstieg. Meine Sicht verschwamm. Den Raum nahm ich nur noch als nebelhaftes Bild wahr. Ich blinzelte mehrmals und zuckte unter dem aufkommenden Schmerz zusammen. Das Blut rauschte mir in den Ohren, es pulsierte im Takt mit meinem Herzschlag. Poch. Poch. Poch. Panische Angst ergriff mich, und ich hatte das Gefühl, wieder in meinem Albtraum zu stecken.Mein Atem beschleunigte sich. Stöhnend rieb ich mir die Augen, die plötzlich brannten und juckten, und blinzelte erneut. Dann sank ich auf den Boden vor der Heizung. Ich war mir sicher, dass ich kurz davor stand durchzudrehen. Meine Finger hatten sich tief in mein Pyjama gegraben, als ob ich den Schmerz dadurch lindern könnte. Die Haare klebten mir im Gesicht.

Jäh nahm es ein Ende. Ungläubig wartete ich ab und berührte nach etwa zehn Minuten die Stelle, die mich gerade noch um den Verstand gebracht hatte. Kein Pochen. Kein Brennen. Keine Schmerzen.

Ich erhob mich mit wackligen Beinen. Meine Sicht war wieder klar, der Schleier hatte sich verzogen. Ich stolperte ins Bad, das sich auf derselben Etage wie mein Zimmer befand. Mit zittrigen Händen tastete ich nach dem Lichtschalter.

Als sich das Bad erhellte, starrte mir ein ängstliches Mädchen aus dem großen Badezimmerspiegel entgegen. Ich sah blass und unausgeschlafen aus.

„Was passiert mit dir, Georgie?“, murmelte ich und ging auf den Spiegel zu. Starr blickte ich auf die Innenfläche des Waschbeckens, das mit kleinen Kacheln im Rautenmuster versehen war. Zuerst wusch ich mir ausgiebig das Gesicht und strich mir anschließend die Strähnen hinter die Ohren, bevor ich den Mut aufbrachte, meinen Pyjama auszuziehen und die rechte Rückenhälfte vor den Spiegel zu halten. Mir stockte der Atem.

Etwas, das wie drei ineinander gelegte Rauten mit einem Punkt in der Mitte aussah, zierte meinen oberen Rückenbereich. Die Stelle war angeschwollen und von rötlicher Farbe durchzogen. Es sah aus wie eine Vernarbung unter der Haut, war dafür aber viel zu präzise.

Das Zittern setzte wieder ein. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, um mich zu sammeln.

Nach zehn gezählten Sekunden öffnete ich die Lider und blickte in den Spiegel. Mein braunes Haar stand mir wirr in allen Richtungen ab, die Wangenknochen stachen im Gesicht hervor. Ich hatte abgenommen.

Irgendwann wandte ich den Blick ab. Ich ertrug die Farbe meiner Augen nicht. Stechendes Gold. Ein Beweis dafür, wer ich war. Nein, was ich war. Ein Halbengel, eine sogenannte Malakhim, bestehend aus menschlicher Seele und engelsgleicher Kraft.

Ich riss mich zusammen, zog mich wieder an und schlich zurück in mein Zimmer. Insgeheim hoffte ich, dass niemand mein Poltern mitbekommen hatte. Meine Mitstreiter hatten momentan genug um die Ohren.

Wir hatten keine Reaktion aus dem Himmelreich bezüglich unseres Regelverstoßes erhalten. Es herrschte kaltes Schweigen. Weder die Erste Triade noch das Absolute Gericht hatten uns vor das Heilige Gericht gezerrt, so wie es bei Cedric der Fall gewesen war.

Moriel war seit mehreren Tagen spurlos verschwunden.

Aufgrund des andauernden Regenwetters waren meine Mitstreiter und ich des Öfteren ins Paradies geflüchtet und hatten dort, außer den unzähligen Seelen, keinen Todesengel zu Gesicht bekommen. Selbst Dalilah traf ich nicht mehr an.

Wir warteten jeden Tag auf ein Zeichen, eine Botschaft, irgendetwas. Doch die Engel schienen uns so böse zu sein, dass sie uns mit Nichtachtung straften. Es zerrte an unseren Nerven. Wir wussten alle, dass uns etwas Schlimmes bevorstand, aber was das war, vermochte uns niemand zu sagen.

Jede Nacht stellte ich mir dieselbe Frage: Würden wir vor das Heilige Gericht kommen?

Chiara sprach ungern darüber, aber mir blieb ihre sorgenvolle Miene nicht verborgen. In ihren Augen sah ich die Hoffnung, nicht angeklagt zu werden oder zumindest ein mildes Urteil zu erhalten, da wir Jonathan gerettet und die letzte Prophezeiung verhindert hatten.

In meinem Zimmer angekommen, setzte ich mich auf mein Bett und zog die Beine an. Erneut fiel mein Blick auf den Kleiderschrank. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass alle Möbelstücke im Haus wild zusammengewürfelt worden waren. Nichts passte zueinander, und trotzdem hatte es Stil.

Mein Bett war aus einem robusten Massivholz und am Kopf- und Fußteil stilvoll verarbeitet. Auf beiden Seiten des Bettes stand je ein Nachtschrank. Ich besaß sogar einen eigenen Flachbildfernseher, der aber so gut wie nie benutzt wurde.

Ich vermisste Südtirol nicht. Um ehrlich zu sein, war ich froh darüber, von dort weggekommen worden zu sein. Zu erdrückend und kalt war die Stimmung gewesen. Zu viele negative Erinnerungen verbanden mich mit diesem Ort.

Vorsichtig berührte ich meine Schulter, als ob ich darauf warten würde, dass das Pochen von Neuem begann. Ich lehnte mich zurück und legte meinen Kopf auf das weiche Kissen. Draußen regnete es unaufhörlich.

Das kann doch alles nicht wahr sein! Woher kam dieses sonderbare Mal auf meiner Schulter plötzlich? Was ging hier vor sich? Die ganze Sache bereitete mir große Angst. Ich wollte auf keinen Fall mehr diesen furchtbaren Schmerzen ausgesetzt sein. Ich wollte so viel: eine Meldung aus dem Himmelreich. Das Auftauchen von Moriel. Einen weisen Rat von Dalilah. Das Ende des Regens und der Albträume. Es hatte alles doch so gut begonnen!

Zwei Monate waren vergangen, seitdem wir Ren und Jonathan aus den Fängen Arazels befreit hatten. Nach Anraten von Moriel hatten wir Bozen verlassen und waren in die Bahamas gezogen. Harbour Island war eine kleine Insel an der nordöstlichen Küste Eleutheras und war für seine sonnigen Temperaturen und pinkfarbenen Strände bekannt. Die Inselgalt als beliebter Ort für die Reichen und Schönen, die hauptsächlich in den exquisiten Luxusresorts anzutreffen waren.

Unser Ferienhaus befand sich nicht weit vom Strand entfernt. Angereiht neben anderen schicken Ferienhäusern und 5-SterneHotels. Die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen war überall zu spüren, und eine karibische Familie, die seit Generationen auf der Insel lebte, hatte uns gleich nach unserer Ankunft zum Essen eingeladen.

Der Vater, Joshua, ein Mann mit stattlichem Körperbau und strahlendem Lächeln, war der Besitzer der Strandbar, die wir wenige Stunden nach unserer Anreise besucht hatten. Seine Frau Emilia, die dort als Kellnerin arbeitete, war mit Chiara ins Gespräch gekommen, und ehe wir uns versahen, waren wir zum Abendessen eingeladen worden.

Womöglich hatten sie geahnt, was wir waren, denn sie hatten uns während des Essens hauptsächlich von ihren Sagen und Mythen erzählt. Von Kreaturen, die zur einen Hälfte Mensch und zur anderen Hälfte aus Fisch bestanden und über ein eigenes Königreich im Meer verfügten. Geschöpfe mit übernatürlicher Schönheit.

Jonathan hatte während dieser Erzählungen nur die Stirn gerunzelt und kein einziges Wort gesagt, während Chiara und ich uns mehrmals unwohle Blicke zugeworfen hatten. Obwohl wir Kontaktlinsen trugen, die unsere wahre Augenfarbe verbargen, war mir der Ausdruck der jüngsten Tochter nicht entgangen. Sie hatte uns die ganze Zeit über merkwürdig gemustert.

Joshua hatte uns alle möglichen Fragen gestellt: Woher wir kämen, und wie lange wir bleiben würden. Er hatte von den karibischen Köstlichkeiten geschwärmt und uns Orte genannt, die wir im Laufe unseres Urlaubs unbedingt besichtigen mussten. Zum Abschied hatte er uns Halsketten mit grünen Perlen und Muscheln geschenkt, die Glück symbolisierten.

Ich konnte mich nicht sattsehen, wenn morgens der gelbrote Feuerball am Horizont erschien, um mich den ganzen Tag über zu begleiten. Hohe Palmen und immergrüne Gartenanlagen zierten die Insel. Die Einheimischen machten es mir leicht, mich willkommen und heimisch zu fühlen.

Die Sorgen bezüglich unseres Regelverstoßes waren mir anfangs weit entfernt erschienen. Dass wir seit dem letzten Opfer keine Reaktion aus dem Himmelreich erhalten hatten, war Chiara und mir ganz recht gewesen und hatte uns in dem Gedanken gestärkt, richtig gehandelt zu haben.

Drei Wochen nach unserer Ankunft hatte das Wetter begonnen, verrückt zu spielen. Zuerst sanken die Temperaturen dramatisch ab, sodass man ohne Pullover und Jacke nicht aus dem Haus gehen konnte. Das war für diese Jahreszeit äußerst ungewöhnlich.

Woher der plötzliche Temperaturabfall kam, konnte niemand beantworten. Nicht einmal jene reinblütige Engel aus dem Himmelreich, die für die Angelegenheiten der Erde zuständig waren. Chiara hatte ihnen noch am selben Abend einen Besuch abgestattet, aber sie hatten sie lediglich mit den Worten abgewimmelt, selbst keine Erklärungen zu haben.

Harbour Island verfiel in einen Ausnahmezustand. Beinahe jeder Fernsehkanal im Ort und im Ausland hatte von der schlagartigen Temperatursenkung berichtet, und jeder Reporter schien eine andere Erklärung dafür zu haben.

Alle hatten sich die gleichen Fragen gestellt: War die Klimaerwärmung für das Phänomen verantwortlich? Wenn ja, warum hatten nicht einmal die Meteorologen das kommen sehen?

Erst nach zwei Wochen waren die Temperaturen wieder auf die üblichen Sommergrade angestiegen. Die Straßen von Dunmore Town hatten sich erneut mit Touristen gefüllt, die die Kolonialstadt besichtigen wollten, ebenso die zahlreichen Badeplätze und Strände, die während der kalten Temperaturen wie ausgestorben gewirkt hatten.

Ich hatte meine Freizeit damit verbracht, Spaziergänge an pinkfarbenen Sandstränden entlang des Meeres zu unternehmen oder mich in einer Hängematte zwischen zwei Kokospalmen wiegen zu lassen. Manchmal besuchte ich die verschiedenen Fischrestaurants, die es auf der Insel reichlich gab, da Harbour Island für seine Fischgerichte bekannt war.

Vor einer Woche hatte dann der Regen eingesetzt. Seitdem regnete es ununterbrochen – bis heute.

Wieder war die Ursache unklar. Niemand wusste, wie lange dieser mysteriöse Regen andauern würde. Es gab Tage, an denen nur leichte Tropfen vom Himmel fielen, und man aus dem Haus treten konnte, ohne pitschnass zu werden. An solchen Tagen schien sogar die Sonne.

Dann wiederum regnete es in Strömen und das stundenlang.

Die Einheimischen sprachen von einem Fluch, während die internationalen Wetterexperten von einem weiteren Phänomen ausgingen, das nicht lange andauern würde.

Für mich gab es keine logische Erklärung für die Temperaturschwankungen und den Regen. Die Regenzeit war längst vorüber, Dezember galt als die beste Reisezeit, in der es so gut wie keine oder nur wenige Niederschläge gab.

Lenk dich ab!, befahl ich mir und sog tief die Luft ein.

Und das tat ich.

Ich dachte über die Gespräche nach, die Chiara und ich in den vergangenen Wochen miteinander geführt hatten.

Sie hatte mir erklärt, dass Harbour Island und Bozen magische Orte waren, an denen alle unsichtbaren Kraftfelder aufeinander trafen. Sie verfügten über Portale zur Himmelswelt wie auch zur Unterwelt, die uns vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung standen. In anderen Städten öffneten sich Portale in der Regel nur alle paar Jahre.

Nachdem das erste Opfer in Gries-Quirlein vollzogen worden war, hatte sich ein Siegel geöffnet. Die Aufgabe eines Siegels war es, dem jeweiligen Land oder Ort Schutz zu gewähren. Die freigesetzte Energie der ermordeten Menschen hatte dem Gleichgewicht der drei Siegel erheblich geschadet und dafür gesorgt, dass unser Geheimquartier in Bozen uns keinen Schutz mehr bieten konnte.

Wir hatten darüber hinaus über unsere Gefühle und Ängste geredet. Meine Freundin befürchtete, alles zu verlieren. Unser Titel als Malakhim hatte ihr damals eine neue Identität verschafft, ein neues Leben. Feststellen zu müssen, dass dieses Leben auf Lügen und Intrigen basierte, musste erdrückend sein.

Chiaras Angst war begründet. Was würde mit uns Malakhim geschehen, wenn wir unsere Mission ab sofort verweigerten? Hatten wir überhaupt eine Wahl? Schließlich wurde das zweite und dritte Opfer erfolgreich verhindert! Das bedeutete, dass es keinen Garant mehr dafür gab, dass Luzifer ins Himmelsreich gelangen konnte. Die Prophezeiung war somit ungültig.

Tief seufzend drehte ich mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht in die Kissen. Plötzlich spürte ich eine Hand, die mir sanft über den Hinterkopf strich, und ein Atem, nahe meinem Ohr.

„Georgie …“

Sobald ich Cedrics Stimme vernahm, richtete ich mich auf. Ich sah ihn rechts von mir auf der Bettkante sitzen. Seine Augen, die wie die Farbe eines kräftigen Steins im Glanz der Sonne aussahen, waren auf mich gerichtet. Sie leuchteten aufreizend im Licht des Mondes.

Mein Herz pochte unerwartet schnell, was bei seinem Anblick nicht verwunderlich war. Seine glatten, dunklen Haare waren in der Nacht kaum zu sehen. Ein dünnes Lächeln umspielte seine geschwungenen Lippen, das erst wärmer wurde, nachdem sich meine Mundwinkel nach oben gezogen hatten. Er entblößte schöne, weiße Zähne.

Cedric streckte den Arm aus und fasste mir vorsichtig unter das Kinn, als wäre ich eine zerbrechliche Puppe. Ich erschauerte. Seine Finger waren kühl. Er kam mir näher und beugte sich zu mir vor. Das Tempo meines Herzschlags nahm zu. Seine Lippen fanden meine. Wie seine Hand waren sie kalt, aber weich, und ich ging in Flammen auf. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen wir uns an, unsere Blicke verschmolzen ineinander, bis ich die Lider schloss, um den Kuss in vollen Zügen auskosten zu können. Das waren die wenigen Augenblicke, die meine Haut prickeln und meine Sorgen ruhen ließen.

Cedric küsste auf eine besondere Art und Weise. Seine Küsse verursachten mir eine Gänsehaut und ließen meinen Atem stocken. Wenn er mich wie jetzt an sich zog, und seine Hand über meinen Rücken wanderte, klopfte mir mein Herz bis zum Hals, und das Blut begann, in mir zu pulsieren.

Als er seine Lippen von meinen löste, wollte ich sie am liebsten wieder auf meine drücken. Er küsste mein Ohr, dann nahm er meine Hand in seine Hände und hob sie an seine Lippen, um sie mit einem weiteren Kuss zu bedecken.

Freudig atmete ich seinen ungewöhnlichen Duft von frischer Erde ein und musterte sein, für mich, perfektes Gesicht.

Cedric besaß eine magische Anziehungskraft, der ich mir von Anfang an nicht entziehen konnte. Da er jetzt lächelte, wirkten seine Züge nicht ganz so kalt. Ich war erleichtert, dass ich inzwischen zu den Leuten gehörte, denen er seine sanftmütige Seite offenbarte.

Vor einem Jahr wäre mir niemals in den Sinn gekommen, mich in jemanden wie ihn – einen Verstoßenen aus dem Himmelsreich – zu verlieben. Wie denn auch? Noch vor einem Jahr war ich ein 16-Jähriger Mensch gewesen, der in der Hauptstadt Arizonas aufgewachsen und so ziemlich alles gewesen war außer selbstbewusst.

Neben meinen Minderwertigkeitskomplexen hatte ich mit zwei meiner Mitschüler, Isabella Morris, die inzwischen verstorben war und zu den Bewohnern der Hölle zählte, und Rendall Edwards, dem ich nur haarscharf dasselbe Schicksal erspart hatte, zu kämpfen gehabt. Wie es Ren mittlerweile ging, nachdem Jonathan sein Gedächtnis gelöscht hatte, wusste ich nicht.

Ich hatte mit Phoenix und meiner Familie abgeschlossen. Nur David …nur er ging mir nicht aus den Kopf, was hauptsächlich an den Träumen lag. Sie beunruhigten mich nicht nur, sondern bereiteten mir große Sorgen.

„Deine Gedanken sind weit weg“, sagte Cedric, und seine Augen musterten mich mit der typischen Intensität. „Was beschäftigt dich?“

Was mich an Cedric besonders verwunderte, war die Tatsache, dass er sich in vielen Dingen zwar bedeckt hielt, aber wenn es um meine Person ging, sehr neugierig schien. Noch bevor ich antworten konnte, erriet er, was in mir vorging.

„Du hast wieder schlecht geträumt.“

Ich nickte seufzend. „Es scheint kein Ende nehmen zu wollen. Es ist immer derselbe Albtraum, immer dieselben Bilder. Es muss doch einen Grund geben, warum ich das alles träume, nicht wahr? Die unsagbare Hitze, diese Fratzen, die nach mir greifen und Davids Leichnam … Glaubst du, er wird sterben?“ Ich rief mir das damalige Gespräch mit Chiara in Erinnerung. War das der Ursprung meiner jetzigen Albträume?

Cedric fuhr mit den Fingern über die Innenseite meiner Hand und schwieg. Sein Lächeln war längst einer ernsten Miene gewichen.

Heute war er wieder in seinem düsteren Outfit gekleidet, fiel mir auf. Dunkles Hemd, dunkle Hose, dunkle Stiefel. Er war groß gebaut, aber weder schlaksig noch zu muskulös. Mein Blick fiel auf seinen linken Zeigefinger, an dem ein sonderbarer Ring mit einem Drachenkopfsymbol steckte. Dieser Ring war mir zuvor nie aufgefallen. Verwundert legte ich die Stirn in Falten. Ich hatte Cedric das letzte Mal vor vier Tagen gesehen. Was hatte er während dieser Zeit getan?

Obwohl es mich interessierte, sprach ich das Thema nicht an. Ich wusste allzu gut, dass er es nicht leiden konnte, ausgefragt zu werden.

„Der Tod ist Teil des Lebens, Georgie. Falls er tatsächlich sterben sollte, was für dich bedauerlich wäre, wirst du nichts dagegen unternehmen können. Nach dem Leben folgt stets der Tod, ewig lebt nur der Schöpfer“, sagte er endlich und ließ meine Hand los. „Und bedenke … auch du bist gestorben – und das vor seinen Augen.“ Sein aufreizender Blick ruhte auf mir. Seine Worte versetzten mir einen Stich ins Herz.

„Ja …“, gab ich zu, und es fiel mir schwer, seinem Blick standzuhalten. Er sprach einen Punkt an, den ich gern verdrängte. Ich war diejenige gewesen, die mich für den Tod entschieden und David somit tief verletzt hatte.

Nichtsdestoweniger bereitete mir der Gedanke, dass David sterben könnte, Magenschmerzen. Dabei kam mir jene Szene meines Albtraums in den Kopf, in der er blutüberströmt am Boden gelegen hatte. Mitten in der Nacht. Das Wort Mord lag mir auf der Zunge. Würde er umgebracht werden? Wie gern ich ihn wiedersehen würde, wenigstens ein letztes Mal …

Ich vermisste sein ausgelassenes, ehrliches Lächeln und seine Frohnatur. Er hatte sich nie über sein Leben beklagt, da er auch nie etwas zu beklagen gehabt hatte. Als Mensch hatte ich ihm viele Dinge nicht anvertrauen können, da ich zu schüchtern gewesen war. Ein letztes Mal … ein letztes Mal mit ihm reden, das wäre mein größter Wunsch.

Ich spürte Cedrics Hand, die mein Kinn in die Höhe hob. „Was beschäftigt dich?“, fragte er leise, als ich ihn musterte. „Ist es dieser David, der dir im Kopf herum spuckt? Ich weiß, dass ihr euch während deiner Menschenzeit sehr nahe standet. Das Leben ist manchmal seltsam. Es nimmt merkwürdige Wendungen an. Ich bin sicher, dass du irgendwann die Möglichkeit erhalten wirst, ihn jene Fragen zu stellen, die dir gerade durch den Kopf schwirren.“

Meine Augen weiteten sich. „Woher-“

„Es ist nicht schwer, deine Gedanken zu erraten“, meinte er mit einem schwachen Lächeln und nahm die Hand von meinem Kinn. Sein Blick glitt Richtung Fenster. Für einige Sekunden wirkte er geistesabwesend. Fast hätte ich die Hände nach ihm ausgestreckt und ihn zu mir zurückgeholt. Nach längerem Warten wechselte er das Thema: „Hat sich ein Engel aus dem Himmelreich derweil bei euch gemeldet?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Wir werden nach wie vor ignoriert.“

„Sonderbar“, entgegnete er, und in seinen Augen sah ich so etwas wie leichte Irritation. Er nahm eine einzelne Strähne meines Haars in die Hand und begann mit ihr zu spielen. Wie gern ich mich einfach in seine Arme gelegt hätte. Stattdessen sog ich seinen frischen Duft ein. Ich konnte bis heute nicht nachvollziehen, wie meine Mitstreiter seinen Geruch als abstoßend und widerlich bezeichnen konnten, während ich mich am liebsten in seinem Duft gebadet hätte. Cedric verströmte Sicherheit, trotz seiner manchmal distanzierten Art.

„Normalerweise zögert die Erste Triade das Gerichtsverfahren nie heraus“, fügte er mit nachdenklicher Miene hinzu.

„In den letzten Monaten sind so viele merkwürdige Dinge vorgefallen. Zuerst der plötzliche Temperaturabfall, dann der Regen, der bis heute andauert, und schließlich meine Albträume. David …“

Cedric ließ von meiner Strähne ab. „Liebst du ihn noch?“

Verwundert über seine Frage starrte ich ihn an. Er wich meinem Blick nicht aus.

„Liebst du ihn?“, wiederholte er, während er forschend mein Gesicht studierte. Der Ton seiner Stimme stand im Widerspruch zu seinem Gesichtsausdruck. Seine Worte klangen reserviert, als ob er über das morgige Wetter reden würde, während sein Ausdruck unruhig, nein, grimmig wirkte.

Als ich nichts darauf erwiderte, stand er auf und ging zum Fenster hinüber.

Sein Verhalten verunsicherte mich. „Ja, David bedeutet mir viel, aber nicht so, wie du denkst.“ Bisher war ich ihm gegenüber stets offen und ehrlich gewesen, wenn es um meine Gefühle ging. Ich empfand keine Liebe mehr für David, zumindest nicht die Art von Liebe, die Cedric meinte. Außerdem war doch er derjenige, der mir essentielle Dinge verheimlichte. Er war es, der sich tagelang, manchmal wochenlang nicht meldete, nicht nach mir schaute. In den zwei Monaten Inselaufenthalt hatten wir uns keine fünf Mal zu Gesicht bekommen. Er war es, der beschlossen hatte, unsere Liebe geheim zu halten, und ich hatte es ohne zu murren akzeptiert.

Ich atmete tief durch, um mich nicht von meinen Emotionen beherrschen zu lassen, stand auf und bewegte mich auf Cedric zu.

Er stand im Licht des Mondes und konnte schöner nicht aussehen.

Als ich nur wenige Zentimeter hinter ihn stand, schlang ich die Arme um seinen Oberkörper, roch seinen besonderen Duft und vernahm das rhythmische Schlagen seines Herzens. Mein Kopf ruhte auf seinem Rücken. Genau jene Stelle, an der sich das Mal des Verrats befand. Das Zeichen des Skarabäus, das zu den ungünstigsten Zeiten zu bluten und schmerzen begann.

Cedric schwieg, und ich hörte nichts außer dem Prasseln des Regens, das Schlagen seines Herzens, das Ticken meiner Schrankuhr und das gleichmäßige Ein- und Ausatmen unserer Lungen. Irgendwann gab er ein tiefes Seufzen von sich.

„Siehst du den Mond?“, fragte er flüsternd, und ich hob den Kopf und blickte aus dem Fenster. „So wie wir ihn gerade bewundern, so habe ich die Menschen damals aus der Ferne beobachtet. Ihr seid sonderbare Wesen mit sonderbaren Wesenszügen.“ Er machte eine Pause, und ich verlor mich fast im silbrigen Licht des Mondes.

„Eure Handlungen sind die der Engel sehr ähnlich, aber dennoch habe ich viele eurer Beweggründe nicht begriffen“, fuhr er fort. „Am wenigsten eure Art zu lieben. Auf dem ersten Blick erscheint sie unerschütterlich, aber in Wirklichkeit hält sie nur so lange an, bis Schwierigkeiten eintreten … oder eine andere, bessere Person. Menschen, denen ihr ein Stück eures Herzens geschenkt habt, ein Stück eures Seins, lasst ihr gehen, als hättet ihr nie etwas für sie empfunden. Und ohne es zu ahnen, habt ihr einen Teil eures Lebens hergegeben, einen Teil eurer kostbaren Lebenszeit. Diese Art der Liebe ist mir fremd. Im Himmelsreich mag es viele verwandte Probleme geben, aber wenn wir reinblütigen Engel lieben, lieben wir ewiglich. Unser Versprechen hält ein Leben lang. Ich will nicht heute geliebt und morgen verachtet werden, aus welchen Gründen auch immer. Am wenigsten möchte ich gegen jemand anderes ausgetauscht werden.“

Ich schluckte schwer. So aufrichtig hatte Cedric nie mit mir gesprochen. Viel zu oft vergaß ich, wie viel Schmerz er in der Vergangenheit hatte erdulden müssen, wie oft er gedemütigt und erniedrigt worden war. Man hatte ihm alles genommen. Seinen Titel, seine Kraft, sein Leben und vermutlich auch seinen Glauben zu Gott.

„Aber dann kamst du und mein ganzes Leben wurde neu geschrieben“, sagte er, und die Wärme seiner Worte durchströmte mein Herz. „Am Anfang glaubte ich, meine Gefühle zu dir unter Verschluss halten zu können, aber das Schicksal hatte seinen eigenen Plan für mich geschmiedet. Ich versuchte, dir aus dem Weg zu gehen und mich ausschließlich auf meine Mission zu konzentrieren, da du der Inbegriff von allem warst, was ich verachtete. Nur gingst du mir nie aus dem Kopf. Die ganze Zeit nicht. Ich verabscheute dich und deine Mission. Auch hasste ich, dass du einen Menschen wie David einfach aus deinem Herzen verbannen konntest und dich stattdessen in mich verliebt hast. Es gab so viele Gründe, dich auszulöschen, aber ich zog nicht einen dieser Gründe je in Erwägung.“

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.

Mir war äußerst unwohl zumute. Cedric hatte nicht unrecht. Wie konnte ich Davids Liebe so fahrlässig wegwerfen? Er hatte mir seine Liebe offenbart, und ich hatte mich für den Tod und somit gegen ihn entschieden. Wie hart musste ihn mein Tod getroffen haben! Wie schlimm musste es für jemanden sein, eine geliebte Person zu verlieren? Dann, als ich Cedric kennengelernt hatte, war die einst so süße Liebe verpufft, die ich für ihn empfunden hatte. Ja, Cedric machte sich zurecht Sorgen. Wusste ich überhaupt, was Liebe war? War ich denn bereit, eine Liebe für die Ewigkeit zu führen, zusammen mit ihm?

Ich biss mir auf die Unterlippe und schluckte.

„Liebe …“ Als Cedrics dieses Wort aussprach, zuckte ich merklich zusammen. „Früher habe ich Engel belächelt, die sich in Menschen verliebt haben. Ich sah sie als schwach an und die Menschen als dumme Geschöpfe, die sich von Dämonen an der Nase herumführen ließen. Nun sieh mich an. Auch ich habe mein Herz an einen ehemaligen Menschen verloren und sie ihr Herz an mich. Nur …“, er stockte, und ich wusste, was er gleich sagen würde, „… nur glaube ich nicht, ihre Liebe in irgendeiner Weise verdient zu haben.“

Ich schüttelte heftig den Kopf. „Wenn einer meine Liebe verdient hat, dann du, Cedric!“

„Nein, Georgie. Bitte höre mir zu.“ Er nahm meine Arme von seinem Körper und drehte sich zu mir um. Sein Ausdruck war ernst, er lächelte nicht. „Georgie, ich möchte ehrlich zu dir sein.“ Er machte eine Pause. „Ich werde dir in naher Zukunft großes Unglück bescheren. Eigentlich hat unsere Liebe keine Zukunft. Keine Zukunft, keine Chance. Versuche, das zu begreifen. Du bist nach wie vor ein Mensch. Dein Herz ist das eines Menschenkindes, selbst wenn du über Engelskräfte verfügst. Ich weiß, dass du den Schmerz, den ich dir zufügen werde, nicht wirst stemmen können. Deshalb gebe ich dir jetzt die Möglichkeit, zu gehen.“

Ich war bestürzt über seine Worte.

„Du sagtest doch gerade, dass du dir eine Liebe wünschst, die unendlich hält. Ich werde versuchen, dir diese Liebe zu geben. Ja, ich habe Davids Liebe weggeworfen, und mir ist durchaus bewusst, dass das falsch war. Aber verlange bitte nicht von mir, dich gehen zu lassen. Ich kann das nicht. Egal, was auf uns zukommt, ich werde bei dir bleiben. Ich verspreche es dir!“, sagte ich und versuchte, dabei ganz ruhig zu klingen, auch wenn mir die Knie zitterten.

„Mach keine Versprechen, die du nicht einhalten kannst. Ihr Menschen seid nun mal schwache Geschöpfe. Ich würde es dir keinesfalls übel nehmen.“

„Woher willst du wissen, dass ich mein Versprechen nicht einhalten kann?“ Eine Vermutung schlich sich in meine Gedanken. Cedric besaß die Gabe, die Vergangenheit und einen Teil der Gegenwart seines Gegenübers zu lesen. War es möglich, dass er auch in die Zukunft blicken konnte wie Achill? Sagte er all diese Dinge, weil er meine Zukunft kannte? Wusste er, was bald auf mich zukommen würde und wollte mich deshalb davor bewahren?

„Unterschätze uns Menschen nicht, Cedric. Wir sind zwar im Gegensatz zu euch schwache Wesen, das stimmt. Aber unter uns gibt es einige, die sehr wohl verstanden haben, was Liebe bedeutet. Partner, die durch dick und dünn gehen. Gib mir bitte eine Chance. Stempel mich nicht ab für das, was ich war. Jetzt bin ich Georgie, die Malakhim. Nicht mehr Georgie, der Mensch.“

Stumm hatte er meinen Worten gelauscht. „Hm“, machte er bloß.

„Würdest du mich denn einfach gehen lassen, wenn ich mich dazu entscheide?“, fragte ich traurig.

„Ja, das würde ich“, antwortete er ohne Umschweife.

Das gab mir zu denken.

„Empfindest du denn so wenig für mich?“

„Darum geht es nicht, sondern um deine Sicherheit. Würdest du denn gehen, wenn ich dich dazu auffordern würde, Georgie?“

„Niemals!“, antwortete ich schnaubend. „Egal wie hoffnungslos alles erscheinen mag, ich werde dich niemals gehen lassen. Es sei denn, du empfindest nichts für mich und möchtest mich nicht mehr bei dir haben. Weißt du, Liebe muss wachsen. Alles im Leben hat seine Zeit und muss gedeihen, auch die Liebe. Ja, ich habe David Unrecht getan, und ich kann deine Angst nachvollziehen, aber ich habe in diesen Monaten als Malakhim viel dazugelernt. Ich bin nicht mehr die sechzehnjährige Georgie Eliot von damals. Bitte, Cedric, gib uns beiden eine Chance …“ Meine Stimme brach, so emotional hatte mich das Gespräch gemacht. Fest schlang ich die Arme um meinen eigenen Körper, um das Zittern zu stoppen, das nicht von mir ablassen wollte.

„Würdest du tatsächlich bei mir bleiben, selbst wenn ich dir seelischen Schmerz zufügen würde, Georgie? Wenn ich …“ Er beendete den Satz nicht und sah auf einmal so verletzlich und niedergeschlagen aus, dass es mir die Kehle zuschnürte.

„Cedric?“, fragte ich besorgt.

Ein dünnes, beinahe verzweifeltes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Hände umfassten mein Gesicht, und seine Lippen küssten meine Stirn, dann meine Nase und zuletzt meinen Mund. Sehnsucht flammte in mir auf, und ich schlang die Arme um seinen warmen Körper. Auch diesmal ließ er viel zu abrupt von mir ab. Dabei streifte er mit der Hand meine rechte Schulter. Ich verzog schmerzhaft das Gesicht. Das Brennen und Pochen fing von Neuem an.

„Was hast du?“, wollte er wissen.

„Nichts“, log ich und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Ich setzte ein normales Lächeln auf, doch er durchschaute mich. Natürlich.

Entschlossen streckte er die Hand nach meiner Schulter aus, und ich drehte mich reflexartig weg.

„Nicht“, bat ich mit zittrigen Lippen, der Schmerz dominierte inzwischen alle meine Sinne. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, wieder in meinem Albtraum zu stecken, umzingelt von diesen schemenhaften Gestalten, gequält von der Hitze. Bilder blitzten auf, Gestalten, die nach mir griffen, die schrien, weinten, bettelten.

Erst, als Cedric seine Hand auf die betroffene Stelle legte, hörten das Pochen und die Bilder schlagartig auf. Er befühlte meine Stirn. „Georgie, du glühst regelrecht!“ Seine kalten Finger taten mir gut. Ich spürte, wie sich mein Körper bei seiner Berührung entspannte. Dann schob ich mein Pyjama-Oberteil ein Stück nach unten und entblößte einen Teil meines Rückens. Selbst in der Dunkelheit meines Zimmers war das Zeichen gut erkennbar.

Cedrics Augen weiteten sich, und er nahm wie in Zeitlupe die Hand von meiner Stirn.

Seine Reaktion erschreckte mich. Wenn dieses Zeichen ihn dermaßen aus der Fassung brachte, obwohl er normalerweise die Ruhe in Person war, hatte das etwas zu bedeuten.

„Du weißt, was das ist“, stellte ich mit bebender Stimme fest und fixierte ihn. „Nicht wahr? Du weißt, was das für ein Zeichen ist.“

„Seit wann hast du es?“, fragte er, ohne meine Frage zu beantworten. Sein Blick lag nach wie vor auf der geschwollenen Stelle.

„Seit vorhin. Zumindest ist es mir erst vorhin aufgefallen.“ Je mehr ich sagte, desto finsterer wurde seine Miene.

„Du weißt, was das ist, Cedric!“

„Ja“, antwortete er endlich. „Das, was du auf deiner Schulter hast, ist ein Zeichen Gottes.“ Er klang mehr als verwundert. Verwundert und irgendwie zornig?

„Ein ganz besonderes Zeichen. Es ist ein Schutz.“

Das Fragezeichen auf meinem Gesicht wurde stetig größer. „Ein Zeichen Gottes und ein Schutz? Wovor?“

Er richtete seinen Blick auf mich. „Mit diesem Zeichen kann dir niemand ein Haar krümmen, jedenfalls niemand mit böser Natur.“

Ich schwieg, lauschte dem Prasseln des Regens und dem Ticken meiner Schrankuhr. Ein Zeichen und ein Schutz Gottes. Ich dachte an das außergewöhnliche Gespräch, das ich in diesem Raum mit dem Schöpfer geführt hatte. Bis heute wusste ich nicht, ob es Traum oder Realität gewesen war. Es hatte sich zumindest sehr real angefühlt.

Trotzdem fragte ich mich,warum er ausgerechnet mich schützte. Als ich jetzt in Cedrics Augen sah, wurde mir bewusst, dass er sich dieselbe Frage stellte.

„Wow“, stieß ich hervor und lachte hölzern. „Ich muss dem Schöpfer ja ziemlich viel bedeuten, wenn er mir ein solches Zeichen verpasst.“

Cedric erwiderte nichts darauf. Er starrte bloß weiterhin auf das Zeichen und schüttelte mehrmals den Kopf. Erst als ich ihm einen Kuss auf die Nasenspitze gab, kam er wieder zu sich.

„Was ist heute bloß mit dir los?“

„Es ist nichts.“ Seine Augen blieben ernst. „Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, Georgie. Nicht jedem Engel wird dieses Glück zuteil, von dem Schöpfer geprägt zu werden. Vor dir gab es nur einen einzigen reinblütigen Engel, der das Zeichen des Schutzes bekam.“

Nur ein einziger Engel vor mir? In all den Jahrtausenden? Ehrfürchtig strich ich über die betroffene Schulter. Da nahm ich die Schmerzen doch gern in Kauf. Anscheinend war der Allmächtige doch präsenter, als ich glaubte.

„Jetzt muss ich mir wenigstens keine Gedanken mehr machen“, meinte Cedric, nachdem er mich mit diesem sonderbaren Blick bedacht hatte, der keinerlei Emotionen preisgab. Das typische Pokerface.

„Was meinst du damit?“, wollte ich wissen.

„Frag nicht“, erwiderte er bloß.

Aha, da hätten wir wieder den unnahbaren, kühlen Cedric. Ich gehorchte ausnahmsweise.

„Hast du dich eigentlich schon entschieden?“, fragte ich.

Er wandte sich vom Fenster ab. „Meine Antwort lautet immer noch Nein.“

„Weshalb?“, fragte ich enttäuscht. „Wieso willst du mir nicht das Kämpfen beibringen?“

„Weil wir nicht immer mit fairen Mitteln kämpfen“, gestand er zu meiner großen Verwunderung.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Macht nichts.“

„Ich sagte Nein.“ Er bewegte sich auf die Tür zu.

„Dann zeig mir wenigstens, wie man sich als Engel wehrt. Schließlich gehörtest du einst der himmlischen Sturmtruppe an.“ Bevor ich noch mehr sagen konnte, war er mit einem Satz bei mir und legte mir eine Hand auf die Lippen. „Still. Ich höre jemanden.“

Ich hielt den Atem an und lauschte. Tatsächlich. Jemand schritt durch die Flure. Sofort wurde mir bange. Niemand von meinen Mitstreitern wusste, dass Cedric mir ab und zu Nachtbesuche abstattete, und das sollte auch in Zukunft unser kleines Geheimnis bleiben.

Als die Schritte nach einer gefühlten Ewigkeit verhallten, nahm Cedric die Hand von meinem Mund.

„Ich glaube, es wird Zeit für mich zu gehen.“

Ich griff nach seiner Hand und sah ihn flehentlich an. „Bitte! Bringe mir das Kämpfen bei!“

„Nein“, wiederholte er, diesmal strenger. „Warten wir erst einmal das Gerichtsurteil ab.“

„Ich befürchte das Schlimmste. Du solltest mich lieber vor dem himmlischen Urteil in eure Kampfkünste einweihen.“

„Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Es wird so kommen, wie es kommen soll“, meinte er, und ich wurde, wie immer, nicht schlau aus seinen Worten.

„Du musst jetzt schlafen“, sagte er etwas sanfter, umfasste meine Taille und drückte mir erneut einen Kuss auf die Stirn. Mein ganzer Körper erbebte. Jede Faser meines Körpers wollte, dass er bei mir blieb. „Ich werde die nächsten Tage wieder vorbeischauen.“

„Nein, geh noch nicht“, bat ich.

Einen kurzen Moment zögerte er und fuhr mir vorsichtig über die Wange. Ich behielt seinen Ausdruck im Blick.

„Was machst du nur mit mir?“, flüsterte er und zog mich ganz nah zu sich heran. Dann besann er sich eines Besseren und nahm seine Hände von meiner Hüfte. Er machte einige Schritte auf das Fenster zu und blieb stehen. Die grauen Augen leuchteten aufreizend. Auf einmal kam er mir mehr als fremd vor. Eine Weile starrten wir uns nur an, wie damals, als ich ihn in der Zwischenwelt das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte.

„Ich kenne dich in Wirklichkeit gar nicht“, flüsterte ich, während der Regen im Hintergrund gleichmäßig gegen den Fenstersims prasselte.

Er schloss kurz die Lider. „Mach’s gut“, hörte ich ihn sagen, bevor er vom Licht des Mondes verschluckt wurde.

UnfSassbar“, erklang eine vertraute Stimme in Cedrics Kopf. Er verlangsamte seine Schritte, aber sein Blick blieb weiterhin starr nach vorn gerichtet.

Mondlose Dunkelheit umgab ihn. An diesem Ort der Zwischenwelt fühlte er sich besonders wohl. Hier konnte er ungestört seinen Gedanken nachgehen, da er sich auf nichts anderes konzentrieren musste als auf sich selbst.

„Der Schöpfer hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht“, fuhr Sen mit einem Seufzen fort.

Cedric presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Warum hast du uns belauscht?“

So sehr er seinen Gefährten auch schätzte, wenn er einsverachtete, dann war es, beschattet zu werden. Und obwohl Sen das wusste, überschritt er diese Grenze immer und immer wieder. Cedric kannte den Grund, konnte ihn jedoch nicht nachvollziehen. Sen sorgte sich um ihn, weil er wusste, wie sehr ihn die Treffen mit Georgie aufwühlten. Möglicherweise befürchtete er auch, dass er Dinge tun würde, die ihre Pläne behinderten.

„Die Malakhim bringt uns nur Schwierigkeiten“, sagte Sen, ohne auf seine Frage einzugehen.

Cedric konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das waren Worte, die normalerweise Giade sagte.

„Du solltest dich nicht mehr mit ihr-“

„Ich weiß“, unterbrach er ihn kühler, als er beabsichtigt hatte. Es war ihm bewusst, dass er sich mit jedem Augenblick, den er mit ihr verbrachte, auf dünnem Eis bewegte. Trotzdem konnte er nicht anders. Sie lächeln zu sehen, ließ ihn seinen Kummer für kurze Zeit vergessen und gab ihm das Gefühl, aufrichtig geliebt zu werden.

„Wenigstens wissen wir jetzt mit absoluter Sicherheit, dass sie die diejenige ist. Die Auserwählte. Das göttliche Zeichen ist der Beweis dafür.“

Cedric nickte, als stünde Sen vor ihm. Die Überraschung über diese Information war längst in Zorn umgeschlagen. Einst war er der Träger des Zeichens gewesen, in einer Zeit, in der er die Wahrheit noch nicht gekannt hatte. Er hatte geglaubt, der einzige zu sein, dem diese Ehre zuteil kam. Nun musste er feststellen, dass sich der Schöpfer einen Ersatz genommen hatte. Aber auch das würde ihn nicht davon abbringen, die Zukunft, die er für die Welt vorsah, in die Tat umzusetzen.

Cedric blieb abrupt stehen. Vor ihm zeichneten sich die Umrisse eines menschlichen Körpers ab. Die Augen des Wesens funkelten wie die einer Katze in der Nacht. Es offenbarte seine pechschwarzen Flügel, die sich mit gemächlichen Schlägen bewegten.

Cedric spannte die Muskeln an.

„Wir sehen uns später“, teilte er seinem Mitstreiter per Gedankenkommunikation mit, um das Gespräch zu beenden. Dann zog er die Augenbrauen zusammen und musterte die Kreatur.

„Luzifer“, flüsterte er. „Was macht Ihr hier?“

Die Miene des Dämons war undurchschaubar. „Wir müssen reden.“

Cedric verengte die Augen. „Worüber?“

„Über dein Versprechen.“

„Sprich. Ich höre Euch zu.“

Der Dämon musterte ihn einen Moment lang.

„Du hast mir vor langer Zeit ein Versprechen gegeben, Deeniel. Wenn du mich jemals betrügen solltest, werde auch ich mein Versprechen dir gegenüber brechen und dafür sorgen, dass du bis zu deinem Tod schmerzhafte Qualen erleidest.“

Cedric knurrte wütend, bevor er etwas ruhiger fragte: „Seid Ihr hierhergekommen, um mir das mitzuteilen?“

Luzifer bewegte sich nicht von der Stelle und tat nichts weiter, als ihn durchdringend anzustarren.

„Du solltest meine Warnung ernst nehmen, Deeniel.“

Cedric schwieg. Es gab viel, was er ihm sagen wollte, aber die Zeit dafür war noch nicht gekommen.

Nebel tauchte auf, umhüllte Luzifer wie ein Kokon, bis Cedric ihn nicht mehr sehen konnte, und stieg in den weiten Himmel hinauf.

Ich warf einen niedergeschlagenen Blick aus dem Fenster gleich neben unserem Tisch. Ein trister und mit Wolken bedeckter Himmel starrte uns entgegen. Spuren von Tropfen hatten sich an einigen Stellen des Fensters gebildet. Wie ausgestorben wirkte der Strand mit seinem matschigen und vom Wasser verfärbten Sand.

Etliche Touristen hatten die Tage genutzt, an denen es nur genieselt hatte, um mit der nächstbesten Fähre die Insel zu verlassen, oder auf anderen Inseln Zuflucht zu suchen. Tatsächlich war Harbour Island die einzige Insel der Bahamas, auf der es seit Tagen ununterbrochen regnete. Diejenigen, die dageblieben waren, versuchten, das Beste aus der Situation zu machen, und verließen das Haus nur, wenn es nicht in Strömen goss. Mich plagte seit Tagen die Angst, dass dieser ganze Niederschlag bald zu erheblichen Überschwemmungen führen könnte, die vielen Touristen als auch Einheimischen das Leben kosten könnten.

Ich drehte mich zu Chiara, die gerade Milch in ihren Kaffee goss. „Glaubst du, dass der Regen mit der letzten Opferung in Verbindung steht?“

Chiara rieb sich die Schläfe und rührte mit dem Löffel in der Tasse herum. Bei jedem Umrühren wackelte der Tisch und ließ den Kaffee leicht überschwappen. Der Esstisch hatte seine besten Jahre hinter sich. Er bestand zwar aus einem hochwertigen Holz, aber hatte mehrere Einkerbungen und Verfärbungen, die aufgrund der Schnitzereien nicht auffielen.

Mit einem Klirren ließ Chiara den Löffel auf die Untertasse fallen. „Das ist im Bereich des Unmöglichen. Das zweite und dritte Opfer wurde verhindert, die Prophezeiung wurde somit nicht erfüllt. Außerdem steht in der Prophezeiung rein gar nichts von einem Regen. Es muss einen anderen Grund geben.“

Ich rieb mir die Schulter, die wieder zu schmerzen begann. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Entweder war es das Brennen des Mals gewesen, das mich wach gehalten hatte, oder die Fragen, die ich mir bezüglich des Regens durch den Kopf geschwirrt waren.

„Der Regen muss eine andere Ursache haben“, fuhr meine Mitstreiterin überzeugt fort und nippte an ihrer Tasse. Sie steckte in einem grauen XXL-Pullover und einer schwarzen Jeans, die ihre schlanken Beine betonte. Ein Seufzer entrang sich ihrer Kehle. „Wenn die reinblütigen Engel wenigstens mit uns reden würden! Sie kennen mit Sicherheit die Ursache, wollen sie uns aber vorenthalten.“

Sie machte ein finsteres Gesicht. „Weißt du, was mir gestern passiert ist?“ Der Klang ihrer Stimme ließ darauf schließen, dass es sich um kein gutes Ereignis handelte.

„Ich war gestern im Schloss der Heiligen Mächte, weil ich endlich Antworten wollte. Ich war das Warten und Bangen mehr als satt, Georgie. Ich wollte sie zur Rede stellen.“ Chiara umfasste mit beiden Händen die Tasse, so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervorstachen, während ich nur mutmaßen konnte, was gleich kommen würde. „Stell dir vor: die Wächter haben mich nicht ins Schloss gelassen! Sie haben mir den Eintritt verweigert. Sie meinten, ich hätte nicht mehr das Recht darauf, das Schloss zu betreten.“

Ich öffnete den Mund und schloss ihn nach wenigen Sekunden wieder. Niemand von uns sagte mehr ein Wort.

Meine Gedanken spielten Karussell. Das war nur der Anfang, dachte ich, und mir wurde ganz heiß. Ich bekam plötzlich schreckliche Kopfschmerzen. Der Stuhl knarrte, als ich mich erhob. Ich musste unbedingt an die frische Luft! Ich ging zum Fenster hinüber und öffnete es weit, sodass mir einzelne Regentropfen ins Gesicht wehten. Die Luft umhüllte meine Sinne, und ich dachte an nichts anderes als an das Gefühl der Kälte auf meinem Gesicht. Ich wollte fallen, ins Nichts meines Inneren, und mich in ihm treiben lassen und darin verschwinden. Mich von der Luft umfangen lassen wie von einem Schutzmantel. Stattdessen schärfte der nasse Wind meinen Geist und stieß mich mit aller Kraft zurück in die Realität.

„Ich bin so wütend, Georgie. Wahnsinnig wütend!“, hörte ich Chiara wie aus weiter Ferne sagen. „Wir werden wie Aussätzige behandelt, obwohl wir eine menschliche Seele gerettet und das letzte Opfer verhindert haben. Du hattest recht. Die reinblütigen Engel sind nicht viel besser als die Menschen. Ich schäme mich inzwischen, ein Teil dieses himmlischen Systems zu sein.“

Mich verblüfften Chiaras Worte. Ich hatte sie in den letzten Monaten oft wütend oder frustriert erlebt, aber diesmal schwang noch etwas anderes in ihrer Stimme mit. Tiefe Enttäuschung, gepaart mit Ärgernis und Zorn. Oh, wütend war ich ebenfalls, aber anders als bei ihr beherrschte mich eine unerträgliche Angst, einer Ahnung gleich, als ob in ferner Zukunft etwas Furchtbares auf uns lauerte.

Es war genau so, wie Cedric gesagt hatte: Das Himmelreich war nicht das, was es äußerlich darstellte. Engel wie die Erste Triade und vermutlich auch das Absolute Gericht hatten die Macht an sich gerissen. Und ihre Pläne waren bösartig. Teuflisch.

Ich atmete tief durch, wie ich es immer tat, wenn mein Kopf voll von Sorgen und Fragen war, und band meine Haare zu einem festen Knoten.

Jonathan betrat polternd den Raum. Sofort schoss sein Blick zu mir. Ich schluckte. Diesen Ausdruck kannte ich allzu gut.

Das angespannte Verhältnis zwischen Jonathan und mir hatte in den vergangenen Wochen seinen Höhepunkt erreicht. Tagtäglich war ich seinen Wutausbrüchen und Vorwürfen ausgeliefert gewesen. Dass ich ihn von Arazels Zauber befreit hatte, gab ihm offenbar keinen Grund, mir gegenüber einen freundlicheren Ton einzuschlagen. Ganz im Gegenteil. Er trug eine gehörige Portion Frust mich sich herum, und vermutlich war ich die Ursache dieser Wut.

Mit schnellen Schritten bewegte er sich auf uns zu. Sein Gesicht loderte vor Zorn, die goldenen Augen waren stechend und kalt. Als er zum Stehen kam, war ich froh, dass der Esstisch zwischen uns stand. Dieser Abstand war von Nöten, denn sein Gesichtsausdruck ließ das Schlimmste vermuten.

„Du!“, stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor. „Du bringst uns nichts als Unglück!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, und Chiaras Tasse kippte um. Ihr Inhalt ergoss sich über die gesamte Tischplatte, und einige Tropfen landeten auf Chiaras Hose. Sie sprang auf und funkelte Jonathan bitterböse an. „Sag mal, spinnst du?“

Ich erwiderte nichts darauf, sondern starrte auf die Flüssigkeit, die auf den sauberen Boden tropfte. Da ich Jonathans übliche Beleidigungen und Schuldzuweisungen kannte, trafen mich seine Worte nicht mehr sonderlich.

„Was habe ich diesmal getan?“, fragte ich stattdessen, was bei ihm offensichtlich das Fass zum Überlaufen brachte.

„Was du getan hast? Ich werde es dir sagen!“, brüllte er mit tiefer Abscheu in der Stimme. Chiara und ich zuckten gleichzeitig zusammen.

Er raufte sich die Haare, dann atmete er tief durch, als ob er sich zusammenreißen wollen würde. Aber sein Gesicht sprach Bände.

„Wegen dir“, keifte er. „Haben wir nicht einmal mehr die Erlaubnis, ins Himmelreich einzutreten! Nur weil du auf die blöde Idee kommen musstest, die letzte Opferung verhindern zu wollen! Nur weil du-“

„Moment mal!“, schnitt Chiara ihm das Wort ab. „Was soll das heißen, wir haben nicht mal mehr die Erlaubnis, ins Himmelreich einzutreten?“

„Die Portale sind zu!“, knurrte Jonathan. „Ich wollte wie jeden Mittag ins Himmelreich, um nach Moriel Ausschau zu halten, und sprach die Formel wie üblich aus. Doch nichts rührte sich. Die Tür blieb zu.“

Chiara zog eine Augenbraue nach oben. „Dann liegt das vermutlich daran, dass du die Formel falsch ausgesprochen hast.“

„Garantiert nicht!“, schnaubte er und wies mit dem Zeigefinger auf mich. „Die Portale sind zu, und sie allein ist schuld daran!“ Er blieb unerbittlich.

Dass ich in diesem Haus immer die Schuld in die Schuhe geschoben bekam, war nichts Neues. Fortlaufend rieb er mir unter die Nase, dass ich die alleinige Verantwortliche für unsere momentane Misere war und die Konsequenzen zu tragen hatte, falls es zu einem Gerichtsverfahren kommen sollte. Seiner Meinung nach wäre er lieber von Arazel umgebracht oder weiterhin für seine teuflischen Zwecke ausgenutzt worden, als gegen himmlische Gesetze zu verstoßen. Er nahm es Chiara, aber vor allem mir sehr übel, das Verbot der Ersten Triade missachtet zu haben. Mit Sicherheit verachtete er mich jetzt mehr denn je, da ich in seinen Augen nicht nur mich, sondern auch Chiara und ihn in dieses Schlamassel hineingeritten hatte.

„Ich kann nicht glauben, dass die Portale zu sind“, meinte ich, obwohl mich ein unangenehmes Gefühl beschlich.

„Ich auch nicht“, erwiderte Chiara und warf Jonathan einen finsteren Blick zu. „Du warst bestimmt zu doof, die Formel richtig auszusprechen.“ Immer, wenn Jonathan mich wegen einer Sache anschnauzte, stellte sich Chiara auf meine Seite, was ihn sehr verletzen musste. Ich rechnete ihr diese Loyalität hoch an, hatte aber auch Gewissensbisse. Das Verhältnis der beiden sollte sich meinetwegen nicht verschlechtern. Ich wusste immerhin, wie viel sie füreinander empfanden.

Jonathan knirschte mit den Zähnen und sah aus, als würde er gleich explodieren. Sein kantiges Gesicht harmonierte mit seinem rauen Verhalten. Die kurzen, aschblonden Haare waren ungekämmt. Er war wunde hübsch, keine Frage, und die stechend goldenen Augen verliehen seinem Erscheinungsbild etwas Mysteriöses, Übernatürliches, wie bei Chiara und mir auch. Bisher hatte ich nur ein einziges Mal Bekanntschaft mit seiner weichen Seite machen dürfen. Die überwiegende Zeit erlebte ich ihn kühl und unverschämt.

Jonathan war zwar mein Mitstreiter, doch uns beide verband nichts. Er hatte viele Geheimnisse, vor allem sein vorheriges Leben als Mensch betreffend, und ging mir aus dem Weg. Aber er konnte durchaus ein anderes Gesicht zur Schau stellen, in Gegenwart von Chiara beispielsweise.

Meine Augen begegneten seinem kalten Blick.

„Ihr glaubt mir also nicht?“, schnaubte er und murmelte irgendetwas Ärgerliches. „Dann werde ich es euch zeigen!“

Chiara und ich wechselten schnelle Blicke, dann folgten wir Jonathan mit eiligen Schritten in den Flur, wo sich, wie in Bozen auch, zwei schneeweiße Türen mit der Aufschrift Bei Gott und Von Gott befanden.

Jonathan schritt demonstrativ auf die rechte Tür zu und sprach die Formel laut aus, damit wir hören konnten, dass er sie richtig aufsagte. Dann griff er mit der rechten Hand nach dem Türgriff und drückte ihn herunter. Ein Knacken folgte. Wir hielten die Luft an und warteten.

Nach einigen Sekunden warf ich einen unruhigen Blick auf meine Armbanduhr. Jonathan wiederholte die Prozedur zwei weitere Male, doch die Tür mit der Aufschrift Bei Gott blieb verschlossen.

„Das kann nicht sein!“, hörte ich Chiara ungläubig sagen. „Lass mich das mal versuchen.“

Jonathan machte ihr Platz und verschränkte die Arme. Chiara sagte die Formel auf und drückte, wie Jonathan zuvor, die Türklinke nach unten. Erneutes Warten. Erneute Enttäuschung. Beinahe aggressiv rüttelte sie an der Tür, und als auch das nicht funktionierte, lehnte sie sich mit aller Kraft dagegen. So hatte ich sie noch nie erlebt.

Ich war dermaßen aufgewühlt, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich starrte nur weiterhin auf den Zugang und hoffte auf ein Wunder.

Wie konnte das geschehen?

Vorgestern noch war es mir möglich gewesen, von hier aus ins Paradies zu gelangen, und Chiara war gestern im Schloss der Heiligen Mächte gewesen.

Jetzt verweigerten uns die Engel den Eintritt ins Himmelreich. Langsam zeigten sie, was sie von unserem Verstoß hielten. Wahrscheinlich war das ihre Art, uns zu bestrafen. Ich rieb mir die schmerzende Schulter und fragte mich, warum der Herr mir zwar dieses schmerzvolle Zeichen verpasst hatte, aber zuließ, dass uns die Engel im Himmelreich so behandelten. Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie uns vor das Heilige Gericht gebracht hätten. Diese Art der Bestrafung war hinterhältig und gemein.

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte ich. Was würde als nächstes geschehen? Würden sie uns unsere Gaben nehmen? Unsere Flügel?

„Ich weiß ganz genau, was ich tun werde!“, fauchte Jonathan und steuerte auf mich zu. Er kam mir so nahe, dass ich seinen Atem im Gesicht spürte. Sein Blick bohrte sich in meinen. Ich sah darin nichts als Abscheu. „Wenn es tatsächlich ein Verfahren geben wird, werde ich dem absoluten Gericht alle deine Vergehen berichten. Jede Kleinigkeit sollen sie erfahren. Auch, dass du nach wie vor Kontakt zu dem stinkenden Neffereti hast.“

Ich riss die Augen auf.

„Glaubst du, ich rieche den Gestank nicht? Glaubst du, ich höre euer Getuschel in der Nacht nicht? Hältst du mich für dermaßen dumm?“ Er gab sich keine Mühe, seine tiefe Antipathie mir gegenüber zu verbergen.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Er hatte recht. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Mich nach jedem Treffen mit Cedric ausgiebig und penibel zu duschen und die getragenen Kleider in die Waschmaschine zu werfen, reichte nicht aus. Ich hätte es wissen müssen. Jonathan war garantiert nicht der einzige, der meine Tricks durchschaut hatte. Auch Chiara musste von Cedrics abendlichen Erscheinungen gewusst haben. Aber warum hatte sie geschwiegen? Warum hatte sie mich nicht darauf angesprochen? Oder mit mir geschimpft?