Jeder Augenblick zwischen uns - Anna Loyelle - E-Book

Jeder Augenblick zwischen uns E-Book

Anna Loyelle

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Beschreibung

Olive ist siebzehn und zum ersten Mal verliebt. Anthony stellt ihre Welt auf den Kopf. In einer zerrütteten Familie aufgewachsen, sucht er nach Halt und Liebe. Beides findet er in Olive. Doch ihr Vater verbietet ihr, Anthony zu sehen, deshalb treffen sie sich heimlich. Alles läuft gut zwischen ihnen, doch dann werden sie Zeugen eines kaltblütigen Mordes und geraten ins Visier der Verbrecher. Bald ist nicht nur ihre Liebe in Gefahr, sondern auch ihr Leben.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Die Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Nachwort

Copyright © 2023 LeuchtWort Verlag

Andreas Puderbach & Sonja Fürst GbR

Dillenburger Str. 16, 56459 Rothenbach

 

Umschlaggestaltung/Satz: Grit Bomhauer, www.grit-bomhauer.com

Unter Verwendung von

© Depositphotos – sumaetho

© Adobe Stock – Dmitriy Kapitonenko | Oksana Stepova

Lektorat: LeuchtWort Verlag

Korrektorat: www.textelfe.at

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

ISBN: 978-3-949727-21-4

Mir macht nicht das Angst, was ich sehe, sondern das, was ich höre. Ein Schrei. Ein Schuss. Stille. Unerträgliche Stille.

 

Olive ist siebzehn und zum ersten Mal verliebt. Anthony stellt ihre Welt auf den Kopf. In einer zerrütteten Familie aufgewachsen, sucht er nach Halt und Liebe. Beides findet er in Olive. Doch ihr Vater verbietet ihr, Anthony zu sehen, deshalb treffen sie sich heimlich. Alles läuft gut zwischen ihnen, doch dann werden sie Zeugen eines kaltblütigen Mordes und geraten ins Visier der Verbrecher. Bald ist nicht nur ihre Liebe in Gefahr, sondern auch ihr Leben.

Anna Loyelle schreibt Jugendromane, Erotikgeschichten und Kurzgeschichten unterschiedlicher Genres. 2019 gründete sie unter ihrem Realnamen Andrea Kammerlander das Literaturmagazin Schreib Was. Anna Loyelle ist Mitglied bei „Romane – Made in Austria“ und der IG AutorInnen Tirol.

 

 

 

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.leuchtwort-verlag.de

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Von Anna Loyelle sind bisher im LeuchtWort Verlag erschienen:

Liebe im Sommerregen – Samantha & Jayden

Falsche Küsse schmecken besser – Lauren & Noel

Never without you – Elisha & Cade

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Manchmal muss man jemanden verlieren, um zu erkennen, wie sehr man ihn liebt.

Anna Loyelle

 

Simpsonville Daily Newspaper

 

VERZWEIFELTE SUCHE

 

16-Jährige spurlos verschwunden!

 

Helen Gard, die 16-jährige Tochter des renommierten Softwareingenieurs Peter Gard, wird seit Samstagabend vermisst.

 

Simpsonville, Greenville County. Seit Samstagabend ist die 16-jährige Helen Gard aus Simpsonville abgängig. Es liegen derzeit keine Hinweise zu ihrem Aufenthaltsort vor. Bisherige Fahndungsmaßnahmen wie auch Öffentlichkeitsfahndungen verliefen negativ. Die ortsansässige Polizei bittet die Einwohner um Mithilfe.

Das Mädchen wird wie folgt beschrieben: schlanke Statur, ca. 1,64 Meter groß, schulterlange blonde Haare, blaue Augen. Am Abend ihres Verschwindens trug sie ein hellblaues T-Shirt, schwarze Jeans, eine schwarze Jacke und graue Sneakers.

In Verbindung mit dem Vermisstenfall wird nach zwei Personen gefahndet: Person eins: männlich, sportliche Statur, ca. 1,80 Meter groß, Glatze und Vollbart. Person zwei: männlich, muskulöse Statur, ca. 1,80 Meter groß, kurze dunkle Haare und Kinnbart.

Wer Helen Gard oder die beiden Männer gesehen hat oder weiß, wo sie sich aufhalten, wird gebeten, sich an das Simpsonville Police Department zu wenden.

Was ist passiert?

Am Samstagabend besuchte Helen Gard mit ihren Freundinnen das Camelot Cinema. Ein Kinomitarbeiter erinnert sich an zwei Männer, die sich im Eingangsbereich aufgehalten und die Mädchen beobachtet haben. Er gibt an, die Sicherheitskräfte darauf aufmerksam gemacht zu haben, woraufhin die Männer das Kino verlassen hätten.

Haben die Männer etwas mit Helens Verschwinden zu tun?

Nach dem Kinobesuch gingen die Freundinnen ins TheSpice Diner. Auch hier fielen einer Servierkraft zwei Männer auf, die Interesse an den Mädchen zeigten. »Ich habe meinen Chef informiert, dass sich da zwei Typen vor der Terrasse herumtreiben, die diese Mädchen anstarren. Das haben sie wohl mitbekommen, denn plötzlich waren sie weg.« Nach dem Restaurantbesuch verabschiedeten sich die Freundinnen und traten jede für sich den Heimweg an. Helen Gard hätte nur dreizehn Minuten nach Hause benötigt. Was passierte in diesen dreizehn Minuten?

Helens Smartphone kann nicht geortet werden. Nachdem Helen am Sonntagabend immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt war, kontaktierte die Familie die Polizei. Es wurde auch in den umliegenden Krankenhäusern vergeblich nach Helen gesucht. Ihr Mobiltelefon kann nicht geortet werden, was viele Fragen aufwirft. Ein Verbrechen kann nicht ausgeschlossen werden.

 

Dieser Augenblick, in dem du erstarrst, weil du von einem Gefühl umarmt wirst, das du nie zuvor in dieser Intensität gespürt hast. Dieser Augenblick, in dem du bemerkst, dass sich in dir eine Tür öffnet, um dir neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Dieser Augenblick, der alles bedeutet oder nichts. Dieser eine große Augenblick, der dein Leben auf den Kopf stellt, weil etwas geschieht, mit dem du nicht gerechnet hast. Ich erlebe diesen einen großen Augenblick in diesem Moment, in dem ich zwischen Grußkarten und Einladungskarten sitze, die um mich herum auf dem Boden liegen.

Ich weiß nicht, warum der Ständer mit den Karten plötzlich umgefallen ist. Ich bemerkte es erst, als er laut scheppernd neben mir aufschlug und sich der Inhalt weitläufig in Miss Vivis kleinem Laden verteilte. Ich stand an der Schütte mit den Bestseller-Büchern und las gerade den Klappentext des neuen Liebesromans von Brittainy C. Cherry, als es passierte. Mit einem Aufschrei sprang ich beiseite und stolperte über meine Tasche. Das Buch fiel mir aus der Hand und ich ruderte nach Halt suchend mit den Armen in der Luft herum. Trotz aller Bemühungen verlor ich den Kampf und landete hart auf dem Hintern, zwischen all den bunten Blumen, weißen Tauben und roten Herzchen. Ich stieß einen Schmerzenslaut aus. Noch nie hat mir der Anblick romantischer Motive auf Klappkarten einen Laut wie diesen entlockt. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich mich beim Sturz an der Schütte mit den Bestseller-Büchern gestoßen habe.

»Um Himmels willen!«, höre ich Miss Vivi rufen. Innerhalb weniger Sekunden steht sie vor mir und wirft einen besorgten Blick zu mir herunter. »Hast du dich verletzt?« In dem dunkelbraunen hochgeschlossenen Kleid wirkt ihre untersetzte Figur noch ausladender. Als sie sich mit ausgestrecktem Arm zu mir herunterbeugt, fühle ich Beklemmung. Hinter mir befindet sich die Schütte, neben mir der umgefallene Kartenständer und vor mir Miss Vivi.

»Danke, ich komme allein hoch«, sage ich und lächle, doch Miss Vivi lässt sich nicht davon abbringen, mir zu helfen. Ich ergreife ihre Hand und versuche, mich aufzurichten, doch durch ihre Nähe habe ich nicht genügend Platz. Sie zieht an meinem Arm, als wollte sie ihn mir ausreißen, und japst dabei wie ich nach einem Hundertmeterlauf. Ihr Gesicht ähnelt innerhalb von Sekunden einer überreifen Tomate.

»Stopp!«, rufe ich, worauf sie innehält und mich fragend ansieht. Dass ich ihr wahrscheinlich gerade das Leben gerettet habe, behalte ich für mich. »Miss Vivi, ich schaffe das schon. Gehen Sie zurück zur Kasse, sonst kommt noch jemand auf die Idee, etwas zu stehlen.«

Sie fasst sich mit beiden Händen an die Brust und blickt zum Eingangsbereich. »Huch! Na gut, Kindchen.« Schwerfällig entfernt sie sich von mir.

Erleichtert, meine Freiheit zurückerlangt zu haben, knie ich mich hin und betrachte das Karten-Chaos. Ein paar von den Dingern sind unter die Bestseller-Schütte gerutscht. Seufzend klemme ich meine Haare hinter die Ohren und beuge mich so weit vor, dass ich mit der rechten Hand gerade noch den entferntesten Ausreißer unter der Schütte berühren kann. Vor Anstrengung beiße ich mir auf die Unterlippe, halte die Luft an und bearbeite das Papier-Monster mit den Fingerspitzen, um es dazu zu bringen, sich in meine Richtung zu bewegen.

Die Türklingel meldet die Ankunft eines Kunden. Na super, hoffentlich kommt niemand in meine Richtung, während ich diesen Kampf ausfechte. Meine Kampfposition sieht bestimmt nicht schmeichelhaft für mich aus.

»Ha!«, rufe ich triumphierend, als ich die Karte endlich zu fassen bekomme und unter der Schütte hervorhole. Ich bringe mich in eine sitzende Position und keuche vor Schreck auf. Wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt befindet sich ein anderes Gesicht. Nicht das von Miss Vivi, sondern von einem Mann. Ich sehe dichte Wimpern, blaue Augen, eine schmale Nase, einen dunklen Bartschatten auf einem markanten Kinn und volle Lippen, die sich zu einem Lächeln formen. Ich bewege mich nicht, atme leise, halte den Moment fest. Meine braunen Augen versinken in diesem Meer aus blauen Kristallen. Ich erwidere das Lächeln nervös und befeuchte die Lippen mit der Zungenspitze. Mein Herz rast, nein, es fährt Achterbahn, dreht einen Looping nach dem anderen. Mir wird heiß und meine Haut beginnt zu kribbeln. Sogar meine Zehen sind betroffen. Ameisen überall.

»Hi«, sagt mein Gegenüber so leise, dass ich nicht sicher bin, ob ich das nur träume. »Ich würde gern sagen, dass ich dich in dieser Pose zuckersüß und sexy finde. Da ich aber nicht weiß, ob du für dieses Chaos hier verantwortlich bist, lasse ich es lieber. Nicht, dass ich nachher auch überall verstreut im Laden herumliege.«

Ich bin so gebannt von diesen Augen, diesem Gesicht, dieser Stimme, dass ich einige Sekunden benötige, um den Witz zu verstehen.

»Ich bin Anthony.«

»Olive«, flüstere ich, da meine Stimme plötzlich versagt. Was ist nur los mit mir?

»Ich muss gestehen, Olive, das ist das erste Mal, dass ich ein Mädchen zu einem Date einlade, während ich auf dem Boden knie.«

Ich blinzle und wiederhole seine Worte stumm. Dann verstehe ich.

»Du … willst ein Date mit mir?«

Er sammelt die Karten um ihn herum ein und schiebt sie mir zu. »Ja, Olive, das will ich.«

»Aber … wir kennen uns nicht. Du …« Ich bin nicht in der Lage, einen vollständigen Satz zu formulieren.

Anthony lächelt und fasst die Karten zu Stapeln zusammen.

»Genau deshalb brauchen wir ein Date. Am besten noch heute, sobald wir dieses Chaos beseitigt haben.«

Mein Herz schmilzt und ich fühle mich wie eine Protagonistin aus Jane Austens Feder, während ich ihn verstohlen mustere. Er trägt schwarze Sneakers, dunkelgraue Jeans und ein weißes T-Shirt. Mein Blick gleitet höher und ich betrachte erneut sein Gesicht. Als er mich ansieht, fallen ihm ein paar Strähnen seiner schwarzen Haare in die Stirn. Meine Libido findet das sehr sexy und fleht mich an, ihn in ein Motelzimmer zu entführen. Aber nein, so bin ich nicht. Kein Sex vor, während oder nach dem ersten Date. Und schon gar nicht mit einem Typen, den ich keine fünf Minuten kenne!

Anthony steht auf, packt den Kartenständer und zieht ihn hoch.

»Einen Goldbarren für deine Gedanken, Olive.« Wie er meinen Namen ausspricht, so weich und sanft, als wäre er etwas Besonderes. Das heizt meine Libido weiter an.

Ohne etwas zu sagen, hebe ich die restlichen Karten auf und stecke sie in die Halterungen am Ständer.

»Geschafft«, sagt dieser unglaublich attraktive Fremde und reicht mir die flache Hand zum Abklatschen.

»Geschafft«, wiederhole ich und schlage ein.

Miss Vivi gesellt sich zu uns, die Hände über ihrem Busen gefaltet. Mit einem erfreuten Lächeln mustert sie unsere Arbeit.

»Danke, dass ihr mir geholfen habt. Das verflixte Ding fällt mindestens viermal die Woche um und ich weiß nicht, warum.«

Anthony berührt den Kartenständer mit einem Finger. Das Teil wackelt, ohne dass er daran rüttelt. Er geht in die Knie und unterzieht den runden Fußständer einer eingehenden Inspektion.

»Haben Sie ein kleines Stück Karton?«, fragt er an Miss Vivi gerichtet.

»Karton, Karton«, wiederholt sie mit ihrer Singstimme, wuchtet sich aus der Nische und geht zurück hinter den Kassentresen.

In der Zwischenzeit betrachte ich verstohlen das Spiel der Oberarmmuskeln meines zukünftigen Dates, als er an dem metallenen Ständer herumhantiert. Nur mühsam widerstehe ich dem Drang, sie anzufassen. Sie treffen genau meinen Geschmack – weder zu groß noch zu protzig. Wie wohl der Rest von ihm aussieht?

»… Olive?«

»Was?«, frage ich verwirrt, als ich meinen Namen höre.

Anthony grinst zu mir hoch. Mist, hat er bemerkt, wo ich hingestarrt habe?

»Rüttel mal«, sagt er und erst jetzt bemerke ich, dass Miss Vivi neben mir steht. Ich gehorche und tippe das Teil vorsichtig an, dann noch einmal, diesmal fester. Weder kippt es noch fällt es um.

Miss Vivi stößt einen Freudenschrei aus und faltet die Hände wie zum Gebet. »Großartig, mein Junge! Vielen Dank!«

Anthony steht auf und winkt ab. »Sollte der Ständer noch einmal umfallen, schicken Sie ihn in Rente, Miss Vivi. Er hat bestimmt schon zwanzig Jahre hinter sich.«

Sie nickt eifrig. »Oh, das stimmt. Mein Gabriel, Gott hab ihn selig, hat ihn bei unserer Geschäftseröffnung gekauft.« Ihr Blick wird traurig. »Die Wahrheit ist … ich kann den Ständer nicht austauschen. Er ist eines der wenigen Dinge, die mir von Gabriel geblieben sind.«

Ich schlucke betroffen und sehe Anthony an.

»Na gut«, sagt er mit einem zuversichtlichen Nicken, »dann komme ich nächste Woche vorbei und repariere den Standfuß. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinbekäme.«

Ich lächle ihn dankbar an und schlucke noch einmal, um die Tränen der Rührung zurückzudrängen. Ich bin nah am Wasser gebaut, mich berührt etwas ziemlich schnell und manchmal heule ich aus den trivialsten Gründen wie ein Schlosshund. In der Junior High School haben mich einige deshalb auch Heulive genannt.

»Oh, Junge, dich hat der Himmel geschickt!«, ruft Miss Vivi und zieht Anthony in eine Umarmung. Ich grinse, weil Anthony so an Miss Vivis Busen gedrückt etwas überfordert wirkt. Als sie ihn loslässt, tätschelt sie seine Wange und bedankt sich noch einmal.

Wir verabschieden uns und versprechen, wiederzukommen. Anthony und ich beabsichtigen gleichzeitig, die Tür aufzuziehen, und unsere Hände berühren sich. Ein Gefühl wie ein Blitzschlag durchfährt mich bis hoch zum Hals. Erschrocken und fasziniert zugleich ziehe ich die Hand zurück und sehe ihn an. Er steht so nah neben mir, dass ich seinen männlich herben Duft wahrnehme. Der Geruch erweckt Fantasien in mir. Schmutzige Fantasien. Meine Libido jubelt.

»Wartet!« Miss Vivi eilt uns hinterher und drückt uns je eine Karte in einem weißen Briefumschlag in die Hand. »Öffnet sie erst nach eurer fünften Verabredung und schreibt hinein, was euch am anderen gefällt und was ihr füreinander empfindet. Dann tauscht die Karten und lest sie einander vor. Mein Gabriel und ich haben das auch so gemacht und wir sind bis zu seinem Tod vor drei Jahren zusammen gewesen. Wir haben uns über dreißig Jahre lang von ganzem Herzen geliebt.«

Ich halte den Blick auf den Umschlag gesenkt und räuspere mich, da Miss Vivis Worte mir erneut Tränen in die Augen treiben. Ich erinnere mich an Gabriel. Er ist ein freundlicher, liebenswerter Mann mit Halbglatze und einem Muttermal in Form des italienischen Stiefels auf der rechten Halsseite gewesen. Als ich jünger gewesen bin, hat er mir bei jedem Einkauf in Miss Vivis Laden Süßigkeiten geschenkt. Sein Tod ist plötzlich und unerwartet eingetreten. Herzinfarkt.

Eine Liebe, die dreißig Jahre hält, das wünsche ich mir auch. Ich sehe Anthony an und lächle. Er erwidert es und steckt die Karte ein. Wir klären Miss Vivi nicht darüber auf, dass wir uns vorhin erst kennengelernt haben. Die Geste ist zu bedeutungsvoll für sie.

Miss Vivi kehrt in ihren Laden zurück und ich beschließe, mich auf das Abenteuer Date mit einem Unbekannten einzulassen.

 

Ich brauche nur einen Moment, um zu wissen, was richtig und was falsch ist. Einen Moment, der mir zeigt, wohin der Weg mich führt. Diesem Moment liefere ich mein Herz schutzlos aus. Es ist ein Moment der Stille und des Vertrauens. Dieser Moment ist jetzt, als ich neben Anthony durch die Straßen von Travelers Rest gehe. Ich fühle mich wie eine Feder, leicht, schön, frei und unbeschwert. Keine trüben Gedanken dämpfen meine Freude, ich genieße jede Sekunde. Wir sind uns so nah, dass sich unsere Schultern berühren, aber ich wage es nicht, seine Hand mit meiner zu umfassen. Ich würde es gern tun, doch wir kennen uns erst wenige Minuten und ich weiß nicht, was er davon halten würde.

Unser Weg führt uns durch den steinernen Rundbogen, durch den man vom modernen Leben in das Altertum gelangt. Die Zeit scheint in diesem Teil der Stadt stehen geblieben zu sein. Viele Häuser sind zweihundert Jahre alt und einige stehen unter Denkmalschutz. Auf einer Informationstafel erblicke ich die gezeichnete Abbildung von Travelers Rest aus den 1850er-Jahren. Darunter wird in wenigen Sätzen erläutert, wie die Stadt zu ihrem Namen gekommen ist. Der Name bezieht sich auf die erhöhte Lage der Region an den Ausläufern der Appalachen.Travelers Rest war der erste gut ausgestattete Halt für diejenigen, die von der Küste über Greenville nach Norden in die Berge fuhren. Hier konnten sich die Reisenden auf den mehrere Tausend Meter hohen Anstieg vorbereiten.

Lächelnd sehe ich mich um. Hier gibt es noch kleine Läden, in denen Süßigkeiten, Brot oder Haushaltswaren verkauft werden. Dort wird man von Menschen mit Hingabe und Freundlichkeit begrüßt und bedient und es bleibt immer Zeit für ein kleines Pläuschchen. Mom und ich kaufen hier lieber ein als im Citycenter, dem riesigen Einkaufszentrum mitten in der Stadt. Prinzipiell meide ich Menschenmassen und lange Einkaufstouren.

Das Kopfsteinpflaster weist Unebenheiten und Lücken auf. An einigen Stellen kämpfen sich Grasbüschel hervor. Ich bin froh, dass ich Sneakers zu meinen Jeans angezogen habe und nicht die neuen Kitten Heels mit Fesselriemen. Mit den Absätzen würde ich in jedem Spalt stecken bleiben.

Wir erreichen den Brunnenplatz, der von einem riesigen alten Brunnen mit Steinfiguren dominiert wird. Rundherum sind Stände aufgebaut und ein Schild weist darauf hin, dass der Flohmarkt bis neunzehn Uhr stattfindet.

Ich sehe Anthony an und erkenne Freude und Aufregung in seinem Gesicht. Mir wird klar, dass er mich nicht hergeführt hat, weil ihm spontan nichts anderes eingefallen ist, sondern weil es ihm etwas bedeutet.

Glücklicherweise erwarten uns keine ungeduldigen, rücksichtslosen Menschenmassen, sondern entspannte Flohmarktbesucher, die in aller Ruhe die ausgestellten Dinge begutachten, um Preise feilschen und sich über ihre Errungenschaften freuen.

»Schau mal«, sagt Anthony und ich bleibe neben ihm an einem kleinen Tisch mit Krimskrams stehen. Er nickt der jungen Frau dahinter zu und nimmt einen ovalen Bilderrahmen in die Hand. Das Glas ist leicht gewölbt und an der Unterseite befindet sich ein kleiner Standfuß.

»Das ist ein Erbstück«, erklärt uns die junge Frau, »der Rahmen wurde um 1900 angefertigt. Für sein Alter befindet er sich in einem hervorragenden Zustand. Die Abdeckung hinten kann man abnehmen, um ein Foto einzulegen.«

Anthony wendet sich mir zu und hält den Bilderrahmen so, dass ich ihn gut sehen kann.

»In einem Jahr werde ich ein Foto von uns beiden hineingeben und dir zu unserem ersten Jahrestag schenken.«

Seine Worte dringen in meinen Kopf und bleiben dort hängen, verhaken sich, brennen sich ein, hallen wie ein Echo wider. Ich sehe Anthony an und merke, wie mein Herz schneller schlägt. Ich ertrinke in den blauen Kristallen seiner Augen, aber ich will nicht gerettet werden. Je länger wir uns ansehen, desto heißer wird mir. Meine unteren Regionen werden von einem hauchfeinen, erotischen Prickeln erfasst.

Ich schlucke, um meine Stimme wiederzufinden. »Versprochen?«

Anthony nickt und bezahlt den Rahmen, ohne um den Preis zu feilschen. Die junge Frau wickelt ihn in Papier ein und gibt ihn Anthony zurück.

Wir schlendern an den Ständen vorbei und bewundern die zum Verkauf angebotenen Gegenstände. Anthony besitzt die Gabe, Menschen mit seiner lockeren und humorvollen Art in Gespräche zu verwickeln. Dadurch erfahren wir interessante Details über die Stücke.

Zwei Stunden später beenden wir unsere Reise durch den Flohmarkt und setzen uns auf die Terrasse eines kleinen Bistros in der Nähe. Für Anfang Mai ist es schon angenehm warm. Ich schiebe meine Sonnenbrille ins Haar und genieße die Sonnenstrahlen auf der Haut.

Anthony setzt sich mir gegenüber und bestellt Eistee für uns beide.

»Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß«, gebe ich begeistert zu. »Ich mag das Entdecken von kleinen Kostbarkeiten, ohne danach zu suchen. Was fasziniert dich an Flohmärkten?«

»Hinter jedem Stück, das auf dem Flohmarkt angeboten wird, steht eine Geschichte. Egal, ob traurig oder glücklich, sie ist da und gehört dazu.«

Wir sehen uns an und unsere Blicke verschmelzen miteinander. Ich kann nicht erklären, was das zwischen uns ist, aber es ist da. Es sind keine Worte notwendig, um auszudrücken, was wir fühlen.

Anthony lächelt und legt seine Hand auf meine Wange. Ich schmiege mich an sie, wünsche mir, dass er mich küsst, aber er tut es nicht. Stattdessen streicht er mit dem Daumen über meine Unterlippe. Das fühlt sich kitzlig an, gleichzeitig aber auch unheimlich sexy.

Nach wenigen Sekunden zieht er seine Hand zurück und ich verspüre eine brennende Sehnsucht in mir. Wie kann es sein, dass ich mich fühle, als würden wir uns schon jahrelang kennen?

Die Kellnerin eilt mit unserer Bestellung herbei. Sie stellt die Gläser auf den Tisch, schenkt uns ein freundliches Lächeln und wendet sich dem Pärchen am Nebentisch zu.

Ich trinke einen großen Schluck und sehe Anthony über den Rand des Glases hinweg an.

»Meine Mom hat Flohmärkte geliebt«, sagt er, nachdem ich das Glas wieder abgestellt habe. Seine Stimme klingt rau. »Es machte sie glücklich, sich stundenlang Dinge anzusehen, die andere loswerden wollten. Sie hinterfragte ihre Geschichten und verliebte sich ständig in das eine oder andere Stück. In unserem Wohnzimmer gab es Unmengen von Ansammlungen kleiner Porzellanfiguren, Vasen, Büchern, Schmuckstücken und handgefertigten Kunstwerken. Sie sagte, jedes dieser Teile habe es verdient, geschätzt zu werden.«

Sein Blick wird bedrückt. Ich lege meine Hand auf seinen Arm und lächle ihn an. Sofort hellt sich seine Miene wieder auf. Behutsam legt er seine Hand auf meine.

»Auf Flohmärkte zu gehen, bedeutet für mich, Mom nah zu sein. Das klingt absurd, ich weiß.«

»Das klingt keineswegs absurd, sondern schön. Eine wundervolle Art, die Erinnerung an sie aufrechtzuerhalten.«

Anthony nickt und senkt den Kopf. Er ist betrübt, aber ich versuche nicht, ihn durch einen witzigen Spruch abzulenken. Er soll wissen, dass er mir seine Trauer zeigen darf, auch wenn wir uns erst seit wenigen Stunden kennen.

»Wann ist sie gestorben?«, frage ich sanft.

»Vor drei Jahren. Einen Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag.« Er schluckt.

»Konntest du dich von ihr verabschieden?«

»Ja. An meinem Geburtstag ging es ihr einigermaßen gut. Wir aßen Pizza und sahen uns ihre Lieblingsshow Dancing with the Stars im Fernsehen an. Später setzten wir uns auf die Veranda und genossen den lauen Sommerabend. Es waren so viele funkelnde Sterne zu sehen. Mom war von diesem Anblick fasziniert. Sie sah so glücklich aus.« Anthony schluckt wieder und in seinen Augen schimmern Tränen. »Wir hielten uns an den Händen und versprachen uns, jeden Tag so glücklich zu sein wie in diesem Augenblick.«

Ich drücke seine Hand und suche seinen Blick. »Diese Erinnerung hebt alles Traurige auf.«

Sekundenlang sieht er mich stumm an, dann beugt er sich über den Tisch und küsst mich. Mein Herz vollführt eine heftige Drehung und kleine prickelnde Schauer der Verzückung rieseln über mein Rückgrat, obwohl wir unsere Zungen nicht ins Spiel bringen. Es ist ein keuscher Kuss, nur unsere Lippen berühren sich, aber ich spüre so viel mehr darin. Niedergeschlagenheit, Freude, Zärtlichkeit, Vertrauen.

»Wer hat dich zu mir geschickt, Olive? Ich schütte dir mein Herz aus und du rennst nicht weg, versuchst nicht, das Gespräch auf ein erfreulicheres Thema zu lenken oder mich mit heißen Küssen zu heilen.« Den letzten Teil des Satzes setzt er in imaginäre Anführungszeichen.

»Die Trauer um deine Mom gehört zu dir wie deine Haare. Niemand hat das Recht, dir zu verbieten, sie zu empfinden. Und geheilt werden muss die Person, die solch einen Schwachsinn von sich gegeben hat, nicht du.«

Er lächelt. »Kiara Waterman hat sich große Mühe gegeben, mich mit ihren heißen Küssen zu heilen. Es hat nicht geholfen, deshalb hat sie das mit uns beendet. Das ist über ein Jahr her, seitdem hat es keine mehr versucht.«

Fragend runzle ich die Stirn. »Ist das ein Hinweis für mich, dass du seitdem keine Freundin mehr gehabt hast?«

»Ja«, antwortet er schlicht und verschränkt seine Finger mit meinen, worauf sich mein Herz erneut auszutoben beginnt.

»Dann gebe ich dir auch einen Hinweis, was meinen Beziehungsstatus betrifft. Meinen ersten Freund hatte ich mit fünfzehn. Liebe war keine im Spiel, eher der Zwang, in dieser Sache mit meinen Freundinnen mitzuhalten. Na ja, das Thema hatte sich erledigt, nachdem wir einen erfolglosen Versuch in Sachen erstes Mal gestartet hatten. Er gab mir die Schuld und machte Schluss.« Ich zucke mit den Schultern und trinke einen Schluck von meinem Eistee, ehe ich weiterspreche. »Jetzt, zwei Jahre später, bin ich immer noch Single. Das liegt aber nicht an mir und meiner Unerfahrenheit, sondern an meinem Dad. Schon allein die Vorstellung, ein Junge küsst mich, treibt ihn zur Weißglut. Er macht sich zu viele Sorgen und will mich beschützen, aber genau das scheucht mich von ihm weg und er merkt es nicht einmal.« Meine Stimme klingt unglücklich, aber ich lasse nicht zu, dass die Gedanken an Dad diesen schönen Tag zerstören.

Anthony hebt eine Augenbraue und neigt leicht den Kopf. »Warnst du mich vor deinem Vater, damit ich mich ihm von meiner besten Seite präsentiere, weil du neugierig bist, welches Foto heute in einem Jahr in diesem Rahmen steckt?« Er deutet auf den in Papier eingewickelten Bilderrahmen, der zwischen uns auf dem Tisch liegt.

Ich schüttle den Kopf. »Du musst dich ihm nicht von deiner besten Seite zeigen oder dich seinetwegen verstellen. Das würde ich niemals von dir verlangen. Wozu auch? Es gibt keinen Grund dafür. Aber auf das Foto, das du aussuchst, bin ich gespannt.«

Wir sehen uns an, dann endlich küsst Anthony mich wieder. Diesmal teilt er meine Lippen mit seiner Zunge und es fühlt sich wunderbar an, als er meine berührt. Ich lasse mich fallen, genieße den Augenblick, speichere ihn für immer in meinem Herzen. Mein erster richtiger Kuss mit einem Jungen, mein erster richtiger Kuss mit Anthony.

Er lässt meine Hand los, um sie auf meinen Hinterkopf zu legen, und drängt seinen Mund näher an meinen. Ich schwebe vor Glück, kann nicht fassen, was geschieht. Das hier ist echt und es passiert wirklich! Ein Kuss, mein Kuss, unser Kuss! Mein Körper strahlt Hitze aus, ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird und etwas in mir laut nach mehr schreit.

Als Anthony den Kuss beendet, sehe ich ihn enttäuscht an und seufze leise. Das bringt ihn zum Lächeln. Er will etwas sagen, doch das Klingeln seines Handys hält ihn davon ab.

»Sorry, ich muss nachsehen, wer das ist«, sagt er und zieht das Telefon aus der hinteren Tasche seiner Jeans. Ein Blick auf das Display lässt ihn erstarren. Ich sehe es, sage jedoch nichts, warte ab, was passiert. Er nimmt den Anruf an, spricht leise, dennoch verstehe ich jedes Wort.

»Mrs Neal, hallo. Oh, okay.« Er springt auf und stößt an den Tisch.

Ich greife blitzschnell nach unseren Gläsern, um sie festzuhalten.

»Ja, danke, ich bin schon unterwegs.« Er beendet das Gespräch, fischt einen Geldschein aus seiner Hosentasche, legt ihn auf den Tisch und sieht mich an. Trauer und Enttäuschung kennzeichnen seine Miene und mein Herz zieht sich zusammen.

»Ist etwas passiert?«, frage ich besorgt und stehe auf.

Er schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, ich muss weg.«

»Okay. Bitte sei vorsichtig.«

Er presst kurz die Lippen zusammen. »Du bist nicht sauer?«

»Nein. Es scheint um etwas sehr Wichtiges zu gehen, also lass den Anrufer nicht warten.«

Er tritt neben mich, haucht einen Kuss auf meine Wange und flüstert ein einziges Wort in mein Ohr: »Danke.« Dann entfernt er sich eilig, dreht sich aber nach einigen Schritten zu mir um.

»Wann und wo sehe ich dich wieder?«

»Morgen gegen achtzehn Uhr vor Miss Vivis Laden«, antworte ich, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie ich das anstellen soll.

Anthony nickt, dann dreht er sich um und rennt los, als ginge es um Leben und Tod.

Vielleicht tut es das auch.

 

Schon als ich den Flur betrete, spüre ich eine Spannung in der Luft. Ich habe ein Gespür dafür und bisher bin ich nie falschgelegen. Ich seufze und frage mich, was mich diesmal erwartet. Weder bin ich zu spät dran noch habe ich die Schule geschwänzt.

»Wer ist das?« Dad hält mir sein Handy vor die Nase, kaum dass ich ins Wohnzimmer getreten bin. Auf dem Display sind Anthony und ich zu sehen. Wir sitzen am Tisch und halten Händchen.

Ich atme tief durch und spüre Wut in mir aufsteigen.

»Du spionierst mir nach?«

»Nein, Cooper hat mir das geschickt!«

Mom erscheint an der Küchentür und trocknet ihre Hände mit einem Geschirrtuch.

»Du hast deinen Kollegen auf sie angesetzt?«, fragt sie empört.

»Nein, er ist zufällig dort vorbeigekommen und hat gesehen, wie du mit diesem Jungen …«

»Und dann muss er gleich ein Foto davon machen und es dir schicken?« Moms Stimme klingt verständnislos. Sie legt das Geschirrtuch beiseite, verschränkt die Arme und kommt auf uns zu. Ihre Augen sind zugekniffen, ihre Lippen fest zusammengepresst. Ein Zeichen dafür, dass sie wütend ist. Ich bin froh, sie auf meiner Seite zu haben.

Dad streicht sich mit der einen Hand durch die Haare, mit der anderen umklammert er sein Handy. Er sieht müde und erschöpft aus. Das Polizeirevier ist aus Kostengründen unterbesetzt, deshalb bleibt ihm keine andere Wahl, als Sonderschichten einzulegen. Manchmal kommt er nachts nicht nach Hause, sondern schläft einige Stunden im Aufenthaltsraum auf dem Revier, bevor er wieder zu einem Einsatz gerufen wird. Ich weiß, dass er mich mit seinem Verhalten nur beschützen möchte. Er erlebt so viel Schlimmes in seinem Job, dass ich ihm eigentlich nicht böse sein sollte. Aber seine ständigen Überwachungen nerven mich. Kann ich jemals ein normales Leben führen, wenn mir immer ein menschlicher Wachhund auf den Fersen ist?

»Cooper wollte nur, dass ich …«

»Dass du was, Dad?«, unterbreche ich ihn. »Darüber Bescheid weißt, was ich tue? Reicht es dir nicht, dass du schon jeden meiner Schritte überwachst?«

»Ich überwache dich nicht, ich beschütze dich, das ist ein Unterschied!«

Ich balle die Fäuste. »Für mich fühlt es sich aber nicht so an, Dad!«

»Wenn du älter bist, wirst du verstehen, dass ich nur das Beste für dich will! In deinem Alter lauern überall Gefahren, wie …«

Ich schüttle den Kopf. »Wie wer oder was, Dad? Jungs? Mädchen? Tiere?«

Anstelle von Anklage tritt nun Sorge in seinen Blick. »Du nimmst das nicht ernst.«

»Oh doch, ich nehme das verdammt ernst, denn nach Lachen ist mir nicht zumute.« Meine Stimme trieft vor Bitterkeit, da mir klar ist, dass er Anthony vertreiben wird. So wie er es bisher mit allen Jungs getan hat, die an mir interessiert gewesen sind. Ich werde als einsame, alte Jungfrau sterben.

Dad steckt das Handy ein und stemmt die Hände in die Hüften. »Liv, du wirst diesen Jungen nie wieder treffen, ist das klar?«

Ich will ihm eine wütende Entgegnung an den Kopf werfen, doch Mom kommt mir zuvor. »Adam, du erstickst deine Tochter.« In ihren Augen liegt ein gefährliches Funkeln, doch ihre Stimme klingt ruhig.

Er zeigt mit dem Finger auf sie. »Ich beschütze sie. Das ist etwas anderes. Das sollte dir klar sein.«

»Und was willst du tun, wenn sie aufs College geht? Dich bei ihr im Zimmer einquartieren?« Mom legt den Arm um mich.

»Natürlich nicht, aber ich werde einen Weg finden, um sie auch dann zu beschützen.«

»Nein«, widerspricht ihm Mom, »du sorgst dafür, dass sie uns verlässt, sobald sie die High School abgeschlossen hat. Im schlimmsten Fall bricht sie sogar den Kontakt zu uns ab. Und weißt du was, ich würde das sogar verstehen.«

Dad erstarrt und schweigt einen Moment. Mom hat den Nagel auf den Kopf getroffen, ohne es zu ahnen. Ich spiele tatsächlich seit einer Weile mit dem Gedanken, von hier wegzuziehen, sobald sich die Möglichkeit dazu bietet. Raus aus diesem Stalker-Haus, weg von dem Mann, vor dem ich mich für jeden meiner Schritte rechtfertigen muss. Natürlich liebe ich Dad trotz seines Kontrollzwangs, aber eines Tages läuft das Fass über und dann bin ich weg. Das Leben besteht daraus, Fehler zu machen, falsche Entscheidungen zu treffen und sich vielleicht auch gelegentlich in Gefahr zu begeben. Mag sein, dass mich manche für undankbar oder kleinlich halten oder mich sogar belächeln, weil ich aus simplen Gründen von zu Hause ausbrechen will, jedoch fühlt es sich für mich wie eine tonnenschwere Last an. Ich möchte Fehler machen und falsche Entscheidungen treffen, denn das zeigt mir, dass ich selbstständig denken kann. Nicht wie eine Marionette, die nach den Fäden ihres Besitzers tanzt.

Mom gibt mir einen Kuss auf die Stirn, dann wendet sie sich wieder an Dad. »Lass sie ihr Leben leben, Adam. Lass sie Fehler machen und ein normaler Teenager sein. Du kannst ihr nicht verbieten, sich zu verlieben.«

»Ich kann …« Dads Handy meldet das Eingehen einer Nachricht. Er verstummt und zieht es aus der Hosentasche. Mom und ich beobachten, wie er die Nachricht liest, tief einatmet und kurz die Augen schließt. Das bedeutet schlechte Nachrichten.

»Ich muss wieder aufs Revier«, sagt er knapp und geht in den Flur, um sich anzuziehen.

Ich will ihn fragen, was los ist, aber ich weiß, dass er es mir nicht sagen wird.

---ENDE DER LESEPROBE---