Wie die Pflanzen lieben - Alec Bristow - E-Book

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Alec Bristow

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Beschreibung

Das Wissen um die Geschlechtlichkeit der Pflanzen war lange Zeit verpönt, und noch im 18. Jahrhundert wollte die Kirche die Schriften des berühmten Botanikers Carl von Linné verbieten lassen, da darin von »offener Begattung« und »heimlichen Hochzeitern« die Rede war. Inzwischen hat auch die »Aufklärung« in die Botanik Einzug gehalten, und wir können nachlesen, wie einfallsreich Pflanzen sind, um Partner anzulocken und das Fortleben ihrer Art sicherzustellen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Alec Bristow

Wie die Pflanzen lieben

Ein Blick in die Seele der Natur

Aus dem Englischen

FISCHER Digital

Inhalt

EinführungI Wie die Pflanzen ihre Unschuld verlorenII Die Welt will betrogen seinIII Ohne Liebe geht es nichtIV Es kommt drauf an, wie man gebaut istV Auch Pflanzen kennen TabusVI PartnerschaftsproblemeVII Die ganz persönliche DuftnoteVIII »Das ist die sexuelle Hörigkeit …«IX Der Voyeur am MikroskopX Von Jungfrauen und ihren NachkommenXI Allerlei LiebeszauberXII Pflanzenliebe auf neuen WegenXIII Kapriolen im Garten der LüstePersonen- und Pflanzenregister

Einführung

Die Liebe wurde im Pflanzenreich erfunden. Lange bevor in den dampfenden Urmeeren die ersten primitiven Formen tierischen Lebens entstanden, hatte sich in den Dschungeln über Millionen Jahre hin eine phantastische Vielfalt an Pflanzen entwickelt. Von den riesenhaften Baumfarnen, den Vorfahren unserer Bäume, bis zu den mikroskopisch kleinen Moosen, die mit bloßem Auge nicht erkennbar gewesen wären – wenn es da schon Augen gegeben hätte! –, hatten die Pflanzen auf sexuellem Gebiet bereits reiche Erfahrungen gesammelt, ja, es wird sich zeigen, daß sie von Anfang an jede nur denkbare Möglichkeit erprobt haben. Und manche ihrer geschlechtlichen Praktiken sind denn auch so ausgeklügelt, daß nur ganz wenige Vertreter der Tierwelt über genug Phantasie oder die notwendigen Werkzeuge verfügen, um es den Pflanzen nachmachen zu können.

In der Bibel ist zu lesen, daß die Pflanzen am dritten Schöpfungstag erschaffen wurden, kurz nachdem Gott die Wasser und das trockene Land voneinander getrennt hatte: »Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das sich besame, und fruchtbare Bäume, auf daß ein jeglicher nach seiner Art Frucht trage und habe seinen eigenen Samen bei sich selbst auf Erden. Und es geschah also. Und Gott sah, daß es gut war.«

Es dürfte heutzutage nicht mehr viele Menschen geben, die diese Worte für bare Münze nehmen, als faktische Wirklichkeit. Doch noch vor wenig mehr als hundert Jahren wurden sie von vielen intelligenten Leuten ohne Zögern akzeptiert. In ihrer Flora aus dem Jahr 1860 schrieben zwei hochgeachtete Botaniker, Hooker und Arnott: »Viele Arten wurden gleichzeitig am dritten Tag der Schöpfung ins Leben gerufen, jede deutlich von den anderen verschieden und dazu bestimmt, es zu bleiben.« Dabei hatte im Jahr zuvor ihr Landsmann Charles Darwin sein Werk Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl veröffentlicht, das dem orthodoxen Glauben den Garaus machen sollte, Gott habe vor sechstausend Jahren, in einer knappen Woche, die Erde mit allen ihren Lebewesen erschaffen, und zwar eine bestimmte Zahl von Arten, die unveränderbar sei. Es war wohl vorwiegend das Ergebnis seiner botanischen Studien, speziell seiner Untersuchungen über die Mannigfaltigkeit, mit der die Pflanzen ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigen, das Darwin zu der Schlußfolgerung veranlaßte, die Zahl der Arten sei keineswegs festgelegt, sondern in ständigem Wandel begriffen, so daß neue Arten entstehen und alte Arten aussterben könnten, je nach ihrer Anpassungsfähigkeit an die Lebensumstände.

Heute stimmen die Wissenschaftler nahezu einhellig darin überein, daß die Geschlechtlichkeit eine Schlüsselrolle in der Evolution gespielt hat; und andererseits war die Evolution unvermeidlich geworden, seit die Sexualität entdeckt war, denn die natürliche Auslese beruht vorwiegend auf einer geschlechtlichen Auslese.

Biologen sind im Grund »Voyeure« und beziehen ihre berufliche Befriedigung aus der Beobachtung des Verhaltens von Lebewesen, ganz besonders des sexuellen Verhaltens. Darwin war einer der größten Voyeure aller Zeiten. Die minuziös genaue Registrierung aller Einzelheiten bereitete ihm offenbar großes Vergnügen.

Allerdings blieb es noch viele Jahre nach der Veröffentlichung der Darwinschen Beobachtungen unter wahrhaft Frommen ein unbestrittener Glaubensartikel, daß jede Pflanzenart am dritten Schöpfungstag von Gott höchstpersönlich geschaffen worden sei und daß sich seitdem keine neuen Arten entwickelt hätten. Angehörige einiger fanatischer Sekten glauben dies zwar heute noch, aber sie sind dabei gezwungen, die Augen bewußt vor den Tatsachen zu verschließen, insbesondere vor den Tatsachen der Sexualität in der Natur. Die Leute glaubten weiterhin, daß der liebe Gott »seinerzeit« die Pflanzen in vollkommener Form und für ewig unveränderlich vom Himmel fallen oder aus der Erde sprießen ließ. Nach der Bibel geschah dies einen Tag, bevor die Sonne, der Mond und die Sterne erschaffen wurden. Am fünften Tag erst wurden dann die Tiere des Wassers und die Vögel geschaffen und am sechsten, dem letzten Schöpfungstag, die Landtiere, darunter auch der Mensch, und hier endlich tauchen die Worte auf: »Und Gott schuf den Menschen … schuf einen Mann und ein Weib.«

Da es leider kein entsprechend klares, auf eine Zweigeschlechtlichkeit der Pflanzen hinweisendes Schöpfungswort gibt, konnte im 17. und 18. Jahrhundert ein erbitterter theologischer Streit entstehen, als einige Botaniker zu behaupten wagten, die Pflanzen besäßen ein Geschlechtsleben. Vergeblich untersuchten die Naturforscher mit ihren neumodischen Instrumenten, den Mikroskopen, die Pflanzenstruktur und beschrieben die Geschlechtsorgane, die sie dort entdeckten. Boshafte Lügen, erklärten die Bibelgelehrten kurz, boshafte und überdies »schmutzige« Lügen! Die Bibeltexte ließen keinen Zweifel zu: Da hieß es eben nicht von den Pflanzen, daß Gott »sie als einen Mann und ein Weib« geschaffen habe. Und ohne Mann und Weib konnte, ja, durfte es keine Geschlechtlichkeit geben. Also waren Pflanzen geschlechtslos, und damit basta! Es war dies nicht das erstemal – noch sollte es das letztemal sein –, daß Wissenschaftler angegriffen wurden, weil sie Tatsachen enthüllten, die gegen die Heilige Schrift verstießen. Knappe vierzig Jahre ehe in einem Vortrag vor den gelehrten Mitgliedern der Royal Society in London erstmals die Andeutung fiel, daß Pflanzen möglicherweise Geschlechtswesen sein könnten, zwang die Inquisition in Rom den berühmten Astronomen Galilei unter Androhung der Folter, seine Behauptung (er stützte sie ebenfalls auf Beobachtungen mit Hilfe eines neumodischen Instruments, eines sogenannten Teleskops nämlich) zu widerrufen, daß sich die Erde um die Sonne drehe. Die theologischen Berater des Heiligen Offiziums hatten dem Papst erklärt, solche Feststellungen widersprächen der biblischen Lehre und seien demzufolge ketzerisch.

Als allerdings zum erstenmal vor der Royal Society angedeutet wurde, daß Pflanzen geschlechtlich sein könnten, war die einstige »Irrlehre« des Galilei schon fast zur orthodoxen Lehre geworden. Interessanterweise dauerte es geraume Zeit länger, bis man sich mit der Vorstellung von der Geschlechtlichkeit der Pflanzen abfand. Zum Teil mag dies daher rühren, daß auf diesem Gebiet noch sehr viel zu entdecken blieb, ja, bis heute noch zu entdecken ist. Doch eine weit größere Rolle spielte die Tatsache, daß Sexualität ein äußerst emotionsgeladenes Thema war und somit bei den Angehörigen des religiösen Establishments zwangsläufig auf heftige Mißbilligung stieß, auf Angst- und Ekelgefühle. Astronomische und physikalische »Neuerungen« konnte man kurzerhand als Ketzerei abtun. Neuentdeckungen auf sexuellem Gebiet dagegen glaubte man als »obszön« disqualifizieren zu müssen.

Im ersten Kapitel dieses Buches werden einige Beispiele für die Unwissenheit, die Vorurteile und die verklemmte Prüderie angeführt, gegen die die Entdecker der Geschlechtlichkeit der Pflanzen zu kämpfen hatten, ehe man ihre Behauptungen als Fakten anerkannte. Der Widerstand gegen die Hypothese einer Sexualität der Pflanzen erfolgte gewissermaßen dreigleisig. Zunächst sind neue wissenschaftliche Erkenntnisse dem Establishment grundsätzlich unwillkommen, weil sie die herkömmlichen Überzeugungen in Zweifel ziehen, oder doch zumindest unvoreingenommenes Denken erfordern – und nichts beeinträchtigt die Fähigkeit, objektiv zu denken, mehr als der blinde Glaube. Zweitens wird in der Bibel die Einteilung in Geschlechter nicht vor dem sechsten Schöpfungstag erwähnt. Wie könnte sie also den Pflanzen zustehen, die doch bereits am dritten Tag erschaffen wurden? fragten die Rechtgläubigen. Und schließlich scheint der Begriff »Sexualität« in bezug auf Pflanzen allein schon aus psychologischen Gründen als anstößig empfunden zu werden. Für Menschen, die Sexualität überhaupt nur mit Zähneknirschen zur Kenntnis nehmen, sind Pflanzen etwas Reines, Jungfräulich-Unbeflecktes. Die Vorstellung, daß es Sexualität im Pflanzenreich geben könnte, war für diese Menschen ebensosehr ein tiefwirkender Schock wie die Entdeckung Freuds und anderer Psychologen, daß »sogar« Kinder einen Sexualtrieb haben.

Mißbilligung gegenüber der Sexualität im allgemeinen und neuem Wissen auf diesem Gebiet im besonderen wird erfahrungsgemäß vorwiegend von psychisch und sexuell Gehemmten geäußert. Es sind, um den russischen Philosophen Peter D. Ouspensky zu zitieren[1], die sexuell am wenigsten aktiven Mitglieder der Gesellschaft – sozusagen der »infra-sexuale« Bevölkerungsanteil –, die dazu neigen, das Sexualverhalten der anderen zu bestimmen, um sich auf diese Weise einen Ausgleich, einen Ersatz oder auch ein Alibi für ihre eigene Unzulänglichkeit auf diesem Sektor zu verschaffen.

Aufklärung stößt bei solchen Menschen grundsätzlich auf Widerstand. Immerhin, so pflegen sie zu sagen, wurde die Vertreibung aus dem Paradies dadurch herbeigeführt, daß der Mensch von der Frucht des Baumes der Erkenntnis aß – also ist das Streben nach Erkenntnis, nach Kenntnis und Wissen, in sich selbst schon vom Übel und vom Teufel eingeblasen … Wie dem auch sei, die wissenschaftliche Forschung geht weiter, ob vom Teufel inspiriert oder nicht.

Während der drei Jahrhunderte seit der Entdeckung der Sexualität der Pflanzen hat sich reiches Material zu diesem Thema angesammelt. In diesem Buch können nur einige der bisher sichergestellten Fakten dargelegt werden. Es bleibt noch vieles zu untersuchen, und ohne Zweifel werden künftige neue Forschungsergebnisse manche unserer derzeitigen Überzeugungen als fragwürdig erscheinen lassen.

Zweierlei allerdings sollte klar sein: erstens, daß Sexualität ein besonderes Merkmal höherer Lebensform, sei sie pflanzlich oder tierisch, darstellt; die geschlechtslosen Wesen sind jene, die wir als »primitiv« einstufen. Und zweitens: Als die Pflanzen den Sex erfanden, erfanden sie damit auch die Schönheit. Jede Form von Schönheit – sei es in Gestalt oder Farbe, sei sie durch Berührung, Geruch oder Geschmack erfahrbar – beruht auf sexueller Anziehung, und dafür schulden wir den Pflanzen Dank.

I Die Entdeckung der Sexualität

Im Jahre 1916 erschien in der Zeitschrift der Französischen Gesellschaft für Hortikultur ein Artikel unter dem Titel Einige Merkwürdigkeiten bezüglich der Mimikry bei Orchideen. Darin wurde beschrieben, wie ein Franzose namens Pouyanne in Algier etwas Seltsames festgestellt hatte. Von Beruf war dieser Monsieur Richter am Appellationsgericht, doch in seinen freien Stunden betätigte er sich als eifriger Amateur-Naturwissenschaftler. Der Zeitschriftenartikel führte aus, daß Pouyanne die Blüten einer bestimmten Orchisart, nämlich der Spiegel-Orchis (Ophrys speculum) studiert und sich gefragt hatte, warum die Lippe dieser Blüte jener bestimmten Wespenart so ähnlich sah, von der die Orchidee häufig besucht wurde, und warum es ausschließlich männliche Wespen waren, die sich einfanden. Er beobachtete Wespenmännchen bei der Landung auf den Orchisblüten, wie sie sich an ihr festklammerten und heftige, zuckende Bewegungen ausführten. Offensichtlich waren die Wespen in höchster Erregung – aber das war gewissermaßen auch der Richter Pouyanne.

Was ging hier vor? Welche Befriedigung konnte das Wespenmännchen – beziehungsweise die Orchidee – aus einer solchen Begegnung gewinnen? Auf den ersten Blick hätte es den Anschein haben können, als greife die Wespe aus irgendwelchen Gründen die Orchisblüte an, doch unser Untersuchungsrichter war ein genauer Beobachter, und er fand bald heraus, daß die treibende Kraft hinter dem Verhalten des Wespenmännchens nicht Gewalttätigkeit war, sondern Sexualität, nicht Haß, sondern Liebe. Etwas Derartiges hatte er bereits bei anderer Gelegenheit geargwöhnt, jedesmal, wenn er ein Wespenmännchen während der Begattung in gleicher Position auf einem Wespenweibchen hocken sah. So kam er auf des Rätsels Lösung.

Pouyanne fand als erster die Antwort auf eine Frage, die bis dahin viele Naturfreunde verwirrt hatte: Warum sahen diese Orchisblüten aus wie Wespen? Nun, die Ähnlichkeit zielte darauf ab, Wespenmännchen zu täuschen, so daß diese die Blüten für weibliche Wespen hielten. Was Monsieur Pouyanne beobachtete, war der Versuch von Wespenfreiern, sich mit der Orchisblüte zu paaren. Mit anderen Worten: Das Ganze war eine raffinierte Betrugsaktion, zu dem Zweck, den starken Sexualtrieb des Wespenmännchens für die Kreuzbefruchtung der Blüten einzusetzen und auf diese Weise eine neue Orchisgeneration zu zeugen.

Die Entdeckung des Richters aus Algier bedeutete möglicherweise den letzten großen Anstoß für die Anerkennung des Sexuallebens der Pflanzen, doch, wie alle früheren Erkenntnisse auf diesem Gebiet, stieß auch diese auf eine Mischung aus Prüderie, Unglauben und Gleichgültigkeit. Sicher, als unser Naturforscher 1916 seine Entdeckungen veröffentlichte, kämpften die Franzosen in einem bitteren und blutigen Krieg. Die Tageslosung lautete Gewalt, nicht Sexualität. Und es kam noch etwas anderes hinzu: Pouyanne war ein Amateur, und Botaniker lieben ebensowenig wie die ehrenwerten Vertreter anderer Wissenschaften, von einem Außenseiter auf Fakten hingewiesen zu werden, auf die sie eigentlich selbst hätten kommen müssen. Also ignorierten sie die Entdeckung erst einmal. Hatte nicht der große Charles Darwin einem Mr. Price, der ihn auf »Angriffe« von Bienen gegen ihnen ähnlich sehende Orchisarten aufmerksam machte, geantwortet, er sehe sich außerstande, in diesem Verhalten irgendeinen Sinn zu erkennen.

Eine Reihe von Biologen taten Pouyannes Beobachtung als das Hirngespinst eines alten Mannes mit schmutziger Phantasie ab. Sie meinten, daß manche Leute Sexualität eben in allem sähen; das hänge mit dieser neumodischen Sexomanie der Psychologen zusammen. Man hätte die zweideutigen Äußerungen des Richters niemals in einem seriösen Publikationsorgan abdrucken dürfen, das sich dem reinen und gesunden Gebiet der Hortikultur widme. Die Entdeckung wurde mit Achselzucken übergangen, und sie geriet in Vergessenheit. Noch 1926, genau zehn Jahre nach Pouyannes Veröffentlichung, brachte es der Wiener Naturschriftsteller Raoul Heinrich Francé fertig, das Pferd sozusagen am Schwanz aufzuzäumen, indem er einen Botanikexperten zitierte: »Kein Wunder, daß die Insekten die Blüten der Ophrys meiden! Die Zeichnung der Blütenlippe trägt wahrhaftig dazu bei, unerwünschte Gäste abzuschrecken. Die Blüte will keine Besucher, darum imitiert sie ein sie bereits besuchendes Insekt.« Das bedeutet, daß man die Augen und den Verstand gegenüber den Tatsachen der Geschlechtlichkeit nur fest zu verschließen braucht, und schon landet man beim Gegenteil der Wahrheit: Was die Blüte als Aufforderung aufgefaßt wissen will – »Komm zu mir und liebe mich!« –, wird mißverstanden als »Bleib mir bloß vom Leibe!«

Nur wenige scharfsichtige Naturfreunde, so etwa der Oberst M.J. Godfery, waren unbefangen genug, sich mit Pouyannes Erkenntnis zu befassen und ihrer Überzeugung Ausdruck zu verleihen, daß seine Beobachtungen und die Schlußfolgerungen, die er aus ihnen zog, korrekt waren. Doch sollte es noch fast ein halbes Jahrhundert dauern, bis er in jeder Einzelheit recht erhalten sollte, und zwar durch die gewissenhafte Arbeit des schwedischen Biologen Bertil Kullenberg, der das Problem streng wissenschaftlich anging und die botanischen, zoologischen und chemischen Zusammenhänge untersuchte. Kullenberg veröffentlichte seine Forschungsergebnisse 1961 in einem mittlerweile schon beinahe klassischen Buch, Studies in Ophrys Pollination (»Untersuchungen über die Pollination der Ophrys«), das gelegentlich als »Roman« bezeichnet wurde, weil es genau wie ein Roman jene musterhafte Mischung aus Geheimnis, Spannung, Aufklärung und Sex enthalte.

Die meisten neuen Entdeckungen im Zusammenhang mit der Geschlechtlichkeit der Pflanzen (und, um es genau zu sagen, auch auf dem Gebiet des tierischen und menschlichen Sexualverhaltens) stießen auf ähnliche Reaktionen, d.h. auf besonders feindselige seitens des wissenschaftlichen und des kirchlichen Establishments; dies erstens, weil solche Entdeckungen das bestehende Lehrgebäude ins Wanken zu bringen drohten, zweitens, weil die religiösen Autoritäten in jedweder Kultur der Sexualität zumindest mit gerunzelten Brauen begegnen. Letzteres rührt nicht zuletzt daher, daß diese Autoritäten sich großenteils aus jener Gruppe von Menschen rekrutieren, die alles Fleischliche für verabscheuenswürdig halten und die natürlichen Tatsachen des Lebens rundweg für unanständig halten.

Bis zum heutigen Tag sagt man, nachdem eine Jungfrau durch Geschlechtsverkehr zur Frau geworden ist, sie sei jetzt »defloriert«, wobei unausgesprochen die Vorstellung mitschwingt, daß sie die geschlechtslose »Reinheit« einer Blüte verloren habe. Ein solches Denken reicht direkt zurück bis zu den Mythen der Antike, in denen Pflanzen anscheinend nicht nur als primär geschlechtslos, sondern auch als letzte Zuflucht vor der Sexualität mit all ihren Leiden und Leidenschaften betrachtet wurden. Als der römische Dichter Ovid etwa um das Jahr der Geburt Christi sein Liebesbrevier Ars Amatoria verfaßte – ein Buch, das in früheren Ausgaben der berühmten Encyclopaedia Britannica als das »wohl unmoralischste Buch, das je ein genialer Mensch schrieb«, bezeichnet wurde –, da schockierte er die Gesellschaft seiner Zeit tief, besonders den Kaiser Augustus, der ihn denn auch im Verlauf seiner »Säubert-Rom-Kampagne« prompt in die Verbannung schickte. In der fernen Walachei versuchte Ovid, sein Image zu verbessern, indem er ein anständiges, gottesfürchtiges (oder besser götterfürchtiges) Werk verfaßte: die Metamorphosen. Darin setzte er alle griechischen und römischen Legenden über wundersame Verwandlungen von Göttern und Göttinnen, von sterblichen Männern und Frauen, von Tieren und Pflanzen in Poesie um. Und in jedem Gedicht, in dem Pflanzen auftraten, verkörperten sie »Reinheit«, was für die Traditionalisten seiner Zeit – und jeder Zeit – »Geschlechtslosigkeit« bedeutete.

Da lesen wir von Narkissos, der aus Gründen körperlicher oder seelischer Impotenz die Annäherungsversuche der Quellennymphe Echo zurückwies, sich daraufhin in sein Spiegelbild im Wasser verliebte und in eine Blume verwandelt wurde, die Narzisse, die seither seinen Namen trägt. Aus dem Verhalten des jungen Mannes leiteten später die Psychologen den Begriff Narzißmus ab, der in einigen einschlägigen Wörterbüchern noch immer als »eine Sexualperversion« bezeichnet wird, »bei der das von ihr befallene Subjekt den eigenen Körper als Liebesobjekt bevorzugt«. Normale Menschen und Nicht-Psychoanalytiker nennen dergleichen schlicht Selbstliebe. Für den, der darunter leidet, ist der Zustand allerdings nicht eine Manie, sondern ganz einfach »das Wahre«.

Dann gab es da noch jene Daphne, in die sich der griechische Sonnengott Apollon verliebte. Laut Ovid wurde der Gott von ihrer Schönheit so entflammt, daß »sein ganzes Herz ihm brannte«. Die hungrigen Blicke und die wohl ebenso begehrlichen Einflüsterungen des Gottes verschreckten Daphne derart, daß sie davonlief, »wie das Lamm vor dem Wolfe, wie das Reh vor dem Löwen oder wie die Tauben vor dem Adler fliehen«. Apollon war natürlich hinter ihr her. Sie »spürte, wie sein heißer Atem ihren Nacken berührte«. Voll Entsetzen rief das jungfräuliche Wesen den Flußgott Peneios, ihren Vater, um Hilfe an: »Vernichte meine Schönheit, die mich so verführerisch macht!« Also verwandelte Peneios sie in einen Lorbeerbaum und schützte so ihre Jungfräulichkeit für immer.

Der Gott Pan, ein ewig unbefriedigter Lüstling, hatte ein Auge, oder beide, auf die Wassernymphe Syrinx (das »Schilfrohr«) geworfen, und da er ein ziemlich rauher Bursche war und nichts von der Kunst der Verführung und des Vorspiels hielt, versuchte er sie zu vergewaltigen. Sie flehte die Himmelsgötter an, sie zu beschützen, und gerade rechtzeitig wurde sie in ein Bündel Schilf verwandelt. Da Pan seine Lust nun nicht direkt befriedigen konnte, schnitt er sich aus dem Schilfrohr Pfeifen und spielte fortan auf seiner »Pansflöte« sehnsüchtige Klagen nach der verlorenen Nymphe.

Hyakinthos wiederum war ein bildschöner Knabe, der das Verlangen Apollons erregte (der Gott scheint nicht nur weibstoll, sondern auch noch bisexuell gewesen zu sein). Doch Zephyros, der Gott des Westwindes, war ebenfalls in den Jungen verliebt und hatte bei sich beschlossen, daß, wenn er ihn nicht »haben« könnte, Apollon ihn auch nicht »kriegen« sollte. Und als dann Apollon bei einem Wettkampf seinen Diskus warf, blies Zephyros aus vollen Backen und lenkte die Scheibe so ab, daß sie Hyakinthos am Kopf traf und ihn tötete. Apollon war über das, was er für seine eigene Ungeschicklichkeit hielt, dermaßen traurig, daß er das verströmte Blut des Jünglings in jene schöne, süß duftende Blume verwandelte, die bis heute nach ihm genannt wird: die Hyazinthe. So bewahrte also auch Hyakinthos seine unbefleckte Reinheit in Form einer Pflanze. Zwar wurde er umgebracht, doch mußte er immerhin nicht das erleiden, was die Moralapostel späterer Tage als »ein Schicksal schlimmer als der Tod« bezeichneten.

Es besteht kein Zweifel, daß Ovid sein Werk zugleich als Dichtung und als Tatsachenbericht verstanden wissen wollte. Die Legenden von der Erschaffung der vorerwähnten Pflanzen durch diesen oder jenen Gott des Olymps waren fest etablierte Wahrheiten. Entsprechendes stand auch in den dreihundert Jahre vor den Metamorphosen verfaßten Lehrbüchern des Naturforschers und Philosophen Theophrastos von der Insel Lesbos. Seine Geschichte der Pflanzen und Der Ursprung der Pflanzen galten vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis ins 16. Jahrhundert, also fast zweitausend Jahre lang, unbestritten als Standardwerke der Botanik. Der Schüler des Aristoteles hat es vermutlich bewußt vermieden, die alten Mythen anzuzweifeln. Schließlich war nur wenige Jahre vor seiner Geburt der große griechische Philosoph Sokrates zum Tode verurteilt worden, weil er den Göttern nicht den gebührenden Respekt erwiesen und sich eigene Gedanken über die Religion gemacht haben soll. Die wirklichen Hintergründe dieses Todesurteils waren sicherlich komplizierter, da vor allem politischer Natur, doch die Traditionalisten hatten wieder einmal einen Sieg errungen. Jeder, der damals unvorsichtig genug gewesen wäre, die wortwörtliche Wahrheit der alten Legenden in Zweifel zu ziehen, hätte sich einem Prozeß wegen Blasphemie ausgesetzt gesehen.

Es kann uns daher nicht erstaunen, daß in den botanischen Werken des Theophrastos nirgendwo ernsthafte Zweifel gegen den herrschenden Glauben an die Geschlechtslosigkeit der Pflanzen erhoben werden. Es gibt zwar ein paar Sätze über die Palmbäume, aus denen man vielleicht schließen könnte, daß dieser Philosoph vielleicht etwas vom Geschlechtsleben der Pflanzen geahnt haben mag, doch sind seine diesbezüglichen Anspielungen so behutsam und ungenau gehalten, daß sie weder Anlaß zu Aufregung noch zu Kritik boten.

Wie auch immer, als Theophrastos seine Pflanzenbeobachtungen machte, gab es keine Möglichkeit, der wahren Rolle der Sexualität auf die Spur zu kommen. Das Kernprinzip, daß nämlich der weibliche Partner eine mindestens ebenso bedeutende Rolle spielte wie der männliche, lag damals völlig jenseits der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten; und so blieb es auch während der nächsten zweitausend Jahre – bis zur Erfindung des Mikroskops und der Entdeckung der Zellen. Selbst hinsichtlich des Tierreiches, in dem das Wirken der Geschlechtlichkeit nicht übersehen werden konnte, besagte die offizielle Lehre, daß das Weibchen außer der Bereitstellung der »schützenden und nährenden Mutterhöhle« für den Nachwuchs keinerlei Beitrag leiste. Das Weibchen war ausschließlich das Empfangsgefäß, in das das Männchen seinen »Samen« ergießt, der bereits den Embryo enthielt.

Die sekundäre Bedeutung des weiblichen Geschlechts war ein Glaubensartikel, den niemand Geringerer als Aristoteles selbst formuliert hatte. Und auch er vertrat damit eigentlich nur das allgemeingültige Dogma, das mit der Autorität eines Gottbegnadeten hundert Jahre zuvor der Vater der griechischen Tragödie bereits auf der Bühne propagiert hatte. In seinen Eumeniden läßt Äschylos durch den Gott Apollon als unumstößliches Faktum verkünden: »Die Mutter ist nicht Ursprung ihres Kindes – wie wir sagen –, sie ist nur Amme einer neugesäten Saat. Der Mann, der diesen Samen legte, er ist der Lebenspender; sie indessen pflegt nur den Keim, ist Heimstatt nur für einen Gast …«

Knapp dreihundert Jahre nach dem Tod des Theophrastos begriff der römische Naturwissenschaftler Plinius der Ältere wohl etwas von der Existenz einer pflanzlichen Geschlechtlichkeit, wie sein Riesenwerk Naturalis Historia erkennen läßt: »Es ist bewiesen, daß die weiblichen Palmen ohne die Mitwirkung der männlichen Palmenbäume keine Frucht tragen können, deshalb neigen die weiblichen Bäume ihre Zweige den männlichen zur Umarmung entgegen. Der männliche Palmbaum vermählt sich mit ihnen vermittels sanfter Seufzer, zärtlicher Blicke und der Verströmung eines Staubes. Wird der männliche Baum geschlagen, so sind hernach die weiblichen Witwen unfruchtbar. Diese Liebe zwischen Pflanzen wurde vom Menschen beobachtet, der sie zu imitieren versucht, indem er Blüten und Flaum, ja, sogar ausgestreuten männlichen Staub zu den weiblichen Bäumen bringt.« Nicht zum erstenmal, und wohl auch nicht zum letztenmal, scheinen hier Gärtner, die ständig mit der Natur in Berührung standen, Tatsachen des Lebens erkannt und verwendet zu haben, um den Fruchtertrag zu steigern, ohne sich den Kopf über die Theorien von Botanikern, Philosophen oder anderen sogenannten Gelehrten zu zerbrechen.

Doch trotz der winzigen Bruchstelle in der feststehenden Doktrin von der Geschlechtslosigkeit der Pflanzen sind diese Bemerkungen des Plinius bis in die Neuzeit hinein der letzte Verstoß gegen die Lehre geblieben. Allzu viele Traditionen wären in Gefahr geraten, hätte man ein derart »modernes« Denken unkontrolliert durchgehen lassen. Denn nicht nur philosophische Systeme, sondern ganze Religionsgebäude waren auf der Basis der Geschlechts- und Körperfeindlichkeit errichtet worden – nicht zufällig, wohl aus Furcht davor, das Weib könnte eventuell doch eine dem Manne adäquate wichtige Funktion erfüllen.

Vielleicht dämmerte es ja der von Männern beherrschten Gesellschaft bereits, daß das Eingeständnis, die Mutter sei an der Entstehung neuen Lebens kreativ beteiligt, automatisch dazu führen müsse, daß sie, die Mutter, als sehr viel wichtiger angesehen werden würde als der Vater, weil sie dem Embryo nicht nur Wohnung und Nahrung gab, sondern auch genetisch zur Hälfte an dem neuen Lebewesen beteiligt war. (Tatsächlich tragen die weiblichen Elternteile, sowohl im Tierreich wie im Pflanzenreich, weit mehr als nur die Hälfte zum Nachwuchs bei.)

Während der nächsten fünfzehnhundert Jahre nach dem Erscheinen der Naturgeschichte des Plinius – während der Glaube an die alten Götter zerbröckelte, die Zivilisation Roms in Trümmer fiel und das Christentum seine Vormachtstellung eroberte – scheint kein Mensch neue Beobachtungen über die Geschlechtlichkeit der Pflanzen gemacht zu haben. Dicke Bände voller Beschreibungen der Kräuter und ihrer medizinischen Anwendungsmöglichkeiten wurden von Klostermönchen verfertigt, die während des »dunklen Mittelalters« wenigstens eine Spur von Gelehrsamkeit weitertrugen. Doch waren Menschen, die es zum mönchischen Leben zog, noch weniger als andere befähigt, auf die rings um sie von jeder Lebensform unablässig betriebene Geschlechtsaktivität zu achten; viele von ihnen hatten der Welt ja gerade deswegen den Rücken gekehrt, um »von diesen Dingen« loszukommen.

Daß Pflanzen, diese unschuldig-reinen Dinge, die Gott vor dem Sündenfall (der auch schon wieder voller Sexualität steckt!) erschuf, ihre Blüten entfalten und sich durch sie zur Schau stellen, nicht um das Menschenauge zu erfreuen, sondern frech zur Erregung sexueller Begierde – eine derartige Vorstellung hätte die Frommen mit Entsetzen erfüllt und sie veranlaßt, sich für ihre sündhaften Gedanken sogleich Bußübungen aufzuerlegen.

Als dann die Geschlechtlichkeit der Pflanzen vor knapp drei Jahrhunderten endlich entdeckt wurde, geschah dies nicht durch die Mönche und Scholastiker, die ein Leben der Entsagung, das heißt, der Abkehr von der alltäglichen Wirklichkeit der Welt, führten. Nein, den Durchbruch erzielten Ärzte, deren Beschäftigung mit den Pflanzen sehr praktischer Natur war, weil sie mit ihnen Krankheiten zu heilen suchten, und deren anatomische Ausbildung ihnen genau die richtigen Kenntnisse und die nötige Unbefangenheit verschafft hatten.

Im 16. Jahrhundert kam plötzlich ein starkes Interesse auf an der menschlichen Anatomie und an den physiologischen Körpervorgängen. Angeregt durch die anatomischen Zeichnungen von Renaissance-Künstlern wie Leonardo da Vinci und Medizinern wie Andreas Vesalius, begannen die Ärzte den Organismus des Menschen selbst zu untersuchen, statt sich weiter auf die Autorität antiker Philosophen zu verlassen. Unter größtem persönlichem Risiko – wegen der bigotten Frömmler, die dies als Blasphemie betrachteten – schnitten sie Leichen auf, um herauszufinden, wie sie im lebendigen Zustand funktioniert hatten. Die Gründe für dieses Erwachen der naturwissenschaftlichen Forschung sind vielfältig und zahlreich: Anregung boten die Entdeckungen neuer Länder und neuer Menschenrassen, neuer Heilpflanzen – und neuer Krankheiten.

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts hatte sich die Syphilis epidemisch über ganz Europa ausgebreitet und entsetzliches Elend mit sich gebracht. Es wird behauptet, daß keine Familie königlichen oder zumindest adeligen Geblüts (also jene Familien, die sich einen Leibarzt leisten konnten) von der Lustseuche frei geblieben war. Es mußte daher etwas geschehen, und zwar rasch. Und es ergab sich, daß die Kenntnis über ansteckende Krankheiten rapide zunahm, weil reiche Leute große Summen bezahlten, damit Behandlungsmethoden gefunden werden konnten. Man stellte fest, daß die »schleichende Krankheit« durch den Geschlechtsverkehr übertragen wird, und diese Erkenntnis führte zu einer verstärkten Beschäftigung mit der Sexualität und den Geschlechtsorganen. Um gegen die Seuche anzugehen, mußte man die scheinheilige Keuschheit aufgeben, und die Ärzte begannen, auch die Intimbereiche sogar der weiblichen Patienten zu untersuchen. Bald konnten männliche Ärzte sogar Entbindungen durchführen, was die Hebammen furchtbar erbitterte, deren Unwissenheit, Aberglaube und Unsauberkeit zu der hohen Säuglingssterblichkeit während des Mittelalters nicht unwesentlich beigetragen hatte.

Mit dem 17. Jahrhundert setzte auf medizinischem Gebiet ein intensiver Gärungsprozeß um neue Ideen und Entdeckungen ein. Im Jahre 1628 hatte der englische Arzt William Harvey seinen Traktat über den Blutkreislauf veröffentlicht, und trotz heftigen Widerstandes seitens der puritanischen Gesellschaft fegte diese Entdeckung sehr bald jene vagen antiken Vorstellungen hinweg, nach denen im Körper »Temperamente« und »Flüssigkeiten« walten. Dreiundzwanzig Jahre später, 1651, veröffentlichte Harvey seinen Traktat über die Fortpflanzung und versetzte die Welt in Aufregung, weil darin ein wahres Wort über die Sexualität gesagt wurde: Omne vivum ex ovo. Denn genau dies war seine Überzeugung: »Alles, was lebt, selbst jene Tiere, die ihre Jungen lebend gebären, und auch der Mensch, entspringen einem Ei.«

Mit diesem Satz begann die Erforschung der Sexualität. Schrittweise wurde nun die bis dahin unbestrittene Überzeugung widerlegt, daß jegliche Form von Leben durch einen Akt spontaner Selbstfortpflanzung entstünde. Plötzlich wurde Leben nicht mehr in einem Schöpfungsakt »geschaffen« – es entstand durch die Befruchtung eines Eis.

Nachdem die Wahrheit über die geschlechtlichen Vorgänge bei Tieren nachgewiesen war, dauerte es auch nicht mehr lange, bis man die Sexualität der Pflanzen entdeckte. Marcello Malpighi, ein italienischer Medizinprofessor in Bologna, war einer der ersten, der für seine Untersuchungen an Tierkörpern ein Mikroskop verwendete, und bald ergriff ihn die Neugierde, zu erfahren, was wohl Pflanzenstrukturen, vergrößert, verraten mochten. Seine Anatomia Plantarum wurde im Jahre 1672 veröffentlicht; er beschreibt darin ausführlich und sorgfältig seine Erkenntnisse über die Anatomie und Physiologie der Pflanzen. Im gleichen Werk berichtet er – obwohl es dort eigentlich nicht hineingehört – auch von »Beobachtungen über das befruchtete Ei« und illustriert den Entwicklungsprozeß des Kükens im Hühnerei mit hervorragend klaren Zeichnungen. Allerdings ging er den Schritt nicht weiter; er gelangte nicht zu der Schlußfolgerung, daß in Pflanzen der gleiche geschlechtliche Vorgang ablaufe.

Vier Jahre danach wagte endlich jemand die Behauptung, daß Pflanzen ebenfalls Geschlechtswesen seien. Der das kühn aussprach, war der Arzt Sir Thomas Millington, Mitglied der Königlichen Akademie und später Präsident des Royal College of Physicians. Die Vermutung liegt nahe, daß der Engländer Malpighis Anatomia Plantarum gelesen hat, zwei und zwei zusammenzählte und so auf die Idee kam, Pflanzen und Sexualität in Beziehung zu bringen. Allerdings veröffentlichte er seine Gedanken nicht, sondern teilte sie nur einem an Botanik interessierten Freund und Arztkollegen mit, dem Dr. Nehemiah Grew, der ziemlichen Wirbel verursachte, als er diese Hypothese in einer Vorlesung »Über die Gestalt der Blüten« im Jahre 1676 vor die Royal Society brachte. Der Vortrag erregte ein solches Interesse, daß Grew ihn in seinem 1682 veröffentlichten Buch Anatomy of Plants (»Die Gestalt der Pflanzen«) abdrucken ließ. Er zollte Millington jegliche Anerkennung für die Entdeckung; »Millington«, sagte er, »hat mich darauf hingewiesen, daß das Gepränge (also die Staubgefäße) bei der Befruchtung der Pflanze die Rolle des Mannes spielt«.

Acht Jahre danach lieferte ein Deutscher, der Tübinger Medizinprofessor Rudolf Jakob Camerarius, den Nachweis für die Richtigkeit der Theorie seiner britischen Kollegen. Seine Epistola de Sexu Plantarum (»Brief über das Geschlecht der Pflanzen«) trägt das Datum des 25. August 1694 und ist an seinen Freund Valentini, Professor der Medizin in Gießen, adressiert. Dieses Schreiben gilt allgemein als die erste Beweisführung über die Geschlechtlichkeit von Pflanzen. Durch sorgfältige, mühevolle Experimente, bei denen er die Staubgefäße von männlichen Rizinusblüten entfernte und damit bewirkte, daß die weiblichen Blüten keine Frucht ansetzten, und bei denen er herausfand, daß sich nach der Entfernung der weiblichen »Blütenquasten« aus der Maispflanze keine Frucht bildet, erhob Camerarius die Tatsache der pflanzlichen Geschlechtlichkeit über jeden Zweifel. Bezüglich der Bisexualität von Blüten zitierte er die Entdeckung des Holländers Jan Swammerdam, daß Schnecken Hermaphroditen, also doppelgeschlechtliche Tiere, seien und betonte, daß Bisexualität im Tierreich wahrscheinlich eine Ausnahme darstelle, im Pflanzenreich jedoch sehr wohl die Norm sein könne. Allerdings war er ein wenig vorschnell in seiner Annahme, daß sich hermaphroditische Pflanzen selbst bestäubten. Die Vorstellung, daß die weiblichen und männlichen Geschlechtsteile ein und derselben Blüte zu verschiedenen Zeiten sexuell aktiv werden könnten, die Pflanze gewissermaßen einen Geschlechtswandel vornimmt und so nur durch andere Blüten befruchtet wird und andere Blüten befruchten kann, scheint Camerarius nicht gekommen zu sein.

Obwohl die Veröffentlichung des Camerarius im Jahre 1694 das vielleicht wichtigste Datum in der Geschichte menschlichen Begreifens der Geschlechtlichkeit darstellt, führte sie nicht über Nacht zu einer Umwälzung des wissenschaftlichen Denkens. Viele lehnten die Schlußfolgerungen des Tübingers ab. Viele andere erhielten lange Zeit gar nicht Kenntnis von ihnen. Noch sechs Jahre später konnte der französische Botaniker Tournefort nachdrücklich betonen, der Zweck der Staubgefäße sei, überflüssigen Saft loszuwerden, indem sie ihn in der Form der Pollen absonderten. Wie so oft verwechselte hier ein sexuell Unaufgeklärter die Funktionen der körperlichen Ausscheidung mit geschlechtlichen Funktionen. Und dies weist vielleicht auf einen der Gründe dafür hin, warum viele Leute die Sexualität kurzerhand als »schmutzig« bezeichnen.

Nur wenige Botaniker inspirierte die Entdeckung des Camerarius zu selbständigen Experimenten. Der englische Naturphilosoph Richard Bradley beschrieb 1717 in seinem Buch New Improvements of Planting and Gardening (»Neuere Verbesserungen für den Gärtner und Pflanzenfreund«) einige Versuche mit Pflanzensexualität bei seinen Gartentulpen. Er schnitt bei zwölf Pflanzen die männlichen Organe ab und ließ die übrigen, die in einiger Entfernung wuchsen (etwa vierhundert Pflanzen), unkastriert. Das Ergebnis war, daß »die zwölf solchermaßen kastrierten Pflanzen in diesem Sommer keinen Samen trugen, wohingegen jede der vierhundert anderen Pflanzen, die ich unberührt gelassen hatte, Samen hervorbrachten«.

Dies war wohl das erste Sexualexperiment an hermaphroditischen Blumen. Bradley diskutiert auch die Beschneidung der männlichen Kätzchen eines Nußbaums, der daraufhin unfruchtbar wird, es sei denn, man überträgt Pollen von einem anderen Baum auf die weiblichen Blüten, die man »an jeglichem Morgen, über drei oder vier Tage hintereinander, frisch sammelt und mit denen man leicht die weiblichen Teile bestäubt«. Es scheint, als hätte Bradley nicht nur die Geburtenkontrolle bei Pflanzen erfunden, sondern auch ihre künstliche Befruchtung. Er erwähnt ferner die Züchtung einer neuen, vom Menschen geschaffenen Kreuzung zwischen einer Nelke und dem Garten-Leimkraut und äußert die Hoffnung, daß die Zukunft zahlreiche künstliche Hybriden hervorbringen werde.

Vier Jahre nach Bradleys Veröffentlichung wiederholte der Botaniker Philip Miller das Experiment und kastrierte zwölf Tulpen, doch ihm fiel dabei etwas ganz anderes auf. Sämtliche kastrierten Blüten entwickelten Samen. Zwei Tage nach der Kastration der Blüten bemerkte Miller »Bienen, die in einem Tulpenbeet arbeiteten, wo ich die Staubgefäße nicht entfernt hatte, und wenn sie wegflogen, waren sie an ihrem Leib und den Beinen mit Staub bedeckt. Ich sah, wie sie zu den Tulpen flogen, deren Stamina ich entfernt hatte, und als sie davongeflogen waren, begab ich mich dahin und fand, daß sie genug Staub zurückgelassen hatten, um diese Blüten zu befruchten, denn sie trugen gute reife Samen – wodurch ich überzeugt bin, daß die Farina durch Insekten von einem Ort zum anderen getragen werden kann.«[2] (Farina fecundans, das »befruchtende Pulver« oder »Mehl«, war die Bezeichnung, die die Gelehrten jener Zeit dem Stoff gaben, den wir heute Pollen nennen.)

Philip Miller hatte also die Rolle der Bienen bei der Pflanzenbestäubung entdeckt. Nun war es jedenfalls klar, daß hermaphroditische Blüten sich nicht zwangsläufig selbst befruchten müssen. Bald wurde sogar die Behauptung aufgestellt, daß Blüten sich niemals selbst befruchteten, und diese Annahme hielt sich viele Jahre lang, anscheinend nicht so sehr aus wissenschaftlicher Überzeugung, sondern aus Gründen der Moral, wegen des herrschenden Tabus der »Sünde des Inzests«.

Ein paar Jahre nach Millers Beobachtungen, nach der Insekten Blüten durch Kreuzung befruchten können, kam aus den USA die Nachricht, daß auch der Wind dies könne. James Logan, Oberster Richter und Präsident der Ratsversammlung von Pennsylvania, beschrieb in einem Brief vom 20. November 1735 seinem Freund Peter Collinson, einem Mitglied der Britischen Royal Society, einige Experimente, die er in seinem Garten in Philadelphia an Pflanzen des »Mais oder Indianerkorns« durchgeführt hatte. Er hatte dabei an einigen Pflanzen die männlichen Blütenstände an der Spitze abgeschnitten, bevor sie Pollen produzieren konnten; bei anderen hatte er die ganzen weiblichen Blütenquasten entfernt, bei wieder anderen ein Viertel, die Hälfte oder drei Viertel der Blütenquasten. Bei wieder anderen Pflanzen hüllte er die weiblichen Blütenstände, kurz bevor die Quasten (oder die »Seide«, wie er es nannte) auftraten, in Musselinsäckchen: »Die Flaumigsten oder Dichtesten, die ich finden konnte, um den Durchgang der Farina zu verhindern, wobei sie jedoch weder Sonne noch Regen oder Luft entbehren sollten. Ich befestigte sie außerdem sehr lose, um das Wachstum nicht im geringsten zu behindern.«

Die Kolben in den Musselinsäckchen setzten keinen Samen an; auch jene nicht, bei denen die ganze Blütenquaste entfernt worden war. Blütenstände, bei denen die Quasten zum Teil entfernt worden waren, brachten nur dort Körner hervor, wo die »Seide« (das »Gespinst«) unberührt gelassen worden war. Die Pflanzen, deren männliche Blüten kastriert worden waren, lieferten überhaupt keinen Samen – mit einer Ausnahme. Ein dicker Kolben an einer der kastrierten Pflanzen setzte etwa zwanzig Samen an, von den etwa fünfhundert möglichen. Der Grund, meinte James Logan, sei der, daß der fragliche Maiskolben mit seinen weiblichen Blütenquasten in der Nähe einiger nichtkastrierter Pflanzen gestanden habe und daß der Wind von diesen eine bestimmte Pollenmenge herangetragen haben müsse.

In den etwa drei Jahrhunderten, die vergangen sind, seit Camerarius zum erstenmal zweifelsfrei nachwies, daß es eine Geschlechtlichkeit der Pflanzen gibt, wurden durch unzählige Experimente und Beobachtungen Berge von neuen Informationen zusammengetragen. Aber die fundamentalen Tatsachen – die Existenz der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane bei Pflanzen, ihr Bau und ihre Funktionsweise, ihre Tricks, um die Befruchtung zu erreichen, mit Hilfe oder ohne die Hilfe von Zwischenträgern wie Insekten oder dem Wind – wurden sämtlich während der ersten dreißig, vierzig Jahre nach der Pioniertat des deutschen Arztes erkannt.

Es wird später genug Gelegenheit sein, auf die wichtigsten und interessantesten moderneren Entdeckungen einzugehen. Zuvor muß man jenem Mann den gebührenden Tribut zollen, der mehr als irgendwer vor oder nach ihm dazu beigetragen hat, den Gesamtbereich der »Geschlechtlichkeit von Pflanzen« verständlich und gesellschaftsfähig zu machen.

 

Dieser große Mann, der schwedische Botaniker Carl von Linné, wurde 1707 in Råshult geboren. Als Sohn eines Predigers erwartete man von ihm, daß auch er Theologie, das Modestudienfach jener Zeit, studieren würde. Aber seine mangelhaften Leistungen auf dem Gymnasium veranlaßten die Lehrer zu dem Urteil, er sei für die Theologie nicht »ausreichend talentiert«, so daß man statt dessen das Studium der Medizin für ihn wählte. Angesichts seiner späteren Leistungen erscheint es als höchst unwahrscheinlich, daß es Linné an den geistigen Fähigkeiten zum Studium der Theologie gemangelt haben könnte. Schließlich weist sein epochemachendes Werk der Pflanzenklassifizierung alle Merkmale der Arbeit eines disziplinierten theologischen Gehirns auf – Botaniker unserer Tage würden vielleicht sogar sagen, eines allzu disziplinierten und allzu theologischen Gehirns.

In Wahrheit hat sich der junge Carl von Linné wohl unterstanden, seine Gedanken von den Themen der Theologie auf das Gebiet der Sexualität abschweifen zu lassen. Für die meisten jungen Burschen würde das bedeutet haben, daß ihr Interesse an Mädchen erweckt wurde, doch Carls Interesse richtete sich anscheinend nur auf die Pflanzen. Im Gymnasium hatte er sich eng an seinen Lehrer Rothman angeschlossen, der sich dem Studium der neuen Entdeckungen über die Pflanzengeschlechtlichkeit widmete und mit seinem Schüler ein Buch las, das beide tief beeindruckte: Vaillants Sermo de Structura Florum (»Gespräch über die Gestalt der Blumen«). Das Buch wurde 1718 veröffentlicht, als Linné gerade ins Pubertätsalter kam, und bot alle damals beweisbaren Fakten in leichtverständlicher Form dar. Es hat sicherlich dazu beigetragen, in Linné jenes Interesse zu entzünden, das dann während der nächsten Jahre zur Besessenheit aufflammen sollte.

Bedenkt man, welcher Feindseligkeit die Protagonisten der Pflanzengeschlechtlichkeit einst ausgesetzt waren, dann kann es uns nur komisch berühren, wie sich heute bestimmte Länder um die Ehre streiten, auf diesem Sektor die ersten gewesen zu sein. Im Jardin des Plantes in Paris haben die Franzosen neben einem Pistazienbaum eine Tafel aufgestellt, auf der geschrieben steht, dies sei genau jener Baum, an dem es Vaillant 1716 gelang, »die Geschlechtlichkeit im Reich der Flora zu entdecken«. Tatsächlich war er mit dieser Entdeckung allerdings zweiundzwanzig Jahre hinter Camerarius und vierzig Jahre hinter Millington hergehinkt.

Im Alter von zweiundzwanzig Jahren, als Medizinstudent an der Universität von Uppsala, legte Linné seine Gedanken über die Sexualität der Pflanzen in einem Essay nieder, dem er den Titel Praeludia sponsaliorum plantarum (»Vorspiele pflanzlicher Begattung«) gab. Damals war es Brauch, alle gelehrten Schriften lateinisch abzufassen, und Carl war in dieser Sprache besonders gut bewandert, da sein Vater ihn nicht nur gelehrt hatte, sie zu verstehen, sondern sogar, sich in ihr geläufig auszudrücken. Der Titel wird meist als »Vorschau der pflanzlichen Befruchtung« angegeben, doch der wörtlichen Bedeutung von Praeludia entspricht eben das in diesem Zusammenhang angemessenere Wort »Vorspiele«. Der Text, den der Autor selbst mit Illustrationen schmückte, ist ziemlich preziös und recht unreif, doch er enthält bereits viele der Ideen, die »Linnaeus« später berühmt machen sollten und auf die er sein System der Benennung und Klassifizierung der Pflanzen aufbaute – das Linnésche System, auf das sich die Botanik bis heute stützt.

Dieser Essay erregte das Interesse Olof Rudbecks, der als Professor in Uppsala Botanik lehrte, so sehr, daß er den Verfasser aufforderte, so jung er auch sein mochte, seine Ausführungen vor Kommilitonen an den Pflanzen im Botanischen Garten zu demonstrieren. Vielleicht war dies der erste Sexualkundeunterricht, bei dem die Bienen und die Blumen für die Erklärung von Tatsachen des Lebens herhalten mußten.

Das Thema Pflanzensexualität interessierte Linné immer mehr. Er unterbrach sein Medizinstudium mehrmals und reiste zwecks Studium der Pflanzen bis nach Lappland. Im Jahre 1735 ging er dann nach Holland, wo er an der Universität Harderwijk sehr bald den Doktorgrad erwarb. Aus Schweden hatte er mehrere seiner Manuskripte mitgenommen und überarbeitete nun die in seinen »Vorspielen« angedeuteten Ideen, das heißt, er entwickelte aus ihnen ein neues Klassensystem der Pflanzen gemäß ihren geschlechtlichen Merkmalen. Die Wissenschaftler, denen er diese Arbeiten vorlegte, erkannten sofort deren Wichtigkeit und sorgten mit Hilfe reicher Mäzene dafür, daß sie gedruckt wurden.

Drei Jahre nach seiner Ankunft in Holland konnte Linné stolz sein auf nicht weniger als vierzehn Veröffentlichungen. Als er 1738 abreiste, galt er in wissenschaftlichen Kreisen schon als Begründer der modernen Pflanzenklassifizierung. Seine grundlegende Schrift, im Dezember 1735 erschienen, ist Systema naturae. In ihr legte Linné sein System für die geschlechtliche Bestimmung der Pflanzen dar und den Schlüssel zu einer raschen Einordnung der Gewächse anhand der Zahl und der Anordnung ihrer Geschlechtsorgane in der Blüte. Das Buch hatte einen ungeheuren Erfolg. 1759 wurde es bereits in der zehnten Auflage veröffentlicht, und nicht nur Wissenschaftler begrüßten es, es erregte auch das Interesse von Laien – und zwar vielleicht deshalb, weil sein Autor den Pflanzen ein ähnliches Sexualverhalten zuschrieb wie den Menschen und weil er es mit den gleichen Worten schilderte.

Eine Pflanzengruppe etwa beschreibt er (wenn auch auf lateinisch) als solche, die »offen und für alle sichtbar die Begattung vollzieht«. Eine andere Gruppe wird dargestellt als die der »heimlichen Hochzeiter«. Die erste Gruppe wird unterteilt in Pflanzen, bei denen »Gatten und Gattinnen ein gemeinsames Hochzeitsbett teilen«, und solche, deren Blüten sich »den Luxus getrennter Ehebetten leisten«.

Linné brachte den Niederlanden durch seine Schriften hohe Ehren und großen Ruhm ein. Man bat ihn, er solle im Land bleiben, was er aber ablehnte. Im September 1738 eröffnete er eine Arztpraxis in Stockholm, und im nächsten Jahr heiratete er. Seine Manie zur Klassifizierung wirkte sich bis in sein Liebeswerben um die Braut aus, die er als »meine monandrische Lilie« bezeichnete, wobei die Blume Jungfräulichkeit symbolisierte und das aus dem Griechischen abgeleitete Wort »monandrisch« eine »Frau mit nur einem Mann« bedeutete. Einem Freund gegenüber klassifizierte er die Auserwählte, eine Arzttochter, nüchterner, indem er schrieb: »Ich habe soeben die Frau geehelicht, die ich seit Jahren heiraten wollte, und – unter uns gesagt – sie ist ziemlich reich.«

Linnés Beitrag zur Einteilung der Pflanzen hatte weitreichende Auswirkungen. Als er mit seinen Arbeiten begann, herrschte auf diesem Gebiet ein rechtes Chaos. Für manche Pflanzen gab es verschiedene Namen, andere trugen Bezeichnungen, die vierzig oder fünfzig Wörter lang waren. Völlig willkürlich wurden die einzelnen Spezies in verwandtschaftliche Beziehungen zueinander gebracht, je nachdem, welches »System« sich der betreffende Botaniker gerade ausgedacht hatte: ob es Bäume oder Kräuter waren, ob sie auf trockenem oder feuchtem Boden wuchsen, ihre Bestandteile giftig oder eßbar waren.

Die Geschlechtlichkeit der Pflanzen dagegen ermöglichte es Linné erstmalig, ein »natürliches System«, wie er es selbstbewußt nannte, aufzustellen. In seinem umfangreichen Werk Philosophia botanica läßt er seiner Systematisierungslust gar so weit freien Lauf, daß er auch gleich die Botaniker klassifiziert. Einige nannte er orthodox, also rechtgläubig; das waren jene, die die Pflanzen aufgrund von Blüte, Samen und Frucht bestimmten, also nach ihren »Genitalien«. Andere bezeichnete Linné als heterodox; das waren jene armen Unwissenden, die Pflanzen nach irgendwelchen anderen Kriterien einordneten: die Alphabetiker (die sich schlicht an die alphabetische Reihenfolge der Namen hielten), die Rhizotomisten (für die die Wurzelstruktur entscheidend war), die Phyllophilen (nach der Blattform), die Physiognomisten (die nach der äußeren Erscheinung urteilten) usw. Aber selbst unter den Orthodoxen waren sämtliche anderen Botaniker für Linné im Unrecht: die Fruktisten (die sich allein an die Frucht hielten), die Kalixisten (die sich nach dem Blütenkelch richteten). Und nur jene Kollegen, die nach geschlechtlichen Merkmalen im Pflanzenreich Ordnung schafften, waren für ihn akzeptabel.

Doch auch das sogenannte Linnésche System war nicht unfehlbar. Es mußte im Laufe der Zeiten immer wieder korrigiert und vor allem beträchtlich erweitert werden. Trotz Linnés kühner Behauptung, er sei der erste »Sexualist« unter den Klassifizierern der Pflanzen, war er dies eigentlich nur teilweise. So legte er etwa allzu großes Gewicht auf die männlichen Geschlechtsorgane; er stützte seine Ordnung der Blütenpflanzen vor allem auf die Zahl der vorhandenen Staubgefäße, ihre relative Länge und ob sie getrennt (»Gatten ohne Verbindung zueinander«) oder vereint (»Gatten, durch ein brüderliches Band verbunden«) seien. Wohl trägt Linné gelegentlich auch den weiblichen Organen Rechnung, doch stets in strikt untergeordneter Rolle. Heute würde man ihn zweifellos als Männlichkeitsfanatiker bezeichnen.

Es ist interessant festzustellen, daß anderthalb Jahrhunderte nach Linnés Systema naturae im Verlauf der Erstarkung der Frauenbewegung genau der umgekehrte Standpunkt vertreten wurde. Im Jahre 1906 erschien ein kleines Lehrbuch über die Grundlagen der Botanik mit dem Titel The Study of Plant Life. In dem Kapitel über »Blüten« ist zu lesen: »Nun sind wir ins Herz der Blume vorgedrungen und finden dort das allerwichtigste Ding … ein winziges grünes Gebilde ähnlich einer Erbsenschote mit einer kleinen klebrigen Stelle …« Die Behauptung, daß die allerwichtigsten Pflanzenteile die weiblichen Blütenorgane seien, wurde von einer Sechsundzwanzigjährigen aufgestellt, der jüngsten britischen Doktorin und Dozentin für Paläobotanik an der Universität Manchester. Sie hieß Marie Stopes und sollte später berühmt – oder wenn man so will, berüchtigt – werden als Autorin des Bestsellers Married Love