Widerstand im Arbeitsprozess -  - kostenlos E-Book

Widerstand im Arbeitsprozess E-Book

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Herrschaft bringt immer auch Widerständigkeit hervor. Demnach stellen Regelabweichungen, die sich aus unvollständig determiniertem Arbeitshandeln ergeben, ein strukturelles Merkmal im Arbeitsprozess dar. Die Formierung eines informellen Repertoires widerständiger Praktiken im Kontext betrieblicher Herrschaft ist dabei von der Arbeitssoziologie bisher vernachlässigt worden. Um diese konzeptionelle Leerstelle zu füllen, systematisieren die Beiträger*innen die Vielzahl der Praktiken und stellen verschiedene methodische, theoretische und empirische Perspektiven einer arbeitssoziologischen Widerstandsforschung vor.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 572

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Editorial

Die Reihe Arbeit und Organisation bietet theoretischen und empirischen Studien der Arbeits- und Industriesoziologie sowie der Organisations- und neuen Wirtschaftssoziologie eine gemeinsame editorische Plattform. Dabei stehen Themen wie die Digitalisierung der Arbeitswelt, Analysen gegenwärtiger Organisationsentwicklungen und deren Effekte auf Individuum und Gesellschaft sowie Untersuchungen von (alternativen) Wirtschaftsformen, Märkten und Netzwerken im Zentrum. Dies macht einen umfassenden Diskurs sichtbar, der den soziotechnischen und sozioökonomischen Wandel nebst dessen Konstitution und Ursachen zu verstehen hilft. Die Reihe schließt Monographien und Sammelbände ebenso ein wie Qualifikationsarbeiten und längere Essays.

Heiner Heiland, geb. 1985, ist Postdoc an der Georg-August-Universität Göttingen. Er forscht zu Digitalisierung von Arbeit, betrieblichen Öffentlichkeiten sowie dem Verhältnis von Autonomie und Kontrolle in Arbeitsprozessen.

Simon Schaupp, geb. 1988, arbeitet als Soziologe an der Universität Basel, wo er auch zu Konflikten um die betriebliche Digitalisierung promovierte.

Heiner Heiland, Simon Schaupp (Hg.)

Widerstand im Arbeitsprozess

Eine arbeitssoziologische Einführung

Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld

© Heiner Heiland, Simon Schaupp (Hg.)

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Korrektorat: Anette Nagel, Osnabrück

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

https://doi.org/10.14361/9783839465240

Print-ISBN 978-3-8376-6524-6

PDF-ISBN 978-3-8394-6524-0

EPUB-ISBN 978-3-7328-6524-6

Buchreihen-ISSN: 2702-7910

Buchreihen-eISSN: 2703-0326

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

 

Informeller Widerstand im Arbeitsprozess – eine EinführungHeiner Heiland und Simon Schaupp

Lohn, Pausen, Neckereien: Eigensinn und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 1900Alf Lüdtke

Arbeiter:innen-Handeln, vom Widerstand zum Fehlverhalten: Eine ArbeitsprozessperspektivePaul Thompson und Stephen Ackroyd

Mikropolitische Perspektiven und Widerstand im Arbeitsprozess: Der Elefant im RaumRainhart Lang, Kerstin Rego und Irma Rybnikova

Informale Kleingruppen und Cliquen und die Stabilisierung brauchbar-widerständiger PraktikenFelix Maximilian Bathon

Zonen des Schweigens Über stilles WiderstehenGünther Ortmann

Bewusstsein, Praxis, Konflikt: Herausforderungen für eine arbeitssoziologische WiderstandsforschungSimon Schaupp

Sinnstiftung und WiderstandIrma Rybnikova

Dual Thematic Framework Analysis: Ein methodisch-analytischer Ansatz zur Untersuchung von Aushandlungen der Kontrolle im ArbeitsprozessJacqueline Kalbermatter

Eigensinn im marktgesteuerten digitalen Taylorismus Eine empirische Untersuchung zu Aneignungsweisen im Produktionsmodell von AmazonGeorg Barthel, Felix Gnisa und Hans-Christian Stephan

Fragmentierte Arbeit, verallgemeinerter Konflikt: Alltägliche Auseinandersetzungen in der PlattformarbeitMoritz Altenried und Valentin Niebler

Algorithmische Gegenmacht Algorithmisches Management und WiderstandHeiner Heiland

Autor:innen

Informeller Widerstand im Arbeitsprozess –  eine Einführung

Heiner Heiland und Simon Schaupp

Einleitung

Informelle und individuelle Widerstände im Arbeitsprozess sind eine konzeptuelle Leerstelle im deutschen Diskurs der Arbeitssoziologie und industriellen Beziehungen. Im Kapital schreibt Marx (1962, S. 189) von der »verborgenen Stätte der Produktion«, die fern der »geräuschvollen […] und aller Augen zugängliche[n] Sphäre« liegt. Über 150 Jahre der wissenschaftlichen Erforschung später ist der Arbeitsprozess weit weniger verborgen und vielmehr umfassend analysiert. Doch der für diese Erkenntnisleistung verantwortliche soziologische Blick legt seinen Fokus primär auf die sichtbaren und geräuschvollen Aspekte, sodass in der Regel institutionalisierte und kollektive Widerstände der Arbeitenden im Fokus stehen. Obwohl gemeinhin unstrittig ist, dass die soziale Realität des Arbeitsprozesses nicht konfliktfrei ist und das Management nicht ›durchregieren‹ kann, werden informelle oder individuelle Widerstände weit seltener analysiert. Sie sind fern der bi- oder trilateralen Verhandlungen institutionalisierter industrieller Beziehungen. Ihr Effekt gründet demnach nicht auf der seltenen, aber prägenden Etablierung vertraglicher Normen, die Rahmenbedingungen und Ausgestaltung von Arbeitsprozessen bestimmen. Ihre Relevanz erlangen sie durch ihre Allgegenwärtigkeit. Sie sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel und stellen eine alltägliche Form des Arbeitskampfes dar. Als solche spielen sie eine Rolle im Feld abhängiger Arbeit per se.

Neben dieser grundsätzlichen Relevanz sind auch einige strukturelle Veränderungen zu konstatieren, die die Bedeutung informeller und individueller Widerstände erhöht. So stellten die industriellen Beziehungen, die im Rahmen von Normalarbeitsverhältnissen und oft in mitbestimmten Betrieben verortet waren, nur kurzfristig die faktische Mehrheit und auch die normative Hegemonie dar. Sie sind weniger der Regelfall als vielmehr eine zeitliche, geografische und zunehmend auch sektorale Ausnahme. Daneben existierte schon immer ein großes Feld atypischer Beschäftigungen, in denen Arbeitsbeziehungen wenig institutionalisiert waren und den Beschäftigten neben eher seltenen Streiks insbesondere informeller Widerstand als Handlungsoption zur Verfügung stand. Es ist gerade dieses Feld der prekären und atypischen Beschäftigungsformen, das in den letzten Dekaden stark gewachsen ist (ILO, 2016; Eurofound, 2017), sodass soziale und strukturelle Konflikte im Arbeitsprozess nicht mehr reguliert und vermittelt auftreten, sondern oft individuell und verborgen ausgehandelt werden (Heiden, 2014).

Darüber hinaus unterlagen auch die Kernbereiche des Systems der industriellen Beziehungen sowie das Beschäftigungssystem in den letzten Jahrzehnten einem umfassenden Wandel. Es traten verschiedene Trends und Entwicklungen auf, die sich auf die Formalstrukturen der Unternehmen und damit auch auf die Handlungsoptionen und Spielräume der Arbeitenden auswirkten. Zu nennen sind hier Lean Production, Dezentralisierung der unternehmensinternen Steuerung (Matrixorganisationen, Holding, Profit-Center), Outsourcing und Offshoring, Qualitätszirkel, Projektgruppen, Gruppenarbeit, Agilisierung, Shareholder statt Stakeholder Value, Digitalisierung und Plattformisierung (Moody, 2017).

Zudem wurde in den letzten Jahrzehnten von vielen Seiten eine Erosion der institutionalisierten industriellen Beziehungen konstatiert. Mit dieser Erosion ist die Arbeitsseite, als die strukturell dem Kapital unterlegene, auf Mikropraktiken des Widerstands zurückgeworfen. Anders formuliert: Mit der Schleifung der Sekundärmachtpotenziale der Arbeitenden gewinnt die Aushandlung mittels Primärmacht größere Bedeutung (für einen Überblick siehe Brinkmann et al., 2008). Primärmacht äußert sich nicht allein in Streiks, sondern zuerst in alltäglichen Mikropraktiken. So treten soziale und strukturelle Konflikte im Arbeitsprozess oft nicht mehr reguliert und vermittelt auf, sondern werden unmittelbar ausgehandelt. Dies zeigt sich insbesondere im Sektor der sogenannten Plattformökonomie, in dem einerseits die traditionellen Institutionen sozialpartnerschaftlicher industrieller Beziehungen kaum vorhanden sind, andererseits aber in der Forschung eine hohe Intensität von Arbeitskonflikten diagnostiziert wird (Heiland, 2020a; Woodcock & Graham, 2020). Angesichts der globalen Coronapandemie kam es darüber hinaus auch in anderen Wirtschaftsbereichen zu einer Explosion von Konflikten im Arbeitsprozess bis hin zu wilden Streiks (WIN, 2020).

Informelle und individuelle Widerstände der Arbeiter:innen sind demnach ein zentraler und zunehmender, aber vernachlässigter Bereich der arbeitssoziologischen Forschung. Dieser Sammelband setzt sich zum Ziel, die ›eingeschlafene‹ Debatte um derlei Formen des Widerstands im Arbeitsprozess wiederzubeleben. Zu diesem Zweck werden sowohl verschiedene theoretische Perspektiven zusammengeführt, die eine Analyse des Komplexes Arbeit und Widerstand erlauben, als auch unterschiedliche Analysen aktueller Phänomene und Ausprägungen informeller Widerständigkeiten vorgestellt.

Informeller Widerstand

Unter informellem Widerstand verstehen wir ein intentionales, nicht institutionalisiertes Handeln von Beschäftigten, das sich gegen Vorgesetzte oder die Organisationsziele richtet. Es ist ein begrenzt autonomes Handeln in von Heteronomie geprägten Arbeitsprozessen und stellt eine Reaktion auf die ausgeübte Kontrolle der Unternehmensleitung dar. Mittels solchen widerständigen Handelns entziehen sich Arbeiter:innen der Vernutzung ihrer Arbeitskraft und/oder eignen sich materielle und symbolische Ressourcen an. Informell ist diese Form des Widerstands insofern, als sie sich nicht primär auf die Institutionen der industriellen Beziehungen wie Gewerkschaften oder Betriebsräte stützt.

Informelle Widerstände basieren nicht zwangsläufig auf einer Opposition der Arbeiter:innen gegenüber kapitalistischer Erwerbsarbeit als solcher (Littler, 1982, S. 26-27). Demnach gibt es alltägliche und individuelle Widerstände der Arbeitenden im Arbeitsprozess, die nicht auf den Umsturz des Systems abzielen, sich aber auch nicht reibungslos den an sie gerichteten betrieblichen Erwartungen fügen. Auch sind informelle Widerstände mitnichten allein eine Reaktion auf die Kontrolle des Arbeitsprozesses durch das Management. Dabei handelt es sich gewiss um die relevanteste Ursache, doch zugleich ist die soziale Arbeitsrealität komplexer und weitere Motivationen und soziale Dynamiken, die nicht unmittelbar auf Kontrollregimen beruhen, sind möglich. Festzuhalten ist, dass das Ziel informeller Widerstände eine individuelle und kollektive Selbstermächtigung der Arbeiter:innen ist, die ihnen erlaubt, autonome Handlungsspielräume oder auch nur ihre Würde zu behaupten.

Außerdem bringen informelle Widerstände nicht notwendigerweise eine Verbindung zu und meist auch keinen Effekt auf Klassenkonflikte mit sich (Edwards, 1986, S. 7). Sie sind nicht zwangsläufig ein Katalysator für kollektive oder gar revolutionäre Bewegungen. Allerdings können informelle und kollektive Widerstände durchaus komplementär sein. Erstere können die Grundlage für Letztere legen, da sie einen kollektiven Ausdruck von Sympathien erzeugen und kohäsiv wirken können (Friedman, 1977, S. 52).

Allgemein drückt sich Widerstand in Arbeitskontexten in einem breiten Kontinuum oppositioneller Praktiken aus. Diese reichen von indirekten und impliziten Formen einerseits bis hin zu offenen, kollektiven und institutionalisierten andererseits. Konkrete Praktiken entlang dieses Kontinuums beginnen beispielsweise bei innerer Emigration, Witzen über Vorgesetzte, subtiler Subversion und Dienst nach Vorschrift über unmittelbar sichtbare Formen wie dem bewussten Brechen formaler Regeln, Bummelei, Absentismus, Diebstählen und Sabotage bis hin zur Konfrontation in Form von Protesten und Streiks oder gar »bargaining by riots« (Hobsbawm, 1952, S. 59). Die letztgenannten Widerstände sind infolge ihrer Sichtbarkeit als kollektive Praktiken oft im Fokus und umfassend untersucht. Je weiter man sich im Kontinuum in Richtung der informellen und individuellen widerständigen Praktiken bewegt, desto geringer ist der Wissensbestand über diese.

Doch wie zuvor dargelegt sind sie angesichts ihrer Allgegenwärtigkeit nicht minder folgenreich und relevant. Es handelt sich um alltägliche Mikropraktiken, die Teil des Lebens der Arbeitenden sind und sich nicht auf einzelne Ereignisse beschränken. Als solche sind sie nicht die unreife Version kollektiver Proteste, sondern ein Phänomen sui generis, das auch als solches zu untersuchen ist.

Die Spezifik informeller Widerstände geht insbesondere aus ihrer Verortung in Arbeitsorganisationen hervor. Diese stellen spezifische soziale Formen dar, die Handeln auf charakteristische Weise rahmen. Das Arbeitsverhältnis ist demnach eine soziale Beziehung, die von vertraglich legitimiertem Zwang geprägt ist. Als »private Regierung« (Anderson, 2019) verfügt das Management eines Unternehmens über das Weisungsrecht gegenüber den Arbeitenden. Es kann demnach Anweisungen geben, die die unter ihm verorteten betrieblichen Akteure umzusetzen haben, um auf diesem Weg das Unternehmensziel zu realisieren. Unternehmen sind demnach von einer formalen Struktur geprägt, die in einer klassischen Hierarchie, wie sie in Organigrammen dargestellt wird, die Machtverhältnisse bestimmt. Doch Macht ist eine soziale Beziehung (Weber, 1980, S. 28). Neben Ego gibt es auch ein Alter und das Verhältnis zwischen diesen ist keine Einbahnstraße, sondern beide nehmen interaktiv aufeinander Einfluss. Hinzu kommt für den betrieblichen Kontext das von Marx identifizierte Transformationsproblem.1 Dieses geht hervor aus der »eigentümlichen Natur dieser spezifischen Ware, der Arbeitskraft« (Marx, 1977, S. 188), die nicht von den sie Besitzenden zu trennen ist, sodass »[w]er Arbeitsvermögen sagt, (…) nicht Arbeit« sagt (ebd.: 187). Denn die »Veräußerung der Kraft und ihre wirkliche Äußerung, d.h. ihr Dasein als Gebrauchswert, fallen daher der Zeit nach auseinander« (ebd., 188). Es gilt für die Unternehmen also »absichtliche Minderleistung« (Taylor, 2007, S. 8) der Arbeitenden zu unterbinden. Je nach Spezifik des Arbeitsprozesses organisieren Unternehmen Kontrollregime, mittels derer sie die Verwirklichung des Arbeitsvermögens sicherstellen. Doch die Kontrolle des Arbeitsprozesses durch die Unternehmensleitung mag noch so umfassend sein, sie ist nicht absolut und Widerstand der Arbeitenden stellt die Kehrseite der Medaille dar. Beide stehen in einem dialektischen Verhältnis. Doch keineswegs ist Macht deswegen symmetrisch in Unternehmen verteilt: »das Wasser [fließt] eben doch bergab« (Ortmann, 1988, S. 220).

Daraus folgt, dass in Unternehmen neben einer formalen auch eine informelle Struktur und damit eine »doppelte Wirklichkeit« (Weltz, 1991) existiert. Diese ist nicht kongruent mit dem Organigramm des Betriebs und weist auf die verschiedenen Handlungsspielräume und Auseinandersetzungen der betrieblichen Akteure hin. Denn Organisationen sind ein sozialer Prozess, dessen Akteure über einen »Eigensinn« verfügen (Lüdtke in diesem Band; Türk, 1989, S. 125), der meist nicht deckungsgleich mit den Zielen der Unternehmen ist. Arbeitende streben habituell nach Autonomie und suchen und schaffen sich daher individuelle und kollektive Freiräume (Ackroyd & Thompson, 1999, S. 73).

Nimmt man nicht primär informelle Widerstände, sondern das allgemeinere Phänomen der Regelabweichungen in den Blick, zeigt sich, dass diese einen ambigen Charakter aufweisen können. Sie sind nicht genuin progressiv und unterminieren ebenso wenig notwendigerweise unternehmerische Herrschaft. Sie können (1) auch funktional, sogar erforderlich für einen effektiven und effizienten Arbeitsprozess sein, sie werden (2) auch als produktive Ressource vonseiten des Managements genutzt und können (3) Herrschaft bestätigen und absichern. Entsprechend zeichnet sich auch in der Managementliteratur ein Wandel ab. Informelle Widerstände sind in dieser traditionell negativ konnotiert und mit entsprechenden Begriffen wie »soldiering« (Taylor, 2007), »antisocial behavior« (Giacalone/Greenberg, 1997), »workplace violence and workplace aggression« (Neuman/Baron, 1998) oder »counterproductive behavior« (Fox/Spector, 1999) belegt. An die Stelle solch abwertender und mitunter pathologisierender Beschreibungen treten seit einigen Jahren Ansätze, die (informelle) Widerstände als wertvolle Ressource identifizieren, beispielsweise in Situationen organisationalen Wandels (Battilana & Casciaro, 2013; Ford & Ford, 2009; 2010; Self & Schraeder, 2009). Widerstände werden als »diagnostic concept« (Bauer, 1991, S. 184) und als »constructive tool« (Waddel & Sohal, 1998) nutzbar gemacht und somit entschärft und inkorporiert.2

Gerade in hoch rationalisierten Arbeitsprozessen sind informelles Handeln und damit auch Regelabweichungen in vielen Fällen unerlässlich. Darauf verweist im deutschen Diskurs insbesondere das Konzept des »erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns« (Böhle, 2001), das informelle Praktiken als das Gegenstück zu einer sich weiter durchsetzenden technisch-wissenschaftlichen Rationalität des industriellen Arbeitsprozesses konzipiert. Besonders in Bezug auf digitalisierte Arbeit hat dieser Ansatz in den letzten Jahrzehnten wichtige Dienste geleistet: Während auf den ersten Blick durch die Digitalisierung lebendige Arbeit nahezu vollständig rationalisierbar scheint, nimmt das Konzept des subjektivierenden Arbeitshandelns gerade die Grenzen der technischen Beherrschbarkeit in den Blick (Nies & Sauer, 2010, S. 149). Dabei wird die permanente Bewältigung von Unwägbarkeiten im Rahmen digitalisierter Arbeit als Kernkompetenz menschlichen Arbeitsvermögens verstanden. So erlangen eben diejenigen Qualitäten lebendiger Arbeit neue Bedeutung, die sich der Digitalisierung entziehen (Boes & Pfeiffer, 2006). Darüber hinaus können Regelabweichungen auch betriebliche Herrschaft festigen, wie aus Kreisen der Labour Process Theory, des Poststrukturalismus und anderen betont wird (Ashcraft, 2005; Fleming & Spicer, 2003; Knights & McCabe, 2000; Korczynski, 2011; Mumby, 2005; Scott, 1985). So legt Burawoy (1979) dar, dass es gerade die informellen »Spiele« der Beschäftigten sind, die Konsens herstellen, welche die asymmetrischen Arbeitsbeziehungen akzeptieren und kollektive Proteste unwahrscheinlich werden lassen. Es zeigt sich, dass Regelabweichungen zu einer Integration der Arbeitenden in Organisationen führen, da mit ihnen eine intensivere Beteiligung am Arbeitsprozess einhergeht (Collins, 1994, S. 25ff.). Regelabweichungen stellen demnach nicht notwendigerweise den Status quo in Frage, sondern können diesen auch bestätigen.

Informelles Handeln, Regelabweichungen oder erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Arbeitshandeln sind also nicht gleichbedeutend mit dem, was wir hier unter Widerstand verstehen. Stattdessen verweisen diese Begriffe vor allem auf die subjektive Aneignung des Arbeitsprozesses durch die Beschäftigten. Die Funktionalität dieser informellen Praktiken wird insbesondere vonseiten der Organisationssoziologie betont. Da allgemein und angesichts einer variablen Umwelt nicht jede individuelle Situation hinsichtlich sämtlich möglicher Vorkommnisse geplant und formal strukturiert werden kann und außerdem Formalstrukturen oft widersprüchlich sind, bedarf es mitunter einer Regelabweichung, um einen reibungslosen Ablauf von Arbeitsprozessen zu garantieren (Luhmann, 1964; Ortmann, 2003; siehe auch Bathon in diesem Band). Solche »brauchbare Illegalität« (Kühl, 2020) ist nicht notwendigerweise widerständig in dem Sinne, dass sie gegen ein Oben gerichtet ist. Umgekehrt lassen sich Organisationen oft effektiv durch »Dienst nach Vorschrift« und ein wörtliches Befolgen formaler Abläufe behindern (siehe z.B. Friedberg, 1995, S. 148). Doch die Übergänge sind fließend und was für Organisationen funktional ist, kann mitunter zugleich eine Form von Widerstand sein, mittels derer Einzelne ihr Selbst behaupten oder sich Ressourcen aneignen (Kühl, 2019). In diesem Sinne können Regelabweichungen bezüglich ihrer Widerständigkeit in ein Kontinuum eingeordnet werden, an dessen einem Ende die oft funktionale informelle Praxis steht und an dessen anderem kollektive herrschaftskritische Strategien (siehe Schaupp in diesem Band; Thompson, 2016, S. 119; Thompson & Harley, 2007, S. 150).

Informeller Widerstand als Leerstelle im deutschen Diskurs?

Der Umfang der deutschen Debatte betreffend informellen Widerstands ist begrenzt. Wurde derlei thematisiert, stand die Zurückhaltung der Arbeitsleistung im Rahmen von Akkordarbeit im Fokus und in der jüngeren Vergangenheit wird das Thema nur vereinzelt behandelt, wie im Folgenden gezeigt wird. Am Anfang der kritischen Untersuchung von Arbeitsprozessen steht Marx’ Werk. Auch wenn er als der zentrale Klassiker in Bezug auf Konflikte in der kapitalistischen Produktion gilt, so bleibt seine Analyse hinsichtlich informeller Widerstände einseitig: Marx analysiert den Produktionsprozess vor allem von seiner ökonomisch-strukturellen Seite her – und damit wesentlich von der Seite des Kapitals. Zwar schildert er im ersten Band des Kapitals die Grundzüge des Arbeitstags der englischen Industriearbeiter:innen (Marx, 1977, S. 240-320). Die Berichte stammen jedoch nicht von den Arbeitenden selbst, sondern von sogenannten »Arbeitsinspektoren«. Diese prangerten die Auswüchse der Ausbeutung an, sahen die Arbeitenden jedoch ausschließlich in ihrer ökonomischen Funktion, die es zu erhalten galt (Woodcock, 2017: 23). Von dieser Perspektive kann sich auch Marx nicht lösen, insofern er die beschriebenen Kämpfe nur in den strukturellen Kategorien eines »Kampfes zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, das heißt der Arbeiterklasse« fasst (Marx, 1977, S. 249). Im konkreten Arbeitsprozess kann eine solch abstrakte Perspektive, in der Menschen nur als Produktionsfaktoren auftauchen, jedoch nur vom Management und seinen Inspektor:innen eingenommen werden. Für die Arbeitenden dagegen geht es um den existenziellen Inhalt ihres Lebens. Diesen blinden Fleck bezeichnet Michael Lebowitz (2009, S. 314) als »the silence of Capital«.3 Mit dieser Schwerpunktsetzung bestimmte Marx den Fokus insbesondere der marxistisch geprägten Analyse, die erst spät wieder den Blick auf den eigentlichen Arbeitsprozess legte (Braverman, 1974) und auch dann noch informelle Widerstände vernachlässigte.

Im englischsprachigen soziologischen Diskurs existiert eine breite Palette an Begriffen und Konzepten, die informelle Widerstände bezeichnen: »organizational misbehaviour« (Ackroyd & Thompson, 1999), »dissent« (Tilly et al., 1975), »worker resistance« (Hodson, 1995), »secondary adjustments« (Goffman, 1968), »weapons of the weak« (Scott, 1985), »resistance« (Jermier et al. 1994). Und insbesondere in den letzten Jahren erlangt das Thema eine große und zunehmende Aufmerksamkeit. Die deutsche Arbeitssoziologie hingegen ist diesbezüglich überraschend sprachlos. Keineswegs bleiben ihr individuelle widerständige Praktiken verborgen, doch sie stehen nur selten konzeptionell oder empirisch im Fokus und sind oft das Derivat anders gearteter Forschungsfragen. Konkrete widerständige Praktiken fern der institutionalisierten bi- oder trilateralen Verhandlungen werden in der Regel vernachlässigt. So werden beispielsweise in Michael Kittners Grundlagenwerk zur Geschichte und Gegenwart des »Arbeitskampfes« nur formale und kollektive Widerstände berücksichtigt und dessen alltägliche und informelle Spielarten finden keine Beachtung. Etablierte und umfassende Konzepte wie die »betriebliche Sozialordnung« (Kotthoff, 1994) oder die »betriebliche Sozialverfassung« (Hildebrandt & Seltz, 1989) werden in den meisten Fällen nur auf die formalen, sichtbaren und institutionalisierten Interaktionen zwischen Unternehmensleitung und Betriebsräten angewendet.

Nichtsdestotrotz gibt es auch in der deutschen Debatte wichtige Beiträge, die wiederzuentdecken sich lohnt. Als eine der ersten deutschen industriesoziologischen Arbeiten thematisiert Max Webers Schrift »Zur Psychophysik der industriellen Arbeit« informelle Widerstände in Form eines »Bremsens der Arbeit« (Weber, 1995, S. 273ff.), bei der die Beschäftigten ihre Leistung zurückhalten oder in Webers (ebd., S. 273) Worten »bewußt und hartnäckig, aber wortlos, mit dem Unternehmer um den Kaufpreis für ihre Leistung« feilschen und ringen. Weber zufolge ist dies auf eine mit wachsender Häufigkeit zu beobachtende »Rationalisierung … zwecks planmäßiger Steigerung der Leistung« (ebd., S. 273) zurückzuführen. Er identifiziert dies als eine »Akkordpolitik der Arbeiterschaft« (ebd.) sowie ein »Surrogat« für Streiks (S. 275), das seine Vorteile gerade aus der Informalität, Verdecktheit und Spontanität zieht (ebd.). Bezeichnend ist die Rezeption dieser Arbeit Webers, die insbesondere in englischsprachigen Debatten verortet ist und primär das methodische Vorgehen diskutiert oder auf die makrosoziologischen Aspekte abzielt (Schmidt, 2020, S. 248). Hinsichtlich informellen Widerstands wird im weiteren Verlauf nur vereinzelt auf Weber Bezug genommen.

Erst in den 1960er und bis in die 1980er Jahre kommen informelle Widerstände stärker in den Fokus. Ein Schwerpunkt liegt dabei analog zu Weber auf der Leistungszurückhaltung der Arbeiter:innen. Die Studien setzen sich in erster Linie mit »Bremsen« im Rahmen von Akkordarbeit auseinander (Hoffmann, 1981; Keller, 1961; Schmiede & Schudlich, 1976) und somit auch dem expliziten Ziel Taylors, die »absichtliche Minderleistung« (Taylor, 2007, S. 8) der Arbeiter:innen durch wissenschaftliche Betriebsführung zu überwinden.

Einen anderen Schwerpunkt legt Günter Wallraff (1966), der mit seiner »Literatur der Arbeitswelt« eine Brücke zwischen Arbeitssoziologie und journalistischer Reportage schlug. Mit intensiven teilnehmenden Beobachtungen legte er die Ausbeutungserfahrungen und alltäglichen Kämpfe deutscher Industriearbeiter:innen offen. Einen ähnlichen Zugang wählte Marianne Herzog (1976), die die Erfahrungen und Strategien von Frauen in der Akkordarbeit beschreibt. Im Anschluss an diese Beschreibungen des subjektiven Erlebens des Arbeitsprozesses analysierte Ute Volmergs aus sozialpsychologischer Perspektive Aspekte von »Identität und Arbeitserfahrung« (1978). Im Zuge dessen sind auch individuelle »Widerstands- und Abwehrformen« von zentraler Bedeutung. Mit der Marginalisierung eines solchen subjektiven oder teilnehmenden methodischen Zugangs zu Themen der Arbeitssoziologie gerieten empirisch dichte Beschreibungen der alltäglichen Konflikte um Selbstbehauptung und -ermächtigung weitgehend aus dem Blick der Arbeitssoziologie.

Einen zentralen Stellenwert im deutschen Diskurs über informelle Widerstände nimmt Rainer Hoffmanns (1981) Buch zum ebenso permanenten wie verdeckten »Arbeitskampf im Arbeitsalltag« ein. Der alltägliche Arbeitskampf wird von ihm explizit thematisiert und konzeptionell analysiert. Neben der Leistungszurückhaltung erweitert er den Blick und thematisiert auch andere widerständige Praktiken bis hin zur Sabotage. Im gleichen Jahr erschien außerdem die Studie zu »Identitätsbehauptungen in Arbeitsorganisationen« von Uwe Schimank, der darin den scharfen »Bruch zwischen der Organisationsstruktur und der Persönlichkeitsstruktur ihrer Mitglieder« (Schimank, 1981, S. 29) untersucht. Unternehmen bedrohen demnach die Identität der Beschäftigten, sodass Letztere ein breites Spektrum an widerständigen Praktiken an den Tag legen, die ihnen »Identitätsbehauptungen« ermöglichen. Mit seiner Verbindung von System- und Identitätstheorie sowie einem reichen empirischen Material eröffnet Schimank eine interessante und innovative Perspektive auf Widerstände im Arbeitsprozess, die zwar Anerkennung fand, aber der Arbeitssoziologie nur selten als Bezugspunkt diente.

Mit besonderem Fokus auf digitale Technologie untersuchte Ulrich Briefs (1983) einerseits die Erfahrung zunehmender technologischer Rationalisierung und Überwachung des Arbeitsprozesses und andererseits die »schöpferische Aneignung« der Technologie durch Beschäftigte. Insbesondere angesichts der Dominanz des Themas der Digitalisierung in der aktuellen Arbeitssoziologie könnte eine Wiederentdeckung dieses Ansatzes möglicherweise dazu beitragen, Beschäftigte weniger als passive Objekte denn als handelnde Akteure in Digitalisierungsprozessen zu verstehen. Aus historischer, aber soziologisch äußerst relevanter Perspektive prägte Alf Lüdtke (in diesem Band) den Begriff des »Eigensinns« als einen der wichtigsten konzeptionellen Beiträge der deutschsprachigen Debatte um widerständiges Handeln im Arbeitsprozess. Insbesondere die theoretische Verknüpfung autonomer Praktiken auf der Mikroebene mit (staatlicher) Politik im Begriff der »Arbeiterpolitik« macht diesen Ansatz für Forschung, die betriebliche Auseinandersetzungen mit ihrem gesellschaftlichen Kontext zusammendenkt, zu einem Meilenstein.

Ein weiterer Strang, im Rahmen dessen informelle Widerstände konzeptionelle Berücksichtigung finden, ist der Arbeitspolitik-Ansatz, wie er unter Bezugnahme auf die englische »labour process debate« (siehe Thompson/Ackroyd in diesem Band) formuliert wurde (Jürgens & Naschold, 1984; Naschold, 1985). In diesem werden Betriebe als umkämpftes Konfliktfeld verstanden, in dem die verschiedenen Akteur:innen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtressourcen in arbeitspolitische Interaktionen treten. Ähnlich werden Arbeitsbeziehungen und -prozesse von mikropolitischen Ansätzen konzipiert, die besonders auf die »doppelte Wirklichkeit« in Organisationen abzielen (siehe Lang, Rego & Rybnikova in diesem Band). Beiden Ansätzen ist dabei eigen, dass sie die Existenz und Relevanz informeller Widerstände zwar konzeptionell berücksichtigen, aber diese gleichwohl nur selten konkreter Gegenstand der Analyse sind (siehe auch ebd.).

Neben den hier angeführten Analysen informeller Widerstände existieren weitere Untersuchungen, die das Phänomen thematisieren.4 In der jüngeren Vergangenheit sind informelle Widerstände aber nur selten expliziter Gegenstand eigenständiger Untersuchungen. So gilt die von Collinson und Ackroyd (2005, S. 321) allgemein formulierte Feststellung für Deutschland besonders, der zufolge die empirische Erfassung von Widerstand und Fehlverhalten ernsthafte Lücken aufweist. Als Gründe für diese Engführung der aktuellen deutschen Arbeitssoziologie und die Notwendigkeit einer Erweiterung der analytischen Perspektive kommen zwei Aspekte in den Blick. Erstens ist das spezifisch deutsche Modell der industriellen Beziehungen Teil einer korporatistischen, konservativen und koordinierten Form des Kapitalismus (Silvia, 2013). Mit Differenzen im Detail stimmen die Analyse des Neokorporatismus (Ebbinghaus, 2002), des Varieties-of-Capitalism-Ansatzes (Soskice & Hall, 2001) und von Esping-Andersen (1990) diesbezüglich überein. In diesen Ansätzen kooperieren soziale Partner und verhandeln Kollektivverträge und nehmen indirekten Einfluss auf die Gesetzgebung. In einem derartigen Umfeld war es für die deutsche Arbeitssoziologie naheliegend und folgerichtig, sich auf diese hoch institutionalisierten und regulierten Formen der Arbeitsbeziehungen zu fokussieren. Demnach gibt es eine ausgeprägte Erforschung formaler industrieller Beziehungen, die ihren Fokus auf institutionell kanalisierte kollektive Widerstände legt, wie insbesondere Streiks. Doch aus dem Blick geriet damit das breite Feld der alltäglichen Formen des Widerstandes.

Zweitens kommt hinzu, dass die Methodologie und die Methoden der Erforschung von Arbeitsbeziehungen blinde Flecken mit sich bringen. Widerständige Handlungen der Arbeitenden sind in ebenjenem blinden Fleck verortet. Da es ihr Sinn ist, nicht entdeckt zu werden, sind diese auch im Rahmen von Forschungsprojekten notorisch schlecht zu erblicken. Doch Widerstand »is there if workplace researchers have the time or inclination to look« (Ackroyd & Thompson, 1999, S. 162). So stellt sich die Frage, welcher Zugang für die Erforschung informeller Widerstände im Arbeitsprozess geeignet ist. Dokumentenanalysen erlauben nur den Blick auf die offiziell legitimierte Version der sozialen Realität. Und sowohl quantitative Befragungen als auch qualitative Interviews sind von dem Vertrauen und der Gewogenheit abhängig, die die Befragten den Forschenden entgegenbringen. Letztere treten als Dritte, oft mit Legitimation des Managements und nur kurz in den Arbeitsalltag der Beforschten ein, sodass widerständige Handlungen nur selten wahrheitsgemäß kommuniziert werden. Besonders geeignet ist Ethnografie in Form von teilnehmender Beobachtung, um widerständige und auch unartikulierte Handlungen zu analysieren. Ihre teilnehmende Perspektive und die längere Begleitung des Arbeitsprozesses und seiner Akteure erlaubt tiefere Einblicke, die auch Praktiken unter dem Radar sichtbar machen (Mumby et al., 2017, S. 1175; Heiland, 2020b). Viele der wegweisenden Studien der Arbeitssoziologie griffen auf ethnografische Erhebungsmethoden zurück und es ist kein Zufall, dass gerade in diesen widerständige Handlungen oft eine zentrale Rolle spielen (Roy, 1959; Burawoy, 1979; Collinson, 1992; Taylor, 2007). Dem entgegen steht der mitunter schwierige Zugang zu Betriebsstätten für ethnografische Forschung sowie die begrenzten Zeiträume, die Projektlogiken von Forschung und ein primär konkurrenz- und nur sekundär erkenntnisgetriebenes Wissenschaftssystem mit sich bringen.5

Der vorliegende Band möchte dazu beitragen, der Marginalisierung des informellen Widerstands in der deutschen Arbeitssoziologie entgegenzutreten. Dabei geht es den versammelten Beiträgen sowohl um die Wiederentdeckung und Fruchtbarmachung bestehender Ansätze als auch um die Entwicklung neuer methodischer und konzeptioneller Ansätze. Beides kann dazu beitragen, das breite Repertoire oppositioneller Praktiken im Arbeitskontext erkenn- und diskutierbar zu machen.

Die Beiträge

Der vorliegende Band widmet sich dieser Lücke und zielt darauf ab, die, so vorhandenen, vereinzelten Diskussionen um Widerständigkeit im Arbeitsprozess anzuregen, zusammenzuführen und in Dialog zu bringen. In diesem Sinne werden sowohl verschiedene Ansätze auf informelle Widerstände vorgestellt und diskutiert als auch diese Perspektiven im Rahmen konkreter Analysen angewandt und empirische Ergebnisse vorgestellt.6 Der Band beginnt mit einem klassischen Text der deutschsprachigen Forschung zu arbeitsbezogener Widerständigkeit von Alf Lüdtke. Darin zeigt Lüdtke anhand historischer Beispiele vom Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Formen des Eigensinns von Arbeiter:innen auf. Mit diesem zentralen Konzept ist auf einen Begriff jenseits des Widerstands verwiesen, der autonome Praktiken im Arbeitsalltag ins Zentrum rückt. Gleichwohl belässt es Lüdtke nicht bei einer Analyse von Auseinandersetzungen auf der Mikroebene, sondern bezieht diese auf den breiteren (staats)politischen Kontext der Zeit. Dabei identifiziert er den Eigensinn als eine spezifische Form der »Arbeiterpolitik«, deren Verhältnis zum Widerstand vor allem durch die Frage nach einem strategischen Vorgehen vermittelt wird. Während diese insbesondere mit dem Namen Lüdtkes verbundene Perspektive in der geschichtswissenschaftlichen Debatte eine zentrale Rolle spielt, wird in der (Arbeits-)Soziologie nur selten darauf Bezug genommen. Der Wiederabdruck dieses wichtigen Textes zielt demnach auch darauf ab, der Arbeitssoziologie eine historische Perspektive näherzubringen als auch das Konzept des Eigensinns stärker in der Debatte zu etablieren.

Der Beitrag von Paul Thompson und Stephen Ackroyd bietet einen Überblick über die vor allem englischsprachige Widerstandsforschung aus dem Blickwinkel der Arbeitsprozesstheorie. Dabei grenzen die Autoren die Arbeitsprozesstheorie von poststrukturalistischen Ansätzen ab, an denen sie kritisieren, dass diese die Möglichkeit von Widerstand entweder leugnen oder andersherum Widerstand als allgegenwärtig ansehen. Demgegenüber machen sie ihr Konzept des ›organisationalen Fehlverhaltens‹ stark. Dieses beruht vor allem darauf, ein breites Repertoire an abweichenden Praktiken im Arbeitsprozess zu identifizieren, deren Beziehung zum Widerstand jedoch kontingent ist. Damit wenden sie sich gleichermaßen gegen marxistische Ansätze, bei denen der Massenstreik als Ziel der Widerständigkeit angesehen wird, während Praktiken alltäglichen Ungehorsams nur als Vorstufen konzipiert werden.

Der Beitrag von Rainhart Lang, Irma Rybnikova und Kerstin Rego stellt die Perspektive der Mikropolitik auf das Thema vor. Dabei gehen die Autor:innen von der Beobachtung aus, dass Mikropolitik und Widerstand zwar oft assoziiert werden, der Begriff des Widerstands in den entsprechenden Debatten jedoch kaum explizit genannt oder konzeptionell eingeordnet wird. Der Beitrag geht infolgedessen den Spuren der Widerständigkeit in den Ansätzen zur Mikropolitik nach. Dabei unterscheidet er zwischen vier Diskussionssträngen. Der erste, »Mikropolitik als Ausnahme«, versteht Widerstand als situatives politisches Spiel gegen Autoritäten und politische Reaktion auf Veränderungen in den Machtstrukturen. Der zweite, »Mikropolitik als alltägliches Handeln in der Nahsicht«, versteht Widerstand als spezifische mikropolitische Strategien oder Taktiken des Handelns gegen Autoritäten und andere Akteure. Der dritte, die »mikropolitische Führungssicht«, versteht Beschäftigte als strukturell benachteiligte Führungsakteure, die mikropolitische Taktiken auch als Reaktion auf Führungseinfluss einsetzen. Der vierte Ansatz, »Mikropolitik im Organisationskontext«, hat keinen expliziten Begriff von Widerstand, denkt diesen aber implizit mit als Bestreben der Akteure, eigenen Handlungsspielraum im Rahmen von Spielregeln auszubauen.

Der Beitrag von Felix Bathon stellt einen Blickwinkel der systemtheoretischen Organisationssoziologie auf das Thema vor. Dabei begreift er widerständige Praktiken und Regelabweichungen als brauchbar funktionale und alltägliche Phänomene formaler Organisationen, die sich über informelle Kleingruppen- und Cliquenzusammenhänge reproduzieren. In einem ersten Schritt wird die Theorie formal organisierter Sozialsysteme vorgestellt und Arbeit als Vollzug formaler Erwartungen beschrieben. Praktiken des Widerstandes und der Regelabweichungen werden als Teil der informellen Struktur der Organisation behandelt, die sie als funktional-brauchbar erscheinen lässt. Im Zuge einer Verortung von informellen Kleingruppen und Cliquen in Abgrenzung zu formellen Subsystemen der Organisationen plädiert Bathon in einem zweiten Schritt dafür, funktionale Leistungsbezüge zu spezifizieren, indem typische widerständige Praktiken und Regelabweichungen konkreten informellen Subsystemen der Organisation zugerechnet werden. Daran anschließend wirft er die Frage auf, inwiefern verschiedene Organisationstypen und deren Ausprägungen je eigene widersprüchliche Verhaltensordnungen und demnach eigene widerständige Praktiken und Regelabweichungen hervorbringen.

Günther Ortmann fragt in seinem Beitrag, inwiefern ein stilles Widerstehen als Widerstand zu identifizieren ist, ob also z.B. Schweigen eine Opposition darstellt. Mit Hilfe des Begriffs der Undienlichkeit stellt er das »Entweder-oder von Oppositionen« in Frage und nimmt Praktiken der Passivierung und Flucht in den Fokus, die nicht auf einen unmittelbaren Effekt mit Blick auf ein Gegenüber oder gar ein Oben aus sind und doch eine subalterne Form des Widerstands sein können. Zu diesem Zweck diskutiert er verschiedene theoretische Perspektiven, die erlauben, solche nur schwerlich sichtbaren Grenzfälle von Widerstand zu analysieren, und illustriert diese mit zahlreichen Beispielen. Bei seinem Streifzug nimmt er Bezug auf Gilles Deleuzes und Felix Guattaris Denkfigur der »Fluchtlinien«, Michel de Certeaus Produktion eigenwilliger Gebrauchsweisen, Alf Lüdtkes Konzept des »Eigen-Sinns«, Erving Goffmans Blick auf die »Reservate des Selbst« sowie Slavoj Žižeks und Giorgio Agambens Interpretationen von Melvilles Bartleby. So zeigt sich, dass auch die vermeintlich irrelevanten, oft unsichtbaren und nicht selten individuellen Praktiken der Subalternen deren Selbstbehauptung dienen können und mitunter auch eine Form des Widerstands darstellen.

Der Beitrag von Simon Schaupp rekonstruiert bestehende Ansätze in der deutschsprachigen kritischen Arbeitssoziologie, die für eine Widerstandsforschung fruchtbar gemacht werden können. Dabei identifiziert er drei zentrale Stränge: erstens die Bewusstseinsforschung, die einerseits nach Leidenserfahrungen im Arbeitsprozess und andererseits nach einem positiven Arbeiter:innen-Bewusstsein als Anknüpfungspunkt für Widerständigkeit fragt. Zweitens die praxeologische Soziologie, die dissidente Praktiken im Arbeitsalltag ins Zentrum stellt. Drittens konfliktzentrierte Ansätze, die verschiedene Ebenen der Arbeitspolitik vom Arbeitsprozess bis zur gewerkschaftlichen Organisierung unter dem Blickwinkel der strukturellen Konflikthaftigkeit der kapitalistischen Produktion betrachten. Während er in all diesen Ansätzen unausgeschöpfte Potenziale ausmacht, betont Schaupp die Stellung des Begriffs der Emanzipation als unausgesprochenen Elefanten im Raum der Widerstandsforschung. Er wirbt dafür, die Frage des emanzipatorischen Gehalts widerständiger Praktiken offen zu thematisieren und dabei stets auch die Möglichkeit einer regressiven Rebellion im Blick zu behalten.

Das Kapitel von Irma Rybnikova stellt den möglichen Beitrag des Konzepts der Sinnstiftung für eine arbeitssoziologische Widerstandsforschung vor. Dabei rekonstruiert sie zunächst die Grundannahmen der Sinnstiftungsperspektive anhand der Konzepte von Weick und Maitlis sowie deren Erweiterung in der »kritischen Sinnstiftung«. Im zweiten Teil des Beitrags diskutiert sie den Nexus zwischen Sinnstiftung und Widerstand anhand zweier empirischer Beispiele. Im ersten Fall geht es um widerständige Sinnstiftung seitens der Beschäftigten eines ostdeutschen Kreditunternehmens, in dem managerielle Deutungsangebote abgelehnt und alternative Interpretationen entwickelt wurden. Im zweiten Beispiel geht sie anhand des Falls der Betriebsratsgründung bei Lidl auf die Sinnstiftung des Widerstands von Beschäftigten seitens des Managements ein. Der Beitrag schließt mit der Feststellung, dass die Sinnstiftungsperspektive viele unausgeschöpfte Potenziale für die Widerstandsforschung bietet.

Der Beitrag von Jacqueline Kalbermatter erarbeitet einen methodisch-analytischen Ansatz zur Untersuchung von Kontrolle und Widerstand im Arbeitsprozess. Ausgehend vom Problem der Transformation gekaufter Arbeitskraft in tatsächlich verausgabte Arbeit, schlägt Kalbermatter eine Erweiterung der Perspektive vor, mit der die soziale Differenzierung der Arbeiter:innen in den Fokus gerückt wird. In ihrem Beitrag geht es dabei vor allem um die Frage des Aufenthaltsstatus und dessen Rückwirkung auf betriebliche Kontrollregime. Dieses theoretische Grundgerüst wird dann in ein methodisches Instrumentarium zur Untersuchung der Aushandlungen der Kontrolle des Arbeitsprozesses unter Einbezug der sozialen Positionen von Arbeiter:innen überführt. Dabei wird das Instrumentarium einer »Dual Thematic Framework Analysis« entwickelt, das es erlaubt, die Perspektiven von Arbeiter:innen und Unternehmer:innen in einer Kombination von teilnehmender Beobachtung und Interviews »aufeinanderprallen« zu lassen. Der Erkenntnisgewinn, den diese Perspektive bietet, wird am Beispiel geflüchteter Arbeiter:innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus in gastronomischen Betrieben in der Schweiz diskutiert.

In ihrem Beitrag untersuchen Georg Barthel, Felix Gnisa und Hans-Christian Stephan den Eigensinn der Beschäftigten in Warenlagern von Amazon. Basierend auf Interviews mit Arbeiter:innen rekonstruieren sie den entsprechenden Arbeitsprozess und identifizieren diesen als einen marktgesteuerten digitalen Taylorismus, in dem mittels digitaler Technologien eine Gleichzeitigkeit von Standardisierung und Dynamisierung vorherrscht. Darüber hinausgehend und im Anschluss an Alfred Lüdtke zeigen sie auf, dass trotz der umfassenden Kontrolle im Produktionsmodell Amazons verschiedene Dimensionen von Eigensinn der Beschäftigten existieren. Die Verletzung der Ansprüche, die aus diesem Eigensinn hervorgehen, ist den Autoren nach die Quelle für widerständiges Handeln. Zugleich legen sie dar, dass dieser Eigensinn eine Grundlage für das Funktionieren des Produktionsmodells ist. Diese gewonnenen Erkenntnisse werden auch mit Blick auf gewerkschaftliches Handeln diskutiert und in Relationen gesetzt.

Moritz Altenried und Valentin Niebler thematisieren in ihrem Kapitel alltägliche Auseinandersetzung und Widerstände in der Plattformarbeit. In diesem analysieren sie Interviews mit Arbeiter:innen verschiedener Plattformen sowie ethnografische Feldforschung. Plattformarbeit ist den Autoren nach gekennzeichnet von algorithmischem Management und hyperflexiblen Vertragsverhältnissen, die autonome Handlungsspielräume und Widerstände der Beschäftigten einschränken. Wie sie aber zeigen, existieren zahlreiche und diverse Formen resistenter Praktiken der Arbeiter:innen, die Regulierungen umgehen, sich mit Kund:innen verbünden oder mit den Algorithmen experimentieren.

Heiner Heiland untersucht in seinem Beitrag Widerstände im Kontext algorithmischen Managements – algorithmische Gegenmacht. Wie er darlegt, stehen meist strategische Widerstände in Form kollektiver Praktiken im Fokus. Demgegenüber sind im Alltag umfassend digital kontrollierter Arbeitsprozesse aber insbesondere taktische Widerstände üblicher, die individuell, situativ und informell stattfinden. Im Anschluss an eine Differenzierung der Konstitution von Algorithmen sowie der Entstehungsbedingungen und Arten von Widerstand in Arbeitskontexten diskutiert er eine breite Palette empirischer Ausprägungen informeller Widerstände gegenüber algorithmischem Management.

Mit diesen Beiträgen bietet der Band einen breiten Überblick über widerständige Praktiken in Arbeitsprozessen und wie diese zu konzipieren und zu untersuchen sind. Unweigerlich vermag ein Sammelband das Thema nicht erschöpfend zu behandeln. Neben dem Fehlen einer spezifischen Darlegung poststrukturalistischer Zugänge decken die Beiträge nicht das gesamte Spektrum von Widerständen und Bereichen ab, in denen diese vorkommen. So werden beispielsweise hochqualifizierte Tätigkeiten, denen meist größere autonome Handlungsspielräume zur Verfügung stehen, nicht gesondert behandelt. Es zeigt sich aber, dass arbeitsspezifische Widerstände in mannigfaltiger Form auftreten und ihre Analyse vielversprechend ist.

Literatur

Ackroyd, S.; Thompson, P. (1999): Organizational Misbehaviour. London: Sage.

Anderson, E. (2019). Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden). Berlin: Suhrkamp.

Artus, I.; Birke, P.; Kerber-Clasen, S.; Menz, W. (2017): Sorge-Kämpfe: Auseinandersetzungen um Arbeit in sozialen Dienstleistungen. Hamburg: VSA.

Ashcraft, K. (2005). Resistance through consent? Occupational identity, organizational form, and the maintenance of masculinity among commercial airline pilots. Management Communication Quarterly 19 (1), 67-90.

Behrend, H. (1957): ›The Effort Bargain‹, Industrial and Labour Relations Review, 10(4): 503-15.

Boes, A. & Pfeiffer, S. (2006). Informatisierte Arbeit. Von der Allgegenwart der verschwindenden Arbeit (S. 31-68). Baden-Baden: Nomos.

Böhle, F. (2001). Sinnliche Erfahrung und wissenschaftlich-technische Rationalität: ein neues Konfliktfeld industrieller Arbeit. In B. Lutz (Hg.), Entwicklungsperspektiven von Arbeit: Ergebnisse aus dem Sonderforschungsbereich 333 der Universität München (S. 113-131). Berlin: De Gruyter.

Brinkmann, U., Choi, H.-L., Detje, R., Dörre, K., Holst, H., Karakayali, S. et al. (2008). Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Umrisse eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Burawoy, M. (1979): Manufacturing consent. Changes in the labor process under monopoly capitalism. Chicago: University of Chicago Press.

Cockburn, C. (1983): Brothers: Male Dominance and Technological Change. London: Pluto.

Collinson, D. (1992): Managing the Shopfloor: Subjectivity, Masculinity and Workplace Culture. Berlin: William de Gruyter.

Collinson, D. (1994). Strategies of resistance: Power, knowledge and subjectivity in the workplace. In: J. Jermier, D. Knights und W. Nord (Hg.), Power and Resistance in Organizations (S. 25-68). London: Routledge.

Collinson, D.; Ackroyd, S. (2005): Resistance, Misbehaviour, Dissent. In: S. Ackroyd, R. L. Batt, P. Thompson und P. S. Tolbert (Hg.): The Oxford handbook of work and organization. Oxford: Oxford Univ. Press, S. 305-326.

Ebbinghaus, B. (2002): Varieties of Social Governance. Cologne: Max Planck Institute for the Study of Societies.

Edwards, P.K. (1986): Conflict at work. A materialist analysis of workplace relations. Oxford: Blackwell.

Eurofound (2017): Non-standard forms of employment: Recent trends and future prospects. Publications Office of the European Union. Luxembourg.

Esping-Andersen, G. (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Princeton, N.J.: Princeton University Press.

Fleming, P.; Spicer, A. (2003). Working at a cynical distance: Implications for power, subjectivity and resistance. Organization 10(1), 157-179.

Foc, S.; Spector, P.E. (1999): A Model of Work Frustration-Aggression. In: Journal of Organisational Behaviour, 20: 915-931.

Friedberg, E. (1995). Ordnung und Macht. Dynamiken organisierten Handelns.Frankfurt a.M.: Campus.

Friedman, A. (1977). Industry and Labour: Class Struggle at Work and Monopoly Capitalism. London: Macmillan.

Giacalone, R.A.; Greenberg, J. (1997): Antisocial Behaviour in Organisations. Thousand Oaks, Calif.: Sage.

Goffman, E. (1968): Asylums. Harmondsworth: Penguin.

Hildebrandt, E.; Seltz, R. (1989): Wandel betrieblicher Sozialverfassung durch systemische Kontrolle? Berlin.

Halmer, B.; Krobath, P.A. (2008). Lexikon der Sabotage. Betrug, Verweigerung, Racheakte und Schabernack am Arbeitsplatz. Wien: Sonderzahl.

Heiden, M. (2014). Arbeitskonflikte: Verborgene Auseinandersetzungen um Arbeit, Überlastung und Prekarität. Berlin: edition sigma.

Heiland, H. (2020a). Workers’ Voice in Platform Labour. Düsseldorf: WSI.

Heiland, H. (2020b). Die Praxis der Plattformarbeit. Von der Relevanz ethnografischer Analysen digitaler Arbeitskulturen. Berliner Blätter 82: 17-28.

Heiland, H.; Schaupp, S. (2020). Digitale Atomisierung oder neue Arbeitskämpfe? Widerständige Solidaritätskulturen in der plattformvermittelten Kurierarbeit. Momentum Quarterly 9(2): 50-67.

Hoffmann, R. (1981). Arbeitskampf im Arbeitsalltag: Formen, Perspektiven und gewerkschaftspolitische Probleme des verdeckten industriellen Konflikts. Frankfurt a.M.; New York: Campus.

Jermier, J.; Knights, D.; Nord, W.R. (1994). Resistance and Power in Organisations. Londong: Routledge.

ILO (2016): Non-Standard Employment Around the World. Understanding Challenges, Shaping Prospects. Hg. v. International Labour Office. Geneva.

Keller, W. (1961). Der moderne soziale Konflikt: Seine Ursache und seine Überwindung im Betrieb. Stuttgart: Enke.

Kittner, M. (2005). Arbeitskampf: Geschichte, Recht, Gegenwart. München: Beck.

Knights, D.; McCabe, D. (2000). Ain’t misbehavin’? Opportunities for resistance under new forms of ›quality‹ management. Sociology 34 (3), 421-436.

Korczynski, M. (2011). The dialectical sense of humour: Routine joking in a Taylorized factory. Organization Studies 32 (10), 1421-1439.

Kotthoff, H. (1994): Betriebsräte und Bürgerstatus. Wandel und Kontinuität betrieblicher Mitbestimmung. München: Hampp.

Kühl, S. (2019). Regelabweichungen zum Schaden und Nutzen der Organisationen. Zur Funktionalität informaler Belohnungssysteme in Organisationen. Arbeit 29 (1), 53-76.

Kühl, S. (2020). Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt a.M.: Campus.

Lebowitz, M. A. (2009). Following Marx: Method, Critique and Crisis. Chicago, IL: Haymarket Books.

Littler, C. (1982): The Development of the Labour Process in Capitalist Societies: A Compara- tive Analysis of Workplace Organisation. London: Heinemann.

Luhmann, N. (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisationen. Berlin: Duncker & Humblot.

Luhmann, N. (1978): Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

March, J.G.; Simon, H.A. (1958): Organizations. New York.

Marx, K. (1977): Das Kapital. Erster Band. In: Karl Marx und Friedrich Engels Werke, Bd. 23. Berlin: Dietz.

Moody, K. (2017). On New Terrain: How Capital is Reshaping the Battleground of Class War. Chicago: Haymarket Books.

Mumby, D. (2005). Theorising resistance in organization studies: A dialectical approach. Management Communication Quarterly 19 (1), 19-44.

Mumby, D.; Thomas, R. und Seidl, D. (2017). Resistance redux. Organization Studies 38(9), S. 1157-1183.

Naschold, F. (Hg.) (1985). Arbeit und Politik. Gesellschaftliche Regulierung der Arbeit und der sozialen Sicherung. Frankfurt a.M.: Campus.

Naschold, F. und Jürgens, U. (Hg.) (1984). Arbeitspolitik (Leviathan, Sonderheft 5). Opladen: Westdeutscher Verlag.

Neumann, J.H.; Baron, R.A. (1998): Workplace Violence and Workplace Aggression. Evidence Concerning Specific Norms, Potential Causes, and Preferred Targets. In: Journal of Management, 24: 391-419.

Nies, S. & Sauer, D. (2010). Theoriegeleitete Fallstudienforschung. Forschungsstrategien am ISF München. In H.J. Pongratz & R. Trinczek (Hg.), Industriesoziologische Fallstudien: Entwicklungspotenziale einer Forschungsstrategie (S. 119-162). Berlin: edition sigma.

Ortmann, G. (1988): Handlung, System, Mikropolitik. In: W. Küpper; G. Ortmann (Hg.): Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 217-225.

Ortmann, G. (2003). Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Roy, D. (1959): »Banana Time«: Job Satisfaction and Informal Interaction. In: Human Organization 18 (4), S. 158-168.

Schimank, U. (1981): Identitätsbehauptung in Arbeitsorganisationen. Individualität in der Formalstruktur.Frankfurt a.M.: Campus

Scott, J.C. (1985): Weapons of the weak. Everyday forms of peasant resistance. New Haven: Yale University Press.

Schmiede, R. & Schudlich, E. (1976). Die Entwicklung der Leistungsentlohnung in Deutschland. Eine historisch-theoretische Untersuchung zum Verhältnis von Lohn und Leistung unter kapitalistischen Produktionsbedingungen. Frankfurt.

Silvia, S. J. (2013): Holding the shop together. German industrial relations in the postwar era. Ithaca: Cornell University Press.

Soskice, D. W.; Hall, P. A. (2001): Varieties of capitalism. Oxford: Oxford University Press.

Taylor, F. W. (2007): Die Betriebsleitung insbesondere der Werkstätten. Reprint der 3. Aufl., 1914. Berlin: Springer.

Tilly, C.; Tilly, L.; Tilly, R. (1975): Rebellious Century. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Thompson, P. (2016). Dissent at work and the resistance debate: Departures, directions, and dead ends. Studies in Political Economy, 97(2), S. 106-123.

Thompson, P. & Harley, B. (2007). HRM and the worker: Labor process perspectives. In: P. Boxall, J. Purcell, P. Wright (Hg.): The Oxford Handbook of Human Resource Management. Oxford: Oxford University Press, S. 147-165.

Türk, K. (1989): Neuere Entwicklungen in der Organisationsforschung. Ein Trend Report. Stuttgart: F. Enke.

Waddel, D. & Sohal A.S. (1998). Resistance. A constructive tool for change management. Management Decision 36(8), S. 543-548.

Weber, M. (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.

Wellbrook, C. (2014). A workers’ inquiry or an inquiry of workers? Ephemera, 14(3), 357-374.

Weltz, F. (1991): Der Traum von der absoluten Ordnung und die doppelte Wirklichkeit der Unternehmen. S. 85-97 in: Hildebrandt, E. (Hg.), Betriebliche Sozialverfassung unter Veränderungsdruck. Konzepte, Varianten, Entwicklungstendenzen. Berlin: Edition Sigma.

WIN (Hg.). (2020). Struggle in a Pandemic: A collection of contributions on the COVID-19 crisis from members of the Workers Inquiry Network. Workers Inquiry Network. Verfügbar unter: www.intotheblackbox.com/wp-content/uploads/2020/05/Struggle-in-a-Pandemic-FINAL.pdf

Woodcock, J. & Graham, M. (2020). The Gig Economy: A Critical Introduction. Cambridge: Polity.

1 Was hier im Anschluss an die ursprüngliche und für die Arbeitssoziologie zentrale Position Marx’ formuliert ist, wird ebenso in Ansätzen anderer Provenienz diskutiert wie beispielsweise der Systemtheorie, der Principal-Agent-Theorie oder der Transaktionskostentheorie (siehe Heiland in diesem Band).

2 Diese Optimierung mittels Widerständen ist nicht neu und wurde bereits von Luhmann (1984, S. 501ff.) als zentraler Mechanismus moderner Organisationen identifiziert (siehe auch Ortmann in diesem Band).

3 Später unternahm Marx den Versuch, diese Perspektive zu ergänzen. Er erstellte einen Fragebogen mit 101 verschiedenen Fragen zur proletarischen Lebenswelt, den er an die Zeitschrift Revue Socialiste schickte. Eine wirkliche Studie wurde damit jedoch nicht realisiert (Wellbrook, 2014, S. 360).

4 Beispielsweise im »Lexikon der Sabotage« (Halmer & Krobath, 2008), in der quantitativen Untersuchung von Bunz, Jansen und Schacht (1974), der Beschreibung der »Frauen bei Bosch« von Schneider (1970), der umkämpften Gruppenarbeit bei Birke (2019) oder der plattformvermittelten Kurierarbeit (Heiland & Schaupp, 2020), um ein paar Schlaglichter zu werfen.

5 Hinzu kommt zunehmend die Herausforderung, ethnografische und allgemein verdeckte Forschung von Ethikkommissionen genehmigen zu lassen. Damit entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem angemessenen und transparenten Umgang mit allen untersuchten (beispielsweise auch dem Management) und der empirischen Untersuchung naturgemäß klandestiner informeller Widerstände und der Gefahr, diese noch weiter aus dem Blick zu verlieren.

6 Während gezielt ein breites Spektrum theoretischer Zugänge im Band vertreten ist, wurde ein angefragter Beitrag, der gezielt und überblickend poststrukturalistische Perspektiven auf informelle Widerstände diskutiert, nicht mehr rechtzeitig fertig. Diese Lücke war kurzfristig nicht mehr zu schließen. Nichtsdestotrotz bieten gerade poststrukturalistische Ansätze einen spezifischen Blick auf Widerstände – wie sich auch in einigen der Beiträge des Bandes widerspiegelt.

Lohn, Pausen, Neckereien: Eigensinn und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 19001

Alf Lüdtke

Das Alltagsleben zu untersuchen bedeutet, soziale Beziehungen zu rekonstruieren – ihre Produktion, Reproduktion und Transformation. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt dabei auf der Untersuchung der Lebensweise, das heißt jener sozialen Praktiken, durch die Produktionsweisen zur alltäglichen Realität werden. Dieser Zugang verdankt viel E. P. Thompsons Studie »The Making of the English Working Class«, die davon ausgeht, daß »Klasse eine Beziehung und nichts Konkretes, Reales« ist. Dieses Buch, aber auch Arbeiten, die dieser Perspektive folgen, haben freilich wichtige Fragen unbeantwortet gelassen: Repräsentiert eine solche Schreibweise der Geschichte nicht das Wiederaufleben eines schlichten Historismus – jetzt unter dem Etikett der Rekonstruktion von Erfahrung? Was zeichnet solche Erfahrungsmomente überhaupt aus,2 die Widersetzlichkeiten gegen die Zumutungen der Obrigkeit begünstigen und zum Kampf gegen die bestehenden Klassen- und Machtbeziehungen anstacheln? Gefragt wird aber auch, ob die Untersuchung des Alltags notwendig den Ausschluß von Politik bedeutet.

Oder anders: was überhaupt ist das Politische im Kontext alltäglicher Praxis?3

Sicherlich werden mit der neu erwachten Aufmerksamkeit für Volksbewegungen und ihre sozio-kulturellen Praktiken traditionelle Grenzen überschritten. Solche Studien unternehmen den Versuch, Gebiete zu erforschen, die als abgelegen und mitunter als bizarr gelten; ihnen geht es auch darum, das stumme Verhalten derjenigen zum Sprechen zu bringen, die Objekte ihrer Untersuchung geworden sind. Und doch bleibt es ironischerweise bei der Bewertung ›vom Ende her‹, spätestens wenn, wie in Thompsons Fall, die politische Qualität der historischen Situationen und Aktionen geprüft wird.4 Es bleibt also im Grunde bei dem herkömmlichen bipolaren Politikmodell von Macht oder Ohnmacht, Beherrschung oder Unterwerfung. Selbst wenn Erfahrungen und das »gesellschaftliche Kräftefeld« (Thompson) einbezogen werden, wird die konventionelle Perspektive von Historikern nicht überwunden; sie aber ist nach wie vor die der Sieger.

Das Problem besteht nicht darin, Kontexte zu beschreiben oder die Beziehungen und Mehrdeutigkeiten von bereits existierenden wie neu sich bildenden sozialen Praktiken zu erkunden. Fehl gehen die Untersuchungen vielmehr in ihrer impliziten Annahme, daß der Forscher und sein Objekt sich mit denselben Begriffen begegnen – als ob sich die Logik der erforschten Subjekte aus einer universalen und ahistorischen Rationalität ableiten ließe. Dabei bleiben die Interessen des Forschenden, die Reichweite seiner Wahrnehmungsweisen und Interpretationen, außer acht. Vor allem wird die anmaßende Struktur dieses Szenarios vernachlässigt: Der Aktive ist der Forscher, der passive Objekte auszufragen versucht; prämiert werden Ergebnisse, die wir Nachgeborenen schätzen. Statt nach der Vielfalt der Möglichkeiten, die in einer historischen Situation auf dem Spiel standen, wird nur entweder nach Anpassung oder Widerstand gesucht.

Ich plädiere deshalb dafür, unsere begrenzten Quellen für ein Mehr an teilnehmender Beobachtung zu nutzen. Sicherlich bietet eine solche »dichte« Untersuchung, selbst dort, wo sie möglich ist, keine definitive Lösung: Sie macht uns die Untersuchten, in diesem Fall Fabrikarbeiter des späten 19. Jahrhunderts, keineswegs vertrauter.5 Aber ich hoffe, in diesem Beitrag zu zeigen, daß die Rekonstruktion von Arbeitsabläufen und Lohnformen, von legalen und illegalen Arbeitsunterbrechungen, der Artikulation von Bedürfnissen – vor allem körperlich gewalttätiger Spielereien am Arbeitsplatz – ein spezifisches Verständnis von Arbeiterleben und Arbeiterpolitik ermöglicht. Der jeweilige Kontext kann erhellt werden durch zeitgenössische Schilderungen von Außenstehenden, vielleicht lassen sich sogar Berichte teilnehmender Beobachter finden. Neben den Erinnerungen von Beteiligten sind Zeugnisse unerläßlich, die nicht von der Absicht geprägt sind, ein gutes (oder schlechtes) Andenken zu hinterlassen. Dazu gehören Lohnlisten oder Fabrikordnungen. Aus solchen Dokumenten lassen sich durchaus mehr als nur ökonomische Erkenntnisse gewinnen. Denn die Unregelmäßigkeiten des Arbeitsablaufes, wie sie zum Beispiel in den Lohnlisten oder Unfallprotokollen sichtbar werden, verweisen auf spezifische Aneignungsweisen, mehr noch auf den Eigensinn der vor Ort Handelnden.

In dieser Perspektive werden abstrakte Zuweisungen zweifelhaft: So ist industrielle Arbeit z.B. weit mehr als die »reale Subsumption von Arbeit unter das Kapital«; sie geht nicht auf in mechanischen Verrichtungen und Zeitdisziplin.

Notwendig ist beides – analytisches wie interpretatives Verstehen. Aber wir sollten uns nicht täuschen: Alle diese Anstrengungen, Gründe und Motive der Betroffenen zu erhellen, sind nichts weiter als die Befragung von Objekten. Selbst behutsame Entzifferung vermag die Kluft zwischen Erforschern und Erforschten nicht zu überbrücken. Vielleicht ermutigt uns aber der Gebrauch der – stets begrenzten – Quellen, die Eigentümlichkeit der teilnehmenden Beobachtung des Historikers zu akzeptieren: Die Anderen werden uns desto fremder erscheinen, je mehr wir sie zu verstehen suchen.

Maschinenbau um 1900

Der Ort ist eine Maschinenbaufabrik in Chemnitz, das Jahr 1890. Eine Abteilung des Werks stellt Werkzeugmaschinen, die andere Strickmaschinen her. Nach der Rezession 1886-87 befindet sich das Unternehmen wieder im Konjunkturaufschwung, und beide Abteilungen sind eifrig bemüht, ihre Aufträge zu erfüllen.

Paul Göhre, ein junger protestantischer Pfarrer, lebte und arbeitete sechs Wochen lang mit den Arbeitern der Werkzeugmaschinen-Abteilung. Offenkundig gab er sich gelegentlich zu erkennen, oder verbarg zumindest nicht bewußt seinen Beruf. Er hielt sich als »teilnehmender Beobachter« bei den rund 120 Schmieden, Bohrern, Feilem und besonders Drehern auf, die auf einer Galerie arbeiteten. Ihre Arbeit begann morgens um sechs und endete zwölf Stunden später, davon waren nahezu elf Stunden als Arbeitszeit vorgesehen (Göhre, 1891, S. 29). Innerhalb dieser zwölf Stunden waren nur eine einzige zwanzigminütige Kaffeepause und eine einstündige Mittagspause gestattet.

Ein Jahr später veröffentlichte Göhre ein Buch mit seinen Beobachtungen und Eindrücken und faßte seine sorgfältig detaillierte Schilderung eines Arbeitstages wie folgt zusammen:

»Es ist in der That keine Kleinigkeit, elf Stunden des Tages mit 120 Mann in einem von öligem, schmierigem Dunste, von Kohlen- und Eisenstaube geschwängerten beißen Raume auszuhalten. Nicht eigentlich die meist schweren Handgriffe und Arbeitsleistungen, sondern dieses Zusammenleben, Zusammenatmen, Zusammenschwitzen vieler Menschen, diese dadurch entstehende ermüdende Druckluft, das nie verstummende nervenabstumpfende gewaltige quietschende, dröhnende, ratschende Geräusch, und das unausgesetzte elfstündige Stehen in ewigem Einerlei, oft an ein und derselben Stelle – dies alles zusammen macht unsere Fabrikarbeit zu einer alle Kräfte anspannenden, aufreibenden Tätigkeit (…).« (Göhre, 1891, S. 74)

Dies ist ein völlig anderes Bild als das zeitgenössischer Fotografien, die in Fabriken aufgenommen wurden und fast nichts von den alltäglichen Erfahrungen zeigen, die Göhre schildert. Solche Fabrikfotos waren gestellt, bebilderten viel mehr die Vorstellung des Fotografen, wie eine Fabrik aussehen sollte – aufmerksame, konzentrierte und saubere Arbeiter in einer wohl organisierten Fabrikhalle, keinerlei Störungen, Unterbrechungen oder gar Erschöpfung. Doch selbst wenn man Göhres Bericht vertraut, muß man die distanzierten und gemischten Gefühle einbeziehen, die einen jungen Theologen beeinflußt haben dürften. Göhre war nicht nur ein Neuling in der Fabrik, sondern ebenso ein Eindringling aus der akademischen Welt, schlimmer noch: aus der Kirche. Nicht minder wichtig ist, daß Göhre die Anstrengungen und Plackerei der Fabrikarbeit freiwillig auf sich nahm, während die meisten seiner Kollegen keine andere Wahl hatten. Um sich und ihre Familien durchzubringen, war Lohnarbeit in der Fabrik für sie schlichte alltägliche Notwendigkeit. Mit Sicherheit haben solche divergierenden Klassenpositionen und -erfahrungen die Wahrnehmung des Vertrauten wie des Fremden in der Fabrik strukturiert. Was Göhre als gänzlich bedrückend oder ungeschliffen empfand, mag Teil der selbstverständlichsten Arbeitsroutinen gewesen sein, die die Arbeiter weder beklagt noch überhaupt erwähnt oder ›gesehen‹ hätten.

Göhres Erinnerungen sind dennoch sehr aufschlußreich, weil er nicht flüchtiger »Besucher« war, sondern eine ethnographische Reise in das unbekannte Land der Fabriken unternahm. Die genauen Beschreibungen der Löhne und Ernährungsweisen, des Verhaltens am Arbeitsplatz, der Erholung und besonders des Arbeitsprozesses selbst geben davon nachdrücklich Zeugnis.

Göhre wurde als Handlanger für die Bohrer und besonders für die Dreher eingestellt. Die letzteren bedienten Drehbänke, die von Dampfmaschinen über Transmissionsriemen und Kupplungen angetrieben wurden. Damit unterschieden sie sich hinsichtlich der Kontrolle über ihre Arbeit von den übrigen Arbeitern auf der Galerie.6 Die Gießer, Former und Schmiede stellten die Grundteile und Werkzeuge ebenso wie die fertigen Stücke nahezu vollständig mit der Hand her. Aufgrund ihrer Kenntnisse von Material und Arbeitsprozeß leiteten sie die Hilfsarbeiter an; beim Handhaben der Werkzeuge nutzten sie vor allem ihr Erfahrungswissen. Dasselbe gilt für die Schlosser und Monteure, die die hergestellten Stücke zusammensetzten und die Produkte vollendeten. Weniger Spielraum hatten die Bohrer: Sie arbeiteten in der Regel gleichförmig, monoton, ohne eine Gelegenheit, ihre Werkzeuge selbst einzurichten oder ihr Werkstück selbständig bis zum Schluß zu bearbeiten.

Die Dreher lagen gleichsam ›in der Mitte‹; sie übten eine Art Semi-Handarbeit aus. Ihre Aufgabe bestand darin, allen Rund- und Drehkörpern eine präzise Form zu geben, d.h. sie mußten Oberflächen abdrehen oder Gewinde schneiden. Zwar bedienten sie ihre Werkzeuge nicht unmittelbar mit der Hand, aber ähnlich der fast handwerklichen Arbeit der Former und Schlosser bereiteten sie die Maschine selbst vor und justierten sie. Während der Zeit, in der das Werkstück bearbeitet wurde, griffen sie – mitunter auch mit der Hand – ein, um dem Werkstück den letzten Schliff zu geben. Die Vorbereitung der Drehbank war verhältnismäßig zeitaufwendig. Um daher die optimale Geschwindigkeit während des Drehprozesses zu erreichen, mußte das Getriebe jedes Mal aufs Neue eingestellt, (mit Bruchrechnung) berechnet und zusammengebaut werden. Das Werkstück wurde dann eingespannt und zentriert; manchmal mußten vorab Späne mit der Hand abgefeilt werden. Nachdem der Dreher die Drehbank angeworfen (oder genauer, nachdem er sie mit der Transmissionswelle der Galerie verbunden) hatte, brauchte er das Ganze nur noch zu beobachten: Er mußte ein Auge haben auf den Transmissionsriemen und die Drehgeschwindigkeit ebenso wie auf den Meißel bzw. den Werkzeugstahl, gegen den das Werkstück gedreht wurde.

Die Dreher eigneten sich eine spezifische Kompetenz an – die Handfertigkeit. Sie umfaßte Wissen um die Eigenarten des zu verarbeitenden Metalls ebenso wie Erfahrung mit den Geschwindigkeiten und dem Getriebe der Transmissionsriemen und »ihrer«, d.h. der Fabrik gehörenden, Drehbank bzw. sogar mit zwei oder drei Drehbänken, die bedient werden mußten. Vielfach waren Dreher durchaus in der Lage, eine Konstruktionszeichnung zu lesen und deren Zahlen und Symbole auf die Mechanik ihrer Drehbank zu übertragen.

Ganz offenkundig war die Dreher-Arbeit ausgesprochen vielfältig, erforderte sie doch nicht nur Erfahrung, sondern auch eine Art fortwährender Beschäftigung mit dem jeweiligen Arbeitsablauf. Selbstverständlich wurden diese Fertigkeiten und Qualifikationen vornehmlich durch die Arbeit selbst entwickelt – im Unterschied zu den meisten anderen Gruppen in der Fabrik, besonders zu den Schmieden, von denen die große Mehrzahl eine dreijährige Lehrzeit durchlaufen hatte. Als Dreher wurden dagegen häufig ehemalige Holzdreher eingestellt. Solch ein Fall war zum Beispiel Moritz Theodor Wilhelm Bromme, dessen Autobiographie Göhres Bericht über die Werkstatt ähnelt, die Arbeit eines Drehers aber aus der Sicht eines Beteiligten schildert (Bromme, 1971, S. 243). Bromme arbeitete seit 1898 für mehrere Jahre in einer Maschinenbaufabrik in Gera, rund hundert Kilometer westlich von Chemnitz.

Dreher verstanden sich selbst als die entscheidende Gruppe innerhalb der Arbeiterschaft; vor allem sie wären in der Lage, die Mahnung der Fabrikleitung, »produktiv zu sein«, zu erfüllen (Bromme, 1971, S. 243; s. auch Müller, 1974, S. 13f.). Diese überwältigende Akzeptanz des Produktivitätsziels, aber auch des Fabriksystems und derjenigen, die von ihm profitierten, wurde nicht einfach durch physischen Zwang oder Manipulation erreicht. Zusätzlich müssen zwei Faktoren in Betracht gezogen werden: Erstens das Maß an Kontrolle über den Arbeitsprozeß und, damit verbunden, die eigene Bewertung der Arbeit; zweitens ist zu untersuchen, ob diese Selbstwahrnehmung ein materielles Äquivalent hatte oder einen materiellen Ausdruck fand.

Von den Anfängen des Maschinenbaus in Deutschland in den 1830er Jahren(Schröter & Becker, 1962, S. 76ff. und 236ff.) und zumindest bis 1910-14 gehörten die Dreher zu den bestbezahlten Maschinenbauarbeitern (Desai, 1968, S. 108-110). Zusammen mit den Bergarbeitern standen sie an der Spitze der Lohntabelle in den späten 1870er Jahren und hielten nach 1908 dasselbe Lohnniveau wie die Eisen- und Stahlarbeiter. Die von Göhre 1890 geschilderten Wochenverdienste weisen einen Lohn von 20 bis 30 Reichsmark wöchentlich aus, falls sie überwiegend oder vollständig im Stücklohn bezahlt wurden (Göhre, 1891, S. 13f.). Hilfsarbeiter und Tagelöhner, wie Göhre einer war, befanden sich am Schluß der Lohnskala. Aber sie konnten mit bis zu 15 M durchaus recht nah an die Schmiede oder Monteure herankommen.

Vom Grad der Kontrolle über den Arbeitsprozeß, der Selbsteinschätzung und vom Status her, den ihnen die Arbeitskollegen einräumten, aber auch bei den Lohnraten repräsentierten die Dreher den Typus hochangesehener Maschinenbauarbeiter. Sie waren Teil einer Minderheit von Fabrikarbeitern, die relativ »gut dastanden«, materiell und symbolisch. Sie gehörten zu denen, die Eric Hobsbawm als »Arbeiteraristokraten« bezeichnet hat (Hobsbawm, 1974, S. 139).7

Der Status der Dreher beruhte auf einer Besonderheit ihres Arbeitsprozesses. In ihrer Branche waren sie die einzigen, die Maschinen bedienten und dennoch eine verhältnismäßig individuelle (oder zumindest selbst-kontrollierte) Arbeit verrichteten. Die Organisation ihrer Arbeit weckte und forcierte zugleich die Konkurrenz mit Kollegen an den benachbarten Drehbänken und machte damit die Bestätigung der eigenen Kalkulationsfähigkeit und Handfertigkeit möglich. Im Unterschied zu »traditionellen« handwerklichen Arbeitern, wie Schmieden oder Formern, konnten die Dreher sich selbst und anderen ihr Können und ihre Erfahrung im Umgang mit »modernen« Maschinen demonstrieren.

Das Konzept des Eigensinns

Unwägbarkeiten und Unbeständigkeiten in den Arbeitsanforderungen und -prozessen wie bei den Löhnen formten die Erfahrungen von Arbeitern allgemein – und die der Maschinenbauarbeiter und Dreher im Besonderen. Obwohl ein solcher Akzent wichtig ist, um Annahmen über »unilineare« Erfahrungen und Verhaltensweisen der Arbeiter zu kritisieren, bleibt das Bild auch dann unvollständig. Wie bereits erwähnt, bedienten Arbeiter nicht allein ihre Maschinen und Werkzeuge, sie kooperierten nicht nur in unterschiedlicher Weise, sie lebten auch für viele Stunden zusammen. In den Formen des Miteinander-Umgehens und des körperlichen Kontakts untereinander lassen sich Reaktionen auf die Unwägbarkeiten erkennen.

Beginnen möchte ich mit einem Zitat des »teilnehmenden Beobachters« Göhre: Die Gemeinsamkeit des Arbeitsprozesses führte »die Leute schnell, häufig und nahe aneinander und zwang sie zu dauerndem gegenseitigen Verkehr. Dieser war nun selbstverständlich besonders rege zwischen Gleichaltrigen, Arbeitsnachbarn und den Leuten derselben Kolonne, derselben Montage, desselben Meisters. Hier wurde er von selbst häufig intimer; und jede Gelegenheit zu einem längern oder kürzern Zwiegespräch wurde dann fleißig benutzt.« (Göhre, 1891, S. 76) Göhre berichtete, daß zu den Gesprächsthemen die Neuigkeiten über Kollegen und Ereignisse in der Fabrik, in anderen Galerien oder Werkstätten ebenso gehörten wie Pläne für das kommende Wochenende; ganz wichtig war stets das Wohlergehen der Kinder. Von Zeit zu Zeit wurde auch, wie Göhre schreibt, über »ernste Dinge« geredet wie »religiöse, wirtschaftliche, politische und über Bildungsfragen«. Es scheint jedoch, daß die nicht-sprachlichen, körperlichen Kontakte besondere Bedeutung hatten. Göhre notierte:

»Vor allem aber scherzte, neckte und balgte man sich herzlich gern, wo immer es anging. Überall suchte man unter guten Bekannten, die solche Neckereien verstanden, einander etwas auszuwischen: so warf man den achtlos vorübergehenden aus einem Versteck mit Thon, zog ihm heimlich die Schleife seiner Schürze auf oder in der Pause das Brett unter dem Sitze weg, stellte sich plötzlich einander in den Weg oder ›meinte es miteinander gut.‹ Dies Gutmeinen pflegte gern am Ende der Woche von ältern Leuten zu geschehen, die einen starken Bartwuchs hatten und sich, wie es im Volke heute kaum noch viel verbreitete Sitte ist, nur einmal in der Woche, des Sonnabends Abend oder des Sonntags Morgen rasierten. So einer mit genügend langen harten Stacheln im Gesicht nahm dann plötzlich ein um Kinn, Backen und Lippen noch zarteres Kerlchen beim Kopf und rieb blitzschnell seine Wange an der jenes mehrmals hin und her, wodurch gerade kein angenehmes Gefühl hervorgerufen werden sollte. Wenn der so Liebkoste zur Besinnung kam, war der Übelthäter längst davon. Noch ungemütlicher war ein anderer Spaß, den man an mir glücklicherweise nur einmal ausprobierte, das sogenannte ›Bartwichsen‹. Da lehnt einer vielleicht achtlos an einem Pfosten, eben zufällig ohne bestimmten Arbeitsauftrag. Zwei andere sehen den Arglosen stehen; ein gegenseitiger Blick des Einverständnisses, und der eine tritt von hinten an ihn heran, umschlingt ihn mit den Armen, so daß jener sich nicht mehr rühren kann; unterdes umfaßt der andre mit seinen zwei schwarzen, schmutzigen Händen von vorn das Gesicht des Überfallenen und streicht nun mit aller Gemütsruhe mit den festangepreßten Daumen den Schnurrbart des Wehrlosen auseinander, was, wie ich versichern kann, sehr schmerzhaft ist. (…) Unter intimern Bekannten bleibt keiner davon verschont, und jeder wurde ohne Unterschied des Alters heimgesucht.« (Göhre, 1891, S. 77f.)

Diese Schilderung vermittelt einen lebhaften Eindruck von der Intensität wie der Permanenz nicht-sprachlichen sozialen Umgangs zwischen denen, die zusammen arbeiteten, die für lange Stunden zusammen lebten.

Dabei gründeten sich die jeweils kurzen interaktiven Zwischenspiele auf körperlichen Kontakt, und dazu gehörte auch physische Gewalt. Die Auseinandersetzung um die Kontrolle über den eigenen Körper ›spielte‹ gleichermaßen auf mehreren Ebenen. Es ging um Entwicklung, Festigung oder Abbruch sozialer Beziehungen; zu demonstrieren waren Handfertigkeit und Geschicklichkeit. Unerläßlich war körperliche Stärke, wenigstens unter den Männern in dieser Phase des Industriekapitalismus im späten 19. Jahrhundert. Natürlich drückten die Beteiligten in diesen Interaktionen ebenso soziale Hierarchien aus, so wie sie »typisch« männliches Verhalten zur Schau stellten.8