»Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis« -  - E-Book

»Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis« E-Book

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Welche Art von Brief würde man an diejenigen schreiben, die in Frieden und Freiheit leben und nicht wissen, wie es ist tagtäglich im Krieg? Diese Frage haben 38 Frauen zwischen 10-72 Jahren beantwortet, indem sie Briefe verfasst haben, die nun in ihrer ganzen Wucht, Dichte, Schmerz, Kraft und Kompromisslosigkeit vorliegen. Fotografiert wurden die Frauen von drei Ukrainerinnen. Und die gute Nachricht ist: Sie sind alle noch am Leben.

Mit einem Nachwort von Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk

»Aurélie Bros hat mit vielen ukrainischen Frauen gesprochen. In diesem feinfühligen, zum Nachdenken anregenden Buch haben die Frauen ihr eigenes Leben in ihrer eigenen Stimme beschrieben. Aurélie Bros zeigt uns auf einfühlsame und aufschlussreiche Weise, wie wichtig es ist, nicht zu ignorieren, was um uns herum geschieht.« Lily Brett

»Dieses Buch ist die Geschichte von 38 ukrainischen Frauen, die sich entschieden haben zu wählen, was sie werden wollen, und es wird Sie von der ersten bis zur letzten Seite fesseln und inspirieren.« Stephen Fry

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 456

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

Dem ukrainischen Volk.

Den Frauen auf der

ganzen Welt, die mit Mut

für ihre Rechte kämpfen.

Für meine Tochter.

»Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis«

Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt

Herausgeberin

Aurélie Bros

Übersetzerin

Lydia Nagel

Fotografien von

Daria Biliak, Kristina Parioti und Anastasia Potapova

Einführung

Aurélie Bros

Briefe

Olha Stefanyschyna

Sofija O.

Olena Biloserska

Marjana Motrunytsch

Iryna Nowokreschtschenowa

Marija Lepjochina, a.k.a. Masha Syta

Olha Borawljowa

Jerry Heil

Ira Solomatina

Marija Tscherpak

Natalija Pawlussenko

Jewhenija Luhanowska

Sofija Kropywnyzka

Jana Nakonetschna

A. (möchte anonym bleiben)

Adelina Mokljak

Olha Afanasjewa

Anastasija Hruba

Iryna Tschernytschenko

Kristina Parioti

Anastasija Seliwanowa

Hanna Kimlatsch

Oksana L.

Olha Olschanska

Maryna Kamenska

Stefanija Starowojtowa

Jana Matwijtschuk

Kateryna Wosianowa

Tajisija Klotschko

Hanna Wassyk

Oksana Kortschynska

Julija Pajewska, a.k.a. Taira

Inna Schworak

Sofija Podkolsina

Merjam Jol

Dina Wonh

Hanna M.

Kateryna Jakowlenko

Nachworte

Emily Channell-Justice

Oleksandra Matwijtschuk

Anhang

Danksagung

Einführung

Aurélie Bros

Berlin. Sommer 2022. Ich erzähle meinen deutschen Freundinnen Franzi und Laura, dass heute Abend drei ukrainische Gäste zum Essen kommen werden. Geflüchtete?, fragen sie mich höflich. Als ich nicke, sehe ich in ihren Blicken tiefes Mitgefühl und echte Empathie.

Es ist acht Uhr. Es klingelt an der Tür. Wenige Minuten später erscheinen Julia, Vera und Anna. Perfektes Make-up, das an die Titelseiten der Vogue-Magazine erinnert. Schwindelerregende Stilettos. Während sie mir aufgeregt zärtliche Worte auf Ukrainisch zuzwitschern, ist die Überraschung in Franzis und Lauras Gesichtern abzulesen, die alles andere als das erwartet haben.

Ich öffne eine Flasche Wein, um Annas Geburtstag gebührend zu feiern. Dann ertönt Lachen in der Wohnung. Es liegt eine Mischung aus Glück, Optimismus und Dankbarkeit in der Luft. Trotzdem wollen Franzi und Laura über den Krieg sprechen. Verständlicherweise wollen sie aus erster Hand erfahren, wie es sich anfühlt, ein solch katastrophales Ereignis zu erleben und Tausende Kilometer von der Heimat und den Menschen, die man liebt, entfernt zu sein. Wie viele im Westen sehnen sich auch meine deutschen Freunde nach Geschichten, die nicht vom Journalismus gefiltert sind – ein gutes Gegenmittel zu all den politischen und militärischen Analysen, die man täglich in den Nachrichten liest.

Doch die drei Ukrainerinnen sprechen lieber über das Leben in Berlin. Museen, Cafés und Yogakurse. Jede von ihnen versucht, den Eindruck eines geordneten Lebens zu erwecken – ein Leben, das auch das von Franzi oder Laura sein könnte.

Es überrascht mich nicht, dass sie über Dinge sprechen, die man als alltägliche Banalitäten betrachten könnte. In meinem Leben als Forscherin in den sogenannten postsowjetischen Staaten habe ich eines gelernt: Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind im Herzen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer. Der Krieg gegen Russland begann nicht um fünf Uhr morgens am 24. Februar 2022, sondern im 18. Jahrhundert, als das zur Ukraine gehörende Land östlich des Dnipro vom Russischen Reich annektiert wurde. Seit Jahrhunderten haben die Ukrainerinnen und Ukrainer viele Schrecken erlebt: Massaker, Unterdrückung und Verfolgung. In dem Versuch, das ukrainische Volk zu russifizieren, wurde der Gebrauch und das Studium der ukrainischen Sprache verboten. In den Jahren 1932 bis 1933 wurde von der sowjetischen Regierung der Holodomor, die große Hungersnot verursacht, der mehr als sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen (manche Schätzungen liegen noch höher) und die von der Europäischen Union und dem US-Kongress als Völkermord anerkannt wurde. Doch trotz all der Wechselfälle der Geschichte haben die Ukrainerinnen und Ukrainer weiterhin geheiratet, Kinder bekommen, ihre Kultur und Sprache weitergegeben, Städte gebaut und das Leben in vollen Zügen genossen. Die Haltung von Julia, Vera und Anna ist die Haltung von Ukrainerinnen, von Widerständlerinnen, die nicht vergessen, dass das Leben siegt, auch wenn der Tod lauert.

Dies erklärt sicherlich das Bedürfnis, die Kontrolle über das eigene Image in der deutschen Gesellschaft zu behalten – der letzte Teil ihres Lebens, über den sie noch die Kontrolle besitzen, nachdem sie alles verloren haben. Dennoch sollte man nicht nach dem ersten, schillernden Eindruck urteilen. Hinter ihrem perfekten Aussehen verbirgt sich ein Wirbelsturm intensiver Gefühle, die wir alle nachvollziehen können: Angst, Depression, Wut, Traurigkeit, Freude, Hoffnung und natürlich Liebe, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ich habe immer wieder festgestellt, dass viele Ukrainerinnen ihre Schwächen und dunklen Emotionen sehr gut verbergen können, was in mir den starken Wunsch weckte, ihnen ein Forum zu geben, um ihre inneren Gedanken mitzuteilen.

Diese Frauen wollen der Welt helfen zu verstehen, was die Ukrainerinnen und Ukrainer durchmachen und was jedes Opfer des Krieges erleiden muss. Sie wollen auch daran erinnern, dass ihr Land Teil Europas ist und der sowjetischen Vergangenheit den Rücken kehren will. Erlauben Sie mir daher, liebe Leserin, lieber Leser, Ihnen kurz die Entstehungsgeschichte dieses Buches zu erzählen, bevor Sie in die Geschichte dieser unglaublichen Frauen eintauchen.

Anfang März 2022 bot mir die führende deutsche Wirtschaftszeitung Handelsblatt an, die Leitung eines Programms zur Unterstützung ukrainischer Journalistinnen und Journalisten in Not zu übernehmen. Schon bald lernte ich im Rahmen dieser Tätigkeit erstaunliche Menschen kennen, deren Leben auf den Kopf gestellt wurde, als die umfassende Invasion ihr normales Leben, das sie vor dem Krieg geführt hatten, beendete. Die Geschichten, die ich hörte, waren nicht nur herzzerreißend, sondern auch kraftvoll, überraschend und inspirierend. Eltern, die in ihrer Verzweiflung tagelang fuhren, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Paare, die durch den Krieg getrennt wurden und sich an der Grenze zum Nachbarland ein letztes Mal umarmten, um sich zu verabschieden, und sich fragten, ob sie sich wiedersehen würden.

Es überrascht nicht, dass die Verluste an Menschenleben bei den Männern besonders hoch waren, die in den Kampf zogen, während die Frauen – ob sie es wollten oder nicht – in ihre traditionelle Rolle als Hüterinnen der Familie zurückkehrten, mit all der damit verbundenen Arbeitsbelastung. Es waren die Frauen, die mich am meisten faszinierten, denn sie waren bereit, sich mit ganzem Herzen an den Anstrengungen zur Verteidigung des Landes zu beteiligen. Sie mussten wichtige Entscheidungen treffen, und zwar schnell. Sollten sie aus ihrer Heimat fliehen oder bleiben? Mussten sie ihre Eltern und Großeltern zurücklassen, damit ihre Kinder es an einen sicheren Ort schaffen konnten? Oder war es besser, sich um die Älteren zu kümmern und dafür die nächste Generation den tödlichen Gefahren des Krieges auszusetzen? Und sollten sie in einer von Männern dominierten Armee kämpfen, oder war es besser, die Soldaten aus der Ferne zu unterstützen? Diese Fragen waren nicht leicht zu beantworten.*

Im Juni 2022 beschloss ich, diese ganz unterschiedlichen Geschichten zu sammeln, um die Bandbreite der schwierigen Entscheidungen, vor denen die Frauen standen, abbilden zu können. Für mich war es wichtig, das Paradoxon des Krieges zu verdeutlichen. Mut offenbart sich in den schlimmsten Zeiten. Die Liebe wird stärker in Ländern, die vom Tod heimgesucht werden. Die Menschlichkeit leuchtet immer in der Dunkelheit des Grauens. Deshalb habe ich beschlossen, diese Frauen Briefe schreiben zu lassen.

Ein leeres Blatt vor sich zu haben ist ein bisschen wie ein Gespräch von Herz zu Herz mit sich selbst führen. Wenn man mit seinen Gefühlen und seinem Gewissen allein ist, kann man das sagen, was sich nicht so leicht in Worte fassen lässt. Es ist in gewisser Weise eine Läuterung, die geistige Erneuerung, Befreiung vom Schmerz und Hilfe beim Blick in die Zukunft gewährt.

Immer mehr Frauen, die durch Mundpropaganda von diesem Projekt gehört haben, erklärten sich bereit, ihre Erfahrungen mit dem Krieg mitzuteilen. Künstlerinnen, Geschäftsfrauen, Politikerinnen, aber auch Soldatinnen und Lehrerinnen nahmen Kontakt zu mir auf. Womit ich am wenigsten gerechnet hatte, waren Briefe von Mädchen im Teenageralter. Aber auch sie wollten über die Katastrophe sprechen, die sie aus ihrer Kindheit gerissen hatte. Ihre Mütter gaben mir gegenüber zu, dass es ihnen schwerfiel, die Situation zu erklären. Wie kann man erklären, dass Soldaten Kinder töten? Wie kann man die Wut besänftigen, wenn die Schulen wegen eines weiteren Beschusses geschlossen werden? Nach der Covid-Pandemie sahen sich diese Kinder und jungen Erwachsenen wieder einmal von ihren Freunden und Lehrern abgeschnitten.

Das Sammeln der Briefe war eine besondere Herausforderung. Ich gehöre zu einer Generation von Europäerinnen und Europäern, die mit demokratischen Werten aufgewachsen ist. Der Frieden liegt in unserer DNA. Wir sind die Kinder der EU und ihrer Erweiterungen, die Nachkommen von Schengen. Ich weiß nicht, wie man uns genau bezeichnen soll, aber eines ist sicher: Wir waren nicht vorbereitet auf diesen Krieg. Wir haben naiverweise geglaubt, dass die fortgeschrittenen Nationen keine Kriege mehr auf fremden Territorien führen und sich vielmehr auf eine Zusammenarbeit zur Eindämmung der zerstörerischen Auswirkungen des Klimawandels konzentrieren würden. Der 24. Februar 2022 wird für immer ein Schockmoment für Pazifisten bleiben.

Die angefragten ukrainischen Frauen im Alter von über achtzig Jahren weigerten sich jedoch grundsätzlich, an dem Buchprojekt teilzunehmen. Ich möchte Ihnen einige Details aus ihren Geschichten erzählen, denn Schweigen spricht manchmal Bände. Da war eine alte Großmutter, nennen wir sie Ludmila, die zunächst geneigt war, ihre ergreifende Geschichte zu erzählen, sich aber schließlich entschied, doch zu schweigen. Sie war in der Sowjetunion aufgewachsen, in einer Zeit, in der es gefährlich war, Gefühle öffentlich zu zeigen. Sie hatte Angst, ihre Familie in Gefahr zu bringen. Die gleiche Reaktion erlebte ich bei einer älteren jüdischen Dame aus Mariupol, die mir einen herzzerreißenden Brief schickte, in dem sie mir vom Alltag einer an Diabetes erkrankten Großmutter berichtete. Sie beschrieb, wie russische Soldaten grundlos Zivilisten auf der Straße töteten. Sie erklärte, wie schwer es war, ohne Aufzug in den fünften Stock ihrer Wohnung zu gelangen. Sie gestand, dass sie mehrere Tage lang nichts mehr gegessen hatte, damit ihr kranker Mann überleben konnte. Kurz vor der Veröffentlichung dieses Buches flehte sie mich an, den Brief wieder herauszunehmen. Ihr Mann war der Meinung, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte und dass Familienmitglieder zur Strafe hingerichtet werden könnten. In diesem Moment wurde mir klar, wie sehr die Generation, die unter Stalin aufgewachsen war, noch immer von der Unterdrückung durch ein totalitäres Regime traumatisiert war. Diese Frauen hielten das Projekt für gefährlich und zogen es vor zu schweigen. Angesichts der Grausamkeit, die die russische Armee in den besetzten Gebieten an den Tag legt, sind diese Befürchtungen nur allzu berechtigt.

Auch Jelena, eine über neunzigjährige Dame, war von der Idee angetan, verzichtete aber schließlich auf eine Teilnahme an dem Projekt. Sie sagte, das Schreiben hätte sie gezwungen, sich an die Schrecken des 20. Jahrhunderts zu erinnern: die stalinistischen Säuberungen, den Zweiten Weltkrieg, einen Ehemann in den Kohleminen des Donbas während der Sowjetunion, die 1990er Jahre mit ihren finanziellen Turbulenzen und der endemischen Korruption. Sie war nicht bereit zurückzublicken. Sie sagte mir, dass sie diesen Planeten so gerne in Frieden verlassen würde, umgeben von ihren Lieben, aber sie möchte ihn nicht in dem Wissen verlassen, was Russland ihren Enkeln und Urenkeln antun würde.

Ein Blick auf die Liste der Beiträgerinnen dieses Buches zeigt, dass die meisten von ihnen jung, weiß und gebildet sind und häufig aus privilegierten Verhältnissen stammen. Ein Anthropologe oder Soziologe würde zu Recht darauf hinweisen, dass meine Auswahl der Protagonistinnen nicht die Vielfalt der Ethnien, Religionen, Kulturen und soziologischen Hintergründe in der Ukraine repräsentiert. Egal, wie sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, das grundlegend zu ändern. Wie kann man diese traumatisierten alten Damen überzeugen? Wie kann man, aus der Sicht dieser Frauen, einer unbekannten Französin vertrauen, wenn man gelernt hat, dass das eigene Überleben von Geheimhaltung und strikter Einhaltung der Privatsphäre abhängt? Gerne hätte ich die Vielfalt der ukrainischen Gesellschaft differenzierter erfasst und dargestellt, aber dafür wäre das Format dieser Briefe wohl nicht geeignet gewesen.

Eines Morgens erhielt ich den ersten Brief, dann den zweiten, den dritten und so weiter. Von den darin geschilderten Schrecken in der Ruhe meiner sicheren Heimat zu lesen war eine beunruhigende Erfahrung. Ich unterbrach meine Lektüre mehrmals, um meiner Tochter beim Spielen zuzusehen, wohl wissend, wie zerbrechlich dieser Frieden ist, den wir genießen. Ich dachte an die ukrainischen Soldaten und Soldatinnen, die für sich selbst, für ihr Land und für uns Europäer kämpfen. Das Glück des Lebens hatte dafür gesorgt, dass mein Partner, meine Tochter und ich hier in Berlin waren, weit weg von den Explosionen. Ich war nicht gezwungen gewesen, den Mann, den ich liebe, an der Grenze zu verlassen, um mein Kind in einem fremden Land zu schützen, dessen Sprache ich nicht kenne. Ich musste meine Eltern nicht im Stich lassen, in der Hoffnung, dass ein paar Freiwillige ihnen irgendwann Essen bringen würden. Ich war nie gezwungen, mit meinen Landsleuten in einer Schlange zu stehen, um Windeln und saubere Kleidung zu bekommen. Ich habe nichts von alledem erlebt, weil ich beim Geburts-Bingo gewonnen habe. Deshalb, liebe Leserin, lieber Leser, bitte ich Sie, die Briefe mit offenem Herzen zu lesen.

Die Frauen, die diese Briefe verfasst haben, repräsentieren ihr Land mit einer unbedingten Authentizität, nicht zuletzt durch ihre Verletzlichkeit und ihr Vertrauen in die Liebe. Ihre Geschichten halten das Leben im Krieg fest, und auf den folgenden Seiten werden Sie Küsse entdecken, Küsse mit einem Hauch von Tränen, Sie werden Lieder der Hoffnung finden, durchsetzt mit Schluchzern, und Sie werden Liebenden begegnen, die nicht wissen, ob sie eine Zukunft haben werden. Das ist die Ukraine seit dem 24. Februar 2022. Hören Sie diese Stimmen, die zusammen den Willen eines Volkes zum Ausdruck bringen, das den Sieg herbeisehnt, damit es seine Wunden heilen und seine Toten betrauern kann. Es will eine Zukunft aufbauen, in der wieder das möglich sein wird, was im ukrainischen Volkslied Oy u vyshnevomu sadochku so schön beschrieben wird: »Im Kirschgarten hört man die Nachtigall singen.«

* Eine kurze Analyse der Geschichte des Feminismus und der Frauen in der heutigen Ukraine, verfasst von meiner ehemaligen Harvard-Kollegin Emily Channell-Justice, finden Sie am Ende dieses Buches. Sie können sie aber auch gerne vor den Briefen lesen.

Olha Stefanyschyna

*14. Mai 1983, Kyjiw · Parlamentsabgeordnete · Sie war Mitinitiatorin der Gesundheitsreform in der Ukraine und stellvertretende Gesundheitsministerin von 2018 bis 2019. · Aufenthaltsort am 24. Februar 2022: Kyjiw.

1. August 2022

Mein Leben war am 24. Februar zu Ende.

Seit dem Tag habe ich nie wieder in meinem Bett geschlafen – dem Bett, das mein Mann Bohdan und ich für unser gemeinsames glückliches Leben ausgesucht hatten. Er wurde am 30. März während eines humanitären Einsatzes in der Nähe der ukrainischen Stadt Tschernihiw durch eine russische Granate getötet. Zu dieser Zeit war es dort die Hölle, und er und seine Kameraden retteten Menschen vor den russischen Besatzern. Davor hatten sie schon mehr als 150 Menschen aus Butscha und Irpin in Sicherheit gebracht. Doch an diesem Tag wurde ihr Konvoi von einer feindlichen Drohne aufgespürt und mit einem Granatwerfer beschossen. Bohdan starb im Bruchteil einer Sekunde: Die verdammte Granate traf ihn direkt. Unsere Jungs wollten einfach nur die Menschen in den besetzten Gebieten mit Lebensmitteln und Wasser versorgen und diejenigen rausbringen, die dem Elend entfliehen wollten …

Stellen Sie sich vor, dass Sie eines Tages nicht mehr in Ihrer Wohnung leben, in der Sie Zehntausende glücklicher Stunden miteinander verbracht haben. In Ihrer Wohnung ist es schon August. Aber da steht immer noch ein verstaubter Weihnachtsbaum – unter dem in der Neujahrsnacht 2022 wahre Wunder geschahen: Eltern und Kinder, alle Ihre Freunde packten dort ihre Geschenke aus. Alle hatten bekommen, wovon sie geträumt hatten. Die Erwachsenen tranken Sekt, die Kinder warfen Konfetti. Sie haben ihnen erlaubt, das in der Wohnung zu tun, schließlich ist es ein Symbol der Neujahrsfreude. Damals dachten Sie, man könne das Glück löffeln – so voll, so gesättigt war die Luft in der Wohnung davon. Der Wohnung, in der Sie sich so wohl gefühlt haben. Und in der Sie wahrscheinlich nie wieder leben können. Weil Ihre Familie zerstört wurde von den russischen Invasoren. Stellen Sie sich das vor. Wie die Geschichte gezeigt hat, ist niemand auf der Welt gegen ein solches Leid wie den Krieg gefeit, der einem in einer Sekunde alles nimmt, was man liebt. Für immer.

Heute kämpft russland nicht gegen die Ukraine. Es kämpft gegen die gesamte zivilisierte Welt. Das tut es schon seit vielen Jahren, und jetzt hat dieser Krieg seinen Höhepunkt erreicht. Ich bin persönlich allen dankbar, die der Ukraine in diesen blutigen Monaten geholfen haben. Aber ich habe eine große Bitte: Wir brauchen mehr starke Waffen und das so schnell wie möglich. Denn jeder verlorene Tag bedeutet, dass unsere besten Menschen ihr Leben verlieren und unsere Kinder ihre Träume.

Wir waren eine sehr glückliche Familie. Dreizehn Jahre Ehe und zwei wunderbare Töchter, Wlada und Walerija, dreizehn und zehn Jahre alt. Unser Zuhause war voller Harmonie, wir kochten gern leckeres Essen und luden Freunde ein. Wir waren fröhlich und genossen die einfachen Dinge.

Bohdan war mir immer eine Stütze gewesen. Ich bin von Natur aus eine Workaholic und habe mehr als fünfzehn Jahre lang in verschiedenen sozialen Projekten und Organisationen gearbeitet – ich habe mich für das Recht schwerkranker Menschen auf eine Behandlung eingesetzt und gegen die Korruption gekämpft, ich habe »Patienten der Ukraine« gegründet, eine einflussreiche Organisation, die immer noch Kranken und jetzt auch den Verwundeten des russischen Krieges gegen unser Land hilft. Nach der Revolution der Würde im Jahr 2014 initiierten meine Kollegen und ich eine Gesundheitsreform in der Ukraine, und 2018 hatte ich das Glück, Stellvertreterin der besten Gesundheitsministerin, Uljana Suprun, zu werden und diese Reform mit ihr zusammen umzusetzen. Vor drei Jahren wurde ich in die Werchowna Rada, das Parlament der Ukraine gewählt, wo ich mich erfolgreich für Gesundheitsthemen eingesetzt habe. Ich weiß, dass dank meiner Arbeit und Führung Zehntausende von Menschen lebenswichtige Medikamente und medizinische Versorgung erhalten haben. Und einer der Gründe, warum ich all das erreicht habe, war die Unterstützung durch meinen Mann Bohdan. Er hat mich immer bestärkt, hat mir den Rücken freigehalten und war stolz auf das, was ich für das Land tat.

Jetzt bin ich stolz auf ihn. Denn er ist für dieses Land gestorben. Er starb als wahrer Held – während er Menschen aus dem von den Russen verursachten Elend rettete. Leider bin ich mit Tränen der Trauer in den Augen und einer großen Wunde im Herzen stolz auf ihn.

Er hat mich und die Mädchen sehr geliebt, aber er hat immer gesagt, dass die Ukraine für ihn an erster Stelle steht.

Das waren keine leeren Worte. Von klein auf hatte er diese Einstellung von seinem Vater übernommen. Das waren seine Worte gewesen. Sein ganzes Leben lang sprach Bohdans Vater Jewhen von der schrecklichen Gefahr, die von russland ausgeht, er war ein glühender Patriot. Bohdans Großeltern waren Mitglieder der UPA, der Partisanenarmee der Ukraine, gewesen. Dafür wurde Jewhens Vater (Bohdans Großvater) von den Tschekisten, den Mitarbeitern der Geheimpolizei, getötet und Stefa, dessen Frau, in ein Konzentrationslager auf Solowki geschickt. Ihr kleiner Sohn Jewhen wurde mit seinen Großeltern nach Sibirien verbannt.

»Bist du dir sicher, dass du das jetzt tun musst?«, fragte ich ihn. »Ich kann es nicht nicht tun«, antwortete er.

Unter dem Trauma der Sowjetherrschaft litt Jewhen für den Rest seines Lebens. Er verbrannte alle Dokumente, die den Aufenthalt der Familie in sowjetischen Lagern bezeugten – er wollte seine Kinder davor bewahren, dem Völkermord der russischen Regierung zum Opfer zu fallen. Die Liebe zur Ukraine war jedoch tief im Herzen seines Sohnes Bohdan verwurzelt: Er war bereit, für sein Heimatland zu sterben. Schließlich hatte Jewhen oft gesagt: »Die Zeit wird kommen, in der russland einen großen und blutigen Krieg gegen die Ukraine führen wird. Aber wir werden überleben und siegen, und die ganze Welt wird die Ukraine kennen und stolz auf sie sein, unsere Fahnen werden in jedem Winkel der Erde hängen.«

Wenn wir die Geschichte einer Familie zurückverfolgen, stellen wir fest, dass sich die Geschichte wiederholt. Blutige Massaker, die Ermordung und Folterung unschuldiger Menschen – russland macht das in der Ukraine (und nicht nur dort) seit Jahrhunderten. Vor weniger als hundert Jahren hatte Bohdans Großvater sein Leben für die Ukraine gegeben, und jetzt wurde Bohdan selbst von den Raschisten umgebracht.

Das letzte Mal sahen Bohdan und ich uns am 24. März. Ich wusste, dass er zu einem gefährlichen Ort in der Nähe von Tschernihiw fahren würde, um Menschen zu retten; dort herrschte das Grauen. Freunde sagten mir, dass das sehr riskant sei und er es vielleicht nicht tun sollte. Ich erinnere mich immer noch an seine blauen Augen und seine feste Zuversicht. Und genau das ist Heldentum – sein persönliches Heldentum und das unserer ganzen Nation. Wir schützen unser Volk, unser Land und vor allem unsere Identität – weil wir das einfach nicht nicht tun können. Bitte helfen Sie uns, damit keine andere zivilisierte Nation auf der Welt mehr das empfinden muss, was ich und Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern gerade empfinden. Wir müssen russland besiegen. Wir alle zusammen.

Sofija O.

*18. September 1997, Gebiet Luhansk · Kommunikationsmanagerin. Sie hat Geschichte studiert. · Erste Begegnung mit dem Krieg: 2014 · Aufenthaltsort am 24. Februar 2022: Kyjiw, wo sie immer noch lebt.

24. Juli 2022

Jetzt dauert Russlands Krieg gegen die Ukraine schon fünf Monate. Seit fünf Monaten, acht Jahren und einigen Jahrhunderten kämpfen die Ukrainer für ihre Freiheit, Unabhängigkeit, Geschichte und Kultur, für ihren eigenen Entwicklungsweg. Russland hingegen erstickt an seiner eigenen Sturheit und wiederholt immer nur: Ihr seid Masepas, ihr seid Petljuras, ihr seid Banderas, ihr seid Nationalisten und Faschisten, ihr seid Kolchosbauern, euch hat Lenin erfunden, euch gibt es gar nicht. Russland mischt sich in die inneren Angelegenheiten eines Nachbarlandes ein und versucht nicht nur, dort seine Politik durchzusetzen, sondern auch, einzelne Regionen einzunehmen, zu erobern und zu zerstören, es redet von Unabhängigkeit, vergisst dabei aber nie seine imperialen Ambitionen.

Der Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine wird jetzt oft falsch datiert. Es war nicht der 24. Februar 2022. Dieser Krieg begann mit der Krim und dem Donbas. Dieser Krieg begann, als ich sechzehn war und auf den Straßen meiner Heimatstadt auf einmal eine fremde Armee auftauchte.

2014 beendete ich die 10. Klasse in einer Kleinstadt ganz im Osten der Ukraine. Bis zur russischen Grenze waren es 23 Kilometer und 40 bis nach Luhansk. Meine Familie hat immer Russisch gesprochen, die Verwandten meiner Eltern lebten in Russland, ich ging auf eine ukrainische Schule, wir lasen im Unterricht Texte von Taras Schewtschenko, Wassyl Symonenko und Mykola Chwyljowyj und waren immer für die ukrainische Nationalmannschaft. Sechzehn Jahre lang habe ich nie jemanden sagen hören, dass wir zu Russland gehören sollten oder dass der Donbas nicht Teil der Ukraine sei.

Ich kann mich nicht an meine Reaktion auf die Annexion der Krim, den Beginn der ATO, das Pseudoreferendum und die Proklamation irgendwelcher Republiken erinnern. Mein normales Leben als Teenager veränderte sich nicht. Der Lehrplan, die acht Stunden Unterricht in ukrainischer Sprache, die blau-gelbe Flagge über der Schule blieben gleich. Alles war wie immer. Ich schäme mich dafür, aber ich habe die Tragödie meines Landes damals nur als ein Thema für Gespräche mit Erwachsenen, das einen älter macht, wahrgenommen, als eine Art »Politikspiel«, wo zum Schluss alle mit allem klarkommen und nichts Schreckliches passieren wird. Ich verfolgte die Ereignisse in Slowjansk, als würde mich das alles nichts angehen, als geschähe das am anderen Ende der Welt. Als dann, während ich beim Ferienprogramm der Schule mithalf, meine Mutter zum ersten Mal seit Jahren mitten am Arbeitstag zu mir in die Schule kam und sagte, ich müsse meine Papiere abholen, war das ein absoluter Schock für mich. Die Kämpfe waren sehr nah.

Im Sommer 2014 gelangte ich notgedrungen zu drei wichtigen Erkenntnissen:

Wissen ist Macht. Es kann dich auf die schlimmsten Szenarien vorbereiten, es bewahrt dich davor, getäuscht zu werden, es lässt dich nicht verwirrt zurück. Aus diesem Blickwinkel war die Entscheidung für ein Geschichtsstudium eine sehr gute Wahl, dieser Aspekt war einer der Gründe, mich dafür zu bewerben.

Es hat keinen Sinn, Menschen zu verurteilen, die noch nie das Geräusch einer explodierenden Granate gehört haben und die kein »richtiges Verständnis« zeigen. Das war die wichtigste Lektion, die ich mit nach Kyjiw nahm, als ich 2015 dort zu studieren begann. An diese Lektion erinnere ich mich jetzt, wenn ich mit Europäern rede, denen es manchmal schwerfällt zu verstehen, wie sich Ukrainer fühlen.

Die Kombination aus Naivität und Hoffnung kann großen Schmerz verursachen. Ich weiß noch, wie ich im August 2014 aufwachte und mein erster Gedanke war: »Nicht mehr lange, und die ukrainischen Streitkräfte werden diese Gebiete zurückerobern.« Jeden Morgen dieselbe Hoffnung, die sich in einen Albtraum verwandelte, der kein Ende zu nehmen schien.

Das folgende Jahr, bis August 2015, lebte ich unter Besatzung. Ich muss dazu sagen, dass meine Stadt noch unversehrt war, dass meine Lieben am Leben waren und gesund und dass es eine ganz andere Art von Besatzung war als 2022 – ohne Repressalien und Filtrationslager. Aber ich war siebzehn, und natürlich erschienen mir meine Sorgen als der Gipfel aller menschlichen Tragödien. Warum wurden wir im Stich gelassen, und warum kämpft man nicht weiter für uns? Wie soll ich unter Besatzung meinen Schulabschluss machen und ein Studium beginnen? Warum passiert ausgerechnet mir das?

Ich bin meinen Eltern und meinen Lehrern sehr dankbar, die alles getan haben, damit meine Mitschüler und ich ukrainische Papiere bekamen, die erforderlichen Prüfungen absolvieren und ein Studium beginnen konnten. Meine Mutter und meine Geschichtslehrerin, die für mich zu einer echten Mentorin wurde, waren unter Beschuss aus dem besetzten Gebiet auf ukrainisches Terrain gegangen, verhandelten mit dem Militär und sorgten dafür, dass ich und die anderen von dort herauskommen und studieren konnten.

2015 habe ich mich in Kyjiw immatrikuliert, Freunde gefunden, meine Eltern habe ich alle halbe Jahre gesehen. Und ich begann, eine Hausarbeit über die Geschichte des Tschetschenienkrieges zu schreiben. Ich versuchte zu verstehen, meine eigenen Erfahrungen zu reflektieren und einzuordnen und eine Antwort auf die Frage zu finden, warum das geschieht, was gerade geschieht, warum Russland weiterhin versucht, alles Leben ringsum zu töten. Ich habe die Geschichte Russlands studiert und ungefähr hundertmal auf die Frage geantwortet, warum ich das tue: weil es Krieg führt gegen mein Land. Millionen meiner Landsleute wollten ja auch nicht, dass Russland von der Landkarte verschwindet. Ich dachte daran, dass Wissen Macht ist. Ich weiß, wozu russische Soldaten fähig sind, ich weiß, was Filtrationslager sind und wie Säuberungsaktionen in Städten aussehen, was es bedeutet, wenn die russische Armee eine Stadt »befreit«, indem sie diese Stadt erst einmal dem Erdboden gleichmacht. Die ganze Welt hat gesehen, was Russland immer wieder tat, sich aber geweigert, das offen auszusprechen.

Der 24. Februar 2022 war für mich nicht so ein Schock wie jener Tag im Juni 2014. Ungeachtet aller Erklärungen der internationalen Gemeinschaft war, angesichts der allgemeinen Spannungen seit Frühjahr 2021, klar: Der Einsatz chemischer Waffen, die Schließung sämtlicher unabhängiger Medien und die blutrünstige Rhetorik waren Anzeichen einer Vorbereitung auf etwas noch Ungeheuerlicheres. Russland bereitete sich auf einen großen Krieg vor.

In meinen sieben Jahren in Kyjiw habe ich meinen Freunden sehr oft von dem Notfallkoffer erzählt, habe ihnen gesagt, dass Bad und Flur die sichersten Räume sind, und geschildert, wie Granatwerfer feuern und wie schrecklich es ist, unter Beschuss zu geraten. Ich erzählte das immer in fröhlichem Ton, mit dem Happy End in Sichtweite: Hier bin ich, ich bin am Leben, meine Eltern sind am Leben, ich bin hier und lache mit euch, Leute. Alles wird gut. Ich hatte gehofft, dass meine Freunde das alles nie selbst erleben würden. In diesem Fall bewahrte mich selbst das Wissen nicht vor Naivität und Hoffnung.

Meine Eltern sind in meiner Heimatstadt geblieben. Sie haben die Verbrechen Russlands nie unterstützt und nie an die »russische Welt« geglaubt. Ich weiß, dass im Donbas, genau wie auf der Krim, immer noch viele Menschen leben, die nur darauf warten, nach Hause zurückzukehren. Darauf warten, in die Ukraine zurückzukehren. Leider werden einige von ihnen das nicht mehr erleben, weil Russland sie mit seinen Raketen getötet oder sie in die Armee gezwungen hat, wo sie als Kanonenfutter benutzt wurden.

Ich schreibe diesen Text in Kyjiw, und ich möchte weiter hoffen. Ich möchte die blau-gelbe Fahne über meiner Schule sehen, wo es noch so viele gute Lehrer gibt, die nichts mit dem verbrecherischen Regime zu tun haben. Ich möchte meine Eltern öfter als einmal im Jahr sehen. Ich möchte, dass die Ukraine siegt, ich möchte, dass wir unsere Zukunft nicht unter dem Lärm von Luftalarmsirenen aufbauen. Ich glaube daran, dass Wissen die Naivität besiegen wird und die Menschen aufhören werden, das Böse zu rechtfertigen, nur weil sie es nicht besser wissen.

Olena Biloserska

*5. August 1979, Kyjiw · Offizierin der Streitkräfte der Ukraine. Vor Beginn des Krieges war sie Journalistin (2004 – 2014). · Erste Begegnung mit dem Krieg: 2014 · Aufenthaltsort am 24. Februar 2022: Kyjiw.

1. Juli 2022

Ich heiße Olena Biloserska, ich wurde in Kyjiw in eine Ingenieursfamilie hineingeboren. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern.

Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Literatur und Poesie. Ich war oft krank, deshalb habe ich in der Schule viel versäumt, war trotzdem immer eine ausgezeichnete Schülerin.

Meine Muttersprache war von klein auf Russisch, wie bei allen aus meiner Generation, die in Großstädten aufgewachsen sind (mit Ausnahme der Westukraine, wo immer Ukrainisch gesprochen wurde). Denn während der 300 Jahre russischer Besatzung wurde die Ukraine sehr stark russifiziert. Als die Sowjetunion zerfiel und die Ukraine unabhängig wurde, war ich zwölf Jahre alt. In meiner Kindheit wurde über die Ukraine und die Ukrainer in der Öffentlichkeit nie so gesprochen, als wären sie etwas von Russland Getrenntes, und die meisten Ukrainer konnten sich überhaupt nicht vorstellen, dass wir unseren eigenen Staat so schnell und einfach und ohne Blutvergießen bekommen würden. Es stellte sich dann ja auch heraus, dass dies durchaus nicht so war. Staatliche Unabhängigkeit muss man mit Blut bezahlen – wenn nicht sofort, dann in der nächsten Generation, wie es bei uns der Fall ist.

Zur ukrainischen Sprache wechselte ich bewusst, schon als junge Erwachsene, aus patriotischen Gründen. In der Öffentlichkeit schreibe und spreche ich nur Ukrainisch. Aber im Alltag spreche ich immer noch oft Russisch, höre russische Rockmusik und russische Liedermacher – die Musik, die ich seit meiner Jugend mag. Ich kenne russische Lyrik und schätze sie. Das ist das Schicksal der Intellektuellen meiner Generation. Die nächste Generation wird das alles nicht mehr kennen und Russisch bestenfalls als Fremdsprache sprechen.

Nach dem Abschluss meines geisteswissenschaftlichen Studiums versuchte ich mich einige Jahre im Journalismus und war recht erfolgreich dabei. Zehn Jahre lang war ich eine relativ bekannte Reporterin und Publizistin, berichtete sowohl in Text- als auch in Foto- und Videobeiträgen über patriotische Aktionen und Proteste in Kyjiw. Während des prorussischen Regimes von Janukowytsch wurde ich als oppositionelle Journalistin verfolgt, und man konstruierte Straftatbestände gegen mich. Aber die Öffentlichkeit – die ukrainische wie auch die ausländische – verteidigte mich, und ich habe erlebt, wie wirksam öffentliche Solidarität sein kann. Neben meiner Tätigkeit als Journalistin habe ich mich für Menschenrechte eingesetzt.

Diese zehn Jahre, von 2004 bis 2014, war ich Mitglied einer ukrainischen patriotischen Militärsportorganisation, in der wir für den Fall einer russischen Invasion ausgebildet wurden. Wir machten uns mit den Grundlagen des Militärwesens vertraut, lernten Taktiken der Fortbewegung in kleinen Gruppen, die Organisation von Hinterhalten usw. Unsere Ausbildenden waren Veteranen verschiedener lokaler Kriege, die in den 1990er Jahren auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR stattgefunden hatten. Damals glaubte ich nicht, dass Russland wirklich angreifen würde, dass der Krieg für uns alle Realität werden würde, und noch weniger konnte ich mir vorstellen, dass ausgerechnet ich, eine Frau mit offensichtlich unzureichendem Training, würde kämpfen müssen. Unsere Ausbildung sah ich als ein Hobby an, als einen interessanten Zeitvertreib an der frischen Luft. Gleichzeitig waren wir jedoch alle, die an diesen Schulungen teilnahmen, bereit, sofort geschlossen an die Front zu gehen, falls Russland wirklich angreifen würde. Und so ist es dann auch gekommen.

Im Frühjahr 2014, als der Krieg begann, und er begann damals, nicht erst am 24. Februar 2022 – im Februar, acht Jahre nach Kriegsbeginn, hörte Russland nur auf, die Lüge zu verbreiten, dass die Bewohner des Donbas, die angeblich mit der Politik Kyjiws unzufrieden waren, gegen uns kämpfen würden, und griff uns offen an –, im Frühjahr 2014 war ich bereits in der Ostukraine. In den ersten dreieinhalb Jahren kämpfte ich als Scharfschützin im Ukrainischen Freiwilligenkorps »Rechter Sektor« und in der Ukrainischen Freiwilligenarmee. Diese informellen Einheiten waren damals nicht Teil der offiziellen ukrainischen Streitkräfte. Wir erhielten kein Gehalt und auch keine Zahlungen im Falle von Verletzung oder Tod. Lebensmittel, Kleidung und Ausrüstung brachten uns Zivilisten, die an der Front helfen wollten. In der Ukraine nennen wir solche Menschen Freiwillige. In den westeuropäischen Sprachen sind Freiwillige Menschen, die irgendetwas freiwillig tun, anderen helfen, das können Zivilisten oder Soldaten sein. Im Ukrainischen hat sich während des Krieges ein anderer Sprachgebrauch herausgebildet, dort gibt es zwei unterschiedliche Begriffe für »Freiwillige«, einen für diejenigen, die als Zivilisten an der Front helfen, und einen für jene, die freiwillig kämpfen. Wir waren also freiwillig Kämpfende. Und obwohl wir von den Befehlshabern der Armee Befehle und Munition erhielten, waren wir sozusagen »illegal« an der Front und mussten unsere Anwesenheit an der Kontaktlinie mit dem Feind oft verbergen. Deshalb heißt auch das dokumentarische Buch über diese Zeit, das ich geschrieben und veröffentlicht habe, Tagebuch einer illegalen Soldatin. Es erschien in zwei Auflagen, wurde für den Schewtschenko-Preis, die höchste literarische Auszeichnung der Ukraine, nominiert und war sogar in der Endauswahl. Übrigens hassen und fürchten die Russen alle ukrainischen freiwillig Kämpfenden und nennen sie »Nazis«. Mich kennen und »lieben« sie noch aus Vorkriegszeiten und präsentieren mich oft im Fernsehen als die größte aller »Nazis« in der Ukraine.

Ein anderes Mal traf mich ein Leuchtspurgeschoss im Gesicht, und die Brandnarbe von dem Phosphor war noch lange danach auf meiner Wange zu sehen. Aber wenn ein bisschen Zeit vergangen ist, erinnert man sich an solche Momente mit einem Lachen.

Dreieinhalb Jahre lang, von 2014 bis 2017, kämpfte ich also als nicht registrierte Freiwillige. Als Scharfschützin habe ich mehr als zehn bestätigte Treffer. Ich wusste immer, schon vor dem Krieg, dass ich Scharfschützin werden würde, falls der Krieg beginnt, denn diese Spezialisierung passt am besten zu meinen Fähigkeiten. Ich habe schon immer ganz gut geschossen, bin geduldig und ausdauernd, und ich sehe diese Arbeit einfach als Arbeit an, ohne jegliche Emotionen – Emotionen sind angebracht, wenn man gute Musik hört, einen Film sieht oder ein Buch liest, aber nicht, wenn man auf den Feind schießt.

Damals habe ich überhaupt nicht darunter gelitten, dass ich kämpfen musste. Mein Mann, mit dem ich gemeinsam in den Krieg gegangen war, und andere wunderbare Kämpfer waren immer an meiner Seite. Von Anfang an waren wir mental auf den Krieg, auf Ruinen und Verluste vorbereitet, und uns war klar, dass dieser Krieg eine Tatsache darstellte, seine innere Logik hatte, etwas Unvermeidliches war, weil das imperiale Russland seine Versuche, sich die Ukraine einzuverleiben, niemals freiwillig einstellen würde, und dass wir das nur mit Gewalt abwehren können.

Natürlich ist mir während des Krieges einiges passiert. Einmal wurde ich durch eine Explosion aus einem Gebäude geschleudert und erlitt eine Gehirnerschütterung und einen Bänderriss am Fuß. Ein anderes Mal traf mich ein Leuchtspurgeschoss im Gesicht, und die Brandnarbe von dem Phosphor war noch lange danach auf meiner Wange zu sehen. Aber wenn ein bisschen Zeit vergangen ist, erinnert man sich an solche Momente mit einem Lachen.

Ende 2017 kehrte ich nach Kyjiw zurück, absolvierte einen Offizierslehrgang an der Militärakademie, erhielt den Rang eines Unterleutnants und eine Spezialausbildung zur Artilleriesoldatin und unterzeichnete einen Vertrag mit den Streitkräften der Ukraine. Für die Artillerie habe ich mich nicht bewusst entschieden und mochte es auch nie besonders – aber in dem Jahr wurden einfach keine anderen Spezialisierungen angeboten. Dann, von 2018 bis 2020, diente ich als Artillerieoffizierin bei der Marine. Ich habe einen extrem schwierigen Hindernisparcours erfolgreich absolviert und mir das Recht erworben, das Marine-Barett in der Farbe der Meereswellen zu tragen. Außerdem habe ich eine hohe staatliche Auszeichnung erhalten – den Orden für Tapferkeit, III. Klasse.

Ende 2020 schied ich aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee aus. Ich hatte auch nicht vor, in die Armee zurückzukehren, ich wollte mich um meine Gesundheit und die Familie kümmern. Mitte 2021 wurde mein Mann ebenfalls demobilisiert. Wir verbrachten einen kurzen Urlaub am Meer, danach wurde ich wieder ernsthaft krank und unterzog mich einer Behandlung; dann begann die offene russische Invasion.

Im Gegensatz zu den meisten meiner Landsleute empfinde ich keinen Hass auf die Russen, obwohl ich mir all ihrer Verbrechen sehr wohl bewusst bin und mich fast jeden Tag Nachrichten über den Tod naher Bekannter erreichen.

Ich wollte nicht mehr zurück – weder zum Militär noch an die Front. Ich war und bin im Herzen ein friedlicher, ziviler Mensch. Um ehrlich zu sein, fällt es mir auch immer schwerer, vor allem körperlich, wir werden ja alle nicht jünger. Aber ein Mensch mit Kampferfahrung hat nicht das moralische Recht, sich in Zeiten wie diesen von den Kampfhandlungen fernzuhalten. Mein Mann und ich sind noch am selben Tag in die Armee zurückgekehrt. Jetzt bin ich stellvertretende Kompaniechefin, kümmere mich um organisatorische Fragen und schieße nicht direkt auf den Feind. Aber dieser Zustand befriedigt mich nicht, und gerade bin ich dabei, in eine andere Einheit zu wechseln, wo ich wieder selbst kämpfen werde, Seite an Seite mit meinen Kameraden, mit denen ich seit 2014 zusammen an der Front bin.

Im Gegensatz zu den meisten meiner Landsleute empfinde ich keinen Hass auf die Russen, obwohl ich mir all ihrer Verbrechen sehr wohl bewusst bin und mich fast jeden Tag Nachrichten über den Tod naher Bekannter erreichen. Krieg ist Krieg, entweder wir oder sie, und ein Hass, der von innen heraus brennt, würde mir an der Front nicht helfen. Die Teilnahme an Kampfhandlungen ist für mich keine Rache, sondern die Pflicht, als Soldatin mein Land zu verteidigen. Nach unserem Sieg werde ich, wenn ich überlebe, auf jeden Fall eine Fortsetzung meines Buches schreiben. Ich hoffe, es wird in einem freien europäischen Land erscheinen, das die Zivilisation vor den wilden Horden aus dem Osten gerettet hat.

Marjana Motrunytsch

*30. Mai 1991, Skole, Gebiet Lwiw · Kommunikationsmanagerin, Journalistin, Forscherin · Aufenthaltsort am 24. Februar 2022: Kyjiw. Seit Februar pendelt sie aus beruflichen Gründen zwischen Kyjiw und Skole.

30. Juli 2022

Der Krieg erwischte mich in Kyjiw. Ich wurde um 5.20 Uhr von einem Telefonanruf geweckt. Meine beste Freundin, die in der Nähe des internationalen Flughafens Boryspil lebt, sagte: »Der Krieg hat angefangen. Hier sind heftige Explosionen.«

Ich stand auf und ging zum Fenster. Die Straße war schon sehr voll. Eine Familie stopfte eilig Decken und Koffer in den Kofferraum. Alle waren in Eile. Es war kein gewöhnlicher Morgen in Kyjiw. Man spürte, dass etwas sehr Schreckliches passiert war.

Ich lauschte und hörte keine Explosionen, dabei war ich nur zwanzig Kilometer vom Flughafen Boryspil entfernt. Ich schaltete den Fernseher ein, aber dort gab es keinerlei Erklärungen. Plötzlich duckte ich mich reflexartig vor einem sehr heftigen Geräusch. Es schien, als wäre etwas direkt über meinem Haus explodiert. Alarmiert verließ ich das Haus zehn Minuten später in höchster Eile. Ich hatte Angst, dass die Russen die Brücken und den Damm sprengen und das linke Ufer von Kyjiw, wo ich und Millionen anderer Menschen leben, überfluten würden.

Seit fast einem Monat hatte ich schon einen roten Benzinkanister im Kofferraum meines Autos. Das beruhigte mich. Meine Dokumente bewahrte ich immer in einer separaten Mappe auf, und meine persönlichen Sachen waren schon in einem Koffer, den ich einige Stunden vor der groß angelegten Invasion gepackt hatte.

Ich nahm einen Topf mit blühenden Blumen mit, den ich am Vortag geschenkt bekommen hatte. Die anderen Pflanzen goss ich und ließ sie traurig in der Wohnung zurück. Ich vergaß auch nicht, den Müll rauszubringen, um eine Umweltkatastrophe in der Küche zu vermeiden, und nahm die Treppe statt des Aufzugs.

Ja, auf die Evakuierung war ich vorbereitet. Alles hatte mich darauf vorbereitet – von den Verlautbarungen der internationalen Gemeinschaft bis hin zu den Besprechungen in meiner Arbeitsstelle. Und nachdem in den russischen Botschaften in Kyjiw, Lwiw und Odesa Dokumente verbrannt wurden und man die Trikolore abgenommen hatte, gab es keinen Zweifel mehr. Das war am 23. Februar, und im Morgengrauen des nächsten Tages marschierte die russische Armee in unser Land ein. Generell hatte ich keinen Zweifel daran, dass Russland die Ukraine irgendwann angreifen würde. Vielleicht lag es an meiner Herkunft und dem Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, dass ich die russische Regierung nie als freundlich gesinnt empfunden habe.

Mein Freund wartete schon auf dem Parkplatz. Seine Mutter, die nicht weit von mir entfernt wohnte, weigerte sich strikt mitzufahren, ebenso meine Freundin, die mich am Morgen geweckt hatte. Wir fuhren also zu zweit auf einer längst geplanten Route.

Da ich fuhr, konnte ich meine Emotionen ganz gut kontrollieren, indem ich mich auf die Straße konzentrierte. Ich war sehr wütend und entsetzt. Obwohl ich darauf vorbereitet war, dass es jederzeit zu einer Evakuierung kommen könnte, war es sehr schwierig, das emotional zu verarbeiten und mich an die neue Realität anzupassen. Ich konnte nicht verstehen, warum ich mein Zuhause verlassen, warum ich mein Leben in Kyjiw wegen Russland aufgeben musste. Ich konnte nichts planen, ich wusste nicht, was morgen passieren würde und ob es überhaupt ein Morgen geben würde. Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Hass, Wut und Ungewissheit gleichzeitig gespürt. Militärfahrzeuge fuhren auf der Gegenfahrbahn, und die PKWs hielten an, um sie passieren zu lassen. In den Gesichtern der Soldaten waren Angst und Verzweiflung zu sehen. Jeder einzelne von ihnen tat mir furchtbar leid. Sie waren auf dem Weg dorthin, von wo alle flüchteten.

Es waren sehr viele Menschen unterwegs. An den Tankstellen, Geschäften und Geldautomaten gab es lange Schlangen. Die Menschen nahmen sogar kleine Landstraßen, um die großen Staus auf den Hauptstraßen zu umfahren. Es ist kaum vorstellbar, was damals auf den Bahnhöfen los war. Später erzählten mir Bekannte, dass die Leute sogar ihre Koffer auf dem Bahnsteig zurückließen, um in die Wagen zu gelangen. Mit Babys, mit älteren Menschen, mit Haustieren – sie standen auch die ganze Zeit in den Zügen, nur um den Raketenangriffen zu entkommen.

Zwei oder drei Stunden später, ich saß weiter am Steuer, tauchte im Internet ein Video auf, in dem zu sehen war, wie russische Panzerfahrzeuge über den Grenzübergang Senkiwka im Gebiet Tschernihiw in die Ukraine rollten. Das war sehr merkwürdig. Ich erinnerte mich daran, dass ich ein paar Jahre zuvor zusammen mit einem Kameramann genau an diesem Übergang gearbeitet hatte. Damals bereitete ich eine Videoreportage über die Veruntreuung von Geldern vor, die für den Bau der sogenannten »Mauer« vorgesehen waren, welche die Ukraine vor Russland schützen sollte. Mich trieb die Frage um, warum sie so einfach in unser Land einrücken konnten. Haben unsere Grenzsoldaten Widerstand geleistet? Wie können im Jahr 2022 überhaupt Panzer in ein fremdes Land eindringen? Was war da los?

Die Nachrichten berichteten von Raketeneinschlägen und ersten Opfern. Von Verlusten im Norden und im Süden war die Rede. Die Meldung von der Einnahme der Schlangeninsel durch die feindliche Armee schockierte mich. Es hieß, die Russen hätten die Insel angegriffen, woraufhin der Kontakt zu den ukrainischen Grenzsoldaten abgebrochen war; diese seien wahrscheinlich alle umgekommen. Das war sehr beängstigend. Einen Moment lang sah es so aus, als würden wir uns nicht verteidigen können, als würde ein Teil der Ukraine zerstört und von den russischen Besatzern erobert werden. Bei diesen Gedanken wurde mir unerträglich kalt.

Als es dunkel wurde, sah ich ein Glühen am Himmel. Das waren Raketen. Diesen Tag und diese Nacht und die folgenden werde ich nie vergessen. Das Gefühl der totalen Ungerechtigkeit überwältigte mich. Ich wollte umkehren und zurück nach Kyjiw fahren, denn dort ist mein Zuhause. Aber das konnte ich nicht, meine Mutter wartete in meiner Heimatstadt im Karpatenvorland auf mich.

Als wir am nächsten Tag gegen Mittag bei meiner Mutter eintrafen, war meine Tante da. Sie erzählte, dass ihr Sohn aus dem Ausland zurückgekommen ist, um die Ukraine gegen die Invasoren zu verteidigen, obwohl er noch nie eine Waffe in der Hand gehabt hat. Einige Tage später erfuhren wir, dass auch mein Cousin aus Lwiw den ukrainischen Streitkräften beigetreten war. Er ist Wissenschaftler und hat keine militärische Erfahrung. Und solche Menschen gibt es in unserer Armee zu Tausenden. In diesem Krieg müssen alle, die sich als Ukrainer sehen, ihr Land verteidigen. Manche mit Waffen, manche mit Geld, manche durch freiwillige Initiativen oder einfach dadurch, dass sie ihre tägliche Arbeit gut verrichten.

Vor Ostern war ich auf dem Friedhof bei meinem Vater. Und dort ertappte ich mich bei einem schrecklichen Gefühl. Ich war froh, dass er diesen groß angelegten Krieg nicht mehr miterleben muss. Mein Vater hat sich immer für die Ukraine und ihre proeuropäische Ausrichtung eingesetzt. Er hat aktiv an Protesten und Kundgebungen teilgenommen, die demokratische Werte verteidigten, darunter die Orange Revolution und die Revolution der Würde. Er war tief besorgt wegen der vorübergehenden Besetzung der Krim und der östlichen Gebiete der Ukraine. Er befürchtete, dass der Krieg auf das gesamte Gebiet der Ukraine übergreifen würde. Und so geschah es dann ja auch.

Die Gräueltaten, die nach dem Rückzug der Russen aus den Gebieten Kyjiw und Tschernihiw ans Licht kamen, sind unbeschreiblich, übersteigen jegliche Vorstellungskraft. Wie kann man Menschen foltern, Zivilisten. Sie haben doch niemandem etwas getan. Wieso gibt es in der russischen Armee so viel Grausamkeit und das Bedürfnis, sich am Leid anderer Menschen zu weiden? Ich verstehe das nicht. Ich kann einfach nicht begreifen, wie man sich an menschlichem Leid ergötzen kann, daran, dass man anderen Schmerzen zufügt und sie langsam sterben sieht. Unzählige Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern, Tausende von zerschossenen Häusern und Autos – ist das ihre »Spezialoperation«? Auch im Krieg muss es Regeln geben. Aber für die Russen sind absolut alle Methoden der Erniedrigung und Zerstörung akzeptabel, ohne Ausnahme. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich wahrscheinlich lieber sterben, als von ihnen gefangen genommen zu werden. Das ist einfach zu schrecklich.

Ich habe auch Bekannte, die jetzt in Gefangenschaft sind. Sie haben Mariupol verteidigt. Ich weiß jedoch nicht, ob sie alle noch am Leben sind. Mit einer Person habe ich seit über einem Monat keinen Kontakt mehr gehabt. Ich habe keine Ahnung, was dort passiert, was diese Menschen denken und fühlen, wenn es sie noch gibt. Ich kann nur beten, dass sie die Kraft haben, die Gefangenschaft zu überleben und bis zu ihrer Freilassung durchzuhalten.

Die brutalen Kriegsverbrechen werden nicht von Putin persönlich begangen, sondern von einfachen Soldaten und ihren Befehlshabern. Was also passiert da? Wer ist dieser Feind? Vor diesem Krieg war ich misstrauisch gegenüber der russischen Führung, nach der groß angelegten Invasion hasse ich jeden Russen. Jeden einzelnen, der diese sogenannte Militäroperation unterstützt, der der Propaganda glaubt, der unfähig ist zu denken und zu analysieren. Ich wünsche ihnen, dass sie wenigstens einmal den schrecklichen Lärm der Luftalarmsirene bei sich zu Hause hören und erzittern angesichts der Explosionen.

Es scheint so, als könnte nichts schrecklicher sein als das, was sich nach dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine zeigte, aber wir alle wissen nur zu genau, dass es noch schrecklicher sein kann, denn es geht um die physische Ausrottung der Ukrainer, um einen Genozid. Das beweist die russische Armee jedes Mal, wenn sie Bomben auf den Bahnhof in Kramatorsk, auf ein Einkaufszentrum in Krementschuk wirft, das Zentrum von Winnyzja mit Raketen zerstört und dabei Tausende von unschuldigen Ukrainern aus dem Leben reißt. Und was sagt die russische Propaganda? Dass sie die Russischsprachigen verteidigt? Das ist einfach eine unglaubliche Heuchelei. Gerade im russischsprachigen Teil der Ukraine hinterlässt die russische Armee verbrannte Erde und Asche.

Gerade dieser Teil der Ukraine hat am meisten unter dem von der Sowjetregierung in den Jahren 1932 und 1933 organisierten Holodomor gelitten. Verschiedenen Quellen zufolge starben zwischen vier und zehn Millionen Menschen an Hunger. Man muss sich diese Zahl einmal vorstellen. Das sind Berge von Leichen. Und das zu einer Zeit, als auf den ukrainischen Feldern viele Tonnen von Getreide geerntet wurden. Jetzt, im Jahr 2022, starben die Menschen in Mariupol, Isjum und in vielen anderen ukrainischen Städten und Dörfern, die von den Russen blockiert wurden, genauso qualvoll an Hunger. Das ist Wahnsinn. Die Russen stehlen und verkaufen wieder einmal unser Getreide und geben es als ihr Eigentum aus. Und sie verbrennen die neue Ernte auf den Feldern und sparen dabei nicht an Munition.

Ich denke an meine Oma, die den Zweiten Weltkrieg miterleben musste. Sie erzählte mir als Kind, dass ihre Familie, als die feindlichen Truppen in das Dorf einmarschierten, hoch in die Berge zog, um sich zu retten und dasjenige, was sie mitnehmen konnten. Sie flohen vor zwei Armeen: der faschistischen und der sowjetischen. Meine Oma äußerte sich allerdings positiver über die Deutschen, sagte, dass die humaner waren und den Menschen nicht alles weggenommen haben, nur einen Teil. Sie fügte hinzu, dass alle sehr froh über das Kriegsende waren. Sie hofften, dass der Schrecken nun endlich vorbei sein würde.

Aber auch nach dem Krieg wurde das Leben nicht farbenfroher. Selbst das entlegene Karpatenvorland erlebte die Sowjetherrschaft in vollem Umfang, den Aufstand, die Gefängnisse, Deportationen, finanzielle Gleichheit, Mangel an Waren und ein totales Verbot der Kirche und alles Ukrainischen. Die Sowjetregierung versuchte, die Gesellschaft gesichtslos und einförmig zu machen. Aber sie scheiterte.

Ich bin so alt wie die Unabhängigkeit der Ukraine: Ich wurde 1991 geboren. Meine Kindheit fiel in die »schrecklichen Neunziger«, wie diese Zeit oft genannt wird. Damals wurden Gehälter nicht ausgezahlt, und es herrschte ein Mangel an Waren und Lebensmitteln. Der junge Staat versuchte, seine Wirtschaft wiederaufzubauen. Es war eine finanziell schwierige Zeit, aber die Verhältnisse besserten sich von Jahr zu Jahr.

Als die Revolution der Würde begann, war ich Masterstudentin. Im November 2013 fanden die ersten Aktionen und Kundgebungen gegen die Abkehr der ukrainischen Regierung von dem gesetzlich verankerten Kurs der europäischen Integration statt. Nach den Lehrveranstaltungen gingen viele Studierende zum Majdan, trotz der strengen Kälte und der Gefahr einer blutigen Auflösung der Versammlungen. Letztendlich starben bei den Zusammenstößen viele Menschen, einfache Zivilisten, die die demokratischen Werte verteidigten. Dann floh Präsident Janukowytsch aus dem Land, und russische Truppen begannen, unser Land zu zerstückeln.

2014 annektierte Russland dreist die Krim und startete seine Kampfhandlungen in den Gebieten Donezk und Luhansk. Die Invasion legitimierte es durch ein Pseudoreferendum. Eine entsetzliche Heuchelei, einen solchen demokratischen Mechanismus zu benutzen. Letztendlich ist ganz Russland gefesselt durch Propaganda und Lügen. Millionen von Zombies. Kein Wunder, dass sie jetzt den Buchstaben Z so lieben.

Vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen und des blutigen Krieges in der Ostukraine begann ich, im investigativen Journalismus tätig zu werden. Genau genommen habe ich mich kopfüber hineingestürzt. Ich hatte ein Geschichtsstudium abgeschlossen, nun lernte ich also ein neues Handwerk von Grund auf. Von der analytischen Arbeit über das Drehen von Videos bis hin zum Skriptschreiben. Das alles faszinierte mich sehr.

Ich wollte an den Veränderungen teilhaben, meinen Beitrag zur Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft leisten. Die Korruption war dabei eines der Hauptprobleme, auch in der Führungsspitze des Landes. Die meisten meiner Reportagen befassten sich mit Korruptionsfällen. Ich wurde oft gefragt, ob ich nicht Angst wegen meiner Enthüllungen hätte. Die Frage hat mich überrascht, denn in unserem Land kann man alles laut sagen. Anders als in Russland und Belarus gibt es bei uns noch Freiheit, auch Redefreiheit. Zumindest bin ich bisher nirgendwo auf Zensur gestoßen.

Allerdings ist investigativer Journalismus ein wirklich anstrengender Job, der viel Zeit kostet und einem eine Menge Energie abverlangt. Schließlich entschied ich mich im Jahr 2020, mitten in der Pandemie, für einen Berufswechsel. Ich fing bei der Nationalen Agentur für Korruptionsbekämpfung an. Es war eine sehr interessante Erfahrung, ich lernte die Arbeit im Staatsdienst kennen. Ich saß nun auf dem Platz derjenigen, deren Tätigkeit ich noch vor Kurzem als Journalistin kritisch beobachtet hatte. Ich sah, wie sich der öffentliche Dienst veränderte, zwar langsam und sehr schwierig, aber zum Positiven. Bürokratie und eintönige Arbeit sind jedoch nichts für mich, und so kündigte ich nach einem Jahr und machte am Ende des Sommers eine kleine Reise.

Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass ich ohne meinen Laptop, von dem ich mich wohl noch nie getrennt hatte, in den Urlaub fuhr. Es war eine wunderbare Reise. Ich verspürte eine Leichtigkeit, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich als Nächstes tun würde. Ohne Eile fuhr ich in den Süden der Ukraine ans Asowsche Meer und bewunderte die Schönheit der Natur. Endlose Weizenfelder, Sonnenblumen, die Wassermelonen und Zuckermelonen von Cherson, duftende Tomaten. Während ich dies schreibe, fühle ich mich zurückversetzt in das letzte Jahr, in meinen Aufenthalt in der Südukraine.

Ich wohnte in dem Dorf Schtschaslywzewe im Gebiet Cherson. Es liegt auf der Arabat-Nehrung. Ein wunderschöner Ort. Auf der einen Seite das warme Asowsche Meer, auf der anderen ein Salzsee, auf dem man einfach so liegen kann. Ganz in der Nähe ein weiterer See – der rosafarbene, salzige Lemurianische See. Bootsfahrten auf dem Sywasch, wo man stundenlang verschiedene Vogelarten beobachten kann.

Touristen kamen aus dem ganzen Land. Das konnte ich an den Autokennzeichen erkennen, denn die ersten beiden Buchstaben auf unseren Nummernschildern bezeichnen das jeweilige Gebiet der Ukraine. Prorussische Stimmungen habe ich nicht bemerkt. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist russische Musik am Strand. Sicher keine sehr angenehmen Töne.

Ich hatte vor, dieses Jahr mit meiner Mutter in das Gebiet Cherson zu fahren. Auf dem Weg dorthin wollten wir unsere Verwandten besuchen. Zu Beginn der 1950er Jahre wurden sie im Rahmen des »Austauschs staatlicher Gebiete« infolge eines Abkommens zwischen der UdSSR und Polen dorthin zwangsumgesiedelt. So landeten mehr als 30.000 Vertreter der Bojken, einer ethnischen Gruppe von Ukrainern, im Süden und Osten der Ukraine. Aus den Bergbojken wurden Steppenbewohner. Ich glaube, dass wir unseren Reiseplan nur um ein Jahr verschieben müssen. Und dass die Ukraine schon sehr bald ihre verfassungsmäßigen Grenzen wiederherstellen wird.

Es schmerzt mich sehr, dass das Gebiet Cherson seit den ersten Tagen des groß angelegten Krieges besetzt ist. Ich habe Angst um die Menschen, die dortgeblieben sind. Sie sind in ständiger Gefahr. Alles, was sie im Laufe von Jahren und Generationen erworben haben, wird ihnen schamlos genommen. Außerdem entführen die Russen massenhaft Menschen, erniedrigen sie, foltern sie, einige ermorden sie einfach. Die Lebensbedingungen unter Besatzung sind unerträglich. Die Menschen sind gezwungen, zu fliehen und unter der sengenden Sonne über die Felder zu laufen, um in die freie Ukraine zu gelangen. Der Ausdruck »freie Ukraine« hat jetzt eine tiefe Bedeutung bekommen. Ich sorge mich sehr um jeden Winkel der Ukraine, um jeden Menschen, der unter den Invasoren leiden muss.

Ich erinnere mich, dass an der Universität die Meinung geäußert wurde, die Revolution der Würde hätte deshalb stattgefunden, weil die ältere Generation es versäumt hatte, einen starken, wirklich freien und unabhängigen Staat aufzubauen. Außerdem hätten wir uns unsere Unabhängigkeit nicht mit Blut erkämpft, sie wäre uns 1991 zu leicht gegeben worden. Heute wird der Fortbestand unseres Staates mit dem Blut von Tausenden von Zivilisten und Tausenden von Soldaten, Rettungskräften, Sanitätern, Eisenbahnarbeitern und Freiwilligen erkämpft. Und letztlich von uns allen, die von diesem Krieg betroffen sind. Er wird mit Blut, Tränen und großem Leid erkämpft. Ich glaube daran, dass wir unseren Feind, die russländische föderation, besiegen werden.

Also das Land, das hier jahrelang Propaganda betrieben hat, auch zu Zeiten der unabhängigen Ukraine. Die russische Kultur galt als größer, der russische Pop als besser, die russische Sprache als prestigeträchtiger, alles Russische galt als gut. Alles, was ukrainisch war, trug dagegen den Stempel des Rustikalen und Simplen. Leider wurde »das Russische« auch nach dem Beginn des Krieges 2014 toleriert.