Wie Tiere fühlen - Per Jensen - E-Book

Wie Tiere fühlen E-Book

Per Jensen

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Beschreibung

Haben Tiere ein Ich-Bewusstsein? Besitzen sie ein Erinnerungsvermögen? Lieben sie ihre Kinder? Wie empfinden sie Freude oder Schmerz? Allen diesen Fragen geht der renommierte Ethologie-Professor Per Jensen auf den Grund und lässt damit seine Leser ein Gespür für Tiere entwickeln. Dabei richtet er sich nicht nur an Tierfreunde, sondern an alle, die eine gesellschaftliche Verantwortung tragen möchten. Denn: Respekt für Tiere gehört dazu!

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Per Jensen

WieTiere fühlen

… und warum wir mitunseren Nutztierenrespektvoll umgehen müssen

FOTOGRAFIE: LINDA PRIEDITIS

INHALT

VORWORT

01.EIN GESPÜR FÜR TIERE

02.ZU BESUCH IN DER TIERWELT

03.MIT DEN TIEREN IM GESPRÄCH

04.WER BIST DU, WER BIN ICH?

05.MEINE GEFÜHLE UND ICH

06.WIR LIEBEN UNSERE KLEINEN

07.JEDER IST ANDERS

08.DIE FREUDE AM LERNEN

09.UNTER DER OBERFLÄCHE

10.TOD IM TOPF

REFERENZEN

VORWORT

Fast jeder von uns hat ein natürliches Gespür für Tiere und ihre Empfindungen. Das kommt daher, dass Tiere seit Menschengedenken einen lebenswichtigen Anteil an der menschlichen Existenz haben, zunächst in Form von Bedrohung oder als Beute, später dann als Haus- und Nutztiere. Das Gespür für ihre Gefühle fußt daher zu großen Teilen auf Instinkten, die über tausende von Generationen an uns weitervererbt wurden. Heute spüren wir vor allem zum Hund oder der Katze zu Hause oder zum Pferd in der Reitschule eine enge Bindung. Zu den häufigsten Tieren in unserer unmittelbaren Nähe haben dagegen nur noch wenige von uns einen Bezug. Etwa 1 % der Bevölkerung widmet sich den Millionen von Schweinen, Kühen und Hühnern, aus denen unser Essen produziert wird, der Rest von uns kann durchs Leben gehen, ohne jemals einem von ihnen in die Augen gesehen zu haben. Seit unser Kontakt mit ihnen nur noch in Form von Würstchen im Supermarkt stattfindet, schwindet unser Gespür für Nutztiere zusehends. Viele Menschen haben vielleicht noch nie einen Gedanken daran verschwendet, dass Fleisch, Milch und Eier von Geschöpfen mit ausgeprägt entwickeltem Seelenleben stammen. Welche Bedeutung hat es, wie diese in den landwirtschaftlichen Betrieben, während eines Transports und bei der Schlachtung behandelt werden? Ist es möglich, ein Tier, das man nicht kennt, voll zu respektieren und zu verstehen?

Der eine oder andere fragt sich vielleicht, ob es wirklich wichtig ist, in einer Welt, in der Millionen von Menschen Hunger leiden oder auf der Flucht sind, Energie auf die Gefühle von Tieren zu verwenden? Manchmal wird behauptet, dass Menschen, die sich für das Wohl von Tieren einsetzen, kein Interesse an ihren Mitmenschen und all dem Leid um sie herum hätten. Meiner Erfahrung nach ist es umgekehrt. Unter all den Menschen, die ich treffe und die sich hingebungsvoll um Tiere kümmern, engagiert sich eine überwältigende Mehrheit außerdem für andere Menschen. Sie spenden an Kinderhilfsorganisationen und opfern ihre Freizeit, um Geflüchteten zu helfen. Es besteht ganz einfach kein Widerspruch zwischen dem Mitgefühl mit Tieren und allgemeiner Mitmenschlichkeit. Und vielleicht ist der Unterschied zwischen dem Seelenleben der Tiere und unserem eigenen gar nicht so groß, wie man denkt. Wie sollen wir das wissen?

Früher beruhten die Gedanken, die sich Menschen über Tiere machten, auf generationenlanger Erfahrung, die bereits mit der Muttermilch aufgesogen wurde. Diese Kenntnisquelle ist größtenteils versiegt, doch glücklicherweise hat stattdessen die Wissenschaft enorme Fortschritte gemacht. Fakt ist, dass die Forschung dazu beigetragen hat, dass wir heute mehr als jemals zuvor über Gefühle, Gedanken und kognitive Eigenschaften von Tieren wissen, die nach ihrem Tod die Grundlage der meisten unserer Kochrezepte bilden. Das Buch, das Sie in Händen halten, fasst einen Teil dieser neuen und spannenden Erkenntnisse zusammen. Ich hoffe, dass dieses Wissen größeren Respekt und mehr Mitgefühl für all die Tiere, für die wir eine gemeinsame Verantwortung tragen, zur Folge haben wird. Unabhängig davon, ob Sie tagtäglich die Tiere auf einem Hof versorgen oder ob Sie diese einfach nur essen, nachdem sie geschlachtet, zerlegt und verpackt wurden, ändert es nichts daran, dass unsere gemeinsamen Beschlüsse und Vorstellungen entscheidend für ihre Lebensqualität sind. Und diese Verantwortung verpflichtet.

Ebenso wie bei früheren Büchern konnte ich auch diesmal wieder auf die unschätzbare Unterstützung von Elisabeth Fock und Maria Nilsson bei meinem schwedischen Verlag Natur & Kultur zählen. Es ist immer ein Kompliment und ein Vertrauensbeweis, ein Buch herauszugeben, und ohne all die Hilfe des Verlages wäre das nicht möglich gewesen. Die gefühlvollen und schönen Bilder von Linda Prieditis komplettieren den Text und ich bin sehr froh über unsere Zusammenarbeit. Wie immer war die mir wichtigste Diskussionspartnerin meine Lebenspartnerin Mona, ein Mensch mit unendlich großem Herzen, in dem sowohl Schweine, Kühe, Hühner und Hunde als auch Menschen aus aller Welt Platz finden.

Per Jensen

01.

EIN GESPÜR FÜR TIERE

»Hühner können gelangweilt sein, Schafe fühlen sich anderen in der Herde zugehörig und Kühe sehnen sich nach dem Kalb, das ihnen direkt nach der Geburt weggenommen wurde.«

HUHN ODER LEBENSMITTEL

LETZTENDLICH hat ein schreckliches Erlebnis zu diesem Buch geführt. Ich war etwa fünf Jahre alt und lebte mit meiner Familie im Stadtzentrum in einer engen kleinen Wohnung im dritten Stock. Ich träumte davon, Tiere haben zu dürfen, aber meine Eltern erklärten mir immer und immer wieder, wie schwierig, um nicht zu sagen, unmöglich es mit all den Bürgersteigen und asphaltierten Spielplätzen sein würde, Haustiere zu halten.

Eines Tages besuchten wir eine nahe Verwandte, die auf dem Land lebte. Dort gab es alle möglichen Tiere. Ich erinnere mich nicht gut an den Besuch selbst, daran, was wir gegessen und getrunken oder worüber wir gesprochen haben. Beinahe die gesamte Zeit verbrachte ich draußen bei den Tieren. Die Ferkel sprangen mir um die Füße, spielten und waren neugierig. Die Hühner schlenderten und stolzierten auf dem Hof umher, wie es ihnen gefiel. Ein neugieriger Schäferhund folgte mir die ganze Zeit auf Schritt und Tritt und überwachte alles, was ich tat. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel.

Der Tag verging und es wurde Zeit, die Familie in den kleinen Volkswagen zu verfrachten, um nach Hause zu fahren. Gerade als ich ins Auto steigen wollte, wandte sich mein Vater mir zu und sagte: »Geh und frag, ob wir ein Huhn mit nach Hause nehmen können.« Die Freude, die mich erfüllte, ist kaum zu beschreiben. Er hatte offenbar plötzlich seine Meinung geändert und ich sollte in unserer kleinen Wohnung ein Huhn halten dürfen!

Als ich zum Wohnhaus hinauflief, um zu fragen, sah ich bereits vor mir, wie ich das Huhn füttern und mich darum kümmern würde. Ob es möglich wäre, es so zu zähmen, dass ich mit ihm spazieren gehen konnte? Könnte es vielleicht in einer Kiste in der Küche wohnen? Es waren die unrealistischen Träume eines Fünfjährigen, aber mein Glück war vollkommen, als meine Verwandte ohne Weiteres Ja sagte.

Umso größer war der Schock, als sie gleich darauf ein großes buntes Huhn einfing und ihm ohne Pardon vor meinen Augen den Hals umdrehte. Nach einer Weile wilden Flatterns wurde es in ihren Händen ganz ruhig und bewegte sich nicht mehr. Der jetzt schlaff herunterhängende Körper wurde Papa übergeben, der sich bedankte und erklärte, wie das Huhn zu einem schönen Sonntagsessen verarbeitet werden sollte.

All das geschah in bester Absicht, weder Papa noch unsere Verwandte konnten sich vorstellen, dass ich gehofft hatte, ein Huhn als Haustier zu bekommen. Für sie war ein lebendes Huhn nichts weiter als eine noch nicht zubereitete Mahlzeit. Doch in meiner kindlichen Welt war mir noch nicht ganz aufgegangen, dass die Tiere, die wir essen, kurz zuvor noch herumgerannt sind, Schabernack getrieben, gespielt und das Leben genossen haben.

Vielleicht wurde just in diesem Moment nach einem unbewussten Plan meine spätere berufliche Laufbahn festgelegt. Als Erwachsener habe ich jahrzehntelang erforscht, wie unsere Haus- und Nutztiere denken, fühlen und sich verhalten. Ich habe die internationale Forschung verfolgt, unzählige Stunden mit Kollegen verbracht, die sich mit denselben Themen beschäftigen, und noch mehr Zeit mit den Tieren selbst. Die Wissenschaft ist oft distanziert und emotionslos, man misst Hormone, wertet genetische Varianten aus und analysiert mit aufwendigen statistischen Methoden Verhaltensmuster. Aber ich habe auch einmal 24 Stunden mit einem freilaufenden Hausschwein im Wald zugebracht, das sein ganzes Herzblut darauf verwendete, ein Nest für seine Ferkel zu bauen, die es in Kürze zur Welt bringen sollte. Hat man das gesehen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Gefühle dieses Schweins sich vielleicht gar nicht so sehr davon unterscheiden, was eine menschliche Mutter für ihr neugeborenes Kind empfindet.

Zweierlei Maß

Die meisten von uns kommen nie in Kontakt mit den Tieren, die wir essen, zumindest nicht, während sie noch am Leben sind. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es so leichtfällt, ihr Gefühlsleben und ihre Gedankenwelt kleinzureden. Etwa 1 % der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Die übrigen 99 % der Schweden besuchen selten oder nie einen Bauernhof. Wenn man einem Schwein nie näher kommt als in Form eines in Plastik verpackten Koteletts an der Kühltheke und Hühner sich ausschließlich als gefrorene Hühnchenfilets präsentieren, kann es schwierig sein, den Bezug zum lebendigen, fühlenden und denkenden Lebewesen herzustellen, das den Ursprung der Produkte bildet. Das bedeutet aber nicht, dass es den Schweden an Kontakt mit Tieren mangelt. Mehr als 800.000 Hunde, über eine Million Katzen und etwa 400.000 Pferde leben in enger Beziehung mit ihren menschlichen Familien zusammen. Hunde und Katzen schlafen in unseren Betten und diktieren unseren Alltag. Ein ansehnlicher Anteil aller Tierbesitzer wählt Wohnsitz und Auto entsprechend der Bedürfnisse der Tiere.

Wer einen Hund oder eine Katze besitzt, hegt selten Zweifel daran, dass sie Gefühle haben, die den unseren ähneln. Die Forschung bestätigt dies. Selbstverständlich empfindet das Tier Angst, Hunger, Durst und Wut ebenso wie wir, aber das Gefühlsleben der Tiere umfasst darüber hinaus noch bedeutend mehr Facetten. Ich habe bereits in mehreren Büchern, z. B. in »Der missverstandene Hund«, von zahlreichen wissenschaftlichen Studien berichtet, die u. a. zeigen, dass Hunde Empathie gegenüber Menschen fühlen können – und Eifersucht, wenn sie sich übergangen fühlen. Sie haben ein gutes Zeitgefühl und können sich relativ einfach in die Empfindungen und die Gedankenwelt anderer hineinversetzen, was sie sich zunutze machen, um z. B. hinter dem Rücken ihrer Besitzer etwas anzustellen. Ein belegtes Brot verschwindet leicht vom Tisch, wenn niemand den Hund sieht, aber er würde es niemals nehmen, wenn er wüsste, dass er beobachtet wird.

Für viele ist ein lebendiges Huhn nichts weiter als eine noch nicht zubereitete Mahlzeit. Doch es treibt auch Schabernack, spielt und genießt das Leben.

Wenn man bedenkt, wie leicht es uns fällt zu akzeptieren, dass Hund, Katze und Pferd ähnlich wie wir selbst empfinden, ist es merkwürdig, wie anders viele von uns das Schwein oder die Kuh sehen. Sie sind ja auch Säugetiere, die in Herden leben, und es gibt keinen Grund zu glauben, dass ihre Gedankenwelt und ihr Gefühlsleben sich maßgeblich von denen eines Hundes unterscheiden sollten.

Wie alles begann

Das Leben der Menschen war schon immer ganz eng mit Tieren verknüpft. 30.000 Jahre alte Höhlenzeichnungen sind die ältesten »Dokumente«, die unsere Vorväter hinterlassen haben. Sie alle zeigen ein und dasselbe Motiv: Tiere.

Sie waren eine Voraussetzung für das Überleben. Die Menschen waren Jäger und Sammler, ohne das lebenswichtige Fleisch konnte man die Familie, den Clan und die Kinder nicht versorgen. Die geschicktesten Jäger waren solche, die das Verhalten der Beutetiere am besten deuten konnten. Sie wussten, wann diese von einem Gebiet ins nächste weiterzogen, was sie am liebsten fraßen, ob sie mit anderen zusammenlebten, wann sie Junge bekamen und wie man sie am besten überlisten konnte. Unsere Vorväter wussten viel über die Gefühle der Tiere, ihre Art zu denken und zu planen und darüber, woran sie sich erinnern.

Aber das Leben auf der Erde schlug schon bald eine andere Richtung ein. Eine neue Ära naher Beziehungen zu Tieren wurde eingeläutet, als die Domestizierung – die Zähmung zu Haus- und Nutztieren – ihren Anfang nahm. Zunächst trat der Hund in unser Leben. Das geschah vor etwa 15.000 Jahren, als die Menschen einige der Wölfe zähmten, die bereits lange Zeit in der Nähe der menschlichen Behausungen gelebt hatten.

Weitere 5.000 Jahre später begann man mit dem Ackerbau, und nun waren einige andere Tiere an der Reihe, domestiziert zu werden. Die wilden Schafe, Ziegen und Schweine, die bereits rund um die neuen Anbauflächen herum lebten, wurden selbstverständliche Ziele für die frühe Zähmung. Kurz darauf kamen Rinder dazu, die Milch, Fleisch und Arbeitskraft boten.

Noch etwas später wurden hunderte von Kilometern nördlich der frühen bäuerlichen Gesellschaft an der östlichen Mittelmeerküste wilde Pferde domestiziert. Hengste mit ihrem starken Willen und ihrer Muskelkraft waren besonders schwer zu zähmen, deshalb war es wichtig, diejenigen, bei denen es geklappt hatte, überallhin mitzunehmen, wohin die Menschen zogen. Stuten waren etwas sanfter, weswegen man neue Stuten zähmen konnte, wo immer man auf sie stieß. Aus diesem Grund sind bis heute alle domestizierten Hengste weltweit Nachfahren der wenigen Exemplare, die zu Beginn gezähmt wurden, wohingegen Stuten von deutlich weitläufigerer Herkunft sind. Möglicherweise war zu Beginn die Milch der Stuten am wichtigsten, doch bald wurde das Pferd auch als vielseitige Arbeitskraft unentbehrlich.

Weiter östlich, im heutigen Nordindien, zog ein ganz anderes Tier die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich. Das schöne und bunt gefiederte Bankivahuhn, auch Rotes Dschungelhuhn genannt, legte seine Eier zwar in gut versteckte Nester, aber geschickte Jäger und Sammler entdeckten sie doch. Die Eier stellten einen wertvollen Beitrag zur Ernährung dar. Irgendwann fand man heraus, dass es relativ einfach war, sie auszubrüten, indem man sie drei Wochen lang nah am eigenen Körper warm hielt, und dass die kleinen Küken nach dem Schlüpfen einfach zu handhaben waren. Sie wurden direkt auf den Menschen geprägt, der die Eier getragen hatte, fanden ihre Nahrung selbst und ließen sich schnell in den Dörfern ansiedeln. Die Milliarden von zahmen Hühnern, die es heute gibt, stammen alle von den Nutztieren dieser frühen Eiersammler ab.

In Anbetracht dieser frühen Erfolgsgeschichte könnte man leicht dem Glauben verfallen, dass es einfach genauso weiterging, dass Art für Art zu neuen Haus- und Nutztieren wurde. Doch der Domestikationseifer nahm vor etwa 8.000 Jahren wieder ab. Die knapp tausend Säugetiere und weniger als ein Dutzend Vögel, die während dieser ersten Welle in der frühen bäuerlichen Gesellschaft domestiziert wurden, sind weitestgehend dieselben Tiere, die uns auch heute noch mit Essen und anderen nützlichen Dingen versorgen.

Später wurden nur noch vereinzelt Tierarten domestiziert – aus unterschiedlichen Gründen. Die Katze fühlte sich von den Getreidevorräten der Bauern angezogen, in denen es reichlich Mäuse und Ratten gab. Ob sie wirklich domestiziert wurde oder ob sie schlicht selbst entschied, unter Menschen zu leben, ist unklar. Größeren Einfluss auf ihre Fortpflanzung haben Menschen in der Geschichte jedenfalls nicht gehabt. Kaninchen und Fische unterschiedlicher Arten sind ebenfalls erst später dazugekommen. Im Großen und Ganzen hat letztlich nur eine geringe Anzahl von Tierarten die Reise vom Wild- zum Haus- oder Nutztier angetreten. Ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung des Menschen kann jedoch nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Nutztiere und die menschliche Zivilisation

Der amerikanische Forscher Jared Diamond hat in mehreren Büchern und Artikeln die enorme Bedeutung der Nutztierhaltung für die Entwicklung des Menschen beschrieben. Er meint, dass die Schreib- und Rechenkunst auf die Domestizierung und den Einzug der Landwirtschaft zurückzuführen ist. Dieser historische Wandel machte es notwendig, Mein und Dein, Schulden sowie Forderungen und Regeln für die Verteilung dessen, was produziert wurde, im Blick zu behalten. Für nichts davon hatte es jemals zuvor in der Epoche der Jäger und Sammler eine Notwendigkeit gegeben. Auch ein Bedarf, zu schreiben, zu rechnen und zu dokumentieren, war bis dahin nicht vorhanden gewesen. Auf den beginnenden Ackerbau folgten neue Technologie und der regelmäßige Zugang zu Nahrung brachte einen explosionsartigen Bevölkerungszuwachs mit sich.

Viele der Seuchen, die zu unterschiedlichen Zeiten massenhaft Menschen hinweggerafft und die Weltkarten neu gezeichnet haben, hatten ihren Ursprung in unseren Haus- und Nutztieren. Masern, Tuberkulose und Influenza stehen beispielhaft für ansteckende, epidemische Krankheiten mit hoher Sterblichkeitsrate. In den dicht bevölkerten neuen bäuerlichen Gesellschaften breiteten sie sich schnell und unbarmherzig aus. Wer jedoch eine Infektion überlebte, hatte eine unschlagbare Waffe in Händen: Er war immun.

Als sich später in der Geschichte die Eroberungszüge über Länder und Kontinente ausdehnten, in denen noch keine Domestizierung stattgefunden hatte, wurden die epidemischen Krankheiten zu einer unerwarteten und effektiven Kriegswaffe. Die indigenen Bevölkerungen in Südamerika, Australien und dem südlichen Afrika mussten nicht mit Schwertern und Speeren bekämpft werden. Sie steckten sich an und starben in großer Zahl an den Viren, die von den bereits immunen Eindringlingen über deren Haus- und Nutztiere mitgebracht wurden. So verbreitete sich die bäuerliche Kultur schnell über die ganze Welt.

Unser Gespür für Tiere

Die Landwirtschaft hat uns Menschen in vielerlei Hinsicht verändert, nicht nur unsere Kultur und unsere Art zu leben. Unsere biologischen Funktionen haben sich schnell auf vielfältige Weise an das Zusammenleben mit Tieren angepasst. Beispielsweise haben Menschen eine genetisch bedingte Widerstandskraft gegen viele der Krankheiten, die ich oben beschrieben habe, entwickelt. Auch Gene, die es Erwachsenen ermöglichen, Milch zu trinken und sich von einer großen Menge an Kohlenhydraten und gesättigten Fetten zu ernähren, sind nahezu weltweit verbreitet. Unser Stoffwechsel unterscheidet sich tatsächlich radikal von dem unserer Vorfahren, der Jäger und Sammler.

Sogar unser Gespür für Tiere hat sich weiterentwickelt. Die Forschung hat sich vor allem dem Zusammenspiel zwischen Mensch und Hund, unserem ältesten Haustier, gewidmet. Man ließ beispielsweise verschiedene Personen aufgezeichneten Hundegeräuschen lauschen und bat sie einzuschätzen, was der entsprechende Hund fühle. Menschen sind durchweg gut darin. Sogar kleine Kinder, die selbst keinen Hund haben, können relativ einfach unterscheiden, ob sie da einen ängstlichen, einen einsamen oder einen wütenden Hund bellen hören. Das instinktive Gespür für die Gefühle dieser Tiere scheint angeboren zu sein.

Das lässt sich einfach begründen. Die Fähigkeit, Tiere und ihre Denkweise zu verstehen, stellte einen wichtigen Faktor in der menschlichen Evolution dar. Wer diese Fähigkeit am besten beherrschte, gab seine Gene in größerem Umfang weiter als andere. Damit sind wir alle Nachkommen von Menschen, die gut mit Tieren zurechtkamen.

Tatsächlich gibt es Studien dazu, wie die Auslese von Tierkennern vonstattengegangen sein könnte. Der amerikanische Forscher Jeremy Koster hat isolierte Bevölkerungsgruppen in Nicaragua besucht, die bis heute als Jäger und Sammler leben. Sie jagen mithilfe von Hunden, die im Wald freigelassen werden und ein Beutetier aufspüren. Mit ihrem Gebell »rufen« sie die jagenden Männer herbei, die dann die Beute töten können. Ein geschickter Jäger hört am Bellen der Hunde, welche Art von Beutetier sie gefunden haben, und kann so entscheiden, ob die Anstrengung die Mühe wert ist. Als Koster untersuchte, welche Männer in den Dörfern als potenzielle Ehemänner am attraktivsten waren, war das Ergebnis eindeutig: Als Vater für ihre Kinder wünschten sich die Frauen vor allem einen geschickten Jäger, einen, der sich gut auf seine Hunde verstand.

Mit großer Wahrscheinlichkeit war dies in der gesamten Menschheitsgeschichte ähnlich. Das Verständnis dafür, wie Tiere denken und funktionieren, war eine Voraussetzung für den Nahrungserwerb, seit es Menschen gibt. Während der vergangenen 10.000 Jahre zeigte sich darin der Unterschied zwischen einem erfolgreichen und einem erfolglosen Bauern. Wer gestresste Kühe oder Schweine identifizieren konnte und zu beruhigen vermochte, wer mit Pferd oder Hund kommunizieren konnte und die Bedürfnisse des Huhns erkannte, konnte am Ende mit mehr Nahrung für seine Familie rechnen. Die Gene solcher Menschen tragen wir daher noch heute in uns.

Hat unser Essen Gefühle?

Die vergangenen Jahrzehnte haben eine Veränderung unserer Lebensweise mit sich gebracht, die in ihren Konsequenzen absolut vergleichbar mit der landwirtschaftlichen Revolution vor 10.000 Jahren ist. Für den Großteil der Bevölkerung wird das weitervererbte Gespür für Tiere in unserer modernen Gesellschaft nicht mehr täglich trainiert. Wir pflegen die Nähe zu Tieren, indem wir unsere beinahe zwei Millionen Hunde und Katzen verwöhnen und Zeit mit Reitpferden verbringen. Aber die Beziehung der meisten Menschen zu landwirtschaftlichen Nutztieren endet an der Kühltheke des Supermarktes. Dort gibt es sie bereits fertig zerteilt und abgepackt. Selten verschwendet man einen Gedanken daran, was diese Tiere auf den Höfen gefühlt, wahrgenommen und gedacht haben, bevor sie zu Nahrungsmitteln wurden.

Stellen Sie sich vor, wie einfach es wäre, wenn das Leben der Tiere aus nichts weiter als Reiz und Reaktion bestünde – ohne Gefühle und Reflexionen. Wenn Schweine, Hühner und Kühe nur Eiweiß-Umwandler ohne Denkvermögen wären. Wie einfach wäre dann die Art und Weise zu rechtfertigen, wie wir sie aufziehen und beschließen, ihnen das Leben zu nehmen, um sie zu essen.

So ist es aber nun einmal nicht. Die Forschung hat mit Nachdruck gezeigt, dass zwischen unserer eigenen Erlebniswelt und derjenigen, die wir bei Tieren finden, keine scharfe Trennlinie verläuft – und dass dies nicht nur für Hunde und Katzen gilt. Möglicherweise überlegen und planen sie weniger und nehmen in ihrer Umgebung andere Dinge wahr als wir, doch ihr grundlegendes Gefühlsleben ähnelt dem unseren sehr stark. Genau wie ein Hund empfindet ein Schwein nicht nur Hunger und Durst, sondern auch Wut und Angst. Hühner können gelangweilt sein, Schafe empfinden Zusammengehörigkeit mit anderen in der Herde und Kühe können sich nach dem Kalb sehnen, das ihnen direkt nach der Geburt weggenommen wurde.

Welche Folgen hat dies für unsere Sicht darauf, wie Nutztiere behandelt werden, ehe sie zu Lebensmitteln werden? Das ist die große moralische Frage für alle, die Nahrung zu sich nehmen. Manche entscheiden sich gegen alle Produkte tierischen Ursprungs, andere wiederum versuchen vielleicht, Fleisch zu bekommen, das von Tieren stammt, die ein erträgliches Leben hatten. Unabhängig davon, welche Schlüsse man für sich zieht, ist es wichtig, die Fakten zu kennen. Es ist niemandem gedient, wenn wir wichtige moralische Entscheidungen treffen, die auf falschen Informationen beruhen. Wer glaubt, dass Schweine nur gefühllose unverarbeitete Würstchen sind, ist im Unrecht, aber das gilt auch für diejenigen, die sich vorstellen, dass Schweine über eine ganz und gar menschliche Gedankenwelt verfügen. Deshalb ist es wichtig herauszufinden, was die Forschung über das Seelenleben der Tiere zu sagen hat.

Das billige Fleisch

Wir essen mehr Fleisch als jemals zuvor. In einem Zeitraum von 25 Jahren ist der Verbrauch um beinahe 40 % gestiegen, wir Schweden verzehren im Jahr durchschnittlich nahezu 90 Kilogramm pro Person (in Deutschland liegt der Pro-Kopf-Verzehr bei etwa 60 Kilogramm). Diese Tatsache ist natürlich unmittelbar daran gekoppelt, dass Fleisch im selben Zeitraum billiger und billiger geworden ist. Am deutlichsten ist dies an Hühnerfleisch zu sehen. Unter Berücksichtigung der Inflation kostet es heute weniger als ein Viertel seines Preises in den 60er-Jahren. Diejenigen von uns, die diese Zeit erlebt haben, erinnern sich, dass Huhn ein Luxus war, den die Familie sich vielleicht einmal im Monat leisten konnte. Heute werden die feinsten Stücke für so niedrige Preise verkauft, dass jedermann sie täglich auf den Tisch bringen kann, wenn er das möchte.

Diese dramatische Preissenkung bei Fleisch hängt mit drei wichtigen Veränderungen innerhalb der Tieraufzucht und der Nahrungsmittelproduktion zusammen. Zunächst sind da die Großbetriebe. Die Anzahl der Tiere pro Hof ist in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gestiegen, was die Kosten für Personal, Räumlichkeiten und Maschinen im Verhältnis gesenkt hat. In heutigen Schlachthühnerfarmen leben normalerweise zwischen 50.000 und 100.000 Tiere. Der Preis sinkt, aber der persönliche Kontakt mit jedem Tier geht verloren.

Die zweite große Veränderung besteht in der Spezialisierung. Vor 50 bis 60 Jahren gab es auf einem Bauernhof üblicherweise ein paar Kühe, einige Schweine, eine Schar Hühner und dazu vielleicht noch ein paar Schafe. Heute ist man nicht nur auf bloß eine einzige Tierart spezialisiert, sondern darüber hinaus normalerweise auf eine einzelne Kategorie innerhalb dieser Art. Einige halten Säue, die Ferkel werfen, während andere die Jungschweine kaufen und sie aufziehen, bis sie im Alter von etwa sechs Monaten reif zum Schlachten sind. Die Züchter von Mastschweinen haben auf ihrem Hof kein einziges ausgewachsenes Schwein. Es gibt Bauern, die Hühner zum Eierlegen halten – die Küken, die das Fleisch bringen sollen, werden allerdings von ganz anderen Landwirten aufgezogen. Die Spezialisierung ermöglicht eine weitgehende Rationalisierung von Maschinen und Platz. Breit gefächertes Wissen über verschiedene Tierarten und deren unterschiedliche Bedürfnisse ist unter den heutigen Bauern jedoch selten geworden.

Der dritte und vielleicht wichtigste Grund dafür, dass Fleisch so billig geworden ist, ist der Fortschritt innerhalb der Zucht. Durch zielgerichtete genetische Züchtung haben Aufzuchtunternehmen erreicht, dass die einzelnen Tiere im Durchschnitt doppelt so viel wie noch vor 50 Jahren produzieren. Schweine wachsen beinahe doppelt so schnell und Kühe geben beinahe doppelt so viel Milch, ohne deutlich mehr Futter zu benötigen. Sogar in dieser Hinsicht stechen Hühner heraus: Sie brauchen heute etwa 35 Tage, um von den 50 Gramm, die sie beim Schlüpfen wiegen, auf ihre zwei Kilogramm Schlachtgewicht zu kommen. Vor 50 Jahren dauerte das noch drei- bis viermal so lange.

KÜHE knüpfen oft besondere Freundschaftsbänder zu anderen Artgenossen. Sie grasen zusammen, liegen beieinander und halten sich in der Nähe des anderen auf, so viel sie können.

Das HUHN war 2004 das erste Nutztier, dessen Erbmasse vollständig erfasst wurde. Dabei fand man nicht nur heraus, dass Hühner eng mit Dinosauriern verwandt sind, sondern auch, dass sie über etwa ebenso viele Gene verfügen wie wir.

Neugeborene LÄMMER sind gut entwickelt und können ihrer Mutter direkt folgen. Während Kälber durch ihre Mütter einige Tage lang abseits der Herde versteckt werden, folgt das Lamm dem Mutterschaf überallhin.

Unter FISCHEN gibt es alle erdenklichen Varianten von Familienleben. Einige schützen ihre Brut, indem sie sie im Maul herumtragen. Bei den Seepferdchen dagegen sind es die Väter, die gebären und die Nachkommen versorgen.

Ein SCHWEIN kann zehn Jahre oder noch älter werden, wenn es ein ruhiges Leben führen darf. In der Landwirtschaft werden die Tiere, die zu Schweinefleischprodukten verarbeitet werden sollen, im Alter von sechs Monaten geschlachtet und Muttertiere werden nicht zuletzt aufgrund der Strapazen zahlreicher kurz aufeinanderfolgender Schwangerschaften selten älter als drei bis vier Jahre.

Die Tiere zahlen den Preis

Diese Entwicklung ist besorgniserregend. Unsere Nutztiere zahlen den Preis für unsere billigen Nahrungsmittel. Sogenannte produktionsbedingte Krankheiten sind unter allen Nutztierarten häufiger geworden. Bei Milchkühen sorgen Euterentzündungen und Klauenkrankheiten zunehmend für Kummer und ein nicht geringer Anteil der Hühner leidet unter Knochen- und Gelenkproblemen, die ihnen das Gehen erschweren.

Obwohl die Anzahl an Tieren auf schwedischen Bauernhöfen insgesamt im Zuge von Spezialisierung, Großbetrieben und Weiterentwicklung der Züchtungen gesunken ist, ist es doch immer noch eine ansehnliche Menge, aus der unser Essen produziert wird. Rund eineinhalb Millionen Rinder (Kühe und Kälber) und ebenso viele Schweine (Mutter- und Jungtiere) wurden im Juni 2017 im ganzen Land gezählt. Beinahe 100 Millionen Hühner werden jedes Jahr in Schweden geschlachtet, um unsere Nachfrage zu bedienen, und darüber hinaus wird eine große Anzahl für noch preisgünstigeren Konsum importiert. Man vergisst leicht, dass sich hinter diesen Zahlen Individuen mit Gefühlen und Empfindungen verbergen.

Die meisten Tiere, die für den Verzehr vorgesehen sind, haben, wenn sie ausreichend gewachsen sind, eine lange Reise vor sich. Immer weniger Schlachthöfe sind für eine immer größere Anzahl Tiere zuständig – deshalb müssen Schweine, Rinder und Hühner immer weiter transportiert werden, um getötet und in Lebensmittel verwandelt zu werden. Fast ein Drittel aller Schweine in Schweden wird in Kristianstad geschlachtet, nahezu ein Fünftel aller Rinder in Linköping. Um sie zu transportieren, legen Lastwagen voller Tiere jährlich etwa 40 Millionen Kilometer zurück – und darin sind die Transporte von Hühnern und Küken noch gar nicht enthalten.