Wie das Schimmern im Morgenrot - Kristina L. Sey - E-Book

Wie das Schimmern im Morgenrot E-Book

Kristina L. Sey

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Beschreibung

»Ich schwöre dir, mein Licht, ich werde immer auf dich aufpassen. Wir sind doch eins.« Eine jahrhundertalte Prophezeiung stellt das Leben der fünfzehnjährigen Sera und des fünf Jahre älteren Davis' auf den Kopf. Sie kündigt ein Liebespaar an, das mit einem gemeinsamen Herzen verbunden ist und dessen Liebe das Böse vernichten soll. Obwohl beide eine vollkommen neue Welt kennenlernen, fällt es ihnen schwer, sich in ihre vorherbestimmten Rollen einzufinden - bis sie begreifen, dass man vor dem eigenen Schicksal nicht fliehen kann.

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Seitenzahl: 424

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Kristina L. Sey wurde im Jahr 1988 geboren und lebt mit ihrem Sohn an der Nordsee.

Die humorvolle Fantasy - und Romantikautorin widmet sich schon seit ihrer Kindheit dem Schreiben und begann bereits mit elf Jahren, ihre eigenen mystischen Fantasywelten zu erschaffen.

Bei der Entstehung ihrer Werke sind Optimismus, eine Menge Kaffee und lange Spaziergänge am Strand unabdingbar, vor allem wenn sie mal wieder vor dem Manuskript verzweifelt. Dann schafft sie es aber doch, mit viel Liebe und Leidenschaft zur Literatur weiterzuschreiben.

Wie das Schimmern im Morgenrot ist eine Neuauflage ihres ersten veröffentlichten Romans Morgenrotschimmern, der zuvor bei einem Kleinverlag erschienen ist. Mit ihrem Herzensprojekt, der Finsternis im Licht Reihe, möchte die Autorin allerdings nun nochmal im Selfpublishing neu durchstarten.

Sie erreichen die Autorin via E-Mail unter [email protected]

Für alle, die niemals aufgeben, sondern für ihre Träume weiterkämpfen.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

EPILOG

PROLOG

Liebe.

Ein gigantisches, ein mächtiges Wort.

Man sagt, sie könne alles überwinden. Die dunkelsten Täler, gespickt mit Dornenbüschen, in denen kein Ausweg zu finden ist. Die höchsten Berge, die niemand allein erklimmen könnte.

Liebe.

Sie holt uns aus den trübsten Gedanken, die sich mit Widerhaken Stück für Stück in unsere Seele gebohrt haben.

Niemand weiß, welche Wunder sie hervorbringen wird. Überwindet sie die Kälte? Überwindet sie den Schmerz? Bringt sie die verloren geglaubte Glückseligkeit zurück? Wird sie selbst die schlimmste Finsternis vertreiben, die sich wie ein Gespenst an uns gekettet hat?

Liebe.

Wir brauchen sie.

Ihr Glanz bringt das Licht hervor. Wie die aufgehende Sonne das Morgenrot.

Und eines ist gewiss: Mit Liebe beginnen die wundersamsten Geschichten …

1

Lakewood, Ohio 5. November 2015

Wer Sera Baker beschreiben müsste, würde sagen, dass überdimensional gute Laune, gepaart mit ultimativer Albernheit und mehr als einer Prise positiver Gedanken in den Körper einer Fünfzehnjährigen eingezogen waren. Sie gehörte zu den Menschen, die schon morgens putzmunter aus dem Bett hüpfen, den Tag mit einem Lächeln begrüßen und jeden Morgenmuffel aggressiv machen.

Von ihrer besten Freundin Stephanie Sullivan dazu überredet, einem tristen Footballspiel des angrenzenden Colleges zuzusehen, stand Sera nun auf der Tribüne. In den Händen hielt sie eine Pappschachtel mit frischen Donuts. Jede Menge Zucker in den Körper zu pumpen, würde den Abend zumindest aufpeppen – und obwohl ihre beste Freundin sie gern als verfressen bezeichnete, glich Seras Körper dem einer Tänzerin.

Das Flutlicht erhellte das Footballfeld und präsentierte die muskulösen Spieler und die aufgetakelten Cheerleaderinnen. Sera seufzte. Wie sehr sie diese aufgeblasenen Typen verabscheute, die nach dem Spiel alles anbaggerten, das nicht bei drei unter dem Gullideckel verschwunden war. Leider war auch Stephanie in den Bann eines Footballspielers geraten, weshalb Sera ihre kostbare Lebenszeit nun hier verschwenden musste.

Der zwanzigjährige Quarterback Davis Madigan war noch dazu der schlimmste Schwerenöter seiner Truppe. Die meisten Mädchen ab Seras Jahrgang verhielten sich in seiner Nähe wie willenlose Zombies, die ausschließlich darauf aus waren, Davis zu verspeisen, nachdem sie ihn mit ihren feuchten Schlüpfern erdrosselt hatten.

Der Wind wurde immer stärker. Er blies gegen Seras Gesicht und verwehte ihr hüftlanges, brünettes Haar in alle Himmelsrichtungen. Während sie nach Stephanie Ausschau hielt, strich sie es sich hinter das Ohr, zog ihre Kapuzenjacke enger und verdeckte damit den ulkigen Cartoon-Print-Pullover, der eher zu einem Mädchen aus der Vorschule gepasst hätte.

Endlich entdeckte sie ihre beste Freundin in der zweiten Reihe. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, dass sie Stephanies feuerrot gefärbtes Haar zunächst übersehen hatte.

Im Gegensatz zu Sera war ihre gleichaltrige Freundin ausgesprochen flippig. Vor allem äußerlich gaben sie ein ungleiches Beste-Freundinnen-Duo ab, und in Stephanies Gegenwart wirkte Sera, als wäre ein Mauerblümchen in die Fänge einer gefährlichen Punkerin geraten – manchmal fühlte sich das für Sera auch so an.

Als Davis in seiner Footballmontur das Spielfeld betrat, zog er Seras Aufmerksamkeit auf sich. Nicht etwa, weil sie von plötzlicher Begierde erfasst worden war, sondern weil sie krampfhaft zu erfassen versuchte, was denn bitteschön an diesem Kerl so toll sein sollte. Ihr Blick hatte sich regelrecht auf ihn geheftet, als sie bei der zweiten Reihe angelangt war. Deshalb verfehlte sie die letzte Stufe und landete am Rand des Spielfeldes auf ihrer Nase und den Donuts.

Ach ja, richtig! Jede Menge Tollpatschigkeit rundete ihr Profil ab.

Ihr Sturz hatte die Aufmerksamkeit der Zuschauer erregt. Sie hob leicht den Kopf. Einige Cheerleaderinnen lachten, und jemand eilte auf sie zu.

Sera blinzelte. Oh nein. Das durfte doch nicht wahr sein!

Sie entschied sich dafür, ihr Gesicht wieder in den Rasen zu stecken.

Der Kerl räusperte sich.

Drei … zwei … eins. Mit Schokolade am Kinn blickte sie zu ihm empor und sah, dass er sich ein Grinsen verkniff.

Er beugte sich zu ihr, und zögernd ergriff Sera die Hand des Helfers.

Die Berührung jagte eine Flut an Wärme durch ihren Körper. Sogar ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie seine Haut an ihrer eigenen spürte. Er zog sie hoch und schaute sie ebenso verdutzt an, wie sie sich fühlte. Rasch ließ er ihre Hand los.

»Hast du dich verletzt?«, fragte er mit angenehm tiefer Stimme.

»Die kann man noch essen!«, gab sie zusammenhanglos zur Antwort und musterte die matschigen Donuts, was Davis ein Lächeln entlockte.

Er nahm seinen Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes, dunkelbraunes Haar. »Du solltest in die Mannschaft eintreten, wenn du die Kontrahenten genauso niederwalzt wie deine Donuts.«

Wahnsinn, sah dieser Mann gut aus!

Halt!

Sera würde nicht zu einem dieser willenlosen Zombieweibchen mutieren. Was dachte sich der muskulöse Adonis eigentlich? Dass er sie mit seiner Retter-in-der-Not-Aktion beeindrucken konnte? So wie die anderen Girlies, die auf ihn abfuhren?

Sie verdrängte diese Gedanken, während sie vor ihm stand und in seine hellbraunen Augen blickte. Deren Farbe erinnerte sie an ein Eichhörnchen, was sie schmunzeln ließ.

Der Frauen-zu-Zombies-machende-Typ kniff die Augen zusammen, nickte – und lief zurück auf das Spielfeld. Sera blickte ihm nach und runzelte die Stirn, bevor sie die Donuts einsammelte.

Nachdem sie sich die Schokolade vom Kinn gewischt hatte, nahm sie endlich neben ihrer besten Freundin Platz.

»Die kann man noch essen!«, äffte Stephanie. »Was anderes ist dir bei Davis Madigan nicht eingefallen?«

»Die Donuts waren eben wichtiger.« Sera schürzte die Lippen und lachte nun ebenfalls über sich.

Wenige Minuten später hatte sie ihre blamable Aktion geübt verdrängt und döste beim Zusehen des Spiels fast ein.

Der Wind hatte mittlerweile nachgelassen, doch jäh streifte sie eine laue Brise, die eigenartig roch.

Lavendel?

Sera richtete sich auf und blickte sich um. Im Schatten der Tribüne entdeckte sie einen Mann. Still wie eine Statue stand er da und schien sie zu beobachten.

Sie sog die Luft ein.

Sie kannte diesen Mann.

Sie hatte ihn schon so oft gesehen.

Irgendwo.

Irgendwann.

Plötzlich fühlte sie sich unwohl. Was hatte er in der Hand? Sera konnte aufgrund der Dunkelheit kaum etwas erkennen. Einen langen Stab? Welcher Mensch, der halbwegs bei Verstand war, lief mit einem meterlangen Stock durch die Gegend?

Sie wusste selbst nicht recht, warum, aber sie hatte das Bedürfnis, gleichzeitig näher zu dem Mann und weiter von ihm weg zu kommen.

Rasch stand sie auf, ignorierte Stephanie, die ihr hinterherrief, drängte sich an den Zuschauern vorbei, und lief in seine Richtung.

Als sie ihn beinahe erreicht hatte, streifte etwas ihre Wange.

Der Mann war verschwunden, doch der Geruch nach Lavendel hing weiterhin in der Luft.

2

Sie weinte.

»Wie lange noch, bis du wieder in meiner Nähe bist? Jeder Tag fühlt sich wie hundert Jahre an, seit wir auseinandergerissen wurden. Du bist der Wächter über mein Licht. Unsere Seelen sind eins. Komm zurück zu mir.«

Schluchzend erwachte sie.

Was zum …

Sera setzte sich auf, strich sich die Tränen aus dem Gesicht und griff sich an die Brust. Der Bereich um ihr Herz fühlte sich merkwürdig an. Als hätte ihr Herz eine eigene Sehnsucht entwickelt, die sie nicht verstand. Für die es keinen Grund gab.

Auf der Bettkante sitzend, massierte sie mit ihren Zeige- und Mittelfingern ihre Schläfen, die sich anfühlten, als hätte jemand die halbe Nacht lang auf ihren Schädel eingedroschen.

Flügelschläge. Dunkle Macht. Licht bringend.

Flügelschläge. Dunkle Macht. Licht bringend.

Flügelschläge. Dunkle Macht. Licht bringend.

Was war das mit dem Alten, der ihr im Traum erschienen war, in diesem vermaledeiten Traum, der sie in letzter Zeit immer und immer wieder plagte? Dem Mann, der eine irritierende Ähnlichkeit mit dem Stocktypen vom Footballspiel hatte. Wirres Zeug hatte er vor sich hingebrummelt. Irgendetwas von Flügelschlägen und einem Licht, das in die Welt gesandt wurde. Sera stöhnte auf und ließ sich zurück in ihr Kissen fallen. Maleficent vor dem Einschlafen anzusehen, war vermutlich keine gute Idee gewesen.

Den Blick zur Decke gerichtet, begann sie zu summen, bis sie stockte. Das war die Melodie aus diesem Traum. Die Klänge eines Wiegenlieds.

Ihr Herz pochte, als hätte sie einen kilometerweiten Dauerlauf hinter sich. Noch immer vernahm sie das schaurige Wispern des runzligen Mannes mit den struppigen, grauen Haaren. Ein monotones Dröhnen, das mit jedem Echo wie eine Nadelspitze in ihren Kopf stach.

Durch das geöffnete Fenster wehte ein kühler Lufthauch, der ihre schmerzenden Schläfen streichelte. Sera kniff die Brauen zusammen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, das Fenster am Abend oder in der Nacht geöffnet zu haben.

Seufzend stand sie auf, schloss die Augen und inhalierte die taufrische Morgenluft. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Schon immer hatte reine, klare Luft diese Wirkung auf sie gehabt.

Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die Straße vor ihrem Elternhaus, die um diese frühe Uhrzeit noch von Laternen beleuchtet war. Das Licht zeichnete Schatten auf den mit Frost bedeckten Asphalt.

Sie schrak zurück. Was war das?

Die düsteren Nuancen hatten sich bewegt!

Langsam trat sie wieder näher ans Fenster heran, doch alles lag still. Sie fasste sich an die Stirn, ehe sie das Fenster schloss und sich abwandte. Sicherlich war der Traum an ihren Einbildungen schuld. Sie musste wirklich aufhören, Fantasy-Filme anzusehen, wenn ihre eigene Fantasie bereits derart ausgeprägt war.

Trotz des rätselhaften Traumes, der ihr seit Wochen Kopfschmerzen bescherte, schlüpfte Sera unbeschwert in ihre Jeans, legte eine bühnenreife Performance hin und grölte lautstark zum Song aus dem Radio mit. Noch während sie mit dem zweiten Bein versuchte, in die enge Hose zu gelangen, hüpfte sie ins Badezimmer, um ihre Zähne zu putzen – Katzenwäsche musste ausreichen.

In Gedanken konnte sie ihre Mom schon meckern hören. Mach nicht solch einen Radau, trödel nicht, du wirst noch zu spät kommen!

Sera schmunzelte. Anne war vierzig Jahre alt und die strengste Mom, die man sich vorstellen konnte. Doch Sera spürte in allem, was Anne tat oder ihr verbat, die Liebe zu ihr. Sera würde es ihr zwar nie rechtmachen können, aber nach fünfzehn Jahren war sie wahrlich alt genug, um mit den Schrullen ihrer Mom umgehen zu können. Immerhin war da jemand, der sich um sie kümmerte. Bei manchen Freundinnen war das ganz anders, und sie bezweifelte, dass sie zufrieden wäre, wenn sich ihre Mom gar nicht für sie interessieren würde. Deshalb konnte sie ihr auch nie richtig böse sein, obwohl ihr Annes Überfürsorge das Leben nicht gerade leichter machte.

Anne behandelte Sera wie ein rohes Ei, was sich auch an diesem Morgen bestätigte.

»Du sollst doch keinen Kaffee trinken!«, mahnte Anne in der Küche, als Sera sich das braune Gold eingießen wollte. »Und überhaupt, wie siehst du denn schon wieder aus?«, fragte sie und zog die Brauen hoch, während sie ihren dunklen Hosenanzug zurechtrückte und ihr schulterlanges, blondes Haar mit den Fingern richtete, damit bloß jede Strähne dort saß, wo sie hingehörte.

Sera stöhnte innerlich auf. Obwohl sie das Schminken heute ausgelassen hatte, war ihre Mom dennoch unzufrieden. Anne war zwar kein Fan von Make-up an ihrer pubertierenden Tochter, die sie nur zu gern in Watte gepackt hätte, doch Seras Hippielook begeisterte sie offenbar noch weniger. Denn welchen Eindruck hinterließ es, wenn die Tochter von Lakewoods Staranwältin Anne Baker wie ein verlotterter Taugenichts aussah? Zumal Sera sich nicht einmal richtig gekämmt hatte und nun wie ein zerzauster Vogel in der Mauser herumlief. Ihr blasser Gesamteindruck – danke, alter Mann! – verbarg sogar ihre tiefgrünen Augen, deretwegen Sera regelmäßig gefragt wurde, ob sie Kontaktlinsen trage. Ihre Augen hatten zudem einen klitzekleinen, hellen Fleck, der ihnen ein Leuchten verlieh, als seien sie der Eingang zu einer gewaltigen Lichtquelle.

Wortlos ignorierte Sera ihre unsensible Mom und lauschte dem morgendlichen Sonderbericht im Radio: »Die Serie an mysteriösen Todesfällen reißt nicht ab. Gestern wurde ein weiterer Toter in der Nähe des Stadtparks aufgefunden. Mit Verweis auf den ausstehenden Obduktionsbericht wurde bestätigt, dass die nunmehr sechs Toten Gemeinsamkeiten aufwiesen, wobei Gemma Harrison, die Sprecherin der örtlichen Polizei, keine Einzelheiten zu laufenden Ermittlungen nennen wollte. Die Polizei rät der Bevölkerung weiterhin, sich nach Sonnenuntergang von verlassenen Straßen und Gegenden fernzuhalten.«

Sera schluckte, und auch Anne hatte innegehalten und schaute ihre Tochter besorgt an.

Sera hob die Brauen, und bevor Anne noch auf die Idee kommen konnte, sie zur Schule zu fahren, gab sie ihrer Mom ein Küsschen, schnappte sich ihre Schultasche und sauste aus dem Haus, das in einer typisch amerikanischen Wohnsiedlung lag. Jedes Gebäude reihte sich viel zu dicht an das des Nachbarn, sodass man dem Nebenmann, wenn man auf der Toilette saß, vom Fenster aus zuwinken konnte. Dennoch mochte Sera ihr Elternhaus mit dem gepflegten Vorgarten, um den sich ihr Dad Marcus kümmerte.

In diesem Moment lenkte er den Wagen aus der Auffahrt, hielt an und ließ die Scheibe hinunter. »Soll ich dich mitnehmen?«

»Danke, Dad«, sie lächelte, »aber ich brauche Bewegung.«

Ohne nervig nachzubohren, wie es ihre Mom getan hätte, nickte er nur, drückte kurz auf die Hupe – und weg war er.

Der Schulweg war auch wirklich nicht weit, manchmal war sie allerdings derart spät dran, dass sie gern auf die Taxidienste ihres Dads zurückgriff.

Heute kam Sera rechtzeitig bei der Lakewood High an. Die Schule war ein großes Backsteingebäude mit einer Front aus mehreren Fenstern und einem geleckten Schulhof, weil der Schulleiter einen Hang zur Sauberkeit hegte, den er den Schülern stets predigte.

Sera summte das Lied aus dem Radio, das ihr einen Ohrwurm beschert hatte, als ein Wagen mit tosendem Motor auf den Parkplatz des benachbarten Colleges einbog und ihr auf dem Bürgersteig den Weg abschnitt. Erschrocken blieb sie stehen, um nicht unter die Räder zu geraten. Aus dem Auto dröhnte laute Metal-Musik – Geschepper, das im Vergleich zu ihrem Gesumme nicht gegensätzlicher sein könnte.

Sie verdrehte die Augen. War ja klar. Diese fette Bonzen-Karre erkannte sie unter tausenden, obwohl sie von Autos so viel Ahnung hatte wie ihre Mom von der Privatsphäre Pubertierender: der schwarze Sportwagen, mit dem Davis Madigan die Gegend unsicher machte.

Sie schüttelte den Kopf, und ein unbekanntes Gefühl packte sie. »Kannst du nicht aufpassen?«, schrie sie über die Distanz eines halben Footballfeldes, nachdem er aus dem Auto gestiegen war.

Tatsächlich stutzte er, wandte sich um und schirmte seine Augen gegen die Sonne ab. »Morgen, Donut-Zerquetscherin!«, rief er, als er sie erkannt hatte. »Sorry, du bist einfach zu winzig, ich hab dich nicht gesehen.« Entschuldigend hob er die Hände und drehte ihr wieder den Rücken zu.

Ihr Herz klopfte. Für das rücksichtslose Verhalten dieses Kerls mochte ihr keine Entschuldigung einfallen.

Ruhig, er ist es nicht wert, sich aufzuregen, sagte sie sich.

Es kam bereits einem Wunder gleich, dass er sich überhaupt an sie erinnern konnte, obwohl sie die peinliche Angelegenheit des Vorabends gern selbst vergessen hätte.

Sie beobachtete ihn noch kurz, wie er lässig neben seiner Protzkarre posierte und dabei längst von seinen Zombieweibchen belagert wurde. Eine der Cheerleaderinnen, die Sera am Abend zuvor bemerkt hatte und die sich so entzückend über sie amüsiert hatte, hakte sich bei ihm unter und küsste seine Wange.

Sera wandte sich ab. Bloß weg von dem arroganten Typen und seinem Frauenanhang.

Bevor sie das Schultor öffnete, fühlte sie allerdings einen Blick auf sich, drehte sich nochmals um – und blickte in Davis‘ lächelndes Gesicht.

3

Der rhythmische Sportgymnastikkurs der Lakewood High fand wie gewöhnlich nach dem Unterricht statt und dauerte bis in die frühen Abendstunden. Mrs. Harwood, eine pfiffige Dame, die den Anschein erweckte, als stünde sie konstant unter Speed oder hätte eine mächtige Portion Ameisen im Hintern, unterrichtete Sera und Stephanie.

»Sera, kommst du?«, fragte Stephanie, als das Training vorüber war.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich geh die dynamischen Elemente mit den Drehungen noch einmal durch«, antwortete sie. Trotz ihres hohen Maßes an Körperbeherrschung und Rhythmusgefühl wollte ihr heute so gar nichts gelingen – weder mit dem Seil, den Reifen, dem Ball noch der Keule oder dem Band.

Elender Davis Madigan!

Ihre Unkonzentriertheit lag sicherlich an diesem unverfrorenen Kerl, den sie seit dem Morgen einfach nicht aus ihrem Kopf bekam. Jetzt war sie bereits zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit auf den Angeber getroffen, wo sie es doch sonst immer geschafft hatte, ihm und seinen schnatternden Gänsen aus dem Weg zu gehen.

Komm schon, Sera! Konzentration! Sie schob ihre unsinnigen Gedanken beiseite. Du bist kein willenloser Zombie!

Endlich gelang die Übung, und Seras herzliches Lachen erklang in der Turnhalle.

Als sie in der Umkleide ihr Smartphone aus der Schultasche nahm, verrieten ihr sieben unbeantwortete Anrufe die Sorgen ihrer Mom.

Sie seufzte. »Training hat länger gedauert, muss noch duschen«, tippte Sera, um ihre Mom zu besänftigen.

Während das heiße Wasser über ihren Körper rieselte, schloss sie die Augen. Sie liebte Wasser, sie lebte für das Gefühl auf ihrer Haut, und wenn es in Lakewood ein Trainingsbecken gegeben hätte, wäre sie gefühlt ihr Leben lang im Wasser gewesen. So musste sie sich mit der Dusche begnügen, doch auch hier empfand sie den geradezu schützenden Effekt, den Wasser auf ihren Körper und Geist hatte. Als würde es ihren Leib ummanteln, benetzte es ihre Haut, und wenn sie die Augen geschlossen hatte, meinte sie gar, zu schweben.

Leise Geräusche drangen plötzlich aus der Umkleide. Mittlerweile war der Raum von dem aufsteigenden Dampf so vernebelt, dass Sera durch die beschlagene Kabinenwand nicht nach draußen blicken und kaum etwas erkennen konnte. Sie zuckte mit den Achseln. Eine Mitschülerin musste etwas vergessen haben. Sie griff nach der Seife und schäumte ihren Körper ein.

Doch ein weiteres Geräusch vor der Duschkabine ließ sie erneut hochfahren.

Langsame Schritte.

Heiseres Atmen.

Langsame Schritte.

Heiseres Atmen.

»Stephanie, das ist nicht witzig!«, wisperte Sera, obwohl sie ahnte, dass es nicht ihre beste Freundin war, die sich einen Scherz mit ihr erlaubte.

Sie fasste nach der Brause, um etwas in der Hand zu haben, mit dem sie sich verteidigen konnte.

Eine dunkle Silhouette formte sich aus dem Nebel zu einem Körperumriss.

Sera hielt den Atem an. Jemand stand vor der Dusche und schien sie zu beobachten.

Während sie wie gebannt auf den dunklen Umriss starrte, der sich allmählich auflöste – oder spielten ihre Augen ihr einen Streich? –, schlug ihr das Herz bis zu den Ohren. Sie blinzelte zweimal, doch es blieb dabei: Wer auch immer das gewesen war, stand nicht länger vor der Dusche.

Rasch stellte sie das Wasser ab und griff nach ihrem Badetuch, wickelte sich ein und schlich aus dem Duschraum. Vorsichtig spähte sie um die Ecke und in den Garderobenraum.

Plötzlich packte sie jemand und hielt ihr den Mund zu.

»Schsch, ich bin es, Davis.« Er löste die Hand von ihrem Mund. »Bitte schrei nicht, ich tu dir nichts.«

Sie stolperte rückwärts und schluchzte auf. »Spinnst … du?«, stotterte sie, sammelte sich und schaute ihn erbost an. »Was tust du hier?« Sie wies mit dem Kinn auf die Umgebung. »In der Mädchen-Umkleide der Highschool.«

Er hob die Arme, eine Geste, die sie bereits heute Morgen an ihm gesehen hatte. Sein Blick schweifte über ihren spärlich bedeckten Körper. Dann räusperte er sich und durchschritt den Raum.

Irritiert musterte Sera ihn.

Beschützend. Wachsam. Stark.

Was dachte sie da? Der Kerl hatte ihr aufgelauert, und sie hielt ihn für einen Schutzengel? Nur weil er gut aussah, musste sie nicht gleich ihren Verstand wegwerfen.

»Da war jemand vor der Dusche und hat mich beobachtet«, zischte sie. »Warst du das?«

Er lachte auf. »Ich? Sehe ich etwa so aus, als hätte ich es nötig, dich zu bespannen?«

Sie senkte den Kopf. Tatsächlich sah er nicht danach aus, heimlich Mädchen beim Duschen ausspionieren zu müssen, um auf seine Kosten zu kommen. Aber man konnte nie wissen.

Sie folgte seinem Blick und zog ihr Handtuch, das ihr beinahe vom Busen gerutscht war, höher. »Was treibst du dann hier? Nicht ganz dein Gebiet, oder?«

Davis hob die Schultern und schmunzelte. »Keine Ahnung!«

Sera stöhnte innerlich auf. »Du musst doch wissen, was du hier machst.«

Er verzog den Mund. »Echt, ich hab keinen Schimmer.« Dann leuchteten seine Augen auf. »Wenn ich aber schon mal hier bin, kann ich gleich nachsehen, ob der Fremde noch vor der Dusche lauert.«

Sie fasste sich an die Stirn. »Na klar! Der ist noch da und hat mittlerweile seine Spanner-Kamera aufgebaut.« Sie fixierte ihn aus schmalen Augen.

»Bist du immer so?«, fragte er, während er in den Duschraum lief.

»Wie bin ich denn?«

»Witzig.«

Sie schwieg. Ja, sie hatte ein unbekümmertes Gemüt, aber sie war nicht naiv und ließ sich ungern foppen.

Während er jede Duschkabine inspizierte, wirkte Davis wie Sherlock Holmes auf geheimer Mission, der fieberhaft nach Indizien suchte.

Sera lehnte sich an den Türstock. Natürlich war niemand da. War er wirklich so dumm oder wollte er vor ihr den edlen Ritter spielen? Zwar sprach nichts dafür, ihm zu vertrauen, aber etwas sagte ihr, dass nicht er es gewesen war, der sie beobachtet hatte. Nur: Was tat er dann hier?

»Kein Spanner da. Wahrscheinlich hast du dir alles nur eingebildet.«

Sie stieß die Luft aus. »Wahrscheinlich.« Sie hatte keine Lust mehr auf diese Unterhaltung, sondern wollte sich endlich anziehen und nach Hause gehen. »Danke, dass du nachgesehen hast.« Freundlichkeit war nie fehl am Platz, denn selbst wenn er ein verrückter Highschoolduschraumkiller sein mochte, wäre es nicht verkehrt, ihn gnädig zu stimmen.

»Kein Ding. Soll ich dich nach Hause fahren? Jetzt, wo ich schon mal hier bin?«

Bloß nicht! »Ich darf nicht mit Fremden mitfahren«, erklärte sie.

Er lächelte. »Ich bin kein Fremder. Ich bin Davis Madigan.«

Sie hob die Brauen. Wer, bitteschön, wusste das nicht?

»Und du? Nenne ich dich einfach weiterhin Donut-Zerquetscherin?«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Sera Baker.«

»Klingt auch viel schöner«, sagte Davis fröhlich und nahm ihre Hand in seine. Sofort verzog er den Mund, ließ sie los und blaffte: »Zieh dir mal was an! Ich warte draußen.«

Nachdem Sera sich angezogen und ihre Tasche geschnappt hatte, verließ sie die Turnhalle. Wie ein Bodyguard stand Davis vor der Halle. Trotz der winterlich kühlen Abendluft hatte er seine Jacke ausgezogen und sich über die Schulter geworfen. Als würde er überhaupt nicht frieren, bestand seine Oberbekleidung lediglich aus einem T-Shirt.

Als sie näher an ihn herantrat, fühlte sie die von ihm ausgehende Wärme, die sie förmlich einhüllte, als stünde sie vor einem Lagerfeuer. Ihr Blick fiel auf eine Tätowierung, die sich über seinen Oberarm erstreckte – ein Flügel, der von einer Flamme umschlossen wurde, und ein Zeichen in einer schnörkeligen, eigenwilligen Schrift, die Sera fremd war.

Sie räusperte sich und wies auf seinen Arm. »Schönes Tattoo. Was bedeuten die Zeichen?«

»Schutz«, antwortete Davis knapp und nickte mit zusammengekniffenen Lippen in Richtung seines Wagens, der vor der Turnhalle parkte. »Tut mir leid, ich habe Samantha vergessen.«

»Wen?«

»Eine Freundin. Im Auto.« Er grinste und ging auf den Sportwagen zu, in dem eine junge, schmollende Frau saß, die aussah, als wäre sie bestohlen worden.

Sera zog die Stirn kraus und folgte ihm langsam. »Ehrlich, ich wohne gleich um die Ecke, du musst mich nicht mitnehmen.«

Er ignorierte sie, und nun stieg die Cheerleaderin, die Sera bereits am Morgen gesehen hatte, aus. Sie warf ihr blondes Haar zurück und rückte ihr Top über ihren Brüsten zurecht, als buhle sie um den ersten Preis in der Kategorie Hochnäsigkeit. »Honey, wo warst du denn so lange?«, fragte sie genervt.

»Bei Sera«, antwortete Davis.

»Sera?«, sie schaute verdattert zu Sera, als hätte sie das Mädchen jetzt erst wahrgenommen. »Ah, ja! Ist sie deine Cousine oder so etwas?«

Davis schwieg und schien keine Lust auf ihr Fragenspiel zu haben.

»Können wir wenigstens fahren? Ich warte hier schon seit einer Ewigkeit«, maulte die Cheerleaderin weiter, und Davis seufzte.

»Du kannst auch gern nach Hause laufen, wenn du weiter nervst«, sagte Davis und fragte Sera: »Möchtest du vorn oder hinten sitzen?«

Die Sanftheit in seiner Stimme bereitete ihr eine Gänsehaut.

Bleib bei Sinnen! Was, wenn er etwas mit diesen Todesfä–

»Ich laufe, Davis«, versuchte sie es erneut.

Er schüttelte den Kopf, öffnete die Fondtür und nickte ihr zu.

Herrje, der Typ war ein Nein wohl nicht gewöhnt.

Sie seufzte und kletterte in den Wagen. Warum wollte er sie denn unbedingt nach Hause fahren? Klar, es war bereits dunkel und sie erschien ihm wohl hilflos, doch Davis machte nicht den Eindruck, als wäre er ein Gentleman oder handle aus purer Nächstenliebe. Ein Mörder wird er schon nicht sein. Bestimmt lag seine Besorgnis aber an diesen Todesfällen, die Lakewood und Umgebung seit einer Woche erschütterten. Oder er glaubte ihr doch und dachte an die Gestalt, die vor der Dusche gelauert hatte.

Samantha versuchte offensichtlich nicht einmal, ihren Missmut darüber, dass Sera mitfuhr, zu verbergen. Während der Fahrt diskutierte sie lautstark mit Davis, warum er das fremde Mädchen nach Hause bringen wollte.

Das Gekeife ging hin und her.

Sera fragte sich, ob die beiden ein Pärchen waren, so wie sie miteinander umsprangen. Doch Davis Madigan und eine Freundin? Unwahrscheinlich.

Davis erhob die Stimme. »Das nächste Mal, wenn wir länger im College bleiben müssen, läufst du! Dein Gezeter ist ja kaum auszuhalten.«

Um nicht wie eine neunzigjährige Oma auf einem wilden Heavy-Metal-Konzert zu wirken, fragte Sera leise: »Warum wart ihr länger im College?«

Davis richtete seinen Blick in den Rückspiegel und lächelte sie an. »Ich stecke mitten in meinem Chirurgiestudium. Nach dem College geht es auf die Universität. Eine Menge Kram zum Lernen.«

»Er wollte sich nach dem Lernen mit mir ablenken – wenn du verstehst«, unterbrach Samantha ihn.

Die Röte färbte Seras Wangen in einem pudrigen Roséton, und sie blickte rasch aus dem Fenster. Auf diese Information hätte sie verzichten können …

»Du musst hier vorn links abbiegen!«, stieß sie aus, um von dem unangenehmen Gespräch abzulenken.

Als Davis vor ihrem Elternhaus anhielt, atmete sie auf. Weder hatte man sie umgebracht noch vergewaltigt, entführt oder im Kofferraum eingesperrt.

Schnell stieg sie aus und wäre beinahe gestolpert, hätte Davis sie nicht aufgefangen.

»Danke fürs Fahren«, murmelte sie und löste sich schnell. Es fühlte sich an, als würde sie unter seinem Griff schmelzen. Sie rieb sich den Arm an der Stelle, an der er sie angefasst hatte. Eigenartig.

»Gern«, raunte er. »Ich nehme an, dass wir uns irgendwo wieder über den Weg laufen werden oder du in mich hineinläufst, kleine Donut-Zerquetscherin.«

4

Goldwall Heights, Lakewoods Nobelviertel

Davis hielt am Ende der langen Einfahrt vor einer Villa, die von einem hohen, weißen Metallzaun umgeben war und von einer steinernen Klinkerfassade verziert wurde. Mehrere Kameras waren am ganzen Gelände angebracht.

Für den Sohn des renommierten Arztes James Madigan, dem Gründer und Chef des Madigan-Hospitals, einer exklusiven Privatklinik, die sich in Lakewoods Innenstadt befand, war dieses luxuriöse Gebäude nicht außergewöhnlich. Der riesige Vorgarten, die große Doppelgarage, die ausladende Einfahrt, in der locker ein Lastkraftwagen hätte wenden können, und der überdachte Pool inmitten einer footballfeldgroßen Grünfläche fielen Davis nicht einmal mehr auf.

Doch Davis war nicht einfach nur ein verwöhnter Bengel, der Daddys Geld verprasste und sich auf dessen Ansehen ausruhte, sondern er hatte vor, es seinem Dad gleichzutun, indem er ebenfalls Medizin studierte.

Er warf einen Seitenblick auf seine Begleiterin, die ihm seit Monaten alle Nerven raubte. Samantha war weder höflich, nett oder wohlerzogen, nein, sie wusste schlicht, was sie wollte – und das war der Name Madigan – sie ließ sich durch kein Nein abschrecken. Gleichgültig, wie grob er zu ihr war, sie schien sich nur noch mehr an ihn zu ketten. Doch er kam einfach nicht los von ihr, zu gekonnt wusste sie, ihre Reize einzusetzen.

Nur heute entfaltete sie auf ihn keine aphrodisierende Wirkung. Wahrlich nicht. Ihre Mundwinkel hingen ihr fast bis zu den Kniekehlen. Seit der Autofahrt war sie schlecht gelaunt. Und das alles nur, weil er Sera nach Hause gefahren hatte.

Er unterdrückte ein Lächeln, als er an das Mädchen dachte. So einfach hatte sie die aufgeheizte Stimmung im Wagen verscheucht, die Samantha mit ihrem Geläster verursacht hatte. Es waren nur Bruchteile von Sekunden gewesen, bis sich etwas in seine Seele eingebrannt hatte. Verdammt, er hatte bis dahin noch nicht einmal gewusst, dass er eine Seele hatte! Wie heiße Glut in butterweiche Haut hatte sich dieses Mädchen in seine Wahrnehmung geschoben.

Ihr Lächeln.

Ihr fröhliches Gemüt.

Ihr Wesen.

Liebenswert und einzigartig.

Er fuhr sich durch das Haar und stieg aus. Was sollte das? Was war bloß los mit ihm? Warum übte ausgerechnet dieses junge Ding diese Faszination auf ihn aus? War das Anziehungskraft oder ein ordinärer Reiz, den er nicht erklären konnte? Wenn er ihr körperlich zu nahe kam, meinte er, die Luft knistern zu hören, eine Hitze durchfuhr ihn, und wenn er sie berührte, fühlte sich das heilsam und schmerzhaft zugleich an.

Als hätte er in tausend Volt gefasst, die seinen Herzschlag auf das Maximum beschleunigt hatten, hatte es sich vorhin angefühlt, als er Sera berührt hatte. Schon wieder. Was war das bloß mit diesem Mädchen? Und warum konnte er sie nicht anfassen, ohne total aus dem Gleichgewicht zu geraten?

Zunächst war er gestern einfach nur genervt von den giggelnden Cheerleaderinnen gewesen, die das bäuchlings am Spielfeld liegende Mädchen ausgelacht hatten. Niemand hatte sich bemüßigt gefühlt, der Verunfallten zu helfen. Wenige Sekunden hatte er mit geschlossenen Augen innegehalten, ehe er zu ihr geeilt war. Und dann dieser Schlag bei der Berührung ihrer Hand … Vorhin, als er sie gefasst und ihr den Mund zugehalten hatte, war es wieder so gewesen.

Er hatte sie eingehend begutachtet. Sie sah harmlos aus.

Es musste eine chemische Inkompatibilität sein.

Doch was kümmerte ihn das überhaupt?

»Zieh dir mal was an!«, hatte er sie deshalb angeherrscht. »Ich warte draußen.«

Sera Baker. Hatte er den Namen schon einmal gehört? Sera … Nein, er hatte sie gestern auf dem Footballfeld zum ersten Mal gesehen. Seitdem ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf – allerdings nicht auf eine gute Weise. Als er ihr die Hand gereicht hatte, um ihr aufzuhelfen, war etwas passiert. Die Berührung hatte ihn verunsichert – und Verunsicherung kannte er nicht.

Zum Teufel, er, Davis Madigan, war noch nie in seinem Leben verunsichert gewesen. Er war das Selbstvertrauen in Person, nichts konnte ihn aus der Bahn werfen, schon gar nicht ein klitzekleines Persönchen von der Highschool.

Doch etwas hatte ihn in die Sporthalle der Lakewood High gelockt. Ein Gefühl. Eine Eingebung. Sein Herzklopfen. Als hätten seine Füße sich selbstständig gemacht und ihn zu dieser Stelle geführt.

Er klopfte zweimal unwirsch auf das Wagendach, um Samantha zu deuten, dass sie aussteigen sollte. Er brauchte sie jetzt. Er musste sie benutzen. Um sich abzulenken. Der einzige Grund, warum er Samantha überhaupt noch mit zu sich nach Hause genommen hatte, war der, dass er sich an ihrem Körper noch ordentlich auspowern wollte.

Um dieses Mädchen aus dem Kopf zu bekommen.

Er ging auf die Villa zu. Hinter ihm stöckelte Samantha mit zu hohen Absätzen über den Asphalt.

James hatte Dienst im Krankenhaus, sie würden ungestört sein. Dass er kein Kavalier der alten Schule war, war Davis bewusst, doch was sollte er machen? Er hatte Samantha ganz bestimmt keine falschen Hoffnungen gemacht. Und wenn er ihre Vergangenheit betrachtete, war sie selbst kein Kind von Traurigkeit. Ein wenig Spaß unter Freunden. Was sollte daran nicht stimmen? Er konnte wohl nichts dafür, dass er noch nie in seinem Leben verliebt gewesen war oder auf die Gefühle der Frauen Rücksicht genommen hatte, denn das taten sie für gewöhnlich auch nicht mit seinen. Wie oft wollte er einfach seine Ruhe haben und wurde stets belagert? Wie gern hätte er einmal ein normales Gespräch geführt, ohne auf seinen Nachnamen, sein Aussehen, oder das Geld seiner Familie degradiert zu werden? Wer kannte ihn denn schon wirklich?

Er schloss die Tür auf, deaktivierte die Alarmanlage und drehte sich zu Samantha um. Wozu Zeit verschwenden?

Doch ihr Blick ließ ihn innehalten.

»Könntest du mal aufhören, so eine Fresse zu ziehen?«, blaffte er der schmollenden jungen Frau entgegen.

»Warum hast du die Kleine nach Hause gefahren?«, fragte Samantha, die noch immer vor Eifersucht zu explodieren schien.

»Warum denn nicht?«, fragte er achselzuckend. »Wüsste nicht, seit wann ich mich vor dir rechtfertigen muss, wen ich in meinem Wagen mitnehme und wen nicht.«

Sie kniff die Lippen zusammen.

Na bravo, so wird sich kein Stich landen lassen.

Er neigte den Kopf, streckte die Hand aus und fuhr ihr leicht über die Wange, griff ihr Kinn und hob es an. »Außerdem bist du doch jetzt hier bei mir.« Die Frauen fraßen ihm regelrecht aus der Hand, wenn er es darauf anlegte, und an diesem Abend wollte er keinen Smalltalk führen und nicht sinnlos Zeit mit Samantha vertun.

Es funktionierte (es funktionierte immer!): Verlangend krallte sich Samantha an seinem T-Shirt fest, zog sich an seine Brust, küsste seinen Hals und hob sein Shirt an. Sie tastete über seine trainierten Bauchmuskeln und griff nach seinem Hosenbund. Dieses Miststück wusste nur zu gut, wie sie ihn antörnen konnte. Nein, Samantha war keineswegs die Unschuld vom Lande.

Er packte sie unter ihrem Hintern und trug sie in die Küche. Sein Bett war sein Reich, das er nur in Ausnahmefällen besudeln wollte. Perfekt, dass sein Dad nicht hier war. Er setzte sie auf die breite Kochinsel, griff unter ihren Rock und zog ihr den Slip aus. Davis führte seine Hand zu ihrem Intimbereich, den er mit seinen Fingern verwöhnte, bis Samantha feucht wurde. Erregt stieß sie ein lautes Stöhnen aus, als seine Finger in sie hineinglitten und sich in ihr bewegten. Unverzüglich griff sie nach dem Verschluss seiner Jeans, während Davis sie weiter fingerte. Rasch zog sie seine Hose und seine Boxershorts hinunter. Ihre Hand umfasste sein steifes Glied, und er sog die Luft ein, riss ihr das Kleid über den Kopf, massierte ihre großen Brüste und reizte deren Nippel mit dem Daumen.

Mitunter war er froh, dass Samantha kein langes Vorspiel brauchte, um in Fahrt zu kommen.

Er positionierte sie, griff in seine Jeanstasche, zog ein Kondom über, hob ihren Hintern ein wenig an und stieß dann mit einem festen Ruck zu. Das Eindringen seines großen Schwanzes brachte Samantha wieder zum Aufstöhnen. In kurzen, harten Stößen nahm er sie sich.

»Ich bin so verliebt in dich«, stöhnte Samantha.

Er schloss die Augen und versuchte, ihr Gefasel zu ignorieren und nur auf das klatschende Geräusch nackter Haut zu achten.

»Ah, Davis ich lie– «

»Sei still!«, donnerte er, denn er wollte ihre Stimme nicht hören, die ihm jegliche Lust an der ganzen Nummer nehmen würde.

Nun wieder schweigend, wurden seine Stöße gegen Samanthas Becken immer fester. Minutenlang. Beinahe brutal. Bis das Mädchen in seine Gedanken stieg, das er lediglich in einem Handtuch umhüllt in der Umkleide angetroffen hatte, das mehr oder weniger in seine Arme gestolpert war, und dessen Nähe sich so hitzig, aber vertraut angefühlt hatte. Und das bei ihm für ordentliche Verwirrung gesorgt hatte.

Sera.

Wie ihr nackter Körper wohl aussah?

Wie es sich anfühlen würde, sie zu berühren?

Sie zu küssen?

Davis’ feste Bewegungen flachten ab, wurden beinahe zärtlich und rücksichtsvoll. Sein intensiver Griff lockerte sich. Sofort verteufelte er seine erotischen Gedanken. Herrgott! Was war in ihn gefahren, ausgerechnet jetzt an eine Minderjährige zu denken?

Er keuchte auf. Es fühlte sich fast wie Sehnsucht an, gegen die er nichts tun konnte. Seine Fantasien ließen sich nicht vertreiben, sondern erregten ihn zusätzlich.

Seine plötzliche Zärtlichkeit war auch Samantha nicht entgangen. Sie richtete sich auf. »Wa– «

Er drückte sie hinunter und presste hervor: »Sei, verdammt noch mal, endlich still!«

Sein Glied pulsierte in ihrer Enge. Sein Unterkörper zuckte, als er endlich abspritzte.

Noch nie zuvor hatte er so einen intensiven Orgasmus erlebt. Und das alles nur, weil er während des Aktes an Sera gedacht hatte?

Rasch zog er sich zurück und wandte sich ab.

Hatte er jetzt jegliche Skrupel verloren? Trotz seiner Frauengeschichten kannte er dennoch Anstand. Kein Mädchen unter achtzehn! So lautete die Regel. Zumal ihn jüngere Mädchen noch nie gereizt hatten.

Während er das benutzte Kondom in einem Taschentuch verschwinden ließ, hörte er Samantha, die sich aufrichtete.

»Du weißt, wo die Tür ist.« Ohne sie noch einmal anzusehen, ging er aus der Küche.

5

Jeder kennt sie. Diese Tage, die frühmorgens schon so beginnen, dass man am liebsten im Bett bleiben und sich die Decke über den Kopf ziehen möchte, um sich vor der grausamen und kalten Außenwelt zu verstecken. Alles geht schief.

Einen solchen Tag brachte der nächste Morgen für Sera mit sich.

Am Abend zuvor hatte sie Ärger mit ihrer Mom gehabt, weil sie zu spät nach Hause gekommen und aus einem fremden Wagen gestiegen war. Wie eine schnüffelnde Detektivin hatte Anne am Fenster gehangen und einen Aufstand gemacht, der sich gewaschen hatte.

Ob ihre Mom übertrieben hatte? Und wie! Na ja … jedenfalls ein bisschen.

Sera konnte nicht lügen. Noch nicht mal eine winzige Notlüge brachte sie über ihre Lippen. Wie eine Göttin der Wahrheit posaunte sie alles heraus – zumindest, was ihr eigenes Leben betraf. Ihr anvertraute Geheimnisse konnte sie bewahren wie ein Drache seinen Hort. Lügen zu können, wäre allerdings manchmal von Vorteil gewesen, denn dann hätte sie Anne gestern nicht die Wahrheit erzählt. Da diese jetzt wusste, dass ein Student namens Davis Madigan sie nach Hause gefahren hatte, hatte sie sich Hausarrest eingeheimst, obwohl sie nichts Verwerfliches getan hatte. Dass Sera mit Davis nicht allein gewesen war, sondern eine andere junge Frau ebenfalls im Fahrzeug gesessen hatte, hatte Anne nicht beruhigt. Ganz im Gegenteil: Sera durfte nicht mit Jungs anbändeln, geschweige denn mit jungen Männern, die bereits auf das College gingen.

Ihre Mom hatte das total missverstanden – Sera wollte sich gewiss nicht diesen Frauenhelden anlachen! Doch egal, was sie zu erklären versucht hatte, Anne hatte wie ein Schwein die Trüffel die Gefahr in Form von Männern gewittert, die sich an ihre unschuldige Tochter heranschmeißen könnten.

Dass Sera die halbe Nacht abermals Albträume von dem gruseligen Alten gehabt hatte, der sie wie ein rachsüchtiger Dämon heimsuchte, machte diesen verregneten Morgen nicht besser.

Gähnend stand sie vor der Lakewood High, wo sich schon die nächste Katastrophe in Form von Joanna, einem Mädchen aus Seras Jahrgang, anbahnte. Zusammen mit zwei weiteren Mädchen und zwei großen, männlichen Sportfreaks bildete Joanna ein Grüppchen, das in der Lakewood High für Schrecken sorgte.

Mary-Ann, ein moppeliges Mädchen aus Seras Jahrgang mit kurzem, dunklen Haar, niedlichen Hamsterbäckchen und Sommersprossen wurde wieder einmal Opfer von Joannas Mobbingattacken. Völlig vertieft ins Tagebuchschreiben saß Mary-Ann auf den Außenbänken des Schulhofes und bemerkte das drohende Unheil nicht, das auf sie zuraste. Joanna schnappte sich das Tagebuch und grinste ihren idiotischen Kumpanen zu, die neben ihr standen und sich offensichtlich auf das nächste Niedermachen eines wehrlosen Menschen freuten.

»Gib das zurück!«, schrie Mary-Ann.

»Mal sehen, was der Fettsack hier so schreibt«, erwiderte Joanna gehässig.

Sera erschauderte. Die Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Sie mochte zwar ein friedliebender Mensch sein, der zu Wut kaum imstande war, doch sie verabscheute Ungerechtigkeit. Denn in Seras Augen war jeder Mensch gleich.

Ob dick oder dünn.

Egal, welche Hautfarbe.

Egal, welche Religion.

Egal, welches Aussehen, das immer nur Fassade war.

Niemand hatte es verdient, gemobbt und verspottet zu werden.

»Lasst Mary-Ann in Ruhe und gebt ihr das Tagebuch zurück!«, mischte sie sich nun ein. Selbstlos stellte sie sich dem kleinen Grüppchen, um der aufgelösten Mary-Ann Beistand zu leisten.

»Sonst was, Baker? Tust du dich dann mit dem Fettwanst zusammen und rollst uns platt?«, spottete Joanna, und ihr Anhang prustete auf.

Sera musterte den Schulschrecken. »Wie alt bist du? Sechs?«

Amüsiert beobachtete Davis vom Collegeparkplatz aus das Spektakel. Seras Art, sich den beiden größeren Typen entgegenzustellen, während sie versuchte, den Kerlen etwas zu entreißen, ließ ihn schmunzeln. Mit hochgestrecktem Arm reichten die Typen etwas hin und her, sodass Sera nicht herankam. Wie ein Kampfzwerg, der bei einem Kung-Fu-Meister in der Lehre gewesen war, sprang sie in die Höhe, um an das Ding zu gelangen und rangelte nun sogar mit den weitaus stärkeren, jungen Männern. Offenbar verteidigte sie ein weinendes Mädchen, das neben ihr stand.

Sein Herz schlug wild. Sera war so wundervoll. So aufopfernd. Setzte sich für ihre Mitmenschen ein.

Abrupt hielt er inne. Was zum Geier dachte er da? Das war ein ganz normaler Teenie-Streit unter Highschoolidioten. Es konnte ihm egal sein.

Doch Seras positive und herzensgute Erscheinung zog ihn immer mehr in den Bann. Es gelang ihm nicht, sich dagegen zu wehren.

Einer der Kerle warf einem weiteren Mädchen das Ding zu, das wohl ein Buch war.

»Dann schauen wir mal, was hier so steht«, sagte das Mädchen nun, das ihn frappant an Samantha erinnerte. »Liebes Tagebuch, letzte Nacht habe ich schon wieder von Davis Madigan geträumt. Wir haben uns geküsst …«, las sie so laut vor, dass es die halbe Schule und das halbe College hören konnten.

Davis verdrehte die Augen. Teenies … Auf diesen Kindergarten hatte er keine Lust. Sollten die Highschool-Kids das unbekannte Mädchen doch weiter fertig machen und noch mehr Details aus dem Buch, das wohl ein Tagebuch war, vorlesen. Das war nicht sein Problem. Er wandte sich ab und wollte seinen Weg zum College fortsetzen, als sein Herzschlag sich beschleunigte. Wie ein elektrisierendes Flimmern durch seinen gesamten Körper. Seine Venen brannten. Sein Brustkorb verkrampfte.

Da war es schon wieder!

Dieses Gefühl!

Er blickte noch einmal zu Sera.

Einer der Kerle hatte mit seinen Händen jeweils einen von Seras Unterarmen knapp über dem Handgelenk umfasst, die er nun vor ihrem Gesicht verschränkte. Der feste Griff hielt Sera davon ab, sich bewegen zu können.

»Apropos Küssen. Hast du denn schon mal jemanden geküsst, Baker?«, fragte der Typ mit einem Grinsen und zog Sera mit einem Ruck an seinen Körper, sodass ihr Gesicht beinahe gegen seinen Brustkorb geknallt wäre.

Einen Moment lang herrschte Totenstille.

Mit wenigen Schritten war Davis bei Sera und knurrte: »Nimm deine gottverdammten Hände von ihr!«

Er konnte nicht anders. Das Mädchen mit dem Tagebuch war ihm egal gewesen, bis Sera zur Zielscheibe geworden war. Mit anzusehen, wie ihr Körper von dem pubertierenden Vollpfosten berührt wurde, ließ das Blut in Davis’ Venen brodeln. Empfindungen, die ihn dazu gebracht hatten, in das Geschehen einzugreifen. Sein Körper sehnte sich danach, den Typen zu vernichten.

Der Kerl ließ Sera so schnell los, dass sie nach hinten taumelte. Davis griff nach ihrem Arm, um sie aufzufangen.

Wieder diese Hitze.

Rasch gab er ihren Arm frei und besah sich die Runde. Der Samantha-Klon war verstummt und warf ihm einen koketten Blick zu – also nicht nur eine äußerliche Doppelgängerin. Er verdrehte die Augen, was ihr neckisches Grinsen allerdings nicht schmälern konnte. Innerlich sträubte sich alles in ihm. Kinder. Das waren verdammte Kinder. Was tat er hier? Was dachte er sich dabei, sich wie ein ungehaltener Stier in diesen Kindergartenstreit einzumischen?

Er trat auf den schwärmenden Klon zu und entwendete ihm das Tagebuch. Dann wandte er sich an die restliche Clique.

»Schwachkopf Nummer eins!« Er klopfte dem Jungen mit dem Tagebuch gegen die Birne.

»Schwachkopf Nummer zwei!« Und tat das Gleiche beim zweiten Idioten, bevor er auf das aufgelöste Mädchen zuging und ihm das Buch zurückgab. »Das ist deins, oder?«, flüsterte er sanft.

Das Mädchen lächelte schüchtern, drehte sich um und entfernte sich wortlos von dem Geschehen.

Er musterte den Klon und seine beiden Begleiter und machte eine Handbewegung, als würde er Sperlinge vertreiben wollen, die es auf sein Essen abgesehen hatten.

Dann wandte er sich an Sera. »Geht es dir gut?«

Sie blickte ihn verdattert an, neigte leicht den Kopf und räusperte sich. »Ähm, ja. Ich war nur kurz erschrocken. Danke für deine Hilfe.« Sie schaute auf ihre Unterarme, an denen leicht rötliche Stellen zu erkennen waren.

»Hat er dir wehgetan?« Vorsichtig strich er mit den Fingerspitzen über die gerötete Fläche. Nie hatte er sich bemüht, zärtlich zu sein, doch bei Sera konnte er gar nicht anders. Als hätte er eine Ewigkeit darauf gewartet, dieses Mädchen berühren zu können. Hitze. Glut. Erleichterung.

Sie schluckte und zog ihren Arm zurück. »Nein, alles gut.« Tief durchatmen und kein Zombie werden!

»Tut mir leid«, sagte Davis, als er bemerkte, dass Sera die Berührung nicht recht war. Seine Gedanken stoppten wie ein kaputtes Laufband. Hatte er sich jetzt wirklich entschuldigt? Er konnte sich nicht mal daran erinnern, sich zuvor überhaupt jemals bei einer Frau entschuldigt zu haben. Mutierte er in Gegenwart des Teenie-Mädchens zu einem zahmen Hoppelhäschen?

»Stell dir mal vor, der hätte mich geküsst! Du kennst meine Mom nicht, aber die hätte mich wochenlang im Haus eingesperrt, weil ich meinen ersten Kuss von diesem Idioten bekommen hätte. Ich habe schon Hausarrest, weil du mich gestern Abend nach Hause gefahren hast«, quasselte Sera plötzlich los. Mit dem Ellenbogen stupste sie Davis in die Rippen, als wäre er ein guter Kumpel.

Er grinste. Da war es wieder: Ihr fröhliches Gemüt, das ihn völlig verrückt machte und bei ihm für Emotionen sorgte, die er bisher nur vom Hörensagen kannte.

6

Obwohl sie Hausarrest hatte und nach der Schule pünktlich zu Hause sein sollte, lief Sera in den Wald, der in der Nähe des Stadtparks lag. Ihre Eltern würden ohnehin noch auf der Arbeit sein und von ihrer Verspätung nichts mitbekommen. Seit jeher war dieser Wald für Sera ein Rückzugsort gewesen. Im Herzen der Natur fühlte sie sich behaglich. Aufgehoben. Angekommen. Ja, sie fühlte sich hier mehr zu Hause als in ihrem Elternhaus.

Der Schultag war fürchterlich gewesen. Sie war immer wieder eingenickt, am schlimmsten war es in Mr. Williams‘ Mathematikkurs gewesen, dem sie irgendwann nicht mehr hatte folgen können. Das Geschwafel von mathematischen Formeln, die wirr und wie ein dreiradfahrender Affe, untermalt mit Kirmesmusik, in Seras Kopf herumradelten, war schon bald in weite Ferne gerückt. Mr. Williams hatte von ihrem Schläfchen nichts mitbekommen. Der Lehrer, der selbst im tiefsten Herbst in Latschen herumlief und dazu weiße Socken trug, als wäre er ein Tourist im Urlaub, erschien Sera meistens wie ein Maulwurf an der Oberfläche. Fast blind.

Während sie im Halbschlaf dahingedämmert war, hatte sich wieder der Traum von dem alten Kerl in ihre Gedanken gedrängt, der schließlich ihre Müdigkeit vertrieben hatte. Sie hatte sich aufgerichtet. Ein unerklärliches Gefühl hatte sich in ihr breitgemacht, wenn sie an das Gesicht des Alten dachte. Sogar jetzt, hier im Wald, fröstelte es sie bei der Erinnerung. Gleichzeitig fühlte sie eine eigenartige Ruhe.

Tief inhalierte sie die Waldluft, sog die Botenstoffe der Bäume ein, die, das hatten sie unlängst in der Schule durchgenommen, sogar eine heilende Wirkung hatten. Obwohl: Ein Ort, an dem ihre Mom ihr nicht zum hundertsten Mal vorhalten konnte, was Sera in ihren Augen alles falsch machte, konnte nur gesund sein.

Der einzige und ziemlich schmale Gehweg war durch den Regen völlig aufgeweicht und matschig. Sera musste aufpassen, nicht auszurutschen und in die braune Plörre zu fallen. Sie setzte sich auf eine der morschen Holzbänke, die am Waldweg standen und spähte in den Forst. Das viele Grün half ihr seit jeher beim Nachdenken. Sie wusste nicht, warum dieser Traum sie Nacht für Nacht verfolgte, doch es gab etwas, das ihn so beängstigend machte: Er fühlte sich wie die Wirklichkeit an.

Ein Rascheln ließ sie aufblicken. Sera sah sich um und stand auf. Vielleicht ein Tier? Nein! Zwischen zwei mächtigen Eichen entdeckte sie das düstere Antlitz eines fremden Mannes. Der Unbekannte, dessen bloße Anwesenheit Sera durch Mark und Bein ging und ihr eine Gänsehaut bescherte, strich eine seiner fettigen, dunkelbraunen Haarsträhnen, die an den Spitzen leicht gelockt waren und bis zu seinen Schultern reichten, von seiner Stirn und rieb sich über seinen wild gewachsenen Bart, während er Sera musterte.

Wie ein debiler Stalker.

Dann rückte er seinen schwarzen Herrenanzug zurecht, der so gar nicht zu seinem ungepflegten Äußeren passte, und trat aus der Düsternis hervor.

Jetzt erkannte Sera die Augen des Mannes, die vollkommen von Schwärze eingenommen waren, als wäre er besessen. So etwas hatte sie bei einem Menschen noch nie gesehen.

Okay, es war doch keine nobelpreisträchtige Idee gewesen, hierherzukommen. Nach allem, was in letzter Zeit passiert war. Nach den Toten. Nach –

»Entschuldigen Sie, Miss? Ich habe mich hier verlaufen«, durchbrach seine raue Stimme die Stille.

Sera wies in die entgegengesetzte Richtung. »Folgen Sie einfach dem Weg. Dann kommen Sie zurück zum Stadtpark«, erklärte sie gewohnt freundlich. Immerhin sollte man niemanden aufgrund seines Aussehens verurteilen. Doch ein Gefühl aus bitterbösem Unbehagen hatte sich in ihren Gliedern niedergelassen.

Der Fremde schnalzte mit der Zunge und lachte wie ein Wahnsinniger auf. Die Wut zürnte in seinen dämonisch dunklen Augen, bevor er weitere Schritte tat und ihr immer näher kam.

»Was ist denn, wenn ich diesem Weg gar nicht folgen möchte? Und lieber zu dir möchte?« Er hob beinahe entschuldigend die Arme. »Wo wir uns doch so lange nicht gesehen haben.« Jetzt stand er nur noch einen Schritt entfernt und starrte auf sie herab. »Kleines, zartes Wesen voller Licht. Doch halt«, raunte er, »ich will unseren Neubeginn nicht mit einer Lüge beschmutzen. So lange ist es gar nicht her, dass ich dich gesehen habe, mein Engel.«

Sera wandte den Kopf ab. Der Fremde stank aus dem Mund. Und was faselte er da? War er etwa der Spanner von gestern Abend?

»Lassen Sie mich in Ruhe«, versuchte sie es, doch ihre Stimme zitterte und sie konnte sich selbst nicht ernstnehmen.

»Wohl kaum, Schönheit.« Der Mann streckte die Hand nach ihr aus.

Laufen, fliehen, beweg dich! Sie stieß ihn von sich und rannte los. Im Lauf fasste sie ihre Finger und massierte sie. Wo ihre Fingerkuppen den Perversen berührt hatten, brannte die Haut. Weil du dich vor ihm ekelst! War er wirklich der Spanner gewesen? Hatte er sie nackt gesehen?

Weit kam Sera nicht, denn etwas bremste sie aus.

Etwas, das unmittelbar vor ihr erschien. Etwas, das sie mit keinem Wort beschreiben konnte. Etwas, dessen Anblick ihr den Atem raubte.

Eine Gestalt.

Ein Monster.

Hünenhaft.