Wie frei wir sind, ist unsere Sache - Ulrich Pothast - E-Book

Wie frei wir sind, ist unsere Sache E-Book

Ulrich Pothast

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Beschreibung

Wie können wir Freiheit der Person ohne metaphysische Annahmen begründen? Der Essay von Ulrich Pothast ist spannend vom ersten bis zum letzten Satz. Pothast skizziert einen plausiblen Weg. Und er illustriert ihn mit Beispielsituationen aus der Literatur von Jane Austen, Lew Tolstoi, Fjodor M. Dostojewskij, Henrik Ibsen, George Bernard Shaw, Samuel Beckett, Jean Paul Sartre. Er erprobt seinen Gedankengang an den wichtigsten Ansätzen der Philosophiegeschichte, von Platon, Aristoteles und Marc Aurel, über Spinoza, Nietzsche bis zu Harry G. Frankfurt. Allen Diskussionen gemeinsam ist, dass sie Pothasts Thesen ohne gelehrten Ballast erhellen; stets bleibt das Ziel des Essays für den Leser präsent. Der Essay schließt mit grundsätzlichen Überlegungen, die interessante Konsequenzen für die strafrechtliche Behandlung persönlicher Schuld haben.

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Ulrich Pothast

Wie frei wir sind,

ist unsere Sache

Personeigene Freiheit

in der Welt der Naturgesetze

Wichtige sachliche Hinweise verdanke ich Christa Krüger, Tanja Rechenburg, Elisabeth Tetzeli von Rosador. Ich danke Simone Mahrenholz, Dieter Henrich, Manfred Frank, Paul Hoyningen-Huene und Dietmar Hübner für Ermutigung, anregende Gedanken und erhellende Gespräche. Besonderen Dank schulde ich meinem Verleger, Vittorio E. Klostermann, der (teils zusammen mit Martin Warny) das ganze Manuskript sorgfältig gelesen und zahlreiche Ideen zu Korrektur und Gestaltung beigetragen hat. Alle Fehler, die bleiben, sind meine.

U. P.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Originalausgabe

© 2016 · Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten.

Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISSN 1865-7095

ISBN 978-3-465-24273-4

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Einleitung

1. Wir haben als Personen eine besondere Art von Freiheit. Sie ist aber kein sicherer Besitz, sondern bleibt immer unfest

2. Die Idee personeigener Freiheit unterscheidet sich von bekannteren Freiheits- und Unfreiheitskonzepten

3. Die Reichweite personeigener Freiheit hängt ab von unserem Willen. Unseren Willen bestimmen wir jedoch nie direkt. Wir können nur versuchen, ihn indirekt zu beeinflussen

4. Über Titel und Aufbau des Buches

Erster Teil Etwas über Wollen, Wählen und freier Werden

I. Über unser Handeln verfügen wir direkt, über unser Wollen keineswegs

1. Auch wenn wir den »festen Willen« haben, etwas Bestimmtes zu tun, kann sich bis zum letzten Augenblick alles ändern

2. Der Wille ist kein innerlich auffindbarer Gegenstand

3. Wir erleben unser Wollen als uns eigen, aber wir erleben es nicht als willentlich lenkbar

4. Einladung zum Selbstversuch

II. In der Situation der Wahl müssen wir uns als freie Urheber unseres Tuns verstehen. Nach getaner Tat können wir die Dinge anders sehen

1. Notwendige Unbestimmtheit. Unsere Situation unabtretbarer Wahl

2. Unverfügbarkeit

3. Trotz Unverfügbarkeit der Willensbildung: Wir sind die Instanz, die unser Handeln wählt und ausführt

4. Das Anerkennen eigener Urheberschaft eröffnet die Möglichkeit realer Erweiterung der personeigenen Freiheit

III. Statt direkter Willensbestimmung: die Chance zur indirekten Willensorientierung

1. Der junge George Bernard Shaw

2. Indirekte Willensorientierung statt direkter Willensbestimmung: unvermeidliche Ungewissheit, emotionale Zutaten, und Glück

3. Freier Werden ohne metaphysische Heißluft

Zweiter Teil Wegweisendes Altes und gewagtes Neues

IV. Die Hoffnung auf den Königsweg: Platons Vertrauen in die Macht der Einsicht

1. Fast ein Gemeinplatz der Gegenwartsphilosophie

2. Platons Vertrauen: Niemand handelt gegen seine bessere Einsicht

3. Zweifel an Platons Vertrauen

4. Selbstüberredung und das Bedürfnis, Gründe zu haben

5. Abhängigkeit, Störbarkeit, Fehleranfälligkeit des Überlegens

6. Die bleibende Substanz von Platons Vertrauen

V. Hochfliegende Konzepte der Selbstwahl

1. Einleitende Brockenlese: Sich-Wählen in der Existenzphilosophie

2. Selbstwahl light: Harry G. Frankfurt

3. Selbstwahl als Selbstdetermination aus der Höhe: Christine M. Korsgaard

VI. Nicht Selbstwahl und nicht Königsweg: Aristoteles’ Vertrauen auf die vielen Einzelschritte

1. Freiheit zum rechten Tun erwirbt man nicht durch Wahl oder Belehrung, sondern durch vielfaches Ausüben

2. Überlegung und Emotionsmanagement

3. Indirektheit und Unfestigkeit. Unmessbarkeit des Grades beim Steigen und Fallen

4. Nachdenken mit Gewöhnung verbunden: Eine Grundhaltung von Handlungsaufschub und Überlegung

5. Eine Kultur des Überlegens ist ein Stück personeigener Freiheit

Dritter Teil Freiheit und Selbstverhältnis

VII. Der Wille und sein »Ich«

1. Peer Gynt und die Zwiebel

2. Die Leere des Programms »ich selbst sein«

3. Die Unauffindbarkeit eines Ich im inneren Raum

4. Sich-Bilden des Wollens ohne den inneren Steuermann

5. Wollen als Resultante komplexer Wechselwirkung. Unsere virtuelle Ichheit

6. Warum Peer Gynt sich nicht verwirklicht, sondern verfehlt

VIII. Der innere Kompass: Freiheit durch Selbstbesinnung bei Marc Aurel

1. Hellenistisches Wertdenken

2. Das Buch Über sich selbst

3. Schau nach innen

4. Erkunde deine letzten Stellungnahmen

5. Moderne Tragik: Besinnungsloses Weiterleben mit inneren Widersprüchen

IX. Spinoza, Nietzsche, Sartre: Freiheit durch Bewusstheit und grenzüberschreitendes Denken

1. Freiheitsgewinn durch Emotionserkenntnis: Spinoza

2. Besinne dich auf deine Geschichte und gewinne Leitung und Halt aus ihr: Nietzsche

3. Freier durch freieres Denken: Sartre

Schluss: Personeigene Freiheit und der Schuldgedanke

1. Raskolnikow

2. Der Mörder vor dem Verteidiger des Status quo

3. Der Fall Raskolnikow verweist auf ein Menschheitsdilemma

4. Auch in einer Welt der Naturgesetze gibt es die Basis für eine faire Rechenschaftserwartung gegenüber dem Täter. Sie führt jedoch auf andere Formen des Verantwortlich-Machens, als wir sie gegenwärtig finden

5. Das Sühnen einer Untat durch Dulden ähnlich schweren Leides macht nichts besser und führt zu unfairer Verteilung wichtiger Lebensgüter

6. Den Schuldgedanken anders denken: Schuld ist geschuldete Lebensänderung

7. Lebensänderungsschuld: Das Strafrecht hat voraussehbare Einwände

8. Lebensänderungsschuld: Die Hauptleistung muss vom Täter kommen

Literatur

Personenregister

Sachregister

Buchempfehlungen

Fußnoten

Life is a public performance on the violin, in which

you must learn the instrument as you go along.

Edward Morgan Forster

Einleitung

1. Wir haben als Personen eine besondere Art von Freiheit.Sie ist aber kein sicherer Besitz, sondern bleibt immer unfest

In den letzten Jahrzehnten gab es – wieder einmal – eine aufgeregte Debatte um die Fragen: Sind wir frei? und: Wenn ja, in welchem Sinn genau, und was folgt daraus? Seit der Spätantike ziehen sich wiederkehrende, oft mit großer Erbitterung geführte Kämpfe um diese Fragen durch die Jahrhunderte. Traditionell stehen auf einer Seite Verfechter einer natur- oder gottgegebenen menschlichen Freiheit, auf der anderen Seite Vertreter einer natur- oder gottgegebenen menschlichen Unfreiheit, seit einiger Zeit auch mit dem Wort »Determinismus« verbunden. Dass dieser Streit nicht aufhört, wurde auch schon als Skandal bezeichnet, und es wurde gefordert, über diese Dinge nicht mehr zu reden.1 Das hat natürlich nicht geholfen. Denn wir haben als Menschen ein elementares Interesse an den genannten Fragen, unter anderem, weil sie eng mit dem Problem unserer Verantwortung für eigene Taten zusammenhängen. Ich werde nun nicht versuchen, den sehr alten Streit zu Ende zu bringen, indem ich der einen oder anderen Seite zum Sieg verhelfe. Das ist schon unabsehbar oft versucht worden und nie gelungen. Man kann auch vermuten, dass der Streit bis auf weiteres gar nicht zu Ende kommen kann, weil er auf einander widersprechenden, jedoch gleichermaßen unleugbaren Erfahrungen in unserem Verhältnis zur Welt und zu uns selbst beruht. Dieser Konflikt ist durch bloße Theorie offenbar nicht aufzulösen.2 Statt nach Freiheit oder Unfreiheit als dauerhaften Eigenschaften zu fragen, die uns von Natur aus unveränderlich zukommen, werde ich eine Errungenschaft kultureller Entwicklung betrachten, die uns auszeichnen kann, sofern wir Personen sind. Auch dafür kann das Wort »Freiheit« verwendet werden. Es bezeichnet dann allerdings nichts Natur- oder Gottgegebenes, sondern eine veränderliche, unfeste Eigenschaft.

Der junge Arzt Lydgate in George Eliots Roman Middlemarch3 ist ehrgeizig, sozial engagiert und will sich auch als Forscher bewähren. Er sieht ein, dass er bei solchen Absichten vorerst weder Zeit noch Geld für eine Ehe hat, und beschließt, in den nächsten fünf Jahren keinesfalls zu heiraten. Nur wenige Wochen später kann er dem Reiz der schönen, ihn liebenden Rosamond und ihren Tränen über sein distanziertes Benehmen nicht widerstehen. Er weicht von seinem Vorhaben ab, es kommt zu Heirat. Die Ehe leidet von Beginn an unter Geldmangel. Denn Lydgate gibt seinen wie Rosamonds Ansprüchen auf teure Haushaltung nach, wider bessere Erkenntnis und besseren Vorsatz. Am Ende vor dem Bankrott stehend, leiht er sich Geld von einem zwielichtigen Bankier und gerät in den Skandal um Machenschaften dieses Geldgebers. In der Kleinstadt Middlemarch könnte er sich als Arzt nur noch halten, wenn es einen Neuanfang mit viel Arbeit und sparsamster Lebenshaltung gäbe. Ein sehr offenes Gespräch mit Rosamond wäre dafür eine unverzichtbare Vorbedingung. Nach mehreren, erfolglos endenden Anläufen hierzu kann Lydgate auch die letzte, alles entscheidende Gelegenheit nicht nutzen. Er bricht den begonnenen Versuch, zu dem er schon die Lippen geöffnet hat, in Bitterkeit ab. Die Eheleute, vom Leben und voneinander tief enttäuscht, verlassen Middlemarch. Seine Forschungspläne und sozialen Projekte gibt Lydgate auf.

Vermutlich haben wir alle schon einmal in einer konkreten Lebenslage anders gehandelt, als wir es im Vorfeld bei beruhigter Überlegung für richtig hielten und von uns erwarteten. Wir sind dann vielleicht einem in der Situation auf uns eindringenden Anreiz gefolgt, haben einer Drohung nachgegeben, sind der eigenen Begierde erlegen oder ähnlich. In jedem Fall waren wir in unserem faktischen Tun nicht so, wie wir in zeitübergreifender Perspektive sein wollten. In einem bestimmten Sinn waren wir zum Handlungszeitpunkt unfrei. Denn unter irgendeinem Einfluss, den wir vielleicht nicht einmal als Einfluss erkannten, blieben wir nicht im Einklang mit uns selbst. Wir waren in unserem konkreten Handeln nicht die Person, als die wir uns zuvor gesehen hatten und meist auch im Nachhinein gern weiter gesehen hätten.

Lydgate zeigt sich in mehreren Situationen als ein solcher Mensch. In diesen Zeitabschnitten wirkt er wie in sich zerrissen. Eigenen, »festen« Vorsätzen stehen Gefühle und Bedürfnisse entgegen, die sich im kritischen Moment impulsiv geltend machen, so dass er vielfach nicht handeln kann, wie er es zuvor entworfen, mehrfach auch »beschlossen« hat. Wir können sagen, er ist zu solchen Zeiten in dem eben angesprochenen Sinn unfrei. »Frei« hingegen können wir in diesem Verständnis eine Person nennen, wenn und solange sie es vermag, ihren Vorstellungen vom richtigen eigenen Handeln in eben den Lebenslagen, in denen solches Handeln gefordert ist, nachzukommen.

Diese Art Freiheit kommt in unserer Welt nur bei Personen vor, Wesen, die ein wünschendes, denkendes, Handlungen entwerfendes Verhältnis zu sich selbst haben. Wegen der Bindung an die personale Lebensform, und weil diese Freiheit von Person zu Person ganz verschieden ausgeprägt ist, nenne ich sie »personeigene Freiheit«. Ihre Idee unterscheidet sich von der großen Mehrzahl der Freiheitsbegriffe, die in Umlauf sind, unter anderem durch folgende Merkmale: Die Möglichkeit, in diesem Sinn frei zu sein, gehört zum Leben als Person, aber nicht alle Personen besitzen diese Freiheit in gleichem Maß und in gleicher Weise. Vielmehr hat sie bei jeder Person eine andere Ausdehnung, andere Beständigkeit und andere Schwerpunkte. Überdies ändern sich ihre Stärke und Reichweite bei jeder Einzelperson im Lauf des Lebens. Ferner hat jeder Mensch die Möglichkeit, Erstreckung und Festigkeit seiner personeigenen Freiheit zu beeinflussen. Wir können versuchen, ihre Reichweite zu vergrößern, zu verteidigen, nach Freiheitsverlusten wieder herzustellen. Ob wir es bemerken oder nicht: Die je personeigene Freiheit gehört mit der stillschweigenden Sorge um sie und Anstrengungen für sie zu den unausgesprochenen Lebensthemen jeder personalen Existenz.

Die personeigene Freiheit ist charakteristisch unfest. Sie ist kein stabiler, naturgegebener Besitz des Menschen schlechthin, sondern ein Feld individueller Möglichkeiten von Entwicklung, Erhaltung, Verfall. Unsere Aufmerksamkeit in Sachen unseres Handelns gilt gewöhnlich der Frage, wie wir handeln sollen. Unser Handeln, das kann als anerkannt gelten, ist unsere Sache. Was wir weniger oft beachten, ist, dass auch unsere personeigene Freiheit unsere Sacheist. Verlässslichkeit, Schwerpunkte und Ausdehnung dieser Freiheit obliegen zu hohem Anteil unserer eigenen Anstrengung, sind Gegenstand unserer Lebensarbeit als ständig sich erneuernder Bemühung um die Intaktheit des eigenen Selbst und die Richtigkeit seiner Taten. In der Realität eigenen Tuns bei Vorstellungen und Vorsätzen bleiben zu können, die wir uns in beruhigter, situationsunabhängiger Überlegung für unser Handeln gemacht haben, kann in hohem Maß zum Gegenstand individueller Anstrengung und Befriedigung werden. Im negativen Fall jedoch ist es auch häufig Anlass für Bedrückung und Selbstverachtung. Es erscheint verständlich, dass die Bedrohung dieser Freiheit durch unberechenbar auf uns eindringende Impulse geradewegs als Bedrohung der persönlichen Intaktheit erlebt werden kann.

Der Begriff personeigener Freiheit, wie er hier vorgestellt wurde, mag ungewohnt und fremd erscheinen. Faktisch ist etwas Verwandtes jedoch in der Philosophie des letzten Jahrhunderts diskutiert, nur anders beschrieben und philosophisch anders gedeutet worden.4 Auf Verdienste und Mängel dieser Position werden wir zurückkommen.

Weil personeigene Freiheit immer unfest bleibt und stets Gegenstand individueller Selbstsorge ist, steht ihr Konzept in markantem Kontrast zu wesentlich bekannteren Formen von Freiheit, die bei menschlichem Handeln vermutet bzw. unterstellt werden. Es steht auch im Gegensatz zu Theorien, die eine relevante Freiheit des Menschen durchgängig leugnen. Gegen beide Weisen der Menschendeutung, sowohl die Behauptung, wir besäßen eine feste, letztlich unzerstörbare Freiheit, als auch die konträre Behauptung, wir seien ein für alle Mal unfrei und fremdbestimmt, ist personeigene Freiheit abzusetzen. Dies soll zum besseren Verständnis des Kommenden zunächst in knapper Form geschehen.

2. Die Idee personeigener Freiheit unterscheidet sich von bekannteren Freiheits- und Unfreiheitskonzepten

Als stabile, gewöhnlich allen Menschen gleichermaßen zugeschriebene, dauerhafte Auszeichnung ist aus dem großen Bedeutungsspektrum des Wortes »Freiheit« vor allem die »Freiheit des Willens« oder »Willensfreiheit« bekannt. Mit der herkömmlichen Gebrauchsweise dieser Wörter verbindet sich der Gedanke einer unverlierbaren Ausnahmestellung des vernünftigen Menschen im Universum der Lebewesen. Zu der traditionellen Idee der Willensfreiheit, wie wir sie in klassischer Form mit unterschiedlichen Begründungen etwa bei Descartes und Kant finden sowie mit neueren Theorien noch bei manchen Heutigen, gehören zwei Behauptungen: 1. Die Willensbestimmung menschlicher Personen erfolgt nicht durch Zufall oder Fremdeinwirkung, sondern Personen bestimmen ihren Willen unmittelbar selbst. 2. Bei der Bestimmung ihres eigenen Willens sind Personen unabhängig von Faktoren, die nicht ihrer Kontrolle unterliegen.

Weil diese Behauptungen schwer zu beweisen sind, nennen wir in der Philosophie die These der Willensfreiheit eine besonders »starke« Behauptung. Sie ist auch eine metaphysische Behauptung in dem Sinn, dass sie zwar etwas über die Welt sagt, aber durch Erfahrungswissenschaft nicht bewiesen werden kann. Faktoren, die nach diesem starken Konzept keinerlei Einfluss auf die Willensbestimmung eines menschlichen Individuums haben sollen, sind zum Beispiel alle Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten der Welt einschließlich seiner eigenen Geschichte, ja seines eigenen Körpers und Gehirns. Über Anreize beliebiger Art, sie mögen so stark sein wie sie wollen, kann sich die willensfreie Person kraft dieser Willensfreiheit im Prinzip immer hinwegsetzen. Die Form von Verantwortlichkeit, die sich einer solchen Freiheit zuordnen lässt, wird von Vertretern dieser Denkweise ebenfalls als besonders stark, d. h. besonders weitreichend, ja manchmal »absolut« dargestellt. Kritiker hingegen sprechen dieser absoluten oder auch »letzten« Verantwortlichkeit die Rechtfertigungsbasis ab, indem sie die Möglichkeit der schlechthin freien Willensbestimmung bestreiten. Der berühmteste Kritiker in dieser Sache ist wohl Friedrich Nietzsche. Aber schon lange vor ihm wie nach ihm bis zur Gegenwart finden sich entschiedene Gegner dieser Denkweise. Ich nehme an, es handelt es sich bei dieser starken Idee von Freiheit nicht um eine quasi natürliche Vorstellung des Menschen von sich selbst, sondern um eine lokale Spezialität der westlichen Philosophiegeschichte seit der Spätantike. In der klassischen Zeit der griechischen Philosophie, etwa bei Platon und Aristoteles, kommen Ausdrücke, die sich wörtlich mit »Willensfreiheit« oder »Freier Wille« übersetzen ließen, noch nicht vor.1 So weit ich sehe, kennen auch andere Kulturkreise diese Vorstellungen in der radikalen Ausprägung, in der wir sie im Westen finden, nicht oder allenfalls am Rande.

Zu der genannten Vielfalt von Freiheitskonzepten gehören auch weniger weitreichende, d. h. schwächere Gebrauchsweisen des Wortes »Willensfreiheit«, die mit bescheideneren Voraussetzungen auskommen und zu vorsichtigeren Ideen von Verantwortlichkeit führen.2 Da es hier nicht um das Zeichnen einer Begriffslandschaft gehen soll, bleiben sie zurückgestellt. Ebenso im Hintergrund bleibt das ausladende akademische Für und Wider, das sich bislang an jede Form von Freiheit anschloss, deren Konzept mit dem Anspruch auftrat, etwas Entscheidendes am Menschsein zu treffen.

Erwähnt werden muss hingegen die Behauptung einer durchgängigen Vorherbestimmtheit menschlichen Lebens und aller Ereignisse dieser Welt. In der Sache ist sekundär, ob hierbei die bestimmenden Faktoren vorgestellt werden als Gesetze des Weltlaufs in Verbindung mit bestimmten Anfangsbedingungen (auch solchen des individuellen Gehirns), oder als göttliche Setzungen, als unbeugsames Schicksal oder noch anderes. In der Neuzeit verbindet sich der Gedanke universeller Vorherbestimmung oft mit Wörtern wie »determiniert« und »Determinismus«. Die Idee allgemeiner Vorherbestimmung steht vielen jener Freiheitskonzepte schroff entgegen. Ähnlich wie bei der Willensfreiheit handelt es sich auch hier um eine besonders starke These, eine Extremposition, die durch Erfahrungswissenschaft nicht zu beweisen ist und in diesem Sinn ebenfalls »metaphysisch« genannt werden kann. Nach deterministischer Auffassung gehen alle menschlichen Entscheidungen und Handlungen aus vorausliegenden und/oder gleichzeitigen Bedingungen notwendig hervor. Sie gelten demnach als vollständig bestimmt oder »determiniert« durch diese Bedingungen. Menschliches Handeln ist danach letztlich bestimmt durch personfremde Elemente. Radikale Vertreter dieser Denkweise lehnen die Verwendung des Prädikats »frei« im Hinblick auf die Entstehung menschlichen Handelns durchweg ab. Diese radikalen Denker, traditionell »harte Deterministen« genannt, halten es auch für ungerechtfertigt, irgendwem für sein Handeln Vorwürfe zu machen, geschweige denn Strafen dafür zu verhängen.3 Denn ihres Erachtens fehlt wegen der Abwesenheit des »freien Willens« eine entscheidende Voraussetzung für persönliche Verantwortlichkeit.

Zwischen den beiden genannten Extrempositionen, irgendwo im mittleren Bereich des erwähnten Spektrums von Freiheits- bzw. Unfreiheitskonzepten, ist die »Freiheit des Handelns« angesiedelt. Das ist die Freiheit zu tun, was wir wollen. Haben wir einmal ein bestimmtes Wollen ausgebildet, und hindert uns nichts am Ausführen der gewollten Handlung, dann können wir diese Handlung auch tun. Die Freiheit des Handelns ist mit einer möglichen Vorausbestimmung unseres Wollens durch eventuell wirksame, determinierende Faktoren vereinbar. Denn ganz gleich, wie unser Wollen zustande kommen mag: Wenn wir wollen und nichts der Ausführung unüberwindlich entgegensteht, können wir auch tun, was wir wollen. In der Frage der Verantwortlichkeit für eigene Taten führt die Freiheit des Handelns zwar auf eine schwächere Form als die Freiheit des Willens. Typische Vertreter dieser Denkweise sehen gleichwohl in der Regel unsere existierende Praxis von Verantwortlichkeit und Bestrafung im Grundsatz als berechtigt an. Weil diese Vertreter Freiheit des Handelns plus Verantwortlichkeit plus Strafpraxis auf der einen Seite, Determinismus bzw. Vorherbestimmung auf der anderen Seite grundsätzlich für vereinbar oder kompatibel halten, wird ihre Position weithin als »Kompatibilismus« bezeichnet. Dafür gibt es wieder eine Mehrzahl von Varianten, die wir nicht einzeln betrachten müssen.

Im Kompatibilismus wird die Freiheit des Handelns unter Normalbedingungen ebenfalls als feste Eigenschaft des Menschen angenommen. Dass wir »unter Normalbedingungen« Handlungsfreiheit besitzen, soll heißen: Wenn uns nichts an einem gewollten Tun erkennbar hindert oder uns erkennbar unüberwindlich zwingt, können wir handeln, wie wir wollen. Personeigene Freiheit, wie ich sie hier ins Auge fasse, ist hingegen nicht schon mit der Handlungsfähigkeit gegeben. Sie betrifft vielmehr darüber hinaus das Verhältnis zwischen der Vorstellung einer Person darüber, wie das eigene Tun nach eigenem Für-richtig-Halten sein soll, und faktischem Handeln in konkreten Lebenslagen. Von den Kämpfen um personale Intaktheit im Sinn des Zusammenstimmens beider Bereiche, von Siegen und Niederlagen auf diesem Feld, von Mitteln, die in solchen Kämpfen zum Einsatz kommen können, wissen die Theorien fester Freiheiten nichts. Wer »menschliche Freiheit« für ein unzerstörbares, duch pures Menschsein uns immer schon gegebenes Merkmal hält4, denkt über solche Kämpfe in der Regel nicht nach. Insbesondere die uns zur Verfügung stehenden Mittel zur Bewahrung oder Erweiterung personeigener Freiheit, auch zum Heilen erlittener Verletzungen, scheinen gegenwärtig ein weitgehend vernachlässigtes philosophisches Feld zu sein.

Eine Merkwürdigkeit soll noch erwähnt werden: Während viele Autoren meinten und nicht mehr ganz so viele noch meinen, die Willensfreiheit komme den Menschen als fester, unverlierbarer Besitz zu, stimmen doch alle darin überein, dass etwa die politische Freiheit, die uns ebenfalls sehr wichtig ist, keineswegs als unverlierbarer Besitz betrachtet werden kann. Für die politische Freiheit scheinen alle einzusehen, dass ihr Erwerb Gegenstand leidenschaftlicher Kämpfe sein kann und oft gewesen ist, und dass diese Freiheit, wenn einmal etabliert, durch Wachsamkeit und tätige Anstrengung bewahrt werden muss. Es dürfte auch allgemein eingeräumt werden, dass politische Freiheit verlorengehen kann. Auch dürfte anerkannt sein, dass es eine Vielfalt von Weisen der inneren Aushöhlung politischer Freiheit gibt. Bei solcher Aushöhlung werden die bloßen Formen politisch freier Praxis nur noch als Rituale ausgeübt, während Freiheit in der Substanz schon aufgehört hat zu existieren. Dass vieles hiervon kraft elementarer Bedingungen menschlichen Lebens und Handelns auch für die unfeste, personeigene Freiheit gilt, die uns als selbstbewussten Individuen aufgegeben ist, erscheint deutlich. Die manifesten strukturellen Unterschiede, die zwischen politischer Freiheit und personeigener Freiheit auch bestehen, tangieren den Gedanken dieser Verwandtschaft nur am Rande. Historisch und bis heute war allerdings die verführerische Vorstellung einer durch pures Menschsein schon verbürgten, angeblich unverlierbaren, festen »menschlichen Freiheit« stärker. In der Geschichte westlichen Denkens seit der Spätantike wurde sie oft metaphysisch gedeutet und dann als quasi unantastbare Freiheit des Willens in herausgehobener theoretischer Rolle verwendet – zum Schaden der Glaubwürdigkeit großer Philosophien und daran anknüpfender Rechtssysteme.

3. Die Reichweite personeigener Freiheit hängt ab von unserem Willen. Unseren Willen bestimmen wir jedoch nie direkt. Wir können nur versuchen, ihn indirekt zu beeinflussen.

Es ist nach dem bislang Gesagten deutlich, dass personeigene Freiheit keine eingeborene, unverlierbare Eigenschaft des Menschen darstellt. Dass sie vielmehr in jedem Lebenslauf erworben und irgendwann auch wieder verloren wird, und dass ihre Ausdehnung oder Stärke sich in der Zeit verändern können. Erworben wird sie zunächst im Gang der Erziehung durch ein Zusammenwirken erziehender Maßnahmen und selbstbildender Bemühungen des Individuums. Beim Erwachsenen ist sie dann in entscheidendem Umfang der einzelnen Person anheimgestellt. Ihre Anstrengungen mit dem Ziel, eigenes Handeln in Einklang zu halten mit ihren übergreifenden Vorstellungen davon, wie dieses Handeln sein soll, entscheiden über Ausdehnung, Wachstum, Schrumpfen ihres personeigenen Freiheitsraums. Irgendwann auf dem Weg zum Tod hin, wenn die Kräfte so schwach geworden sind, dass die Person alle Kontrolle über sich verliert, geht auch diese Freiheit verloren – bei manchen Menschen früher, bei anderen erst mit dem letzten Atemzug.

Zur eingebürgerten Vorstellung vom Entstehen eigenen Handelns gehört, dass dieses Handeln in Verbindung mit einem Wollen erfolgt, kraft dessen es – manchmal sofort, manchmal mit zeitlichem Abstand – in Gang kommt. Äußerlich geschieht das durch Körperbewegungen einschließlich Bewegungen der Sprechorgane, innerlich (wenn man von innerem Handeln reden will) durch Lenken der Aufmerksamkeit. Unter dem Gesichtspunkt personeigener Freiheit erscheint dieses Verhältnis von Wollen und Tun zunächst unproblematisch: Wenn wir eine bestimmte Handlung wollen und nichts uns am Ausführen hindert, ablenkt usw., tun wir sie auch. In diesem Sinn baut die Ausübung personeigener Freiheit auf der Freiheit des Handelns auf, die uns unter Normalbedingungen gewöhnlich zukommt.

Ein Problem beim Verstehen personeigener Freiheit ist hingegen das konkrete Verhältnis zwischen der Person und ihrem Willen bzw. ihrem konkreten Wollen. Handeln wir einmal nicht so, wie wir es im Vorfeld beabsichtigt und für richtig befunden haben, dann hat sich im relevanten Zeitfenster unser handlungsauslösendes Wollen anders gebildet, als jene frühere Absicht es vorgab. Hier ist unsere personeigene Freiheit punktuell eingebrochen, denn wir haben in der konkreten Situation nicht so gewollt und gehandelt wie wir es zuvor entworfen haben. Das sehr wichtige Problem, das hier liegt, kann formuliert werden als die Frage: Wie nehmen wir Einfluss auf das Sich-Formieren unseres Wollens?

Diese Frage ist offensichtlich zentral für das Verständnis der Weise, wie wir uns das Leben mit personeigener Freiheit zu denken haben. Eine im Westen besonders machtvolle Antwort auf jene Frage lässt sich gleichsam in Reinkultur bei Vertretern der klassischen Willensfreiheit finden. Es ist die These, dass wir unseren Willen unmittelbar oder direkt bestimmen, ihn also ohne Umweg selbst lenken können. Einige Philosophen sagen auch oder implizieren, dass sich der vernünftige Wille kraft seiner Vernünftigkeit unmittelbar selbst lenkt. In besonderer Deutlichkeit finden wir den Gedanken der freien und unmittelbaren Willensbestimmung bei Immanuel Kant. Er übt in dieser Sache bis heute auf viele Philosophen, auch viele Juristen einen prägenden Einfluss aus. Kant bezeichnet in der Kritik der praktischen Vernunft eben diese Vernunft als »ein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögen«.1 Vielfach betont er bei seinen Erläuterungen zu der Frage, wie und auf welche Weise Vernunft praktisch (d. h. handlungswirksam) sein könne, die Unmittelbarkeit der Willensbestimmung durch eine solche Vernunft gemäß dem moralischen Gesetz. Dieses Gesetz gibt sich die vernünftige Person nach Kant in charakteristischer Autonomie selbst. Moderne Philosophen sprechen in Fragen der Willenslenkung zwar oft anders als Kant, folgen ihm aber häufig, indem sie an der Idee der unmittelbaren oder direkten Willensbestimmung durch Vernunftgründe festhalten.

Gegen die große Fülle dieser Auffassungen werde ich in diesem Buch die These vertreten, dass der Gedanke einer unmittelbaren oder direkten Lenkung unseres Wollens bzw. Willens auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt. Diese Vorstellung vom Menschen als eines Wesens, das seinen Willen durch direkten Griff lenkt und bestimmt wie ein geistiger Steuermann, sollte aufgegeben werden. Ich werde versuchen zu zeigen, dass es den Bedingungen, unter denen wir als Menschen, d. h. als endliche, vielfach abhängige Wesen zu leben haben, besser entspricht, unseren Einfluss auf eigenes Wollen ganz anders zu deuten. Wir sollten diesen Einfluss so verstehen, dass wir uns dabei prinzipiell indirekt wirkender Mittel bedienen müssen und niemals sicher sein können, den angestrebten Erfolg auch zu erzielen. Mein Vorschlag ist, die Idee der unmittelbaren Willensbestimmung fallen zu lassen und statt dessen anzuerkennen, dass wir nur die Möglichkeit einer mittelbaren oder indirekten Willensorientierung haben. Zu ihr sind wir fähig, sie bleibt aber in Fragen ihres Erfolgs immer mit einem Rest von Ungewissheit behaftet. Die Deutung unseres Einflusses auf eigenes Wollen nach dem Modell der indirekten Willensorientierung bei stets unvollkommener Gewissheit erscheint mir nicht nur theoretisch überzeugender als das Vertrauen auf ein unmittelbares, sicheres Bestimmen unseres Willens. Diese Deutung bietet auch bessere Aussichten, uns gerade auf kritische Fälle und Lebenskrisen realistisch vorzubereiten. Gerade in solchen Krisen mündet der Glaube an direkte Willensbestimmung oft genug in Enttäuschung, hartnäckige Selbstvorwürfe und manchmal in hilflose Verzweiflung.

4. Über Titel und Aufbau des Buches

Dieses Buch geht aus von der Vorstellung des Menschen als eines Wesens, das durch vielfältige, oft unerkannte Einflüsse geworden ist, wie es ist. Seine Gegenwart, sein Denken, sein Werten und Handeln werden immer auch von unerkannten Faktoren mitbestimmt. Trotz aller Fremdeinflüsse kann dieses Wesen in Form seiner personeigenen Freiheit eine besondere Art von Selbst-Übereinstimmung erreichen. Diese Art der Übereinstimmung mit sich und der dringende, manchmal heftig gespürte Wunsch, sie zu bewahren, zu verteidigen, im negativen Fall wieder herzustellen, findet sich, soweit wir wissen, nur bei menschlichen Personen. Schon bei Heranwachsenden, erst recht dann im Erwachsenenalter sind Ausdehnung und Stabilität der personeigenen Freiheit zwar nicht vollständig, aber doch in hohem Maß von der Person selbst abhängig. Ihre Anstrengungen zur Orientierung ihres Willens an der eigenen Vorstellung, wie sie als handelnder Mensch sein möchte, liefern einen entscheidenden Beitrag dazu, dieser Mensch zu werden und in kritischen Lebenslagen zu bleiben. Daraus ergibt sich der Titel dieses Buches: Wie frei wir sind, ist unsere Sache.

Der Untertitel Personeigene Freiheit in der Welt der Naturgesetze weist von vornherein darauf hin, dass wir nicht nur als Personen überhaupt, sondern auch in Angelegenheiten unserer Selbst-Übereinstimmung immer von vorgängigen und gleichzeitigen Bedingungen abhängen. Diese Bedingungen können genetisch, sozial, physisch, psychisch und noch von anderer Art sein. Wir sind nicht imstande, ihre Gesamtheit vollständig zu überschauen. Der Freiraum, den wir uns erwerben können, ist keine Sphäre absoluter Ungebundenheit oder Selbstmacht, sondern bleibt eingefügt in ein Ganzes von Umständen, die bestehen, und Gesetzmäßigkeiten, die für uns als Lebewesen gelten.

Wenn vor diesem Hintergrund von einer »Welt der Naturgesetze« die Rede ist, so versteht sich das in einem weiten Sinn. Es sind dabei nicht nur Gesetzmäßigkeiten (deterministisch wie statistisch) gemeint, die in heutiger Naturwissenschaft eine Rolle spielen. Es sind auch solche mitgemeint, die sich gegenwärtig nur auf psychische Prozesse in Menschen als hoch entwickelten Naturwesen beziehen, aber vielleicht in einer künftigen Gestalt empirischer Welterfassung einer erweiterten Naturwissenschaft zugehören könnten. Natürlich geht es in diesem Buch nicht um allgemeine Aussagen über gegenwärtige oder künftige Welterfassung-Systeme. Vielmehr ist ein wichtiges Argumentationsziel, einer panischen Vorstellung vom zwangsläufig fremdbestimmten Menschen entgegenzuwirken: Selbst wenn wir ganz sicher wären, in einer perfekt determinierten Welt im Sinn des (heute kaum noch propagierten) universellen Determinismus zu leben, hätten wir doch prinzipiell die Möglichkeit, einen Raum personeigener Freiheit zu erwerben. Wir könnten auch eigene Anstrengungen unternehmen, um diesen Raum zu erweitern, zu verteidigen, ihn nach Beschädigungen wiederherzustellen. Zwar sind wir keine irreduziblen Ausnahmen vom gesetzmäßigen Weltlauf, wie wir ihn zu kennen glauben. Aber in dem Rahmen, den dieser Weltlauf bildet, haben wir als Personen eine Freiheitsperspektive, die uns erhalten bleibt, auch wenn wir annehmen müssen, dass wir als die Naturwesen, die wir trotz aller kulturellen Entwicklung bleiben, diesen Rahmen nicht verlassen können.

Das Buch gliedert sich in drei Teile, die philosophisch etwa gleiches Gewicht, aber Unterschiede in der Thematik haben. Es gibt einen frühen, eher theoretischen Schwerpunkt im Ersten Teil: Etwas über Wollen, Wählen und freier Werden. Hier ist zunächst unser Verhältnis zu unserem Willen bzw. aktuellen Wollen zu klären und die Frage, wie weit unser Einfluss hier tatsächlich reicht. Es ist eine alte Beobachtung, dass wir zwar unser Wollen auf das gewollte Handeln richten können, aber dass wir nicht wollen können zu wollen. Wie Wille bzw. Wollen zu verstehen sind, wenn wir uns keinen direkt bestimmenden Zugriff darauf zusprechen können, soll im Ersten Teil so weit behandelt werden, wie es für das weitere Verfahren nötig ist. Dabei ist wichtig, sich deutlich zu machen, dass auch dann, wenn wir diesen direkten Zugriff nicht haben, keineswegs folgt, dass wir durchweg fremdgelenkte Wesen sind. Selbst wenn wir glauben, dass all unsere Entscheidungen und unser gesamtes Handeln aus vorausliegenden Bedingungen (z. B. unserem Gehirn) gesetzmäßig hervorgehen, folgt die häufig zu hörende These durchgängigen Fremdbestimmtseins nicht. Vielmehr müssen wir uns aufgrund klar darstellbarer, sehr folgenreicher Besonderheiten der Entscheidungssituation in eben dieser Situation (!) immer als die Urheber unseres jetzt und hier bevorstehenden Tuns verstehen. Auch wenn die fragliche Situation vorbei und unsere Handlung ausgeführt ist, müssen wir uns rückblickend als Urheber unseres Tuns in der vergangenen Lebenslage (!) anerkennen und die Lasten dieser Urheberschaft übernehmen.1

Obgleich es so ist, dass wir unseren Willen nicht umweglos und mit perfekter Sicherheit bestimmen können, bleibt uns doch eine Mehrzahl von Möglichkeiten, ihn indirekt zu beeinflussen. Eine Auswahl wichtiger Mittel dieser Art, die wir im Sinn vernünftiger Selbstgestaltung und im Sinn menschenmöglicher Lebensbefriedigung nutzen können, wird im Gang des Buches vorgestellt und diskutiert werden. Im möglichst weitreichenden Gebrauch derartiger Mittel liegt der Schlüssel zu möglichst weitreichender personeigener Freiheit. Der Erste Teil beginnt diesen Gang, indem er die vorhin genannte indirekte Willensorientierung als elementare Gemeinsamkeit verschiedener Formen solchen Mitteleinsatzes vorstellt.

Der Zweite Teil wird, ausgehend von einzelnen Theorieelementen aus Platon und Aristoteles, zwei bis heute dominante Traditionslinien des indirekten Einflusses auf eigene Willenseinstellungen behandeln. Ihr sachlicher Gehalt ist unabhängig davon, ob man im historischen Rückblick das schwierige Wort »Wille« als Interpretationsmittel für klassisch-griechisches Gedankengut benutzt oder sich anders ausdrückt. Insbesondere die rationalistische Traditionslinie, für die ich einen wichtigen Quellpunkt bei Platon sehe, scheint mir für die westliche Kultur prägend geworden zu sein. Zwischen die Erörterungen zu Platon und Aristoteles setze ich ein Kapitel, in welchem existenzphilosophische und neuere Analytische Theorien, die meines Erachtens auf eine unmittelbare Selbstwahl der menschlichen Person zielen, einer Kritik unterzogen werden. Entsprechend steht der Zweite Teil unter dem Titel: Wegweisendes Altes und gewagtes Neues.

Der Dritte Teil des Buches, Personeigene Feiheit und Selbstverhältnis, behandelt mehrere Weisen des Selbstumgangs, die für die genannte Freiheit wie auch für indirekte Willensorientierung bedeutsam sind. Durch sie wird eine sinnvolle Form dieser Freiheit teils in besonders tiefreichender Weise verwirklicht, durch ihren unangemessenen Einsatz oder das Unterbleiben dieses Einsatzes aber auch verfehlt. Es handelt sich, metaphorisch gesagt, um personeigene Werkzeuge, die nicht jeder jederzeit einsetzen muss, die aber, wenn eingesetzt, zu speziell ausgeprägten Formen der individuellen Willensorientierung führen.

Das Thema der Freiheit persönlicher Entscheidung hat für die abendländische Philosophie ein besonders großes Gewicht gewonnen, weil es sich früh mit dem Thema der Verantwortung des Menschen für eigene Handlungen verbunden hat. Dass personeigene Freiheit mit der Möglichkeit gesetzmäßigen Hervorgehens menschlichen Wählens und Tuns aus vorausliegenden Bedingungen vereinbar ist, wurde vorhin schon gesagt. Dass die Vereinbarkeit in diesem Fall nicht zu der klassisch-kompatibilistischen Auffassung des Verhältnisses von Freiheit, Verantwortung und Strafe führt, sondern zu einer grundsätzlich anderen Deutung von Verantwortlichkeit und Schuld, soll im Schlusskapitel erkennbar werden. Unter dem Titel Personeigene Freiheit und der Schuldgedanke werden elementare Züge einer anderen Auffasssung von Schuld und Schuldbewältigung vorgetragen.

Erster Teil

Etwas über Wollen, Wählenund freier Werden

I. Über unser Handeln verfügen wir direkt, über unser Wollen keineswegs

1. Auch wenn wir den »festen Willen« haben, etwas Bestimmtes zu tun, kann sich bis zum letzten Augenblick alles ändern

Lew Tolstoi erzählt in Krieg und Frieden eine Episode aus Napoleons Russlandfeldzug. Nach der Niederlage bei Austerlitz und weiteren Feindseligkeiten hatte der junge Zar Alexander I. mit dem Frieden von Tilsit eine Kehrtwende vollzogen und das russisch-französische Bündnis erneuert. Eine sehr freundschaftliche Begegnung Alexanders mit Napoleon wird im Roman ausführlich beschrieben. Dennoch kam im Juni 1812 die Nachricht, dass Napoleon mit einer riesigen Streitmacht die Memel überschritten und russisches Gebiet betreten habe. Damit drohte für Russland ein großer, potentiell katastrophaler Krieg. Der junge Alexander war durch Napoleons Treubruch aufs äußerste erbittert. Nach Tolstoi sprach er die Worte: »Ich werde mich erst dann zufriedengeben, wenn nicht ein einziger bewaffneter Feind mehr in meinem Lande zurückgeblieben ist.«1 Der Erzähler betont, dass dieser Satz dem Zaren sehr gefiel und vollständig seine Empfindung wiedergab. Unverzüglich ließ der Zar einen Brief an Napoleon schreiben, in dem er dessen Vorwände für den Angriff zurückwies und noch einmal seinen Friedenswillen betonte. Den relevanten Satz ließ er in den Text nicht aufnehmen. Denn er fürchtete, dass dieser Ausdruck seiner ganzen Entschlossenheit den letzten brieflichen Versuch zum Erhalt des Friedens belasten könne. Er beauftragte jedoch seinen Generaladjutanten Balaschow, in Napoleons Lager zu reisen, den Brief dem französischen Kaiser persönlich zu übergeben und dabei wörtlich jenen Satz zu übermitteln, der im schriftlichen Text weggelassen war.

Die Franzosen hielten den General Balaschow zunächst mehrere Tage hin, bis er von Napoleon empfangen wurde. Der müde, von Bonapartes Anblick etwas eingeschüchterte, vom anfangs freundlichen Tonfall des mächtigen Mannes zusätzlich überrumpelte General übergab den Brief und trug Argumente vor, die den russischen Friedenswillen zeigen sollten. Über seinen mündlichen Auftrag berichtet der Erzähler, dass Balaschow die zu überbringenden Worte des Zaren wörtlich im Gedächtnis hatte und an den Befehl des Zaren dachte, »doch ein verworrenes Gefühl hielt ihn zurück. Er konnte diese Worte nicht sagen, obgleich er es doch wollte.«2 Schließlich brachte er einen anderen Satz hervor, der nur Napoleons Rückzug hinter die Memel verlangte, aber die unbedingte Entschlossenheit des Zaren, keinen Kompromiss zu schließen, nicht angemessen wiedergab.

Tolstois Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass Balaschow vor der Begegnung mit Napoleon durchaus willens war, den Satz des Zaren befehlsgemäß zu überbringen. Jedoch konnte er es nicht. Balaschow wurde im entscheidenden Augenblick von einem unklaren Impuls, eben jenem »verworrenen Gefühl« beeinflusst und gehemmt. Er »wollte« zwar seine Pflicht tun, heißt es. Aber dieses »Wollen« war im entscheidenden Augenblick höchstens noch eine blasse Regung, es löste keine Handlung aus, es wurde nicht handlungswirksam, wie wir in der Philosophie sagen. Zu diesem Zeitpunkt war es daher kein Wollen im typischen, philosophisch eingebürgerten Sinn mehr, sondern nur noch etwas wie Sich-verpflichtet-Fühlen, Für-besser-Halten oder ähnlich. Stattdessen müssen wir den Text so deuten, dass in eben diesem Augenblick, als die Pflichterfüllung gefordert war, unter dem Einfluss jenes »verworrenen Gefühls« sich quasi im Spalt einer Sekunde ein schwächeres Wollen bildete. Dieses löste wirklich eine Handlung aus, nämlich dass der General einen milderen Satz sprach, als ihm aufgetragen war. Bonaparte erfuhr nichts von Alexanders fester Entschlossenheit, ließ gegen Balaschow noch eine Flut bramarbasierender Tiraden los, und seine Armee marschierte weiter – zur Verwüstung weiter Teile Russlands und in ihren eigenen Untergang.

Handeln aufgrund eines kurzfristigen eigenen Wollens, das die Person in langfristiger Perspektive und zu anderen Zeitpunkten selbst für falsch erachtet und missbilligt, findet sich allgegenwärtig und alltäglich. Es ist uns allen aus der Beobachtung unserer selbst wie auch anderer vertraut. Wir sprechen davon, dass viele Menschen dazu neigen, aufgrund temporärer Impulse zu handeln, welches Handeln dann später oft bereut wird. Wir sprechen auch von größerer oder geringerer Impulsanfälligkeit einzelner Personen. In der Psychologie wird darüber diskutiert unter dem Stichwort »impulsivity«3, in der Philosophie wird der Problemkreis seit den Griechen als »akrasia« alias »Unbeherrschtheit« (auch unrichtig »Willensschwäche«) abgehandelt.4 Dass es die Versuchung zum Tun des Falschen gibt und dass Menschen ihr häufig erliegen, gehört zu den elementaren Erfahrungen, die Personen mit ihrem Wollen und Tun machen können. Die Berichte darüber beginnen mit der Geschichte von Adam und Eva. Auch die griechische Epik und Dramatik sind voll von Beispielen dafür, und die griechische Philosophie hat sich des Themas früh angenommen. Es findet sich auch früh in anderen großen Schriftkulturen.

Der seinen temporären Impulsen ausgelieferte Mensch ist in dem Sinn unfrei, der anfangs dargestellt wurde: Er bringt es unter dem Einfluss solcher Impulse nicht zustande, seinen bei ruhiger Überlegung für richtig und bindend erachteten Handlungs-Leitlinien zu folgen. Vielmehr ereignet es sich, dass er von Zuständen der Furcht, der Nachgiebigkeit gegenüber den Erwartungen anderer, der Eitelkeit, eigenen Begierden, dem Wunsch nach Geld, oder irgendeinem anderen Impuls hingerissen wird. Der Mensch möchte wohl gern von dieser Anfälligkeit frei werden; aber insbesondere in den stark ausgeprägten Fällen müssen wir sagen, »er schafft es einfach nicht«, »er fällt immer wieder um«, er ist gar »wie ein Blatt im Wind«. Er bleibt oft zu seinem eigenen Leidwesen in dem anfälligen, durchaus als »unfrei« zu bezeichnenden Zustand, in dem wir ihn kennengelernt haben. Die Unfreiheit aus dem Unvermögen, zeitweiligen Anreizen zu widerstehen, die sich durchaus als kurzfristiges Wollen der Person selbst geltend machen, scheint mir die folgenreichste Form von Unfreiheit unter Menschen zu sein. Überwiegendes, kurzsichtiges Impulshandeln ist als »die niedrigste Form moralischen Lebens« beschrieben worden.5 Es ist nicht die sozial oft auch geschätzte Eigenschaft der Impulsivität im Sinn von Direktheit, Offenheit, Spontaneität, um die es hier geht, sondern vielmehr Impuls-Anfälligkeit. Eine impulsanfällige Person ist tendenziell unfähig, Handlungsanreize, die nicht zu ihrer vorher in eigener Überlegung entworfenen Handlungslinie passen, abzuweisen. Impulsanfällige Personen neigen dazu, sich solche Anreize kurzfristig zu eigen zu machen. Sie handeln dann im entscheidenden Moment der Form nach aus eigenem Antrieb. Allerdings ist dies oft ein Handeln, das die impulsanfällige Person in übergreifender Betrachtung außerhalb des entscheidenden Zeitfensters nicht für richtig halten kann und diese Handlungsweise auch nicht dauerhaft als ihr zu eigen haben will. Die zerstörerischen Wirkungen von Impulsanfälligkeit finden sich nicht nur kurzzeitig im Alltag. Sie können auch, wie bei dem Arzt Lydgate, Folgen für das Gelingen oder Misslingen ganzer Lebensläufe haben. Vergleichbares gilt – zwar nicht ausschließlich, aber doch häufig – auch für das gesellschaftlich und rechtlich relevante Abgleiten in Kriminalität und das Verharren in ihr.

Personeigene Freiheit zeigt sich in konkreten Situationen des Lebens als Freiheit gegenüber dem Druck temporärer Impulse und Freiheit zu den Handlungsweisen, die die Person bei situationsunabhängiger Überlegung von sich her billigt und als eigene Handlungsweisen will. Da absichtsvolles Unterlassen auch als Handeln gelten kann, ist solches Unterlassen überall da, wo hier von »Handeln« gesprochen wird, mit einbegriffen. Ja, mögliches Unterlassen und Nicht-Unterlassen-Können spielen im Kontext rechtlich relevanter Verfehlungen bis hin zur Kriminalität sogar eine vorrangige Rolle. Beides, frei wie unfrei im jetzigen Verständnis, sind wir nicht dauerhaft und für alle Zeit voraussagbar. Vielmehr sind wir beides immer mit einem unbestimmten Grad von Veränderlichkeit, der sich negativ wie positiv jederzeit bemerkbar machen kann.

Der General Balaschow besaß vor Napoleon sehr wohl die oft beschworene Freiheit des Handelns. Nichts in Tolstois Darstellung lässt darauf schließen, dass es äußere Umstände gab, die ihn am Ausführen seines Befehls gehindert hätten. Trotzdem heißt es, »Er konnte diese Worte nicht sagen«. Er besaß in diesem Augenblick nicht die personeigene Freiheit, die nötig gewesen wäre, um sich über das erwähnte »Gefühl« hinwegzusetzen und seine Pflicht zu tun. Stattdessen macht er von seiner Freiheit des Handelns eben den Gebrauch, der in ihrem Begriff liegt: Er tat, was er genau in diesem Augenblick tun wollte. Das heißt, er tat, was ein momentanes, in einem Sekundenbruchteil entstandenes, quasi feigeres Wollen gerade jetzt wollte, und sprach den schwächeren Satz. Wir können als sicher annehmen, dass sich der General über dieses momentane Wollen nicht schon zum gleichen Zeitpunkt Klarheit verschaffte. Tolstois Schilderung klingt, als überlegte Balaschow gar nicht, sondern handelte, das heißt sprach – nur sprach er das Falsche. Jenes »feigere« Wollen war trotz fehlender Überlegung gewiss ein Wollen. Denn es erlangte Wirksamkeit im Handeln, das heißt im Sprechen des Generals, und der General ist dafür Rechenschaft schuldig. Handlungswirksamkeit, alias Handlungseffizienz, ist das unterscheidende Merkmal des Wollens gegenüber bloßem Lieber-Mögen, Phantasieren, Sich-Erträumen und so fort.

Wie wichtig, ja wie unendlich kostbar die Freiheit des Handelns als Nicht-Gezwungenwerden für Menschen auch sein mag: Sie erscheint ebenso trivial wie nutzlos, wenn ein Handelnder temporär auftretenden Impulsen verschiedener Art, die er im Prinzip selbst missbilligt, nicht widerstehen kann. Solche Impulse müssen nicht als Zwänge äußerer oder innerer Art erlebt werden. Vielmehr machen sie sich zu dem Zeitpunkt, zu dem die Person von ihnen bedrängt wird, als eigene Wünsche oder sonstige Antriebe der Person selbst geltend. Sie treten gerade nicht notwendig als personfremde, eine Handlung erzwingende oder verhindernde Faktoren auf. Vielmehr treten sie auf als zeitweiliges, von der Person oft gar nicht als bloß zeitweilig erkanntes, durchaus ihr zugehöriges Hinstreben zu bestimmten Handlungen. Bildet sich dann ein Wollen im Sinn dieses Hinstrebens, so tut die Person, was sie kurzfristig will, zeigt also Freiheit des Handelns. Und doch kann es sein, dass sie dieses Tun als einen Fall von Unfreiheit ansieht, wenn der temporäre Druck nachgelassen hat und sie in Ruhe über sich nachdenken kann. Die personeigene Freiheit dieses Menschen war nicht hinreichend stark, um in der konkreten Situation die Handlungslinie durchzuhalten, die er sich bei beruhigter Überlegung, unbedrängt vom Druck und Zug solcher Lebenslagen, zurechtgelegt hat.