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Erfinder, Tüftler, Besessene und ihre Glanzleistungen Geniale Frauen und Männer haben mit ihren Erfindungen die Menschheit gewandelt und bis heute geprägt – oft zum Besseren, manchmal auch zum Schlechteren. Kenntnisreich bietet Roland D. Gerste ein ebenso informatives wie spannendes Leseerlebnis an der Schnittstelle von Genie und Irrsinn, Fortschritt und Armageddon. Die Geschichte der Menschheit: unvorstellbar ist sie ohne Sternstunden der Technik! Erfindungen wie die des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg haben die Moderne und die damit verbundene Informationsgesellschaft erst möglich gemacht. Andere Innovatoren sind gefolgt und haben unser Leben revolutioniert, von der Medizintechnik über das Transportwesen hin zu einer weltweiten Vernetzung durch digitale Kommunikationsmittel. Aber auch Raketen und die Atombombe wurden geschaffen, die den Weg ins All geöffnet und die Apokalypse denkbar gemacht haben . Und technische Verfahren haben für rauchende Schlote und Abgase der Motoren gesorgt, in denen wir eine Ursache für den Klimawandel sehen. Eindrucksvoll lässt Ronald D. Gerste die Glanzmomente unserer Zivilisation lebendig werden und erzählt von den Schicksalen der Menschen, die sie möglich machten: Frauen wie Ada Lovelace, Lise Meitner oder Hedy Lamarr und Männer wie Alan Turing oder Wernher von Braun, deren Biographien so tragisch wie folgenschwer in unsere Gegenwart hineinwirken.
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ronald D. Gerste
Wie Technik Geschichte macht
Von Gutenberg bis zum Smartphone
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung mehrerer Abbildungen: Rakete (© akg-images/ESA), Gutenberg (© Heritage Images/Fine Art Images/akg-images), Hedy Lamarr (© mauritius images/SuperStock)
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98801-7
E-Book ISBN 978-3-608-12360-9
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Prolog
Rauchende Schlote
Wissen – Aufbruch in die Moderne
Henne zur Laden, auch bekannt als Johannes Gensfleisch – und als Johannes Gutenberg
Energie I – Und es ward Licht
Thomas Alva Edison und Emil Rathenau
Mobilität I – Unter Dampf
George Stephenson und Friedrich List
Kommunikation I – In Echtzeit
Samuel Thomas Soemmering und Samuel Morse
Mobilität II – Der Traum vom Fliegen
Orville Wright, Wilbur Wright, Charles A. Lindbergh, Juan Trippe
Kommunikation II – Die Macht des Fernsehens
Philo T. Farnsworth und Manfred von Ardenne
Wellen I – Finest Hour
Sir Hugh Dowding
Wellen II – »Red hot«: Die schönste Frau der Welt und ihre Erfindung
Hedy Lamarr
Energie II – Spaltende Kerne
Lise Meitner und J. Robert Oppenheimer
Weltall – Mit der Rakete »zu den Planetenräumen« – oder nach Armageddon
Wernher von Braun
Leben – Herzschläge
Andreas Grüntzig, Christiaan Barnard, Åke Senning
Algorithmen – Frühe Wegbereiter der Digitalisierung
Ada Lovelace, Alan Turing
Epilog
Segen und Fluch
Anhang
Anmerkungen
Bildnachweis
Prolog
David Leisberger wollte das Licht bringen. Die indigenen Menschen in dieser neuen Welt sollten endlich von Jesus hören. Doch die Wege des Herrn sind unergründlich, denn bei seinem Vorhaben stieß der fromme Mann auf eine Energiequelle, welche die Welt beherrschen sollte. Wie manch andere in seiner Glaubensgemeinschaft, den Herrnhuter Brüdern, die hier fern der alten Heimat Böhmen und Mähren als Moravian Church galten, war Leisberger ein Missionar. Und obwohl er zu den Älteren in der Gemeinde zählte und es unruhige Zeiten waren, begab er sich im Jahr des Herrn 1767 zum Volk der Seneca. Diese im Sprachgebrauch der Epoche als »Indianer« bezeichneten Menschen nahmen ihn nach Überwindung einiger Anfangsschwierigkeiten freundlich auf. So hatte David Leisberger Gelegenheit, die Sitten und Gebräuche der Seneca zu studieren – und auch ihre Heilkunst. In ihrer Region entlang eines von den Weißen Alleghany River genannten Flusslaufes trat an verschiedenen Stellen eine schwarze, zähe und streng riechende Flüssigkeit aus der Erde. Die Indigenen kochten die Substanz und das dabei entstehende Produkt benutzten sie, wie Leisberger notierte, »medizinisch als Salbe für Zahnschmerzen, Kopfschmerzen, Schwellungen, Rheumatismus und Zerrungen. Manchmal wird es auch eingenommen. Es ist von brauner Farbe und kann in Lampen benutzt werden.« Der Missionar dürfte kaum geahnt haben, wie sehr seine letzte Anmerkung das Dasein der Menschheit in einer für ihn noch fernen Zukunft beeinflussen würde: »Es brennt gut.«[1]
Es brennt auch noch mehr als zweieinhalb Jahrhunderte später. Erdöl ist nach wie vor das große Treibmittel der globalen Wirtschaft. Es hat über viele Jahre Wohlstand verschafft und Städte in die Breite sowie – gerade bei den wichtigsten Produzenten am Persischen Golf – in die Höhe wachsen lassen. Die bei seiner Verbrennung entstehenden Emissionen sind längst eine der großen Sorgen der Menschheit – oder eines gebildeten Segments der globalen Gemeinde – geworden. Im Land der Seneca, von den Weißen Pennsylvania genannt, suchten mehrere Menschenalter später Unternehmer und Ingenieure nach der brennbaren Flüssigkeit. Der Energiehunger der westlich geprägten Gesellschaften, vornehmlich jener in Europa und Nordamerika, war längst unstillbar geworden. Die Kohle war um 1850 der Träger der Industrialisierung. Sie befeuerte die expandierenden und Arbeitsplätze in nie vorher gekannter Zahl bietenden Fabriken, im Ruhrgebiet ebenso wie in Manchester oder in Berlin. Auch dort ließen die Schornsteine neu angelegter Industriebetriebe dunkle Rauchschwaden in den Himmel aufsteigen, wie es der Maler Eduard Biermann in seinem um 1847 entstandenen Gemälde Borsig’s Maschinenbauanstalt zu Berlin so eindrücklich dokumentiert hat. Kohle war dabei, den Menschen wie den Waren eine vorher nie gekannte Mobilität zu verleihen – eine kleine Dampflok auf Biermanns Bild deutet auf diese Zeitenwende hin. Und Kohle war das wichtigste Heizmittel geworden, nur eine oder zwei Generationen nachdem das rechtzeitige Lagern von ausreichend Brennholz das Überleben sichern musste. Der Geruch von Kohle war allgegenwärtig und neben diesen olfaktorischen waren es auch ihre sichtbaren Verbrennungsprodukte. In der größten Stadt Europas, in London, wurde so viel – und so minderwertige – Kohle als Heizmittel verbrannt, dass dicke Rußschichten auf dem Fenstersims genauso alltäglich waren wie schwere Atemwegserkrankungen.
In Pennsylvania suchte man nach Öl, man brauchte es – auch zu medizinischen Zwecken, vor allem aber als Energiequelle – in weit größeren Quantitäten als es die Indigenen einst genutzt hatten. Am Samstag, dem 27. August 1859 bohrte ein Mann namens Edwin Drake zusammen mit einem Mitarbeiter unweit des kleinen Ortes Titusville auf der Suche nach dem Rohstoff durch eine Gesteinsschicht. Sie gelangten bis in eine Tiefe von 69 Fuß (21 Meter). Am nächsten Tag ließen sie die Arbeit ruhen und gingen in die Kirche. Als sie aus dem Gottesdienst kamen, sahen sie Öl aus dem Bohrloch emporsteigen. Sie sammelten es in einer Badewanne. Ein Jahr später arbeiteten bereits 75 Ölpumpen in Titusville. Das Zeitalter der fossilen Brennstoffe hatte nun, da zur Kohle das Öl kam, endgültig begonnen.
Die Energie aus dem Boden zog die Etablierung von Technologien nach sich, die dank dieser zunächst unerschöpflich scheinenden Gabe der Erdfrühgeschichte eine rasante Entwicklung erlebten. 1886 baute Carl Benz das erste mit einem Verbrennungsmotor betriebene Automobil. Es war eine technische Neuerung, die das Leben der Menschen für immer veränderte.
Technik ist ein Begleiter unserer Spezies seit grauer, undokumentierter Vorzeit – mindestens, seit ein uns namentlich nicht bekannter Erfinder oder eine Erfinderin das Rad konzipierte. Oder das Boot, mit dem ein Fluss wie der Nil oder der Euphrat nicht länger ein unüberwindliches Hindernis blieb. Die rasante Entwicklung der Menschheit in den letzten rund drei Jahrhunderten ist durch Technik erst möglich geworden. Mit uneingeschränkt guten Folgen wie einer verbesserten Ernährungslage und einem früher nicht für möglich gehaltenen Standard der medizinischen Versorgung, die uns in Europa eine beispiellose Lebenserwartung und Lebensqualität gesichert haben. Mit ambivalenten Folgen wie der Zunahme der Weltbevölkerung von einer Milliarde im Jahr 1800 auf rund siebeneinhalb Milliarden heute und auf projektierte zehn Milliarden um 2050. Und mit unzweifelhaft negativen Konsequenzen wie Umweltzerstörung, Klimawandel und der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen.
Dies ist keine Technikgeschichte – sie kann es nicht sein, da Technik ein viel zu weites Feld ist, als dass sie auf weniger als 300 Seiten dargestellt werden könnte. Vielmehr soll die Geschichte der Begründung einiger Technologien beispielhaft und ohne jedweden Anspruch auf Vollständigkeit erzählt werden. Vor allem aber sollen die Menschen hinter einigen Techniken lebendig werden – ihre Visionen, ihre Hoffnungen und mehrfach auch ihre Tragödien. Technik kann nur zum Guten für Mensch und Natur dienen, wenn sie mit Verantwortung eingesetzt wird. Der Philanthrop John D. Rockefeller (Junior), dessen gleichnamiger Vater durch den Besitz von Ölfeldern in Pennsylvania und später anderenorts zum reichsten Mann der Welt wurde, formulierte eine Mahnung, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat: »Jedes Recht impliziert eine Verantwortung, jede Chance eine Verpflichtung, jeder Besitz eine Pflicht.«[2]
Wissen – Aufbruch in die Moderne
1Auch wenn wir kein wirklich authentisches Porträt Johannes Gutenbergs haben – so ungefähr könnte es in seiner Werkstatt bei der Herstellung der »Gutenberg-Bibel« ausgesehen haben.
Wer von Geschichte fasziniert ist – wie zweifellos die Leserinnen und Leser dieses Buches – ertappt sich wahrscheinlich hin und wieder dabei zu träumen, wie es wäre, dabei gewesen zu sein: als Beobachter bei einem epochalen Ereignis, als Zeuge einer jener Wendemarken, an denen eine neue Epoche eingeläutet wurde. Oder Momente mitzuerleben, die aus anderen Gründen unvergesslich sind. In der letzten Reihe des Parlamentarischen Rates in Bonn zu sitzen, als am 23. Mai 1949 das Grundgesetz verkündet wird und in Deutschland die Demokratie eine neue Chance bekommt. Oder bei einer früheren Etappe auf dem Weg zur Überwindung von Autokratie die Begeisterung im Saal zu spüren: im provisorischen Saal einer Sporthalle, des Salle du Jeu de Paume in Versailles, als die Deputierten des Dritten Standes – des Bürgertums – am 20. Juni 1789 feierlich schwören, nicht eher auseinander zu gehen, bevor Frankreich eine Verfassung hat. Eine zu Herzen gehende Dramatik würde man verspüren, wenn man im April 1912 am Kai von Southampton stehen und noch einmal einen Blick auf die der offenen See entgegensteuernde Titanic werfen könnte.
Nichts von alledem würde man in den tagsüber so geschäftigen Straßen und Gassen von Mainz um die Mitte des 15. Jahrhunderts verspüren. Es ist der Alltag einer verhältnismäßig großen Stadt mit geschätzt rund 6000 Einwohnern an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Wohl kaum einer der Bewohner wird ahnen, dass in zwei respektablen Gebäuden, dem Humbrechtshof und dem Gutenberghof, eine Technik entsteht, ohne die der Gang der nächsten Jahrhunderte kaum denkbar erscheint. Die dortigen Werkstätten fallen den Bürgern der Stadt nicht weiter auf. Was immer hinter ihren Mauern geschieht, reizt die Sinne der vorbeieilenden Passanten nicht; es stinkt nicht wie bei einer Gerberei, und es wird dort bei weitem nicht so geräuschvoll gearbeitet wie in einer Schmiede.
Die Höfe sind Schauplätze einer Genese, in der eine große Idee, viel Geduld und noch mehr harte Arbeit eines kleinen Teams von Spezialisten zusammenkommen. In Mainz spielt sich eine Revolution ab, nicht mit einem Knall, nicht mit Gewalt und nicht mit lauten Parolen. Ihre Schauplätze sind längst verschwunden, ihre Zeugnisse selten – und damit von hohem Wert – und von ihrem Protagonisten, einem Wegbereiter der Moderne, haben wir kein Bild; all die Porträts mit dem gewaltigen Bartwuchs entstammen späteren Jahrhunderten und der Phantasie der Künstler. Kurz vor dem Jahr 2000 wählten amerikanische Journalisten den so schwer Greifbaren, für uns letztlich Gesichtslosen zum Man of the Millenium. Der Mann des Jahrtausends war seinen Zeitgenossen bekannt als Henne zur Laden; aus der formalen Version des Vornamens und dem Wohnsitz seiner Familie in Mainz wurde für die Nachwelt Johannes Gutenberg.
Nur ein kleiner Teil der Mainzer Bevölkerung in jenen 1450er Jahren ist des Lesens und Schreibens kundig. Das gilt auch für den gesamten deutschen Sprachraum und für das übrige Europa. Für Großbritannien liegt die Schätzung der literacy rate für diese Epoche bei 10 Prozent der Männer, für Frauen liegt die Quote deutlich niedriger.[1] Dass sich dies nachhaltig fast überall in der christlichen Welt ändern wird, ist eine der Folgen der Innovation, an der hier gearbeitet wird.
Mit dem späten Mittelalter, mit der Etablierung von Banken und geschäftlichen Transaktionen, mit einer sich allmählich ausweitenden Bürokratisierung, Kodifizierung und Legalisierung, wurde es für manche Menschen, zumindest im urbanen Lebensbereich, notwendig, zumindest den eigenen Namen so schreiben zu können, dass es für eine Unterschrift taugte. Doch Lesen als Teil des Bildungserlebnisses war etwas, das nur einer sehr kleinen Schicht vorbehalten war. Denn der wichtigste Träger von Wissen – und ebenso von Glauben, worüber der in hohem Maße literate Klerus die alleinige Oberhoheit innehatte – war das Buch. Und dieses war weithin nur für Wohlhabende erschwinglich, was ganz entscheidend an den hohen Herstellungskosten lag.
Drucke gab es schon länger, vor allem in asiatischen Kulturen wie in China und Korea. Meist bedienten sie sich des Holztafeldrucks, bei dem eine Seite in einen Holzstock geschnitten wurde. Es waren typischerweise einzelne Seiten, die gedruckt wurden, kaum jemals längere Werke. In Europa wurden Bücher seit der Antike vorwiegend geschrieben, von einzelnen des Schreibens Kundigen per Hand kopiert. Zu den wichtigsten Produktionsstätten gehörten Klöster, in denen die Bibel und andere Schriften sorgfältig Buchstabe für Buchstabe, Zeichnung für Zeichnung gestaltet wurden. Jedes einzelne Werk war ein Unikat – und nur für Reiche erschwinglich. Und für die Kirche.
Der Mann, der den Weg vorgab, um aus dem Buch ein Produkt für breitere Bevölkerungsschichten zu machen und eine informations- und kommunikationstechnologische Wende einleitete, die Europa und den Gang seiner Geschichte über die nächsten Jahrhunderte bestimmen sollte, wurde in eine wohlhabende Patrizierfamilie hinein geboren. Sein Vater war Friedrich – genannt Friele – Gensfleisch und als Henne (Koseform von Johannes) Gensfleisch oder eben Henne zur Laden war der Innovator vielen seiner Zeitgenossen bekannt, bevor sein Familienname – ein solcher war im Spätmittelalter mit einer heute kaum mehr möglichen Flexibilität wandelbar – nach der Ortsangabe, dem elterlichen Hof, zu »Gutenberg« mutierte. Der Gutenberghof, ungefähr an der Kreuzung der heutigen Schusterstraße mit der Christophstraße gelegen, wurde während des Dreißigjährigen Krieges zerstört; sein Nachfolgebau brannte 1894 nieder. Passenderweise beherbergte er im 19. Jahrhundert ein »Lese-Cabinet« – eine Kultureinrichtung, die es ohne Hennes Erfindung wohl nicht gegeben hätte.
Wenn auch der 24. Juni, der Johannestag, als wahrscheinliches Taufdatum des zweitältesten Sohns von Friele Gensfleisch und seiner zweiten Frau Else Wirich gilt, so ist das Geburtsjahr Gutenbergs (wie wir ihn im Folgenden, um Konfusion zu vermeiden, durchgängig nennen wollen) unbekannt. 1900 einigte man sich weitgehend, aber ohne wirkliche Evidenz auf das Jahr 1400; vor allem, um den vermeintlichen 500. Geburtstag des großen Sohnes der Stadt Mainz in jenem Jahr und passend zur bald darauf erfolgenden Eröffnung des ihm gewidmeten Museums zu feiern. Er kann das Licht der Welt freilich genauso gut 1397 oder 1399 oder 1404 erblickt haben. Seine erste urkundliche Erwähnung, in einer Erbschaftsangelegenheit, datiert aus dem Jahr 1420. Da er darin als volljährig bezeichnet wird, was man nach damaligem Usus mit 15 Jahren war, ist das Jahr 1405 somit das spätestmögliche Geburtsjahr.
Angesichts des gehobenen sozialen Status seiner Familie hat Johannes/Henne mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Lateinschule besucht; das Beherrschen der klassischen Sprache war eine Grundvoraussetzung für seine spätere berühmteste Schöpfung, die Gutenberg-Bibel. Ungestört war die Kindheit freilich nicht. Es kam zu einem Machtkampf zwischen den Patriziern von Mainz und den immer selbstbewusster werdenden Zünften; die Auseinandersetzungen, bei denen es unter anderem um die Steuerbefreiung der Patrizier ging, wurden vereinzelt gewalttätig. 1411 zog Friele Gensfleisch mit seiner Familie in ein rund zwanzig Kilometer entferntes und alles andere als tristes Exil: nach Eltville, das mit der kurfürstlichen Burg einer der Residenzorte der Erzbischöfe von Mainz war. Frieles Schwiegermutter (und Johannes’ Großmutter) Ennechin von Fürstenberg hatte hier ein komfortables Anwesen besessen, das sie ihrer Tochter vermacht hatte. An seiner Stelle, direkt neben der Burg, steht heute ein als Gensfleischhaus bezeichnetes historisches Gebäude, das indes aus dem Jahr 1681 stammt.
In der Epoche des vor allem von Italien ausgehenden Humanismus war der Besuch einer der in Mitteleuropa in zunehmender Zahl gegründeten Universitäten für einen Patriziersohn wie Gutenberg ein beinahe logischer Schritt, um eine nach dem Stand der Zeit bestmögliche Bildung zu erhalten. Obwohl nicht gerade in räumlicher Nähe zu Mainz gelegen, gehörte die Stadt Erfurt auf der so oft und berechtigterweise als Fleckenteppich bezeichneten Karte der deutschen Kleinstaaterei zu den Besitzungen des Mainzer Erzbischofs, einem der mächtigsten der sieben Kurfürsten. So machte ein Studium an der dortigen, ganz neuen – und 1392 eröffneten – Universität Sinn. Die Biografen des Johannes Gutenberg müssen ihre Erzählungen auf sehr wenige greifbare Quellen stützen (weswegen Bücher über den Erfinder gern mit allerlei Exkursen in das Spätmittelalter im Allgemeinen oder mit Details zu Drucktechniken gewürzt sind) und jene, die es gibt, werden verschiedentlich großzügig interpretiert. An der Universität Erfurt hat sich eine Matrikel vom Sommersemester 1418 erhalten, auf dem ein »Johannes de alta villa« registriert ist. Die Ortsbezeichnung deutet auf Eltville und die Beantwortung der Frage, wieviele Johannesse aus gutem Hause jene kleine Stadt wohl zum Studium in Erfurt verlassen haben könnten, macht es relativ wahrscheinlich, dass es sich bei dem Studiosus tatsächlich um Gutenberg handelt.
So sehr Vieles auf dem Lebensweg Gutenbergs spekulativ bleibt, so vermögen seine Biografen doch oft recht überzeugend aus dem Wenigen, das greifbar ist, ein schemenhaftes Bild zu zeichnen wie Klaus-Rüdiger Mai in seiner grafisch so schön illustrierten Darstellung. So könnten während Gutenbergs Zeit in Erfurt die Kontakte mit dem für immer mit seinem Namen verbundenen Medium in der Tat ausgesehen haben: »Leider lässt sich nicht erschließen, ob Henne zur Laden die Bibliothek genutzt und welche Bücher er gegebenenfalls gelesen hat. Allerdings sollte man sich wohl keine übertrieben großen Vorstellungen davon machen, weil allein das Studium selbst, die Vorlesungen und Übungen genügend Zeit kosteten. Man musste schon ein besonders eifriger Student sein, um nach dem Studienalltag auch noch Lektüre in der Bibliothek zu treiben. Wirft man einen Blick auf den weiteren Lebensweg, so gewinnt man nicht den Eindruck, dass er ein starkes Interesse an vertiefenden Studien und an der Theorie besaß, sondern dass er über einen sehr praktischen Verstand verfügte, der etwas in Bewegung setzen, Geschäfte machen und Unternehmen gründen wollte.«[2]
Nach dem – vermuteten – Studium klafft eine große Lücke in der uns bekannten Vita des Johannes Gutenberg. Aus zwei Dokumenten der Jahre 1429 und 1430 geht hervor, dass er sich nicht in Mainz aufhielt. Knapp fünf Jahre später wurde sein Aufenthalt in Straßburg dokumentiert. Möglicherweise war er in jenen Jahren auf Wanderschaft, wahrscheinlich als Kaufmann und auch Handwerker; es finden sich Indizien für eine mögliche Ausbildung als Goldschmied und Edelsteinpolierer. Man vermutet in ihm einen wachen Unternehmergeist, der sich mit einem hohen Interesse an technischen Innovationen, an Herstellungsprozessen und an hochspezialisierter Handwerkerkunst verbindet. Zu den Schauplätzen, die er bereist haben könnte, zählt auch das an der Schnittstelle von Handelswegen und sich von Italien gen Norden ausbreitenden geistigen Strömungen gelegene Basel. Es war ein Umschlagplatz für das teure Kulturgut des Buches und eine Hochburg der oft mühseligen Reproduktion von Schriften: »Mit den Humanisten entstand eine neue Öffentlichkeit und deren Medium war der geschriebene Text, das Buch. Wenn Johannes Gutenberg Basel in jenen Jahren besucht hat, dann hat er diesen Aufbruch und das damit verbundene Bedürfnis nach Büchern hautnah erlebt. Es ist kein Zufall, dass die ersten deutschen Humanisten, die in der Geschichte greifbar sind, Männer aus Gutenbergs Generation sind. Und einer der ersten ist mit Sicherheit Nikolaus von Kues.«[3]
Nikolaus von Kues, annähernd im gleichen Alter wie Gutenberg (Kues wurde 1401 geboren), war ein vielseitig gebildeter Kirchenmann, Philosoph und Naturforscher, der es zum Kardinal und zum päpstlichen Legaten bringen sollte. Wahrscheinlich sind er und Gutenberg sich um 1434, möglicherweise auch früher begegnet. Als Gesandter der Kurie in Konstantinopel soll Kues vom Gebrauch beweglicher Metallzeichen in Ostasien gehört haben, wie den kleinen, mehrere Schriftzeichen tragenden Typen, die in Korea in Gebrauch waren und nach Bestreichen mit einem Farbstoff zu Druckzwecken benutzt werden konnten. Von dieser Technik aus einem unendlich weit entfernten Weltteil könnte – wieder einmal gibt es keine Gewissheit – Nikolaus von Kues, der längere Zeit in zwei Lebensstationen Gutenbergs, nämlich sowohl in Mainz wie in Straßburg, tätig war, dem nach einer gewinnbringenden Aufgabe Suchenden berichtet haben.
In Straßburg, mit seinen geschätzt etwa 25 000 Einwohnern jener Zeit eine reiche und kosmopolitische Metropole, war Gutenberg offenbar längere Zeit ansässig, ohne das Bürgerrecht zu erwerben. Einen schlaglichtartigen Hinweis auf den Privatmann Gutenberg liefert ein Dokument, in welchem nach der Interpretation der Quellenforscher eine Dame aus dem gehobenen Bürgertum der elsässischen Metropole, Ennelin zu der Iserin Thüre, gegen Gutenberg wegen der Nichteinhaltung eines Heiratsversprechens klagt. »Dieser höchst knappe Hinweis«, so urteilt Stephan Füssel, langjähriger Inhaber des Gutenberg-Lehrstuhls für Buchwissenschaften an der Universität Mainz, »berechtigt weder zu Spekulationen über seinen Charakter noch über seinen Familienstand in den nächsten Jahrzehnten. Dennoch hat gerade diese Notiz immer wieder Anlass zu märchenhaften Auslegungen und zu romantischen Szenen geboten.«[4] Dafür, dass Gutenberg später heiratete oder eine Familie gründete, gibt es in den Quellen keinen Anhaltspunkt.
Durch mehrere Leibrenten finanziell gut situiert und, wie seine Rolle in einigen dokumentierten Rechtsstreitigkeiten zu unterstreichen scheint, mit einem wachen Auge für Bilanzen und Profit ausgestattet, wandte sich Gutenberg gegen Ende der 1430er Jahre zusammen mit Geschäftspartnern einem unternehmerischen Projekt zu, das reichlich Gewinn versprach. Solcher winkte immer wieder, wenn sich die Gläubigkeit – zwischen bibelfestem Glauben und Aberglauben fluktuierend – der Zeitgenossen und deren Faszination mit Reliquien und Wundern ausnutzen ließ. Die Menschen glaubten, dass von Reliquien heilende oder seligmachende Kräfte ausgingen. In die Kirchen, in welchen derartige Exponate lagen, zu strömen und diese zu berühren, war das Ziel von Wallfahrern. Die Kirche verdiente tüchtig mit, musste aber befürchten, dass die Stücke durch tausendfachen direkten Kontakt mit den Händen der Gläubigen (die damals nur sehr selten gewaschen wurden) Schaden nahmen. Also stellte man sie nur noch in bestimmten definierten Zeitabständen und hinter Schutzvorrichtungen aus, an denen die Pilger ergriffen vorbeidefilierten.
Die Stadt Aachen hatte in ihrem Dom vier besonders eindrucksvolle Reliquien zu bieten, die alle sieben Jahre gezeigt wurden. Sie zogen Zehntausende während der Sommermonate in die Residenzstadt Karls des Großen; in den Gassen rund um das imposante Gotteshaus drängten sich die Menschen und warteten darauf, eintreten und die Reliquien bewundern zu dürfen: das Gewand Marias, die Windeln Christi, das vom Heiland während der Kreuzigung getragene Lendentuch und das Tuch, in dem der Kopf Johannes des Täufers nach seiner Enthauptung aufbewahrt worden war. Die Gläubigen wussten sich angesichts der Tatsache, dass ein direkter Kontakt mit diesen Kostbarkeiten nicht mehr möglich war, zu helfen. Sie brachten kleine Spiegel mit, durch die man auch aus einer der hinteren Reihen in der Menge einen optischen Kontakt mit den Reliquien herstellen und deren wundersame Strahlung man dank der Konvexität des kleinen Spiegels auf das eigene Antlitz reflektieren lassen konnte. So wurde man auch ohne Jesu Windeln betastet zu haben der göttlichen Gnade dennoch teilhaftig.
In die Großproduktion solcher Spiegel stiegen Gutenberg und seine Geschäftspartner ein. Möglicherweise hatte er bei Geschäften mit metallverarbeitenden Handwerkern eine Vorstellung davon bekommen, wie man durch Arbeitsteilung, Subspezialisierung und mechanische Vervielfachung eine Ware in großer Stückzahl herstellen kann – mit Kosten, die umso mehr pro Stück sinken, je höher deren Gesamtzahl wird. Gutenberg und Partner stellten die Spiegel aus einer Blei-Zinn-Legierung in einem Vorläufer industrieller Massenfertigung in großer Zahl her. Wie viele es waren, ist uns nicht bekannt – wohl aber, dass die Objekte länger gelagert werden mussten als von Gutenberg zunächst geplant. Er hatte für die Wallfahrt nach Aachen 1439 geplant, doch das Großereignis fand erst im darauffolgenden Jahr statt. Als Gründe für den kleinen unternehmerischen Lapsus werden in der Literatur sowohl ein Irrtum Gutenbergs als auch der Ausbruch einer Pestepidemie angegeben, wegen der das Großereignis auf 1440 verlegt werden musste. Für Letzteres spricht, dass sein Mitarbeiter Andreas Dritzehn zu Weihnachten 1438 an der Seuche starb, die zwischen 1348 und 1720 immer wieder Mitteleuropa heimsuchte[5] und als eine wahre Geißel der Menschheit wie von Albrecht Dürer als einer der Apokalyptischen Reiter betrachtet wurde.
Gutenberg und seinen Ko-Investoren schadete das kleine kalendarische Missgeschick nicht, denn Spiegel aus Metalllegierungen lassen sich gut lagern und sie ließen sich auch ein Jahr später noch gut an den Mann beziehungsweise an die Gläubigen bringen. Man kann davon ausgehen, dass er das Geschäft persönlich überwachte und einige Wochen in Aachen verbrachte. Seines modernen Biografen Erzählkunst lässt die Epoche und ihre Werte in so eindringlicher Weise lebendig werden, dass hier abermals ein (leicht gekürztes) Zitat erlaubt sei, um den Leser mit ins Jahr 1440 zu nehmen. Von Gutenberg und den an manchen Tagen die Zahl von geschätzten 20 000 erreichenden Pilgern »wurden die Reliquien betrachtet, das Leinentuch mit dem blutigen Gesichtsabdruck Johannes des Täufers nach der Enthauptung und schließlich das Lendentuch, das Jesus auf dem Kreuzweg getragen hatte. Und bei jeder Zeigung wiederholte sich das Rufen der Menge, das Kyrieeleison, die Gebete, das Beben, nur jedes Mal noch stärker. Nachdem die Heiligtumszeigung geendet hatte, zerstreute sich die Menge, wobei ›es nicht nur in der Kirche, sondern auch vor den Stadttoren und in den Straßen zu einem so ungeheuerlichen Gedränge kam, dass man es mit der Angst bekam.‹ Gutenberg wird es nicht anders als dem frommen Metzger Vigneulles aus Metz ergangen sein, und wie dieser dürfte auch er die allerdings beschwerliche und gefährliche Gelegenheit genutzt haben, im Münster den Sarkophag Karls des Großen, der hinter dem Hochaltar stand, zu besichtigen. Vielleicht zog es ihn auch in das Corneliusmünster und natürlich nach Köln, um dort die Reliquien der Heiligen Drei Könige und [der heiligen] Ursulas und ihrer 11 000 Jungfrauen zu besuchen [die sterblichen Überreste der vermeintlichen Jungfrauen waren in Wirklichkeit ein Massengrab aus römischer Zeit]. Außerdem erwarteten den Reliquiensüchtigen in Köln noch Haare der Jungfrau Maria, der Pilgerstab des heiligen Petrus, ein Arm des heiligen Simon, ein Arm des heiligen Remigius, die Schulter des heiligen Laurentius ›mit etwas Blut und Fleisch‹, eine Schulter des heiligen Christopherus, ein Finger der heiligen Anna, ein Bein eines unschuldigen Kindes, der vollkommen erhaltene Leichnam des Albertus Magnus. Mit reichlich Geld und reichlicherem Heil und Segen im Gepäck kehrte Johannes Gutenberg 1440 nach Straßburg zurück und begann das geheimnisvolle Werk.«[6]
Ob es sich um den Buchdruck oder ein anderes Unternehmen handelte, muss ebenso offen bleiben wie die genaue Chronologie der großen Erfindung. Dass sich mit dem Glauben der Menschen Geld, sogar viel Geld verdienen ließ, war Gutenberg spätestens seit Aachen klar. Und im Zentrum des Glaubens stand die Schrift, die Bibel, die es nur auf Latein gab und die den Menschen zu erklären Aufgabe der katholischen Kirche sowie Basis ihrer Macht und ihres Reichtums war.
Der Prozess, der Gutenbergs Erfindung hervorbrachte, zog sich über mehrere Jahre hin und begann während seiner Zeit in Straßburg. »Erfindung« trifft es nicht ganz – Gutenberg entwickelte ein ganzes System mit mehreren neuen oder deutlich verbesserten Komponenten. Zur Herstellung der beweglichen Lettern entwickelte er – zusammen mit einem kleinen Team von Spezialisten, die er ausbildete und beschäftigte – ein Handgießinstrument, mit dem er fein gestaltete Buchstaben und andere Zeichen aus einer Zinn-Blei-Legierung mit Zusatz von etwas das Metall festigenden Antimon herstellen konnte. Die Lettern wurden in identischer Länge hergestellt und in Setzkästen sortiert. In einem Winkelhaken wurden die Lettern zu Zeilen angeordnet, zwischen den einzelnen Zeichen wurde sogenanntes Blindmaterial eingefügt, das nicht zum Druck beitrug und einen gleichmäßigen Abstand zwischen Buchstaben und Zeilen ermöglichte.
Der Setzkasten wurde wie die Druckerpresse über die nächsten Jahrhunderte zum unverzichtbaren Einrichtungsgegenstand in jeder Druckerei. Die Presse, das zentrale Instrument des Druckvorgangs, entwickelte Gutenberg aus den existierenden, unter anderem zur Herstellung von Medaillen, aber auch von Papier benutzten Spindelpressen weiter. Unterhalb der Presse befand sich ein beweglicher Karren, der seitlich aufklappbar war und durch den in relativ schneller und unkomplizierter Abfolge neue Bögen eingelegt und, vom Druck feucht, vorsichtig wieder entfernt werden konnten.
Auch die Druckerfarbe und die Technik, diese auf die Lettern aufzutragen, geht ganz oder größtenteils auf Gutenberg zurück. Er experimentierte mit verschiedenen Mischungen; vielfach zum Einsatz kam eine primär aus Leinöl, Ruß und Eiweiß bestehende Mixtur. Aufgetragen wurde die Farbe mit zwei vom Drucker simultan eingesetzten Druckerballen, die aus Leder (vielfach aus Hundeleder, was ein unschönes Bild vom Umgang des Menschen mit seinem sogenannten besten Freund in jener Epoche vermittelt) bestanden und mit Wolle oder Pferdehaar gefüllt waren. Schließlich war Gutenberg auch in die Papierherstellung involviert. Diese vor allem aus der islamischen Welt stammende Technologie hatte im Spätmittelalter zunehmend in Europa Fuß gefasst. Die erste Papiermühle war 1390 in Nürnberg gegründet wurden; zu Gutenbergs aktiver Zeit entstanden weitere derartige Betriebe. Gutenberg lag es erkennbar am Herzen, nur Papier von höchster Qualität für sein berühmtestes Werk einzusetzen. Diesem hohen Anspruch ist es zu verdanken, dass die Seiten der erhaltenen Gutenberg-Bibeln (49 Exemplare, nicht alle vollständig, sind bekannt) fast wie neu wirken – mehr als ein halbes Jahrtausend später.
Die Perfektionierung dieses Systems Gutenbergs, die Anwerbung geeigneter Mitarbeiter, der Bezug der notwendigen Materialien und vor allem die Akquirierung von Investoren, die sich bei seinem Projekt engagierten, das – vor allem, seit ihm der Druck der Bibel und damit etwas nie Dagewesenes vorschwebte – höchst kostenintensiv zu werden versprach, nahm einige Jahre in Anspruch. Dokumente aus seiner Straßburger Zeit deuten darauf hin, dass Gutenberg eine Presse erwarb. Im März 1444 zahlte er zum letzten Mal eine Weinsteuer in Straßburg. Dann verliert sich für vier Jahre seine Spur.
Ab Herbst 1448 ist sein erneuter Aufenthalt in seiner Heimatstadt Mainz nachweisbar. Hier betrieb er sein Projekt und ging eine geschäftliche Verbindung mit seinem wichtigsten Partner und Investor ein. Es war der wohlhabende Kaufmann Johannes Fust, der in manchen Gutenberg-Biografien in die Rolle des Bösewichts gerät. Gutenberg konnte Fust überzeugen, ihm für sein Unternehmen die beträchtliche Summe von 800 Gulden, was in etwa dem Wert von acht Häusern entsprach, zu einem Zinssatz von sechs Prozent zu leihen. Gutenbergs Investitionen waren enorm, denn schon einige Zeit später musste er bei Fust um weitere 800 Gulden nachsuchen. Die Überzeugungskraft des Innovators muss beträchtlich gewesen sein, denn Fust stellte ihm erneut diese Summe zur Verfügung – diesmal offenbar als ein Investment Fusts und, wie es im späteren Rechtsstreit der beiden hieß, für ein »Werck der bucher«.
Die Formulierung dürfte ein Codewort für den Druck der Bibel gewesen sein, den man aus guten Gründen so geheim wie möglich halten musste. Zum einen gab es Geschäftsleute und Kunsthandwerker, die durch Kenntnisse des Prozesses hätten angeregt werden können, selbst bewegliche Lettern zu entwickeln. Der im niederländischen Haarlem mit einem Denkmal geehrte Laurens Coster beispielsweise soll angeblich zur selben Zeit wie Gutenberg die Buchdruckerkunst erfunden haben, was heute als Humbug gilt. Zum anderen konnten sich Gutenberg, Fust und all ihre Mitstreiter nicht sicher sein, wie die Mutter Kirche reagieren würde, wenn plötzlich zwar nicht jedermann, aber doch Laien, die über einige finanzielle Mittel verfügten, sich in den Besitz einer Bibel bringen und diese studieren konnten. Bislang waren sie fast exklusives Kirchengut und in manchen Gotteshäusern mit Ketten gegen Diebstahl gesichert. Lateinkenntnisse vorausgesetzt, konnten nun Bürger den Text der Bibel verinnerlichen, ohne sich auf die Interpretationen des Wortes durch die Prediger, Bischöfe, Kardinäle und den Heiligen Vater verlassen zu müssen. Gänzlich furchterregend mochte manchen kirchlichen Würdenträgern der Gedanke erschienen sein, dass die Bibel gar ins Deutsche – und in andere moderne Sprachen – übersetzt werden könnte, was die Bedeutung und damit die Macht des Klerus noch weiter geschmälert hätte. Dementsprechend experimentierte Gutenberg zunächst mit kleinen Druckerzeugnissen. Möglicherweise war ein sich an das sehr begrenzte weibliche Lesepublikum richtende Schriftstück, die sogenannte Sibyllinische Weissagung, ein solch experimentelles Produkt; der ungleichmäßige Druck, die unscharfen Typenränder und ein Schriftbild, das keine durchgehenden Linien zeigt, sprechen für ein Versuchsstadium. Zu diesen frühen Produkten aus Gutenbergs Werkstätten gehörten auch Schriften, deren Verbreitung der Kirche höchst wohlgefällig war: Ablassbriefe, auf denen bestätigt wurde, dass sich der Käufer bzw. der Gläubige mit seinem Obolus von seinen Sünden ganz oder teilweise hatte freikaufen können. Es galt das Motto: »Wenn der Taler im Kasten klingt, deine Seele sich in den Himmel schwingt.«
Für den Druck der Bibel benutzten Gutenberg und seine Mitarbeiter 290 verschiedene Typen; die Gesamtzahl der Lettern, die er an seinen Produktionsstätten zur Verfügung hatte, wird von Mai auf knapp 47 000, von Füssel auf 60 000 und nach anderen Berechnungen auf mehr als 100 000 geschätzt. Die alte Kunst der Buchmalerei wurde beibehalten, wenn auch in reduziertem Umfang. Der Druck war schwarz, hinzugefügt wurden per Hand einzelne Großbuchstaben zu Beginn eines Kapitels und einzelne herausgehobene Zeilen in Rot. Jede der Bibeln wurde mit kunstvollen Malereien versehen, die jedes Exemplar zu einem Unikat machten. Gutenberg war ein Perfektionist. Er schuf mit der Urform des gedruckten Buches, seiner Bibel, ein Werk, das an Kunstfertigkeit und Ästhetik in den folgenden mehr als 575 Jahren des Buchdrucks kaum jemals erreicht, geschweige denn übertroffen wurde.
Für seine klassische Schöpfung, die 42-zeilige Bibel (B 42) benutzte Gutenberg 290 verschiedene Schriftzeichen: 47 Großbuchstaben, 63 Kleinbuchstaben, 92 Abkürzungen darstellende Zeichen, 83 sogenannte Ligaturen (Doppelbuchstaben wie fi oder œ) und fünf verschiedene Kommata. Wenn man annimmt, dass mit dem genannten großen Vorrat an Lettern mindestens zwölf Mitarbeiter sechs Pressen bedienten, wären für die 180 Exemplare der ersten Gutenberg-Bibel mit 1282 Seiten mehr als 230 000 Aktionen mit den Pressen notwendig gewesen. Buchwissenschaftler wie Füssel haben daraus mindestens 330 Arbeitstage für die in Gutenbergs Werkstätten tätigen Mitarbeiter errechnet – in einem Jahreslauf, der angesichts der heute kaum vorstellbaren Vielzahl kirchlicher Feiertage nur rund 200 Werktage hatte. Dazu dürfte es reichlich Fehldrucke und – wovon man mit Selbstverständlichkeit ausgehen kann – Rückschläge und Probleme mit einer neuen Technik gegeben haben. Die Wissenschaftler gehen für diese Auflage von einer Produktionsdauer von etwa drei Jahren aus. Doch selbst dies war gegenüber dem bisherigen Herstellungsprozess einer Bibel eine bahnbrechende Neuerung: »In drei Jahren hatte bisher ein Schreiber eine einzige Vollbibel abgeschrieben, nun konnten in derselben Zeit 180 Exemplare hergestellt werden, etwa 40 auf Pergament und 140 auf Papier.«[7]
Die Entstehungszeit der Bibel dürfte sich über die Jahre 1452 bis 1454 erstreckt haben. In Fachkreisen wurden erste Informationen mit großem Interesse aufgenommen, und sobald er vom Gelingen des Werkes überzeugt war, betrieb Gutenberg offenbar energisch und erfolgreich Marketing, hoffte er doch, namhafte Geistliche von seiner Vision einer Bibel, die mehr Gläubigen als zuvor zugänglich war, zu überzeugen. Der Humanist, Geistliche und spätere Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini, ist möglicherweise Gutenberg auf der Frankfurter Messe im Herbst 1454 begegnet und hat dabei Proben seines Werkes gesehen. Einige Monate später schrieb Piccolomini an einen spanischen Kardinal: »Über jenen zu Frankfurt gesehenen erstaunlichen Mann [vir mirabilis] ist mir nichts Falsches geschrieben worden. Vollständige Bibeln habe ich nicht gesehen, vielmehr einige Quinternen [fünf zusammengelegte und bedruckte Bögen] mit verschiedenen Büchern [im Sinne von: Büchern/Kapiteln der Bibel] in höchst sauberer und korrekter Schrift ausgeführt; Deine Gnaden würden sie mühelos und ohne Brille lesen können. Von mehreren Gewährsmännern erfuhr ich, dass 158 Bände fertig gestellt seien; einige versicherten sogar, es handle sich um 180. Über die Zahl bin ich nicht ganz sicher; an der Vollendung der Bände zweifle ich nicht, wenn man diesen Glauben schenken darf. Hätte ich Deinen Wunsch gekannt, hätte ich ohne Zweifel einen Band gekauft. Einige Quinternen sind zum Kaiser [Friedrich III., in dessen Dienst Piccolomini zu jener Zeit stand] gebracht worden. Ich werde versuchen, wenn es sich machen lässt, eine noch käufliche Bibel hierherschaffen zu lassen und sie für Dich zu bezahlen. Ich fürchte aber, es wird nicht gehen, sowohl wegen der langen Wegstrecke als weil, wie man berichtet, noch vor Vollendung der Bände es bereitstehende Käufer gegeben habe.«[8]
Diese Zeugenaussage belegt zweierlei: dass die gedruckte Bibel als etwas Sensationelles wahrgenommen wurde und auch, dass sie von Anfang an ein kommerzieller Erfolg war. Gutenberg konnte diesen indes kaum genießen. Es kam zu Rechtstreitigkeiten mit Fust, dem Gutenberg das Darlehen von 800 Gulden nicht zurückzahlen konnte. Im sogenannten Helmasperger’schen Notariatsinstrument vom 6. November 1455 sind die Streitpunkte dokumentiert; Gutenberg musste an Fust eine Werkstatt und die noch nicht ausgelieferten Bibeln abtreten. Darüber hinaus verließ ihn sein vielleicht wertvollster Mitarbeiter, der an der Sorbonne in Paris ausgebildete Peter Schöffer. Dieser wurde zunächst der Adoptivsohn, später durch Heirat mit der wesentlich jüngeren Christina Fust der Schwiegersohn des Investors. Mit seiner Werkstatt wurde Schöffer einer der angesehensten Drucker der Epoche; sein mit einem dreifarbigen Druckstock geschaffener »Mainzer Psalter« von 1457 gilt als eines der kostbarsten Druckwerke aller Zeiten.
Gutenberg gründete in seinem Elternhaus, dem Gutenberghof, eine kleinere Druckwerkstatt, wahrscheinlich mit dem Juristen Konrad Humery als Geschäftspartner. Eine Reihe von Druckerzeugnissen werden seiner Werkstatt mit unterschiedlichem Maß von Restzweifeln zugesprochen, wie das in mehreren Auflagen, darunter einer noch zu Gutenbergs Lebzeiten in Mainz (1460) gedruckten, erschienene Catholicon, ein lateinisches Wörterbuch, das bei der – im Sinne der Mutter Kirche – korrekten Auslegung der Bibel helfen sollte. Das Potenzial der neuen Technik jenseits der Religion belegen andere frühe und mit Gutenberg assoziierte Druckschriften wie astronomische Kalender und Laxierkalender; letztere stellten eine Form medizinischer Ratgeber dar, in denen die günstigsten Tage zum Aderlass und zur Verabreichung von Laxantien (Abführmitteln) gelistet waren.
Er lebte nicht im Überfluss, nagte aber auch nicht am Hungertuch. Sein Landesherr, Adolf von Nassau-Wiesbaden-Idstein, ab 1461 Kurfürst und Erzbischof von Mainz, ernannte ihn im Januar 1465 zum Hofedelmann, was eine generöse Ausstattung mit Lebensmitteln (vornehmlich Korn und Wein) und einem den Status anzeigenden pelzbesetzten Mantel bedeutete. Er konnte diese Gaben nicht sehr lange genießen. Irgendwann im Februar 1468 starb Johannes Gutenberg. Ob er ahnen konnte, wie sehr er die Welt verändert hatte?
Noch in seinem, dem fünfzehnten Jahrhundert wurden fast überall in Europa (die islamische Welt widersetzte sich mehrere Jahrhunderte lang der Einführung des ein breites Lesepublikum schaffenden Buchdrucks) entstanden Druckwerkstätten. Das Netz der neuen Kunst zog sich von Valencia (1474) und Neapel (1470) im Süden bis Stockholm (1483) im Norden, von Westminster (ca. 1476) und London (1480) im Westen bis nach Krakau (1475) und Buda (1481) im Osten.[9] Vor allem im deutschen Sprachraum entstanden mehrere Dutzend Druckereien, dort ausgebildete Drucker sind in rund 50 europäischen Städten nachweisbar, wo sie zur Ausbreitung der Technik entscheidend beitrugen.[10]
Neben Büchern wurden Handschriften und Flugschriften, Pamphlete und Träger von Nachrichten gedruckt – meist Einblattdrucke mit Neuigkeiten, lange bevor sie in regelmäßigen Abständen und unter der Bezeichnung »Aviso« oder »Zeitung« bekannt wurden. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung erlernte das Lesen, um am neuen Fluss von Informationen teilhaben zu können. Inhaltlich gingen die Druckschriften bald weit über religiöse Themen, die noch Gutenbergs Wirken dominiert hatten, hinaus. Sie wurden weltlich im Sinne von: die Welt beschreibend. So erfuhren die Menschen mit bislang nicht gekannter Unmittelbarkeit von Zügen der Pest und der Sichtung von Kometen sowie ab 1500 von den (aus europäischer Perspektive) neuen Welten im fernen Westen, jenseits des Ozeans.
Das alles bedeutet nicht, dass der Glaube und der Inhalt der Bibel in einem Diskurs, der zunehmend das Prädikat »öffentlich« verdient, ins Hintertreffen gerieten. Den Wissenshunger nach dem Antlitz der Welt, in diesem Fall nach den Ansichten der bedeutendsten Städte, zu stillen und gleichzeitig die Geschichte der Menschheit in enger Anlehnung an die Heilige Schrift, von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, zu erzählen suchte noch kurz vor Ende des Gutenberg’schen Jahrhunderts das nach der Bibel vielleicht berühmteste Druckerzeugnis, dessen Erscheinungsdatum mit einer »14« beginnt. Es war die 1493 in Nürnberg erschienen »Weltchronik« des Hartman Schedel.
Ein stetiger Begleiter des gedruckten Wortes war von Anbeginn das Bestreben der Autoritäten, seine Freiheit einzugrenzen, seine Wirkung im eigenen Sinne zu leiten. So mahnte Papst Leo X. in seiner Bulle Inter sollicitudines die kirchliche Oberhoheit über das gedruckte Schrifttum an: »Darum haben Wir – damit nicht das, was zum Ruhme Gottes, zur Vermehrung des Glaubens und zur Verbreitung edler Bildung sich als heilsam erwiesen hat, ins Gegenteil verkehrt werde und dem Heil der Christgläubigen Schaden verursachte – es für angezeigt halten, Unsere Aufsicht über den Druck von Büchern auszuüben, damit nicht in Zukunft Dornen mit dem guten Samen zusammen herauswachsen oder Gifte sich mit Arzneien vermischen.«[11] Gegeben zu Rom am 3. Mai 1515. Zwei Jahre später begann die Reformation, die ohne Druckschriften kaum vorstellbar ist.
Energie I – Und es ward Licht
2Thomas Alva Edison hatte am Ende seines schaffensreichen Lebens mehr als eintausend Patente unter seinem Namen – seine wichtigste Erfindung dürfte die Glühbirne gewesen sein.
Versetzen wir uns in die Situation eines jungen Mannes, der von Gutenbergs Unternehmergeist und der Geschäftigkeit seiner Werkstatt gehört hat und davon träumt, bei ihm in die Lehre gehen zu dürfen. Also schnürt der Adlatus in spe, nennen wir ihn Cornelius, sein Bündel mit wenigen Habseligkeiten und begibt sich von seinem Heimatdorf im Hunsrück auf die Reise in die große Stadt Mainz. »Reisen« bedeutet – wie später im Kapitel »Unter Dampf« angesprochen – um die Mitte des 15. Jahrhunderts für die meisten jener Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – den heimischen Anger oder den Heimatort verlassen müssen: zu Fuß gehen. Ein Pferd besitzen nur die Wohlhabenden; eine Kutsche gar und vielleicht mehrere dieser Tiere, um sie zu ziehen, nur die begütertsten Adligen, die Kirchenfürsten und, vornehmlich in den Städten, einige Vertreter der auf die Gesamtbevölkerung im deutschen Sprachraum bezogen sehr dünnen Oberschicht aus prosperierenden Kaufleuten. Und einige kühne Unternehmer in dieser Phase des Frühkapitalismus – wie Gutenberg.
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