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Zwei Mädchen, die eine tiefe Freundschaft verbindet. Ein tragisches Ereignis, das alles zerstört. Ein Tagebuch, das Licht in die Sache bringt und gleichzeitig schlimme Geheimnisse offenbart. Bald wird deutlich, dass nichts zu wissen erträglicher war, als alles zu wissen. Die Freundinnen Jinelle und Nora gehen durch dick und dünn. Als Nora eines Nachts im elterlichen Swimmingpool ertrinkt, bricht Jinelles Welt zusammen. Auf der Suche nach einem Erinnerungsstück findet sie das Tagebuch ihrer Freundin sowie einen mysteriösen Schlüssel. Jeder Tagebucheintrag enthüllt dunkle Geheimnisse, die Nora innerlich zerfressen haben. Immer schrecklichere Dinge kommen ans Licht und bringen Jinelle dem Geheimnis von Noras Tod näher. Je mehr sie erfährt, desto mehr wünscht sie, das Tagebuch nie gefunden zu haben. Gemeinsam mit Jace, in den sie heimlich verliebt ist, begibt sich Jinelle auf die Suche nach der Wahrheit.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt
Damals
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Neubeginn
Liebe Leserin, lieber Leser,
Danke sagen möchte ich …
Nachwort
Impressum
Manchmal stößt man auf Geheimnisse, die man nicht erfahren will, aber sie helfen einem zu verstehen – und zu verzeihen.
Zwei Mädchen, die eine tiefe Freundschaft verbindet.
Ein tragisches Ereignis, das alles zerstört.
Ein Tagebuch, das Licht in die Sache bringt und gleichzeitig schlimme Geheimnisse offenbart.
Bald wird deutlich, dass nichts zu wissen erträglicher war, als alles zu wissen.
Die Freundinnen Jinelle und Nora gehen durch dick und dünn. Als Nora eines Nachts im elterlichen Swimmingpool ertrinkt, bricht Jinelles Welt zusammen. Auf der Suche nach einem Erinnerungsstück findet sie das Tagebuch ihrer Freundin sowie einen mysteriösen Schlüssel. Jeder Tagebucheintrag enthüllt dunkle Geheimnisse, die Nora innerlich zerfressen haben. Immer schrecklichere Dinge kommen ans Licht und bringen Jinelle dem Geheimnis von Noras Tod näher. Je mehr sie erfährt, desto mehr wünscht sie, das Tagebuch nie gefunden zu haben.
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Von Anna Loyelle sind im LeuchtWort Verlag erschienen:
Jeder Augenblick zwischen uns – Olive & Anthony
Liebe im Sommerregen – Samantha & Jayden
Falsche Küsse schmecken besser – Lauren & Noel
Never without you – Elisha & Cade
Anna Loyelle schreibt Jugendromane, Erotikgeschichten und Kurzgeschichten unterschiedlicher Genres. 2019 gründete sie unter ihrem Realnamen Andrea Kammerlander das Literaturmagazin Schreib Was.
Manchmal zieht die Liebe Schatten an, die dich in Gefahr bringen …
Dreizehn Jahre zuvor
Versteckspiel
Ich öffnete langsam die Augen. Mein Blick verschwamm und in meinem Kopf erklang ein leises Summen, das sich anhörte wie ein Bienenschwarm. Was war los mit mir? So fühlte ich mich doch nur, wenn sich Daddy mit mir im Kreis drehte und mich dann auf den Boden setzte, wo ich mit ausgestreckten Armen nach Halt suchte, weil sich alles in meinem Kopf weiterdrehte. Aber Daddy war nicht hier und ich befand mich auch nicht zu Hause.
Ein ekliger Geschmack lag auf meiner Zunge. Ich versuchte, ihn abzustreifen, indem ich mit den Zähnen über meine Zunge fuhr, aber es nutzte nichts. Langsam setzte ich mich auf, doch ein Schwindelgefühl überkam mich und ich sank ins Kissen zurück. Warum fühlte ich mich so? War ich krank? In der nächsten Sekunde überfiel mich eine bleierne Müdigkeit, gegen die ich mich nicht wehren konnte.
Als ich später wieder aufwachte, war mein Blick klar und das Summen in meinem Kopf verschwunden. Sonnenlicht fiel durch ein kleines Fenster herein und erhellte den Raum. Verwundert sah ich zur Decke hoch. Wo war meine Hello-Kitty-Lampe? Und warum befand sich überall Holz an den Wänden? Die Wände in meinem Zimmer hatte Daddy doch in dem hellen Gelb gestrichen, das ich im Baumarkt ausgesucht hatte. Woher kam das Holz?
Ich setzte mich auf und rümpfte die Nase. Es roch muffig, so wie in der Waschküche, in der Mommy im Winter die Wäsche aufhing. Irritiert runzelte ich die Stirn. Warum duftete es nicht nach Pancakes und heißer Schokolade, so wie an jedem Morgen, wenn Mommy das Frühstück zubereitete?
Ich schlug die Decke zurück und wollte aus dem Bett steigen, doch dicke Holzstäbe hinderten mich daran. Erschrocken wich ich zurück, aber die Stäbe befanden sich überall um mich herum. Ein Gitterbett. Ich befand mich in einem Gitterbett! Aber … warum hatte ich in diesem Babybett geschlafen? Seit Weihnachten besaß ich doch ein richtiges Bett. Eins für große Kinder, wie ich es schon war. Und warum war ich nicht in meinem Zimmer?
»Mommy?« Meine Stimme klang rau vor Angst. »Mommy!« Ich umklammerte die Stäbe mit beiden Händen und zog mich auf. »Mommy! Daddy!« Warum hörten sie mich nicht?
Ich sah nach oben und mir wurde klar, dass ich mich in einem Käfigbett befand. Wie der Tiger im Zoo, den wir vor ein paar Tagen besucht hatten.
»Mommy! Daddy!«, schrie ich voller Angst und rüttelte an den Holzstäben, aber sie bewegten sich keinen Zentimeter. Ich war gefangen.
Eine Tür wurde aufgestoßen und eine Gestalt mit einer Prinzessinnenmaske vor dem Gesicht erschien im Türrahmen. Auf dem Kopf trug sie eine langhaarige Perücke, die schief saß, so als wäre sie in Eile aufgesetzt worden.
»Sei still!«, sagte die Gestalt aufgebracht. »Sei sofort still!« Die Stimme klang verzerrt. So ähnlich wie Daddys Stimme an meinem Geburtstag, nachdem er die Luft, die eigentlich keine Luft gewesen war, aus einem Luftballon eingesaugt hatte.
»Du willst doch spielen? Aber wenn du nicht still bist, verbockst du alles!«
»Spielen?« Meine Stimme zitterte, Tränen rannen über meine Wangen. »Was denn?«
»Verstecken«, antwortete die Prinzessinnengestalt. »Erinnerst du dich nicht mehr?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Spielen … Mommy und Daddy auch mit?«
»Ja. Sie suchen dich längst.«
Die Antwort erleichterte mich ein wenig. »Wer bist du?«
»Das verrate ich dir nicht.«
»Warum muss ich mich hier verstecken?«
»Damit du nicht zu schnell gefunden wirst.«
Das verstand ich nicht. »Warum?«
Die Prinzessinnengestalt ballte eine Faust und richtete ihren Blick direkt auf mich. Sie war zu weit entfernt, deshalb konnte ich in dem diffusen Licht nicht erkennen, welche Augenfarbe sie hatte.
»Weil ich sehr lange mit dir Verstecken spielen will.« Die Worte klangen bedrohlich. Ich wollte ein großes Mädchen sein und nicht weinen, aber die Furcht in mir wuchs.
»Ich habe keine Lust mehr. Mir gefällt es hier nicht. Bring mich nach Hause.«
Die Gestalt lachte, aber es klang nicht fröhlich, sondern bösartig und gemein.
»Vergiss Mommy und Daddy. Wir spielen das Versteckspiel so lange, wie ich es will. Leg dich hin und schlaf, sonst muss ich dir noch etwas von dem Beruhigungsmittel geben.« Die Prinzessin, die keine war, verließ den Raum und schlug die Tür hinter sich zu.
Ich begann zu weinen.
Heute
Wie ein Schmetterling im Wind
So fühlt es sich also an, das Sterben. Schwerelos. Frei. Schwebend. Wie ein Schmetterling, der vom Wind fortgetragen wird. Ich sehe mir dabei zu, wie ich untergehe. Ein beängstigendes Gefühl. Ich kann nichts dagegen tun. Die Droge macht mich wehrlos. Mein Körper ist tot, nur mein Kopf funktioniert. Wasser streichelt über meine Haut. Noch befindet sich genug Luft in meiner Lunge, aber schon bald wird es vorbei sein. Ich weiß es. Ich beginne schon zu sinken. Ganz langsam. Immer tiefer. Wasser steigt mir in die Nase. In die Ohren. In den Mund. Meine Augen brennen. Ich weine, aber es fällt nicht auf. Ich versuche, wieder an die Oberfläche zu gelangen, doch ich kämpfe vergebens. Alles ist taub. Mein Herz pocht wie verrückt. Mein Puls rast. Mein Brustkorb schmerzt. Ich spüre Krämpfe im Bauch und in den Beinen. In meinem Kopf pfeift es. Der Ton ist unerträglich. Das soll aufhören! Ich muss … aber ich kann mich nicht bewegen.
Jinelle. Ich sehe dein Lächeln vor mir. Dein süßes Lächeln. Deine braunen Augen. Wieso bist du nicht bei mir? Spürst du nicht, was mit mir los ist? Fühlst du nicht, dass ich diese Welt für immer verlasse? Dass ich sterbe? Du hast einmal gesagt, wir seien Seelenverwandte. Spiegelzwillinge. Ein Mensch in zwei verschiedenen Körpern. Wenn das so ist, wieso bist du dann nicht hier? Jetzt, wo ich dich so dringend brauche?
Am dunklen Himmel über mir leuchten Sterne. Es ist eine Vollmondnacht. Sein Anblick wird durch das Wasser verzerrt, doch ich erkenne, dass er mich verhöhnt. Als würde er sagen: Du hast diese Strafe verdient, jetzt musst du für deine Sünden büßen. Der Mond hat recht. Das muss ich … aber doch nicht so! Ich will noch nicht sterben! Ich bin viel zu jung! Wie soll ich mich wehren? Es ist unmöglich. Mein Körper gehorcht mir nicht. Der Druck wird unerträglich. Ich kann nicht mehr. Meine Kräfte schwinden. Ich gebe auf. Lass mich fallen. Gleite hinab in die kalte Dunkelheit.
Plötzlich überfällt mich Panik. Mit aller Kraft versuche ich, meine Hand zu heben, darauf hoffend, dass jemand sie im letzten Moment noch ergreift, aber ich schaffe es nicht. Mein Schicksal ist besiegelt. Niemand wird mich vermissen. Ich bin ein Nichts in einer Welt voller Nichtigkeiten.
Die Kälte hüllt mich ein wie ein Kokon. Schmerzen überall. Leb wohl, grausame Welt. Leb wohl, geliebte Jinelle. Weine nicht um mich. Ich bin keine einzige Träne wert. Bald wirst du merken, dass ich den Tod verdient habe. Bis dahin behalte mich so in deinem Herzen, wie du mich gekannt hast.
Leb wohl.
Für immer.
Dein Schmetterling.
Angst
Noch bevor ich meine Augen öffnete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich setzte mich auf und blinzelte irritiert. Warum war ich aufgewacht? An einen Albtraum konnte ich mich nicht erinnern. Hatte ich ein Geräusch gehört? Die Toilettenspülung vielleicht oder das Knarzen der Stufe?
Ich nahm mein Handy vom Nachttisch und tippte auf das Display. Drei Uhr morgens. Seufzend checkte ich, ob eine Nachricht eingegangen war. Nope. Der Signalton hatte mich also auch nicht geweckt. Seltsam. Da war ein Gefühl in mir, das ich nicht erklären konnte. Wie ein zu fest zugezogener Knoten, der bleischwer in meinem Magen lag. Manchmal tauchte diese Anspannung in mir auf, wenn ich vergessen hatte, für eine Prüfung zu lernen, aber es war Wochenende.
Ich blickte zum Fenster hinüber, das ich vor dem Zubettgehen einen Spalt weit geöffnet hatte. Der laue Wind bewegte den Vorhang sachte hin und her. Vielleicht hatte mich ein Geräusch von draußen geweckt? Gähnend stand ich auf und sah in die Dunkelheit hinaus. Da war nichts. Oder … ich lehnte mich weiter aus dem Fenster. Moment! Da bewegte sich eine Gestalt in der Nähe des Swimmingpools auf dem Grundstück der Haydens! Es war zu dunkel, um etwas Konkretes zu erkennen, trotzdem war ich mir sicher, dass da jemand war.
Ich eilte zum Bett, griff mein Handy vom Nachttisch und wählte Noras Nummer. Es klingelte, aber sie ging nicht ran. Das war seltsam. Nora legte ihr Smartphone nie außer Reichweite, egal, wo sie sich gerade befand. Ich versuchte es noch zweimal, aber ohne Erfolg. Da sie ihre Mailbox nicht aktiviert hatte, hinterließ ich eine Sprachnachricht in unserem WhatsApp-Chat. »Hey, sorry, dass ich dich wecke, aber es sieht so aus, als ob da jemand um euer Haus schleicht.« Wie gebannt wartete ich darauf, dass die beiden Häkchen blau wurden. Aber das passierte nicht. Nervös zupfte ich an meiner Unterlippe. Was sollte ich tun? Meine Eltern wecken? Die Polizei anrufen? Aber was, wenn ich mich irrte?
Ich sah wieder aus dem Fenster. Das Licht des Vollmondes spiegelte sich teilweise leicht verzerrt im Wasser des Pools wider und vermittelte den Eindruck, als würde sich jemand darin befinden. Na toll, jetzt sah ich auch noch Gespenster. Um drei Uhr morgens würde bestimmt niemand von den Haydens schwimmen gehen.
Noch während meines Gedankengangs wurde der Bewegungsmelder an der Haustür der Haydens ausgelöst. Der Lichtkegel erfasste eine Gestalt. Meine Nackenhärchen stellten sich auf. Ich musste den Notruf wählen! Doch dann erkannte ich, dass ich falschlag. Da trieb sich kein Eindringling herum, sondern ein Hund, der neugierig die Umgebung erkundete. Er lief aufgeregt hin und her, schnüffelte, markierte einige Stellen im Garten und trottete zum Pool. Dort blieb er stehen, hob den Kopf und verharrte einige Sekunden regungslos, ehe er sich abwandte und wieder in der Dunkelheit verschwand. Das Licht des Bewegungsmelders ging aus.
Ich atmete erleichtert auf. Zum Glück hatte ich weder Nora geweckt noch die Polizei informiert. Wie peinlich wäre das gewesen, wenn die angerückt wären, um einen Hund zu stellen.
Ich setzte mich aufs Bett und schickte Nora eine WhatsApp. Falscher Alarm! Es war nur ein Hund. Melde dich, wenn du wach bist. Ich schob das Telefon unters Kopfkissen und wartete auf das vertraute Signal einer eingehenden Nachricht, aber das Handy blieb stumm. Nora meldete sich nicht.
Schmerz
»Was denkst du, wie werden wir sterben?«
Ich sehe Nora an und runzle die Stirn. Wir sitzen in ihrem Garten auf der Decke unter dem Apfelbaum und blättern in der neuesten Ausgabe des Seventeen- Magazins. Sie zeigt auf einen Artikel mit der Überschrift »Warum mussten sie so jung sterben?«.
»Das ist eine blöde Frage. Wie kommst du darauf?«
»Die Frage ist nicht blöd. Ich meine es ernst. Schau mal, die sind alle viel zu jung gestorben.« Sie hält mir die Zeitschrift unter die Nase. »Heath Ledger, Amy Winehouse, River Phoenix, Sawyer Sweeten …«
»Ja schon, aber die hatten Probleme mit Drogen und Alkohol und …«
Nora stöhnt theatralisch und unterbricht mich. »Schon klar. Trotzdem. Verstehst du nicht, was ich meine?«
»Wir sind zu jung, um uns schon über den Tod Gedanken zu machen. Vor allem darüber, wie wir sterben werden. Echt, Nora, ich finde dieses Thema gruslig.«
Sie sieht mich eindringlich an. »Woher willst du wissen, dass wir zu jung sind? Woher willst du wissen, dass wir nicht schon morgen sterben?«
Ein eisiger Schauer läuft meinen Rücken hinunter.
Nora wendet sich von mir ab und sieht zum Himmel hoch. Sie rührt sich nicht, starrt nur nach oben.
»Nora?«
Sie reagiert nicht, zuckt nicht einmal mit der Wimper.
»Nora, bitte sag etwas.« Ihr Verhalten macht mir Angst. Warum redet sie seit einigen Wochen so komisches Zeug?
»Was würdest du tun, wenn ich plötzlich tot umfalle?«, fragt sie mit belegter Stimme. »Wärst du traurig?« Endlich sieht sie mich an, in ihren Augen schimmern Tränen. »Würdest du mich vermissen, wenn ich tot wäre?«
Ich schlucke und nicke, um meine Antwort zu untermauern. »Natürlich. Ich würde dich jede Sekunde vermissen, die du nicht bei mir bist.«
»Danke«, flüstert sie, steht auf und läuft ins Haus, ohne ein weiteres Wort zu mir zu sagen.
Ich sehe ihr nach und wünsche mir, sie in den Arm zu nehmen, um das, was sie offenbar belastet, zu vertreiben.
*
Ich schlug die Augen auf und die Erinnerung an den Hund im Garten der Haydens vergangene Nacht erwachte mit mir. Ich tastete unter dem Kopfkissen nach meinem Handy und warf einen Blick auf die Uhrzeit. Halb sieben Uhr morgens. Oh Mann. Sozusagen noch Mitternacht. Gewöhnlich schlief ich samstags so lange, bis Mom mich zum Mittagessen weckte.
Ich setzte mich auf und starrte auf das Display. Weder ein Anruf noch eine WhatsApp von Nora waren eingegangen. Seltsam. Es gab Nächte, da simsten wir uns die Finger wund oder telefonierten unter der Bettdecke versteckt stundenlang miteinander. Dass Nora sich nicht meldete, war ungewöhnlich. Seufzend legte ich das Smartphone beiseite, strich mir mit den Fingern durch die Haare und gähnte. Gerade als ich mich wieder ins Bett kuscheln wollte, vernahm ich Stimmengewirr, das durch das Fenster hereindrang. Ich ergab mich der Neugier und sah aus dem Fenster. Mein Herz machte einen Satz vor Schreck bei dem Anblick, der sich mir bot. Auf dem Grundstück der Haydens gingen Männer in weißen Overalls herum. Polizisten, Sanitäter und ein Notarzt waren ebenfalls vor Ort. Ein Transporter mit der Aufschrift Rechtsmedizin hielt in der Einfahrt der Haydens. Zwei Männer in weißen Overalls stiegen aus und holten einen sargähnlichen Gegenstand aus dem Lieferwagen. Ein Polizist winkte sie durch die Absperrung und ging ihnen voraus Richtung Swimmingpool.
»Was zum …« Mir blieb das Wort im Hals stecken. Die Szenerie erinnerte mich an einen Tatort aus Criminal Minds. Schlagartig wurde mir klar, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Meine Kehle wurde eng, mein Herzschlag beschleunigte sich. Was war da los? Ich musste Nora anrufen. Mit zitternden Händen griff ich nach dem Handy, das noch im Bett lag. Es klingelte, aber Nora ging nicht ran. Ich versuchte es noch einmal. Ohne Erfolg. Tausend Gedanken strömten zeitgleich auf mich ein. War etwas mit dem Hund von letzter Nacht? Hatte er jemanden gebissen? Oder war doch ein Einbrecher unterwegs gewesen? Was machten die ganzen Leute hier? Ich musste es wissen.
Barfuß und in Schlafshorts und T-Shirt rannte ich die Treppe hinunter. Meine Eltern standen an der offenen Haustür und blickten zu den Haydens hinüber. Mom weinte. Falsch, sie wurde regelrecht von lauten Schluchzern geschüttelt, während Dads Hände auf ihren Schultern lagen. Meine Knie gaben nach, ich stolperte über die letzte Stufe. Das Geräusch ließ Mom herumfahren. Sie war kreidebleich.
»Jinelle, nein, bleib, wo du bist«, sagte Dad mit zittriger Stimme. »Geh wieder nach oben.«
Ich sah die Tränen in seinen Augen und ging wie in Trance auf ihn zu. »Was ist passiert?«
Dad stellte sich mir in den Weg. In seiner Miene las ich Entsetzen und Trauer. »Geh in dein Zimmer, Jinelle, ich komme nachher zu dir und erkläre dir alles.«
Eine eisige Hand umklammerte mein Herz und drückte zu, bis ich den Schmerz kaum noch aushielt. »Erklären? Was denn?« Meine Stimme klang brüchig, das Atmen fiel mir schwer.
»Jinelle, bitte, im Moment kann ich …«
»Was ist da drüben los, Dad? Geht es um den Hund?«
»Um den Hund?«, wiederholte er irritiert.
»Der Hund, der heute Nacht hier herumgeschlichen ist. Hat er etwas angestellt?«
»Ich weiß nichts von einem Hund.«
»Ich habe ihn gesehen … ich muss …« Ich drängte mich an Dad vorbei, eilte zu Mom und folgte ihrem Blick. Die Hecken, die den Garten der Haydens umschlossen, verdeckten teilweise die Sicht.
»Jinelle«, sagte Dad eindringlich, »geh wieder nach oben.«
Das konnte ich nicht. Etwas war bei Nora passiert und da niemand mir sagen wollte, was, musste ich es selbst herausfinden.
Ich lief nach draußen, ehe Mom oder Dad mich zurückhalten konnten. Die Bewohner der umliegenden Häuser standen auf der Straße. Alle Blicke waren auf das Grundstück der Haydens gerichtet.
Ich zwängte mich zwischen den Hecken hindurch und rannte durch den Garten zum Pool, der offensichtlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Polizisten, Sanitäter und Männer in weißen Overalls verdeckten mir die Sicht. Ich musste näher heran. So rasch es meine zittrigen Beine zuließen, bewegte ich mich vorwärts.
Der Notarzt kniete auf den Steinfliesen, die den Pool umgaben. Vor ihm lag eine Gestalt, die sich nicht bewegte. Ein weiblicher Körper auf einer schwarzen Plastikplane. Ich blieb ruckartig stehen, denn meine Beine fühlten sich plötzlich bleischwer an. Die Gestalt sah aus wie Nora, aber das konnte unmöglich sein. Ich zwang mich, noch ein paar Schritte weiterzugehen, und wünschte mir Sekunden später, ich hätte es nicht getan. Entsetzt sah ich auf das bizarre Bild, das sich mir bot. Bleich und starr lag Nora da, die Augen weit aufgerissen, als würde sie in den Himmel blicken. Doch der Schein trog. In Noras blauen Augen war jedes Leben erloschen. In Wahrheit sah sie ins Leere. Die langen blonden Haare klebten in ihrem Gesicht, das Make-up war verschmiert. Eine groteske Maske, hinter der sich ihre Schönheit verbarg. Der rot lackierte Nagel ihres linken Zeigefingers war abgebrochen. Sie hatte ein enges weißes T-Shirt und pinkfarbene Shorts an. Keine Schuhe. Ihre geliebte Halskette mit dem Schmetterlingsanhänger lag nicht um ihren Hals und der linke Ohrring fehlte.
Einer der Männer in den weißen Overalls kam auf mich zu. »He, was machst du da?«
»Ist das Nora?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst kannte. »Ist das Nora Hayden? Meine Freundin Nora?« Nein, das kann nicht sein! Das ist niemals Nora!
»Du darfst nicht hier sein. Komm, ich bring dich …«
Ich wandte den Kopf. Eine Polizistin stand neben mir. »Ich … bitte, ist das Nora? Was ist mit ihr passiert?«
Die Polizistin legte mir eine Hand auf die Schulter. »Wo sind deine Eltern?«
»Ist das meine Freundin Nora?«
»Wie heißt du?«
»Warum antwortet mir niemand? Ich will nur wissen …« Übelkeit überkam mich so heftig, dass ich auf die Knie sank und mich übergab. Ich wurde regelrecht von Krämpfen überrollt. Wie durch einen Nebel hindurch sah ich den Arzt, der eben noch vor Nora gekniet hatte, auf mich zukommen. Er sprach mit mir, aber ich verstand nichts. Seine Lippen bewegten sich stumm, dann umfasste er meinen Oberarm und hielt mich fest. Ich konnte mich nicht wehren. Kraftlos sank ich ins Gras. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen. Nora war … tot? Nein, nein, nein!
»Jinelle!« Mom war plötzlich da, bettete meinen Kopf in ihren Schoß und streichelte mir tröstend über die Wange. »Alles wird gut.«
»Mom?«
»Schsch, meine Kleine, alles wird gut.«
Etwas pikste mich in den Arm. »Nora ist … Nora … Nora …«
»Schon gut, Schatz, alles ist gut. Ich bin bei dir.«
»Nein«, wimmerte ich, »nichts ist gut. Nora ist …« Ich klammerte mich an Mom fest und sie wiegte mich sanft hin und her. So wie sie es früher auch gemacht hatte, als ich noch klein gewesen war. Das hatte immer geholfen, um mich zu beruhigen. Dieses Mal wirkte es nicht. Nein, nicht dieses Mal. Nora war tot. Bleich und starr wie eine Puppe, mit leblosen, wässrigen Augen.
»Mom, Nora ist … Nora ist … tot …« Es auszusprechen, tat so weh. »Warum? Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht, mein Schatz.«
»Aber …« Ehe ich zu Ende sprechen konnte, hüllte mich ein milchig weißer Nebel ein, der mich den grausamen Schmerz für eine Weile vergessen ließ.
Trauer
»Weißt du, wo du herkommst?«
»Na klar. Vom Haus gegenüber.«
»Nein, ich meine, weißt du, wo du wirklich herkommst?«
Ich sitze auf Noras Bett und sehe vom Schulbuch auf, in dem ich eben gelesen habe. Sie lehnt in ihrem Schreibtischstuhl und blickt, wie so oft in letzter Zeit, gedankenverloren aus dem Fenster. Manchmal geht mir ihre Schwermut tierisch auf die Nerven.
»Nora, du sollst den Text auswendig lernen, damit ich dich abfragen kann.«
»Ich weiß nicht, wo ich herkomme. Ich glaube sogar, dass das niemand weiß.«
Ich seufze und schließe die Augen. »Bitte konzentriere dich auf den Text.«
»Also, ich habe keine Ahnung, wo ich herkomme.« Sie sieht mich herausfordernd an, als würde sie erwarten, dass ich ihr widerspreche, aber ich tue es nicht. Stattdessen senke ich meinen Blick wieder auf die aufgeschlagenen Seiten, in der Hoffnung, dass sie sich endlich auf ihre Aufgabe konzentriert.
»Eines Tages werden wir alle herausfinden, dass wir nicht die sind, die wir dachten, zu sein. Dass wir …«
»Echt jetzt? Nora, wenn du keinen Bock auf Lernen hast, sag es doch einfach.«
Sie verstummt, zuckt mit den Schultern und beugt sich über das Französischbuch. Nach ein paar Minuten des Schweigens höre ich sie wieder murmeln. »Ihr werdet schon sehen. Ihr werdet es alle sehen.«
*
Ich erwachte schweißgebadet. Ich hatte von Nora geträumt und fühlte mich leer und ausgelaugt. Der Traum war traurig und schön zugleich gewesen, auch wenn ich mich nicht mehr an Details erinnern konnte. Das leichte Beruhigungsmittel, das meine Eltern mir auf Anraten unseres Hausarztes verabreicht hatten, linderte zwar den Schmerz über Noras Tod, aber es verhinderte nicht, dass sie mir in der Traumwelt begegnete. Nora war tot. Dies nur zu denken, riss mir das Herz heraus.
Niemand hatte mir bisher gesagt, was passiert war. Auf meine Fragen erhielt ich nur ausweichende Antworten. Mir war klar, dass Mom und Dad mich nur beschützen wollten, dennoch musste ich die Wahrheit erfahren.
Ich ging ans Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos. Vögel trällerten fröhlich ihre Lieder. Die Idylle verursachte mir Übelkeit. Wie konnte sich die Welt einfach so weiterdrehen, als wäre nichts geschehen? In meinen Augen brannten Tränen. Nora würde nie wieder den Himmel sehen, keine Vögel zwitschern hören, keine Blumen riechen, keine Grashalme zwischen ihren Fingern spüren. Nichts. Denn Nora befand sich in der Dunkelheit. Im Nirgendwo. Ich vermisste sie so. Trauer überwältigte mich, schluchzend verbarg ich das Gesicht hinter meinen Händen und weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte.
Stell dir vor, deine Freundin ist an einem schönen Ort, an dem sie immer schon sein wollte. Von dort aus wacht sie über dich, freut sich mit dir, lacht mit dir, redet mit dir. Stell dir vor, sie ist ein Stern, mit dem du sprechen kannst, der dir zuhört und dich versteht, auch wenn du keine Antwort erhältst. In deinem Herzen wird sie weiterleben. Immer. Ich schluckte, als mir die tröstenden Worte der Polizistin wieder einfielen – und die vielen Fragen, die sie mir gestellt hatte. Über meine Freundschaft zu Nora. Über unsere Hobbys. Wie Nora in der Schule gewesen war. Ob es jemanden gab, der Nora nicht gemocht hatte. Ob sie mit allen Lehrern gut ausgekommen war. Ob es Streit zwischen Nora und ihren Eltern gegeben hatte und was die Nachrichten bezüglich des Eindringlings und des Hundes bedeuteten, die ich Nora per WhatsApp geschickt hatte. Meine eigenen Fragen jedoch waren unbeantwortet geblieben.
Ich fühlte mich wie gerädert und legte mich wieder ins Bett, schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken, bis ich einschlief.
Später wachte ich ein wenig erholter auf, aber die Trauer hüllte mich immer noch ein wie ein Kokon. Ich schleppte mich ins Badezimmer, um zu duschen und mir die Zähne zu putzen. Im Spiegel blickte mir ein blasses Gesicht mit dunklen Augenringen entgegen. So ähnlich hatte Nora am Tag, als ich sie zuletzt gesehen hatte, ausgesehen. Tot, bleich und leer. Ich presste die Lippen zusammen und schloss die Augen, um nicht schon wieder loszuheulen, doch die Tränen bahnten sich hartnäckig einen Weg unter meinen Lidern hervor. Es tat so weh, an Nora zu denken. Würde das eines Tages vorbeigehen? Konnte ich mich jemals an die schönen Zeiten mit meiner Freundin erinnern, ohne vom Schmerz erdrückt zu werden?
Als ich aus dem Badezimmer kam, hörte ich Mom und Dad miteinander sprechen. Seltsam. Musste Dad heute nicht arbeiten? Es war Montag. Oder doch erst Sonntag? Irgendwie hatte ich den Überblick verloren, was mit Sicherheit an dem Beruhigungsmittel lag.
Ich setzte mich auf die oberste Stufe und lehnte den Kopf an die Wand, um die beiden zu belauschen.
»Ich habe vorhin gesehen, wie Alex am Pool gestanden ist und ins Wasser gestarrt hat.« Dads Stimme klang gedämpft. »Ich bin zu ihm gegangen und habe gefragt, ob er klarkommt.«
»O nein, der arme Alex«, hörte ich Mom voller Betroffenheit sagen. »Es ist so schrecklich. Ich kann nicht fassen, dass Nora tot ist.«
Sekundenlang herrschte Stille.
»Alex hat mir erzählt, dass der Arzt da war und Barbara ein starkes Beruhigungsmittel verabreichen musste«, fuhr Dad fort. »Die letzten zwei Nächte war sie im Krankenhaus, aber dort will sie nicht mehr hin. Alex fühlt sich so hilflos.«
»Wenn ich der armen Barbara nur helfen könnte.«
Dad seufzte schwer. »Das kannst du nicht. Niemand kann das.«
»Ich weiß. Das ist ja das Schlimme. Es tut so weh, dass man glaubt, man erträgt es nicht, und egal, was andere tun, um den Schmerz zu lindern, es funktioniert nicht.«
Wieder war es eine Weile still.
»Hat Alexander darüber gesprochen, wie das passieren konnte?«, fragte Mom dann.
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Erfuhr ich endlich, was Nora zugestoßen war?
»Erinnerst du dich, dass Nora mit sechs oder sieben Jahren geschlafwandelt ist?«
»Ja. Barbara hat deswegen jeden Abend ein nasses Handtuch vor Noras Bett gelegt, damit sie aufwacht, wenn sie aufsteht und mit den nackten Füßen darauf tritt. Manchmal war das wirksam, manchmal nicht. Als sie älter wurde, hat das Schlafwandeln plötzlich aufgehört. Warum?«
»Weil Alex vermutet, dass Nora das Haus schlafwandelnd verlassen hat, in den Pool gefallen und ertrunken ist.«
»O nein, wie grausam.«
Ich presste die Hand auf den Mund, um einen Schluchzer zu unterdrücken. Nora war geschlafwandelt und deshalb ertrunken? Nein! O nein!
»Alex hat mir anvertraut, dass Nora obduziert wird.«
»Obduziert? Du liebe Zeit, welch eine schreckliche Vorstellung für die Haydens.«
»Der Polizist, der bei ihnen war, hat gesagt, dass so etwas bei nicht klaren Todesfällen immer gemacht wird. Sie wollen untersuchen, ob Nora unter Drogen gestanden hat oder alkoholisiert war, als es passiert ist.«
»Das ist so schrecklich. Wenn ich mir vorstelle, Jinelle wäre … ich könnte das nicht ertragen.«
Erneut trat Stille ein, die mich zermürbte. Tränen rannen über meine Wangen. Nora sollte aufgeschnitten werden! Wie konnten die Haydens das zulassen?
»Ich habe einen Hund bellen hören, in dieser Nacht«, setzte Mom die Unterhaltung nach einer Weile fort. »Was, wenn Nora gar nicht geschlafwandelt ist? Vielleicht hat sie den Hund auch gehört, ist hinausgegangen, gestolpert und in den Pool gefallen?«
»Das glaube ich nicht. Wäre sie wach gewesen, wäre sie bestimmt an den Beckenrand geschwommen.«
Die Worte flossen ineinander, verfingen sich, wurden zu Klumpen, die schwer in meinem Magen lagen. Die Frage nach dem Warum trat plötzlich weit in den Hintergrund. Alles, was ich wollte, war, Nora in die Arme zu schließen, über ihr Haar zu streichen, ihre Wange zu küssen und ihren Herzschlag zu spüren. Alles, was ich wollte, war Nora. Jetzt, für immer.
»Jinelle?«
Mit tränenverschleiertem Blick sah ich auf. Mom und Dad standen am Fuß der Treppe.
»Was machst du denn da?« Mom eilte zu mir und schloss mich sanft in die Arme. »Komm, ich bring dich zurück ins Bett.«
»Nora ist ertrunken?«, fragte ich mit tränenerstickter Stimme.
»Schsch, nicht jetzt, meine Kleine.«
»Wieso ist sie ertrunken? Sie konnte doch schwimmen. Wäre sie nicht aufgewacht, wenn sie schlafwandelnd ins Wasser gefallen wäre? Und diesen Hund, den habe ich auch gehört. Sogar gesehen …«
»Schsch, alles wird gut …«
»Nein, Mom …«
»Ich werde Doktor …«
»Ich will kein Beruhigungsmittel mehr.«
»Aber …«
»Wenn ich benebelt bin, kann ich nicht denken.«
»Du sollst nicht denken, Schatz.« Sanft drückte Mom mich ins Bett und zog die Decke bis zu meinen Schultern hoch.
»Mir ist zu heiß. Ich will keine Decke. Ich muss mich umziehen und …«
»Schsch. Beruhig dich, Schatz.« Zärtlich strich sie mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Mom, wieso war die Polizei hier und hat Fragen über Nora gestellt?«
»Das weiß ich nicht. Dein Dad und ich wurden auch befragt. Wahrscheinlich ist das Routine bei so einem Unglücksfall.«
»Die Polizistin wollte wissen, ob Nora Feinde hat … hatte.«
Mom krauste die Stirn. »Feinde?«
»Ich konnte nichts sagen … ich meine, ich weiß nicht, ob Nora Feinde hatte.«
»Schsch, schon gut, Schatz.«
»Nein, es ist nicht gut. Nora … sie war seit einer Weile oft abweisend zu mir und ich weiß nicht, warum.«
»Abweisend? Davon habe ich nichts bemerkt. Bist du dir sicher?«
Die Erkenntnis traf mich hart, aber ich konnte es nicht mehr verdrängen. Nora hatte sich verändert. Es war nicht mehr so zwischen uns gewesen wie früher. Nora hatte begonnen, eigene Wege zu gehen, ohne mich, und das zuzugeben, verletzte mich.
»Ja, bin ich. Sie unternahm oft etwas mit anderen, und zu unseren Freitags-Film-Abenden kam sie auch nur noch selten. Und dann … sie wollte auf einmal nicht mehr, dass ich ihr Zimmer betrete. Sie benahm sich, als würde sie etwas vor mir verheimlichen. Einmal, als ich ihr ein Buch zurückbrachte, ließ Mrs Hayden mich rein und ich ging hoch zu Nora. Ich klopfte an ihre Tür und wartete. Sie telefonierte gerade und ich hörte sie lachen. Ich klopfte noch einmal, denn ich dachte, sie hätte mich nicht gehört, da riss sie die Tür auf und sah mich zornig an. Ich sagte Hi und wollte ins Zimmer gehen, doch sie streckte den Arm aus, um mich daran zu hindern, und blaffte mich an, dass ich unten warten solle, bis sie Zeit für mich habe. Dann warf sie die Tür zu und ich … Ich wusste nicht, was los war. Als Nora später herunterkam, tat sie, als ob nichts vorgefallen wäre. Nicht einmal entschuldigt hat sie sich. Und jetzt kann ich sie nicht mehr fragen, was los war. Ich werde es nie erfahren.«
»Es tut mir so leid, Schatz.«
Ich vergrub mein Gesicht im Kissen und krallte mich an der Decke fest. Ich fühlte mich, als würde ich innerlich zerreißen.
»Soll ich doch den Arzt anrufen?«
»Nein. Es geht mir gut.«
»Das stimmt nicht, aber es ist okay. Du darfst weinen und traurig sein. Sie war deine beste Freundin. Ihr wart wie Schwestern.«
»Es tut so weh.« Ich schloss die Augen und sank an Moms Brust.
Abschied
»Hast du je daran gedacht, dich umzubringen?«, flüstert Nora mir zu.
Ich starre sie entgeistert an und schaffe es nur schwer, leise zu sprechen. »Bist du verrückt?«
»Nein. Das ist eine normale Frage. Also, hast du?«
»Natürlich nicht.« Ich sitze neben Nora und versuche, mich auf den Mann zu konzentrieren, der an unserer Schule einen Vortrag über Politik hält. Mich interessiert kein Wort von dem, was ich da höre, aber es ist allemal besser, als den Mathetest zu schreiben, der wegen dieser Veranstaltung ausgefallen ist. In Noras Miene suche ich nach einer Begründung für ihre absurde Frage, finde sie aber nicht. Sie wirkt fröhlich und lächelt.
»Okay«, nimmt sie den Faden wieder auf, »aber wenn du dich umbringen wolltest, wie würdest du das anstellen? Und bevor du mir einen Psychodoc aufs Auge drückst, ich hab mir dieses Thema für das Referat ausgesucht, das ich bald halten muss. Also hilf mir bitte mit ein paar Ideen auf die Sprünge.«
Ich runzle die Stirn. »Mr Felps hat dir für dieses Thema die Freigabe gegeben?«
»Yep«, antwortet Nora und lässt die Kugelschreibermine mehrmals hintereinander ungeduldig aus und ein klicken.
»Okay. Hm … wahrscheinlich würde ich Pillen schlucken.«
»Warum?«
»Weil das am wenigsten Schmerzen bereitet.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht, ich vermute es nur.«
»Okay. Ich würde es auch mit Pillen machen. Aber man muss genug davon schlucken, damit sie auch wirken, sonst wacht man auf und stellt fest, dass einem der Magen ausgepumpt wurde und derselbe Scheiß von vorn beginnt.«
»Welcher selbe …«
Sie legt einen Finger an ihre Lippen und nickt in Richtung Podium. Ich verstumme. Der Gastredner blickt zu uns und schüttelt missbilligend den Kopf. Den Rest der Stunde schweigen wir und später habe ich die Unterhaltung bereits vergessen.
*
Die Tage vergingen, die Zeit lief weiter, die Welt drehte sich. Der Schmerz in meiner Brust blieb. Jede Erinnerung an Nora trieb mir Tränen in die Augen. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich meine beste Freundin nie wiedersehen und ihr Lachen nie wieder hören würde. Nora war für immer fort. Nachts, wenn mich die Sehnsucht nach Nora so stark überkam, dass ich nicht mehr schlafen konnte, ging ich ans offene Fenster und schaute zum Haus der Haydens hinüber. Noras Zimmer lag im Dunkeln. Einige Male sah ich Noras Dad am Pool. Er stand nur da und starrte ins Wasser. Als ob er darauf warten würde, dass Nora auftauchte und lachend »Alles nur ein Scherz, ich bin gar nicht tot!« rief.
Als Nora endlich für die Beerdigung freigegeben wurde, hoffte ich, dass der Druck in meiner Brust nachließ, doch das Gegenteil geschah. Das Wissen um die bevorstehende Bestattung legte sich wie eine tonnenschwere Last auf meine Atemwege. Der Arzt musste kommen und mir wieder etwas zur Beruhigung geben. Zwei Tage lang fühlte ich mich wie mein eigener Schatten, konnte weder essen noch trinken und verkroch mich in meinem Bett.
Am Tag der Beerdigung weigerte ich mich, das betäubende Medikament einzunehmen. Wenn ich mich von Nora verabschiedete, wollte ich klar im Kopf sein. Ich schleppte mich zum Kleiderschrank. Noch nie war es mir so schwergefallen, ihn zu öffnen. Ich musste schwarze Sachen heraussuchen. Kurz kam Ablehnung in mir auf. Wer war zu dem Entschluss gekommen, dass man nur fähig war zu trauern, wenn man Schwarz trug? Nora hatte fast nie Schwarz getragen. Sie hatte es bunt gemocht. Ihre Lieblingsfarbe war Fuchsia gewesen.
Ich griff nach einem pinkfarbenen T-Shirt und zog es an. Nora hatte auch so eins besessen. Wir hatten die Shirts erst vor drei Wochen gekauft. Nora war noch nicht einmal dazu gekommen, ihres zu tragen. Ich ballte die Fäuste. Schon wieder brannten Tränen in meinen Augen.
»Ich ziehe das heute für dich an«, sagte ich mit zitternder Stimme, »und niemand wird mir das verbieten.«
Nach einem zögerlichen Klopfen kam Mom ins Zimmer. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Sie musterte das pinkfarbene Shirt und ich wartete auf eine Rüge, die nicht kam. Stattdessen wurde ich von Mom in den Arm genommen. »Geht’s dir gut?«
Ich brachte nur ein Nicken zustande.
»Das war eine dumme Frage. Entschuldige. Wie sollte es dir gut gehen an so einem Tag wie heute.« An so einem Tag wie heute. An Noras Beerdigung.Abschied. Für immer. »Stehst du es durch?«
Ich nickte noch einmal.
»Wenn nicht, gib mir ein Zeichen und wir gehen. Jeder wird das verstehen.«
»Danke, Mom, aber ich schaffe das.«
»Okay. In einer halben Stunde fahren wir zur Kirche.«
Als ich wieder allein war, zog ich eine schwarze Jeans vom Kleiderbügel und schlüpfte hinein. Mühsam blinzelte ich die erneut aufsteigenden Tränen zurück und nahm eine schwarze Bluse aus dem Schrank. Die hatte ich erst einmal getragen. Zu einem ganz anderen Anlass. Letztes Jahr an Weihnachten. Meine Finger zitterten, als ich sie gerade so weit zuknöpfte, dass man noch ein Stück des pinkfarbenen T-Shirts darunter sehen konnte. Auf eine Jacke verzichtete ich, obwohl es nieselte. Auf dem Weg zur Tür trat ich ans Fenster, um es zu schließen, und erblickte einen Streifenwagen, der gerade in die Einfahrt der Haydens fuhr. Zwei uniformierte Cops stiegen aus. Was wollten sie ausgerechnet heute? Noch mehr Fragen stellen?
Die Haustür der Haydens öffnete sich, ehe einer der beiden klingeln konnte. Alexander wechselte kurz ein paar Worte mit ihnen, dann ließ er sie ins Haus. Was auch immer der Grund für den Besuch der Polizisten war – er riss alle Wunden wieder auf.
*
Die kleine Kirche war bis zum letzten Platz besetzt. Am Altar stand Pfarrer Forester und sprach leise mit den Messdienern. Foresters Haare waren bereits ergraut. Er trug eine Brille und seit Kurzem auch ein Hörgerät. Früher hatte er den Religionsunterricht an der Highschool geleitet, doch seit sich sein Gehör vor ein paar Monaten verschlechtert hatte, wurde er von einem jungen Theologen vertreten. Nora hatte dem neuen Lehrer mit ihren Ansichten zur Religion sehr zugesetzt, sodass sie nicht nur einmal wegen ihrer frechen Sprüche zum Direktor gemusst hatte.
Forester bedachte mich mit einem mitfühlenden Lächeln. Ich mochte den Pfarrer. Er hatte Nora nie von oben herab behandelt und war immer sachlich auf ihre Meinung eingegangen. Trotzdem wünschte ich mir, in den hinteren Reihen zu sitzen, anstatt ganz vorn bei den Haydens, da ich mir vorkam wie auf dem Präsentierteller. Bestimmt rechneten einige Leute aus der Schule damit, dass ich laut schluchzte und Sturzbäche weinte vor Traurigkeit, doch diesen Gefallen würde ich ihnen nicht tun.
»Geht’s?«, fragte Mom zum wiederholten Male besorgt.
»Ja. Ich wünschte nur, Forester würde endlich anfangen.«
Mrs Hayden weinte leise und Mom legte tröstend den Arm um sie. Mr Hayden starrte stumm auf seine Schuhspitzen. Neben ihm saßen ein Mann und eine Frau mit versteinerten Gesichtern. Da der Mann eine große Ähnlichkeit mit Mr Hayden besaß, vermutete ich, dass es sich bei ihm um seinen Bruder oder Cousin handelte. Zu Mrs Haydens linker Seite saß eine ältere Frau. Nora hatte einmal erzählt, dass ihre Großmütter bereits vor ihrer Geburt verstorben waren und ihre Tante mütterlicherseits in Paris lebte, weshalb sie sich nicht oft sahen. Ich war froh, dass sie zum Begräbnis gekommen war und Mrs Hayden beistand.
Als der Pfarrer endlich mit der Predigt begann, tauchte ich ab in glückliche Erinnerungen mit Nora. Ich sah ihre strahlenden Augen, hörte sie lauthals lachen, sah, wie sie ihr langes blondes Haar mit den magentafarbenen Strähnchen kokett über die Schultern warf, hörte sie über die Zicken in der Schule lästern, roch ihr Parfum, betrachtete den glitzernden Nagellack an ihren oval gefeilten Nägeln, beneidete sie um die Leichtigkeit, mit der sie Jungs um den kleinen Finger wickelte, sang mit ihr das Lied, das wir zusammen einstudiert hatten …
Der Schmerz der Erinnerung bohrte sich gnadenlos und eiskalt in mein Herz. Meine Kehle wurde eng. Ich spürte die neugierigen Blicke meiner Mitschüler im Rücken und hörte sie tuscheln. Verstohlen sah ich nach rechts und ertappte Marissa dabei, wie sie zu mir herüberstarrte. Ich blinzelte irritiert, als sie sich nicht abwandte. Es kam mir so vor, als wollte sie mir etwas mitteilen. Ihre Lippen bewegten sich, aber ich verstand nicht, was sie mir zu sagen versuchte. Da ich eigentlich selten Kontakt mit Marissa hatte, vermutete ich, dass sie lediglich ihr Beileid aussprechen wollte, was mehr war, als die anderen Leute aus der Schule taten. Nora war nicht allzu beliebt gewesen, da sie nie ein Blatt vor den Mund genommen hatte und nicht davor zurückgeschreckt war, auch mit Jungs zu flirten, die bereits in festen Händen gewesen waren. Genau das hatte Nora gereizt.
Nach der Predigt verließ der Trauerzug die Kirche und schritt auf Noras Grab zu. Vereinzelte Sonnenstrahlen kämpften sich durch die Wolkendecke. Ich presste die Lippen zusammen, als ich den rechteckig ausgehobenen Graben erblickte, der nur darauf wartete, Noras Sarg aufzunehmen. Die Luft roch nach feuchter Erde. Ich schwankte bei dem grauenhaften Gedanken, dass Nora in Zukunft von diesem Geruch umgeben sein würde. Eingehüllt wie ein Kokon. Für immer.
Dad legte seine Hand auf meine Schulter. »Möchtest du gehen?«
Ich wollte nicht nur gehen, ich wollte weglaufen, weit weg, an einen anderen Ort, an dem niemand weinte und Nora noch lebte. Ich wollte diesem Albtraum entfliehen und mein unbesorgtes Leben weiterführen, wollte mit Nora lachen und Jungen Streiche spielen, Lehrer ärgern und über die Klassenprinzessinnen lästern. Ich hätte alles getan, um meine Freundin wiederzubekommen, aber das Leben war grausam und bot keinen Weg zurück. »Nein, ich muss das durchstehen. Nora würde dasselbe auch für mich tun.«
Dad nickte und schenkte mir ein liebevolles Lächeln.
Ich ließ meine Blicke über die Trauergäste schweifen. Alle hielten die Köpfe gesenkt und die Hände zum Gebet gefaltet. Dominic, der Typ aus dem Diner, der Nora letzten Sommer einige Male ins Kino eingeladen hatte, war auch da. Er nickte mir zu. Neben ihm standen Leute aus der Schule. Sogar der Direktor und ein paar Lehrer waren gekommen, um ihre Anteilnahme zu zeigen. Mit ernsten Gesichtern und gefalteten Händen wirkten sie in ihren schwarzen Anzügen befremdlich.
Als ich über meine Schulter sah, entdeckte ich Jace. Er stand direkt hinter mir und seine Anwesenheit wurde mir mit jeder Faser meines Herzens bewusst. Unsere Blicke trafen kurz aufeinander. Der Moment reichte aus, um mein Herz schneller schlagen und meine Wangen heiß werden zu lassen. Rasch senkte ich den Kopf und starrte meine Hände an. Jaces Anblick wühlte mich nach so langer Zeit immer noch auf.
Zwei Frauen in dunkelgrauen Hosenanzügen, die etwas abseitsstanden, erweckten meine Aufmerksamkeit. Sie ließen ihre Blicke langsam über die Trauergäste schweifen, so als würden sie jemanden suchen. Wenige Minuten später näherte sich ihnen ein Mann. Er trug einen schwarzen Anzug und telefonierte mit seinem Handy. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, wandte er sich den Frauen zu. Sie sprachen miteinander, ohne die Trauergäste aus den Augen zu lassen. Ich spürte ein Kribbeln im Nacken. Diese Leute waren bestimmt nicht hier, weil sie um Nora trauerten. Dafür wirkten sie zu geschäftig.
Der Mann im Anzug begegnete meinem Blick. Als ich ihm standhielt, senkte er den Kopf und sprach wieder mit den Frauen. Sie sahen zeitgleich zu mir herüber. Was sollte das? Die kleinere Frau fasste in ihre hintere Hosentasche und zog ein Handy heraus. Dabei verrutschte ihre Jacke ein wenig. Ich hielt die Luft an. War das eine Pistole an ihrem Gürtel? Ja, ich hatte richtig gesehen. Die Frau im dunkelgrauen Hosenanzug trug eine Pistole bei sich. Dann wurde es mir schlagartig klar. Die drei waren Polizisten in Zivil! Aber … was sollte das? Wieso waren die hier? Noras Tod war ein grauenhafter Unfall gewesen. Polizisten in Zivil tauchten nur dann auf einem Begräbnis auf, wenn ein Mordfall vorlag, in der Hoffnung, dass der Mörder dort aufkreuzte. Das wusste ich aus Criminal Minds. Etwas stimmte hier nicht.
Mrs Hayden unterbrach meinen Gedankengang, als sie sich laut schluchzend in Mr Haydens Arme warf. Der Pfarrer verstummte kurz und senkte mitfühlend den Kopf. Ich presste die Lippen zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Jace trat so nahe an mich heran, dass sich unsere Schultern berührten, und fasste nach meiner Hand. »Ich bin bei dir, Jinelle. Du musst das nicht allein durchstehen.«
Dankbar sah ich ihn an. Er lächelte. Für einen Moment verdrängte prickelnde Wärme die Kälte in meiner Brust und vermittelte mir die Illusion, dass alles gut werden würde.
Kribbeln
»Ich finde ihn unheimlich süß. Du musst ihn dir endlich krallen, Jinelle.«
Wir sehen Jace und seinen Kumpels beim Basketballspielen zu. Es ist heiß und er hat sein T-Shirt ausgezogen. Ich muss wiederholt auf seine Muskeln starren und auf seine Haut, die in der Sonne glänzt. Mein Herz klopft schneller, seit er da ist, und meine Wangen fühlen sich heiß an. Er sieht immer wieder zu uns her – oder zu mir? Mein Magen rebelliert auf eine angenehme Weise, wenn er mit seinen Kumpels redet, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass er mich anspricht. Nora hat damit keine Probleme. Sie redet mit allen, egal, ob sie denjenigen kennt oder eben erst kennenlernt. Ich bin zu schüchtern, um so zu sein wie sie, was mich oft nervt.
»Schau, er zwinkert dir zu«, teilt Nora mir leise mit und stößt dabei ihr Knie gegen meins. »Zwinker zurück, schnell.«
Ich tue es und komme mir blöd vor. Jace hebt die Hand und winkt mir zu. Ich winke zurück.
Nora stöhnt und schüttelt den Kopf. »O Mann, ihr seid Babys. Wie lange wollt ihr euch denn noch anschmachten? Reiß dich endlich am Riemen und lade ihn zu einem Date ein.«
Der Gedanke allein treibt mir schon Schweißperlen in den Nacken. Nie und nimmer werde ich das tun. Dafür bin ich viel zu feige.
»Achtung!«, höre ich plötzlich jemanden rufen. Noch ehe ich kapiere, was los ist, knallt mir der Basketball an den Kopf. Ich spüre einen heftigen Schlag, dann falle ich rückwärts von der Bank und lande im Gras. Der Schmerz ist zuerst gar nicht so schlimm, erst als ich mich aufzusetzen versuche, schießt er wie eine vergiftete Pfeilspitze durch meinen Kopf. Stöhnend lege ich mich wieder hin und warte, bis es vorüber ist.
»Jinelle, du meine Güte, geht’s dir gut?«
Nora beugt sich über mich, dann taucht Jace in meinem Sichtfeld auf. Schwarze Locken fallen ihm in die Stirn und verdecken sein linkes Auge. Ich lächle und hebe die Hand, um sein Gesicht zu berühren – nur um sie sofort wieder zurückzuziehen. Er ist es wirklich und seine Miene drückt Besorgnis aus.
»Jinelle? Alles okay? Sollen wir den Krankenwagen rufen?«
Dass er mich das fragt, beschert mir absurderweise Glücksgefühle.
»Hör auf, so dümmlich zu grinsen, und sag mir, ob du okay bist.«
Verwirrt sehe ich Nora an. Warum sollte ich nicht okay sein? Sie helfen mir, mich aufzusetzen. Vor meinen Augen dreht sich alles.
»Das wird eine fette Beule«, höre ich Jace sagen und fasse mir an die Stelle oberhalb der rechten Schläfe, die am meisten schmerzt. Und da ist sie schon, die Erhebung, aus der bald eine dicke Beule entstehen wird. Nach ein paar Minuten stehe ich langsam auf. Ich fühle mich wacklig auf den Beinen, aber ich verschweige es, um nicht noch peinlicher rüberzukommen.
»Soll ich dich heimbringen?«, fragt Jace. Er steht ganz nah neben mir. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich will gerade mit Ja antworten, als sich Nora bei mir unterhakt.
»Lass die Finger von ihr. Ich mach das schon.«
Ungläubig sehe ich sie an. Was soll das? Hatte sie mir vorhin nicht geraten, ihn zu einem Date einzuladen? Warum vermiest sie mir jetzt diese große Chance?
»Okay«, sagt Jace. »Ich hoffe, die Beule wird nicht zu groß.« Dann dreht er sich um und läuft zu seinen Kumpels zurück.
»Nora, er wollte mich nach Hause bringen«, flüstere ich vorwurfsvoll, nachdem er weit genug entfernt ist.
Sie sagt nichts, zieht nur die Brauen hoch und sieht mich ernst an.
»Das wäre der ideale Moment gewesen, um ihm näherzukommen. Warum …«
Abrupt lässt sie meinen Arm los. »Schon gut. Ich hab’s kapiert. Du willst nicht, dass ich mich um dich kümmere. Und was jetzt? Soll ich ihn zurückholen und bitten, dass er dich geradewegs in sein Bett zerrt?«
Vor Verwirrung klappt mein Mund auf. »Was? Aber …«
»Ach, vergiss es. Ich bin weg!« Sie geht so schnell davon, dass ich kein Wort mehr sagen kann. Ich starre ihr nach und frage mich, was ich eben falsch gemacht habe.
*
Ich starrte auf das Sandwich in meiner Hand, das Mom heute Morgen für mich zubereitet hatte. Ich würde es niemals hinunterbekommen. Mir wurde bereits bei dem Gedanken daran schlecht. Mom hatte es gut gemeint, aber ich konnte es nicht essen. Nicht einmal den knackigen Salat, der seitlich aus dem Brötchen ragte, oder die dunkelroten Tomatenscheiben. Obwohl mein Magen knurrte, fühlte ich mich, als hätte ich bereits Berge von Big Macs verschlungen, inklusive einer Riesenportion Pommes mit Sour-Cream-Soße.
Seit Noras Begräbnis war eine Woche vergangen. Die Cops hatten die Haydens seither noch einige Male aufgesucht. Auch ich war erneut von der netten Polizistin über Noras Freunde, ihre Schulkollegen, ihren außerschulischen Umgang und ihre Hobbys befragt worden. Ebenso über Noras Internetaktivitäten, doch da konnte ich ihr nicht helfen. Ich war weder auf Facebook, Instagram noch auf einer anderen Social-Media-Plattform unterwegs. Ich hatte kein Interesse am virtuellen Leben. Soweit ich wusste, hatte Nora das genauso gehalten. Die Polizistin hatte mir das nicht geglaubt, denn kurz bevor sie wieder gegangen war, hatte sie mich unter einem Vorwand aus der Reichweite meiner Eltern gebracht und mich gebeten, offen darüber zu reden, ob sich Nora auf Onlineportalen herumgetrieben hatte. Ich hatte die Frage ein weiteres Mal verneint.
»Bist du dir da ganz sicher?« Der Blick der Polizistin hatte sich eindringlich auf mich gerichtet.
»Ja. Ich glaube schon. Wir haben uns mal bei Facebook angemeldet, aber nur, weil wir neugierig waren. Nach ein paar Tagen haben wir unsere Accounts wieder gelöscht.«
