Wie Bodo K. die Welt veränderte - Herbert M. Winter - E-Book

Wie Bodo K. die Welt veränderte E-Book

Herbert M. Winter

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Beschreibung

Es begann alles ganz harmlos. Doch als Bodo K. aus seinem Mittagsschlaf auf dem Monte Baldo erwachte, war nichts mehr wie zuvor. Die Welt sollte eine andere werden.

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Seitenzahl: 218

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„Seht! Ich zeige Euch den letzten Menschen. Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht“.

„Also sprach Zarathustra“, Friedrich Nietzsche

„Endlich Platz“

unbekannt

Schade Kurt

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

1

Alles begann vor 30 Jahren.

Es war ein beschissener Tag im Büro. Der kleine Abteilungsleiter Bodo K., mittelgroß, mit blondem, schon leicht schütterem Haar, eher unscheinbar, leitet die kleine Abteilung „Kfz-Diebstahl“. Kein wirklich aufregender Job für ihn und seine fünf Mitarbeiter. Eher alles Routine.

Nur die Zahl der Fälle, sprich die Diebstähle, nimmt zu, dank der „keyless-go-Systeme“. Geradezu eine Einladung für Profis, hochwertige Autos zu stehlen. Und davon machen sie ausgiebig Gebrauch.

Bei diesen schlüssellosen Türöffnern sendet der Schlüssel in der Hosentasche einen elektronischen Impuls, signalisiert dem Auto, dass der rechtmäßige Besitzer kommt, öffnet die Tür und lässt sich anschließend starten. Eine nette Erfindung, die Bodo K. den Arbeitsplatz sichert.

Der Dieb kann nämlich mit einem Reichweitenverlängerer den Code des im Haus oder in der Wohnung liegenden Schlüssels auslesen, in einen Passepartout übertragen und damit das Auto geräuschlos öffnen und wegfahren. Erst diese Woche hatten sie wieder sechs neue Fälle auf dem Tisch.

Die Tür knallt auf, alle in dem Großraumbüro fahren herum. Der Hauptabteilungsleiter kommt strammen Schrittes herein, baut sich vor Bodo K. auf und blickt verärgert auf ihn herunter. Der springt auf.

„Herr K.“, knurrt laut der Hauptabteilungsleiter (er ist der Einzige weit und breit, der laut knurren kann) „haben Sie sich mal die Fallzahlen dieses Jahres angesehen. Die Schadensfälle in Ihrer Abteilung sind um sage und schreibe 22% gestiegen“. Pause.

„Ich gehe mal davon aus, dass Ihnen das bereits aufgefallen ist und dass Sie darüber nachgedacht haben, was dagegen zu tun ist“. Pause. „Nein – dacht ich’s mir“.

Bodo K. ist wie erstarrt. Schon als die Tür aufknallte und er seinen Hauptabteilungsleiter sah, sackte ihm das Blut aus dem Kopf. So geht ihm das immer, wenn er Unheil erwartet. Er kriegt dann keinen klaren Gedanke mehr zu fassen. Als würde ein Schalter in seinem Gehirn auf „außer Betrieb“ umstellen. Er kann seinen Chef nicht mal ansehen, sondern starrt mit seinen graublauen Augen Antworten suchend auf seinen Schreibtisch.

Meier von „A – K“ will ihm zu Hilfe kommen. „Die Schadensfälle sind bei allen Versicherern angestiegen“, wirft er in den Raum.

„Ich kann mich nicht erinnern, mit Ihnen gesprochen zu haben“ blafft der Hauptabteilungsleiter.

„Herr K., von Ihnen erwarte ich, dass Sie nicht nur Fälle abwickeln, sondern sich auch überlegen, wie Sie den Schaden, den unser Unternehmen zu tragen hat, minimieren können. Ich will zeitnah Ihre Vorschläge sehen“. Er schnauft noch mal missbilligend, dreht sich um und geht rasch, wobei er die Tür natürlich offen lässt.

Alle schauen auf Bodo K., warten auf irgendeine Reaktion. Doch der starrt nur weiter auf seinen Schreibtisch, wie gelähmt.

Meier macht die Tür zu „da werden wir uns etwas einfallen lassen müssen“.

Bodo schaut waidwund in die Runde, blickt in ablehnende bis mitleidvolle Augen. Mechanisch hat er sich hingesetzt. Jetzt steht er wieder auf, packt seine Sachen und verlässt das Büro.

Natürlich ist ihm klar, dass er sich absolut falsch verhält. Er könnte sich schon für seine Passivität bei dem polternden Auftritt seines Chefs ohrfeigen. Aber er kann nicht dagegen an. Hat es schon hundertmal versucht.

Der reibt sich die Hände und lächelt bissig vor sich hin, als er in sein Büro zurückgeht.

„Ich muss dem K. Druck machen, seine Abteilung auf Vordermann bringen, die schlafen sonst ganz ein. K. muss weg, ich kann den nicht mehr sehen, mit seiner leidenden Fresse. Und von dem kommt auch nichts, keine Ideen, keine Eigeninitiative. Vielleicht sollte ich den Meier ein bisschen kitzeln, damit der ihn weggrault, weil er Nachfolger werden will“.

So denkt er vor sich hin, während er sich automatisch eine Zigarette ansteckt. „Natürlich auch verboten“, fällt ihm wieder ein. Angeblich schlagen die Rauchmelder an und lösen einen teuren Feuerwehreinsatz aus.

„Na, wer’s glaubt. Alles Schikane. Ich setze mich jedenfalls nicht in diesen schäbigen Raucherraum“. So denkt er übellaunig vor sich hin und macht die Zigarette wieder aus. Es ist ja nicht so, dass er ein tyrannischer Chef sein will. Aber manchmal muss man die Daumenschrauben anziehen, diese Beamtenmentalität greift sonst immer mehr um sich.

Heute hatte er allerdings einen handfesten Grund für seinen Auftrag, denn in aller Herrgottsfrüh kam sein Chef, das „Mitglied des Vorstandes „Sachversicherungen“ zu ihm, um ihn, den Hauptabteilungsleiter „Sach“, darauf hinzuweisen, dass seine Unternehmenssparte, sein Geschäftsfeld, einen Ertragsrückgang von sage und schreibe 8% zu verzeichnen hätte.

Wie soll er das gegenüber dem Gesamtvorstand vertreten. Hier müssten dringend die Gründe eruiert und eine positive Änderung herbeigeführt werden.

Die eindringliche Bitte geht an den Hauptabteilungsleiter, auf den man große Hoffnungen setze, ein vorstandsreifes Strategiepapier zu erstellen. Auch mögliche Synergieeffekte seien in die Betrachtungen einzubeziehen.

Was soll er da machen? Genau – also hat er eine Runde durch seine Abteilungen gedreht und die alle mal auf Vordermann gebracht. Schließlich will er in drei bis vier Jahren selbst in den Vorstand.

2

Bodo K. ist mittlerweile in seinen Passat gestiegen, fährt aber nicht los. Er hat den Kopf auf das Lenkrad gelegt. Ihm ist schlecht, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

„Ich bin jetzt 44 Jahre alt“, grübelt er vor sich hin, „44 Jahre, habe eine solide Ausbildung als Versicherungskaufmann, sogar an der Versicherungsakademie studiert und komme trotzdem nicht voran, im Gegenteil.“

Er fühlt deutlich, dass ihn der Hauptabteilungsleiter absägen will. Und Druck verträgt er überhaupt nicht. Das verursacht ein ständiges Magenkribbeln bei ihm, das ihn lähmt, regelrecht paralysiert.

Nach Hause will er nicht, kann er jetzt noch nicht. Er beschließt an den nahe gelegenen Rhein zu fahren und dort spazieren zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber er kommt nicht auf andere Gedanken. Ganz im Gegenteil. Er ahnt ja woran es liegt, dass er so wenig Rückgrat hat, dass er so schnell einknickt. Sein Vater hat einen Großteil dazu beigetragen. Er war Installateur, ein ziemlich guter, so weit er das weiß. Die Woche über unterwegs auf verschiedenen Baustellen, mit seinen zwei Leuten, Bernd und Willi. Am Wochenende zu Hause. Samstag war immer „Haustag“, wie er es nannte. Da machte er Arbeiten an seinem eigenen Haus. Damit auch der Bub etwas lernt. Er soll ja schließlich mal die Firma übernehmen. So wurde Bodo, der Bub, als 13, 14-jähriger, Assistent seines Vaters.

„Die Schraube nicht zu fest anziehen, gibt sonst Spannung. Gib mir mal den Inbusschlüssel, nein nicht den, das ist doch kein Inbusschlüssel, dort, den 8er. Nein, das ist doch nicht der 8er. Kannst Du denn nicht den 6er von einem 8er unterscheiden. Herrgott, Wilma, das wird nie etwas mit dem. Wie soll der denn mal in meinem Laden arbeiten?“

So ging das fast immer. Es graute Bodo schon vor dem Samstag. Er hasste diesen ganzen Handwerkskram. Nie, niemals werde ich so was später machen.

Wenigstens da hatte Bodo K. Standfestigkeit und auch Geschick bewiesen. Er fing nämlich frühzeitig an, seine Mutter auf seine Seite zu ziehen. Das erwies sich als Segen. Er durfte sein Abitur machen und dann etwas lernen, bei dem man keine dreckigen Hände bekam.

Vater war stinkesauer „Du wirst auch dort Deinen Mann stehen müssen und da sehe ich schwarz“. Das hatte er ihm noch mit auf den Weg gegeben. Danach wurde das Thema nicht mehr angesprochen. Aber es war in ihm drin. Immer wieder kommen diese Selbstzweifel in ihm hoch. Und er kann nicht dagegen an, kann nur so tun als ob.

Auch mit seiner Familie steht es nicht zum Besten. Vor allem mit seiner Frau hat er so seine Probleme. Ihm fällt wieder die Szene ein, als er vor ein paar Jahren früher nach Hause gekommen war. Warum, weiß er nicht mehr.

Er hatte die Haustür aufgeschlossen und schon im Flur die keifende Stimme seiner Schwiegermutter gehört „…mal an, was aus Dir geworden ist. Du warst eine begabte Pianistin, die Welt hätte Dir offen gestanden. Und jetzt hockst Du hier, in diesem kleinen Häuschen, machst sauber und wäschst für diesen… diesen…“.

Bodo stand immer noch im Flur. Die Aktentasche in seinen verkrampften Händen. Äußerlich ruhig, nur seine Halsschlagader pochte etwas stärker und als er seine Tasche abstellte, zuckte seine rechte Hand unkontrolliert. Er machte drei hastige Schritte in die Küche. Dort stand sie – seine Feindin, seit er sie kannte. Ihr hochroter Kopf, sonst mit gackernden Bewegungen, um ihre ewigen Tiraden zu unterstützen, war zu ihm herumgezuckt.

„Loser“ sagte Bodo.

„Was?“ fragte der Kopf.

„Loser“ ist das Wort, das Du suchst. Und ich möchte Dich bitten, jetzt zu gehen“. Bodo’s Augen waren dunkel vor Zorn.

„Nur damit eines klar ist“ der Kopf zuckte nach vorn „ich habe meine Tochter besucht und nicht Dich“ und ihre Hände ruderten durch die Gegend.

„Mama jetzt beruhige Dich mal. Ich glaube, es ist wirklich am besten, wenn wir uns ein anderes Mal weiter unterhalten“.

Der Kopf ruckte hin zur Tochter, her zum Schwiegersohn, schnaubte noch einmal auf und verschwand durch die zuknallende Haustür.

„Weiter unterhalten“ Bodo starrt verärgert auf seine Frau „unterhalten nennst Du das?! Ich nenne das üble Beschimpfung, Stimmungsmache. Du hättest Deiner Giftkröte ruhig mal etwas erwidern können“.

„Erstens bin ich gar nicht dazu gekommen und außerdem – so ganz unrecht hat sie ja nicht. Schließlich habe ich das Klavierspielen für Dich aufgegeben“.

„Du hast das Klavierspielen für mich aufgegeben?! Das ist ja wohl das Letzte! Du hast aufgehört, als die Kinder kamen. Und über die Frage, wer sich um Haus und Kinder kümmert, haben wir doch damals ausgiebig gesprochen. Einzig und allein ausschlaggebend war doch, dass ich mehr verdient habe und wir ein stabiles Einkommen brauchten“.

Bodo ist zutiefst empört.

„Ja und, was ist jetzt mit Deinem so großartigen Einkommen? Nix ist, wir haben nie genug Geld. Jeden Cent muss ich zweimal umdrehen und ohne meine Klavierstunden und ab und zu mal ein paar Euro von meiner Mutter kämen wir überhaupt nicht rum“.

Ihre Augen ruhen verächtlich und auffordernd zugleich auf Bodo. Sie weiß, dass sie seine Schwachstelle getroffen hat. Und er weiß es auch. Er schrumpft, nickt resignierend, dreht sich noch einmal um, Luft holend, als wolle er etwas sagen, und zieht sich in seinen Keller zurück.

Ja, denkt er jetzt, damals fing es an. Seine Frau kann ihm wunderbar ein schlechtes Gewissen verschaffen, weil der Boden in ihm bestens vorbereitet war.

Er hatte sich nach dieser Auseinandersetzung auf den intern ausgeschriebenen Posten des Abteilungsleiters beworben und ihn entgegen aller Erwartungen auch bekommen. Was hatte ihm das gut getan. Allerdings betrug der Mehrverdienst gerade mal 300 Euro im Monat, brutto. Seine Frau tat das mit einer verächtlichen Handbewegung ab. Er war immer noch der „Loser“, aber jetzt diesem Beißer von Hauptabteilungsleiter ausgeliefert.

Er ist kurz davor, in sein vertrautes Selbstmitleid zu verfallen. Dann gibt er sich einen Ruck. Du bist Abteilungsleiter, sagt er sich, also fang endlich an, wie eine Führungskraft zu denken. Und er denkt, beschließt, gleich morgen Vormittag einen kleinen workshop mit seinen Mitarbeitern zu machen, ein brainstorming.

Dann soll Meier, nein nicht Meier, der ist ihm zu eifrig, besser Frau Grohe, eine Zusammenfassung machen. Daraus wird er ein Konzept entwickeln. Das sollte bis Freitag fertig sein. Am Wochenende wird er noch mal darüber nachdenken und es am Montag, nein lieber am Dienstag, dem Hauptabteilungsleiter präsentieren.

Ja, so will er es machen. Und danach wird er in aller Ruhe die Lage auf dem Arbeitsmarkt sondieren. In dieser Firma, mit diesem Chef, hat er keine Perspektive.

Er ist jetzt erstmal erleichtert, dass er immerhin einen Plan hat, der sich auch noch ganz vernünftig anhört. Gleich morgen früh will er das angehen. Und wenn das alles geklappt hat, vielleicht schon Ende nächster Woche, fährt er ganz alleine, ohne Familie, an den Gardasee und entspannt dort ein paar Tage. Man sollte sich auch mal selbst belohnen. Es geht ihm jetzt schon wieder besser.

Gegen 6 Uhr abends ist er wie üblich zu Hause. Er wohnt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, Eva und Chris. 8 und 10 Jahre alt, in einem kleinen Reihenhaus in der Nähe von Wiesbaden. Sie haben es vor acht Jahren gekauft. Es war günstig, sonst hätte er sich das gar nicht leisten können. Trotzdem haben sie noch jede Menge Schulden.

Zu seinen Kindern hat er ein zumindest in letzter Zeit, nun ja, ein irgendwie zwiespältiges Verhältnis. Als sie noch kleiner waren, also noch nicht zur Schule gingen, unternahmen sie am Wochenende immer mal was zusammen. Besonders gefragt war der Zoo. Daran erinnert er sich noch gut.

Ihr schauderndes Interesse galt vor allem den Großkatzen, ganz vorne die Löwen. Schon zu Hause noch heizte er Chris und Eva mit martialischem Gebrüll, den Löwen imitierend, an. Sie rannten dann mit Entsetzensschreien und aufgestellten Nackenhaaren durchs Haus. So eingestimmt konnten sie es gar nicht mehr abwarten, vor das Löwengehege zu kommen.

Dort standen sie mit vor Spannung angehaltenem Atem und starrten voll freudiger Angst auf den einzigen Löwen mit der großen dunklen Mähne. Normalerweise döste der, wie sein ganzes Rudel, faul in der Sonne. Aber ausgerechnet bei ihrem allerersten gemeinsamen Besuch im Zoo lief der riesige Löwe unruhig herum und brüllte plötzlich markerschütternd in Richtung der Kinder.

Bodo hätte es nicht besser inszenieren können. Chris und Eva schrieen auf, sprangen entsetzt ein paar Schritte zurück und klammerten sich an Bodo. Wochenlang war dieser einzige Löwenbrüller das beherrschende Thema. Immer wieder musste Bodo zu Hause den Löwen geben. Die Kinder kreischten schon vor Vergnügen, wenn er auch nur die beiden Arme wie Tatzen angewinkelt an seine Brust legte.

Aber der Löwe brüllte nie wieder und das Interesse nahm mit der Zeit ab. Irgendwann später war Bodo dann aufgefallen, dass er mit seinen Kindern besonders dann gut klar kam, wenn er mit ihnen alleine unterwegs war. Sobald seine Frau mitkam, lief alles anders. Jetzt wurde sie gefragt, sie entschied wo man hinging, wo gegessen wurde, wann man nach Hause aufbrach. Er war nur noch dabei, ein Mitläufer.

Woran das lag, war ihm nicht so recht klar. Eigentlich bis heute nicht. Aber er hatte sich in diese Rolle eingefügt. Anfänglich versuchte er noch, sich mit eigenen Ideen einzubringen, aber seine Frau hatte immer irgendetwas daran auszusetzen. Und schließlich gab er auf.

„Du verdienst einfach nicht genug“ sagt sie ihm, wenn das Konto mal wieder überzogen ist und er ihr zarte Vorhaltungen macht. „Wie soll ich mit dem bisschen Geld auskommen. Die Kinder brauchen Schuhe und Sportsachen für die Schule und ich möchte mir auch ab und zu etwas Neues kaufen. Sieh endlich zu, dass Du an Deiner Karriere arbeitest“. So oder so ähnlich geht das jetzt schon seit einigen Jahren.

Oh, er hasst sie dafür. „Versager“ hat sie zwar noch nicht zu ihm gesagt, aber es liegt in der Luft. Auch ihr Umgang mit den Kindern macht ihn wütend. Sie ist oft ungeduldig, kritisiert immer wieder an ihnen herum, hat selten ein liebes Wort für sie. Erst gestern hatte sie die 8-jährige Tochter bösartig angepflaumt, weil sie den Abendbrottisch nicht richtig eingedeckt hatte. Dabei liegt sie wahrscheinlich den ganzen Nachmittag auf der Couch und guckt sich diese dämlichen Kochshows an. Er hatte nicht mehr hervorgebracht als „das muss jetzt aber wirklich nicht sein“.

Worauf sie mit ihrer in letzter Zeit immer keifigeren Stimme ein „halt Du Dich da raus, Du bist ja eh den ganzen Tag nicht da“ ausstieß. Und er hatte wieder mal zurückgesteckt. Überhaupt fallen ihm zunehmend Parallelen zu seiner verhassten Schwiegermutter auf.

Das Abendessen verläuft dann in bleierner Stummheit. Die Stille lastet wie ein riesiger Felsbrocken auf ihm, auch weil er das Gefühl hat, er müsste als Vater eine andere Rolle spielen. Irgendwie ausgleichen, Freude vermitteln, Souveränität ausstrahlen. Er kann das nicht.

Stattdessen bringt er dann später die Kinder ins Bett und versucht gute Stimmung zu machen. Sie schauen ihn nur schweigend an, und er kann in ihren Augen lesen, dass sie ihn für schwach halten. Kein Bestimmer, kein Vater, der ihnen ein gutes zu-Hause-Gefühl vermitteln kann. Wenn er darüber nachdenkt, und das tut er manchmal in einer ruhigen Minute, dann fühlt er sich absolut mies, so leer, wie ein ausgetrocknetes Flussbett.

Auf erschreckende Weise wird ihm deutlich, dass es so nicht mehr weiter gehen kann. Er entfremdet sich nicht nur von seiner Frau, sondern auch immer mehr von seinen Kindern. Vielleicht sollte er auch über seine familiäre Situation mal nachdenken und einen Plan fassen. Italien wäre eigentlich eine gute Gelegenheit.

Danach zieht er sich auf die Fernsehcouch zurück. Heute gibt es „house of cards“, eine seiner Lieblingsserien. Vor allem, weil der jetzt „Mister President“ gewordene ehemalige Fraktionschef ein so imponierendes Durchsetzungsvermögen hat. Das hätte er auch gerne.

Ein paar Mal schon hatte er versucht, natürlich nur zu Hause, das Verhalten zu imitieren. Aber seine Frau hatte ihn nur spöttisch angesehen. “Spinnst Du jetzt völlig“ war ihre einzige Reaktion.

Jetzt steht sie plötzlich neben ihm und schaut ihm über die Schulter. „Schau Dir doch mal die Kleider an, die die trägt. Und wie die leben. Die brauchen bestimmt nicht jeden Cent umzudrehen“.

Er ist versucht ihr zu sagen, dass das ja auch der Präsident der Vereinigten Staaten sei. Denkt dann aber, bringt eh nichts und schweigt vor sich hin.

***

3

Eine Woche später macht er sich auf den Weg Richtung Italien. Das brainstorming hatte in der Tat einige gute Ansätze gebracht und sein Konzept, das er am Dienstag dem Hauptabteilungsleiter vorgestellt hatte, kam gut an. So gut, dass der ihm einen anerkennenden Blick zuwarf, mit der Bemerkung „hätte ich nicht erwartet. Das sind ja ganz brauchbare Ideen“.

Bodo K. konnte es nicht verhindern – er fühlte so etwas wie Stolz, wie ein kleiner Junge. Und ärgerte sich gleichzeitig, dass er als 44-jähriger Mann so empfand. Aber jetzt war das egal. Er wollte diese Fahrt nutzen, um nicht mehr an seinen Job zu denken.

Hinter München nimmt er die Ausfahrt „Tegernsee“, fährt rechts herum, um die überlaufenen Orte zu meiden und macht sich auf den Weg zum Achensee. Der vier Jahre alte Passat schnurrt gemütlich vor sich hin. Die Sonne scheint und er fühlt sich rundherum wohl. Keiner knurrt, Keine keift und er freut sich schon mal auf sein Mittagessen.

Seit Jahren fährt er auf seiner Tour nach Italien hier vorbei, isst in einem kleinen Lokal direkt am See, immer das Gleiche. Rahmschnitzel mit Bratkartoffeln. Er mag diese Vorhersehbarkeit.

Den grünen See vor sich, die Berge dahinter, überkommt ihn eine tiefe Ruhe. Er hatte schon immer eine große Vorliebe für Wasser und Berge.

Das ist auch der Grund für seine Liebe zum Gardasee. Schon von jeher fühlte er eine tiefe Zuneigung zu Italien, vor allem Norditalien. Es waren nicht nur die wunderschönen Landschaften, das mediterrane Klima oder das Essen. Diese Beziehung ging tiefer, ohne dass er sie erklären könnte. Vielleicht kamen seine Vorfahren aus Italien, trotz seiner blonden Haare. Jedenfalls erfüllte ihn eine tiefe innere Harmonie, wenn er die schroffen Berge hinter dem immer wieder seine Farben verändernden See sieht. Besonders die im Abendlicht wundervoll abgestuften Schatten vor dem dunkel glitzernden See und den mystischen Lichtern am Seeufer haben es ihm angetan.

Nach dem Essen trinkt er noch einen Espresso, steigt in sein Auto und nimmt die letzten 300 km in Angriff.

In Affi fährt er von der Autobahn runter. Es ist jetzt richtig warm. Er macht das Fenster auf und genießt die milde Luft. Als er in Costermano den Berg runterfährt und zum ersten Mal seit einem Jahr wieder den Gardasee erblickt, wird ihm ganz warm ums Herz. Es ist, als käme er nach Hause.

Hier hat er für die paar Tage oberhalb von Garda in einem kleinen Hotel mit Blick auf den geliebten See und einem für italienische Verhältnisse ordentlichen Frühstück ein Zimmer gebucht. Seine Probleme liegen jetzt erstmal weit hinter ihm. Seit langer Zeit fühlt er sich wieder rundherum wohl.

Am nächsten Tag gönnt er sich ein ausgiebiges Frühstück, sogar mit Rührei (das hier treffend „strapazzato“ heißt) und Bacon. Er sitzt auf der Terrasse, lässt sich von der am Morgen noch milden Sonne bescheinen und genießt den Ausblick.

Nach dem Frühstück beschließt er, einen Ausflug auf den Monte Baldo zu machen. Er will heute über nichts nachdenken. Hat eh die Erfahrung gemacht, dass Probleme emotionaler Art besser vom Unterbewusstsein als vom Verstand gelöst werden.

Er fährt die Uferstraße entlang, der See liegt direkt links von ihm. Auf der Höhe von Malcesine sind bereits jede Menge Surfer und Kiter unterwegs. Er beneidet sie.

Kurz nach Salo biegt er in das Monte Baldo-Gebiet ab. Eine Traumstrecke mit grandiosem Blick in die Bergwelt Norditaliens. Auf kleinen, kurvenreichen Sträßchen geht es immer höher. Die Landschaft verändert sich – in den unteren Regionen des mächtigen Bergmassivs finden sich vor allem große Olivenhaine und Steineichen. Je weiter Bodo nach oben fährt, um so spärlicher wird die Flora. Mächtige Felsbrocken liegen am Straßenrand. Zum Glück ist wenig Verkehr. Nur gelegentlich begegnen ihm Motorradfahrer. Vereinzelt sieht er auch Leute, die sich mit ihrem Fahrrad hoch kämpfen. Müssen Profis sein.

„Hier mit einem kleinen Sportwagen hochzudüsen“ denkt er, „das wäre ein Traum“.

Sein Ziel ist die Trattoria „Bocca di Navene“, oberhalb von Malcesine in 1.800 m Höhe. Direkt auf ein Felsplateau gebaut. Mit fantastischer Aussicht – wenn das Wetter mitspielt. Heute ist das so. Er sitzt auf der Terrasse und kann bis auf den Gardasee herunterschauen, auch der kleine Ort direkt am Ufer ist gut zu erkennen. Im Schatten ist es zwar noch kühl, aber die Sonne scheint und hier sind es angenehme 25°.

Er isst eine Kleinigkeit zu Mittag, trinkt ein Viertel Vino de la Casa und macht danach einen kurzen Spaziergang. Nach etwa einer halben Stunde findet er ein schönes sonniges Plätzchen auf einer kleinen Lichtung. Er legt sich in die wärmende Sonne und schläft ein.

***

4

Als er aufwacht ist er völlig benommen. Hat drückende Kopfschmerzen. Als wäre ein Luftkissen in seinem Kopf, das immer weiter aufgepumpt wird. Er stöhnt leise auf, massiert sich die Schläfe. Das hilft ein bisschen. Dennoch braucht er eine Weile, sich zu orientieren.

Dann fällt ihm auf, dass es kalt ist, richtig kalt, nur ein paar Grad über Null. Zwar scheint die Sonne, aber irgendwie hat er das Gefühl, dass es nicht Spätnachmittag ist, sondern früher Morgen. Er kann doch nicht die ganze Nacht hier gelegen haben.

Sein Blick fällt auf seine Kleidung; zwar ist sie nicht mehr ganz sauber, sieht aber auch nicht so aus, als hätte er eine ganze Nacht darin geschlafen. Er kann sich keinen Reim darauf machen und läuft erstmal zur Trattoria, um sein Auto zu holen.

Auf den ersten Metern fühlen sich seine Beine an, als wären sie aus Gummi. Mehrfach muss er sich an einem Baum abstützen.

Die Trattoria ist geschlossen, aber sein Auto steht noch da. Erleichtert lässt er sich in den Sitz sinken. Dann fällt sein Blick auf die Autouhr – es ist kurz nach 7.00 Uhr. Also hat ihn sein Gefühl doch nicht getäuscht. Er muss die ganze Nacht hier oben gelegen haben.

Er fährt zunächst zu seinem Hotel am Gardasee zurück. Die schmalen, unübersichtlichen Sträßchen, bei denen man an jeder Kurve mit Gegenverkehr rechnen muss, nimmt er gar nicht wahr. Zu sehr ist er mit dem Rätsel der mysteriösen Nacht beschäftigt.

Nach gut zwei Stunden ist er da, verspürt plötzlich wütenden Hunger und will an der Rezeption vorbei in den Frühstückraum gehen. Doch die Frau aus der Rezeption kommt ihm aufgeregt entgegen.

„Signore, wir haben Sie schon vermisst und die Polizei eingeschaltet und auch Ihre Frau angerufen. Wo waren Sie denn?“

„Ist das nicht etwas übertrieben – nur weil ich eine Nacht nicht hier war“ entgegnet Er. Sie schaut irritiert „wieso eine Nacht, Sie sind seit 3 Tagen verschwunden!“

***

5

Er hat sich dann auf sein Bett gelegt, zuvor aber noch seine Frau angerufen. Versucht, ihr das Ganze zu erklären, was er sich selbst nicht erklären kann. „Ich weiß nicht, was Du da treibst, es ist mir auch egal, aber erzähl mir nicht so einen Unsinn“, das war ihre Reaktion. Er legte dann einfach auf.

Gefrühstückt hat er auch, eher verschlungen, während er die ganze Zeit versucht, irgendeine Art von Logik in die Sache zu bringen. Vergeblich. Ich habe drei Tage dort oben gelegen, ging ihm immer wieder durch den Kopf. Drei Tage, wie soll denn das möglich sein? Erstens kann man gar nicht so lange schlafen und zweitens hätte ich an Unterkühlung sterben müssen. Denn nachts ist es dort oben noch richtig kalt. Das passte alles nicht zusammen. Drei Tage, leiert es immer wieder in ihm.

Jetzt liegt er also auf dem Bett, ist plötzlich todmüde und kann dennoch nicht schlafen. Stattdessen hat er Visionen. Visionen von einem kleinen Gerät mit irgendwelchen Steinen, besonderen Steinen, das weiß er genau, und Wasser, das irgendwie durch diese Steine gepresst wird und irgendwie ist das auch ganz wichtig und er weiß auch, wo es diese besonderen Steine gibt, und dann schläft er doch ein.

Als er wieder aufwacht ist er unruhig, ja merkwürdig bedrängt. Er muss etwas tun und er weiß auch schon was. Eigentlich wollte er heute ins Valpolicella-Gebiet fahren und eine Kiste Ripaso kaufen. Aber das muss dieses Jahr ausfallen. Er hat eine Aufgabe, eine wichtige Aufgabe.