Wie wir denken, wie wir fühlen - Antonio Damasio - E-Book

Wie wir denken, wie wir fühlen E-Book

Antonio Damasio

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Beschreibung

Was macht uns zum Menschen? Antonio Damasio schafft die Verbindung von Philosophie und Hirnforschung zu einer erstaunlichen Theorie des Bewusstseins

"Wie wir denken, wie wir fühlen" bringt Antonio Damasios Lebensthemen auf den Punkt: In glänzend geschriebenen kurzen Kapiteln führt er uns vom Beginn des Lebens auf der Erde hin zu einem umfassenden Verständnis dessen, was uns im Innersten ausmacht – Verstand, aber auch: Emotion. Was ist Bewusstsein? Kaum eine Frage rührt so sehr an den Kern des Menschseins. Seit Jahrhunderten wird sie von Philosophen gestellt, seit Neuerem bemühen sich auch die Naturwissenschaften um Antworten. Antonio Damasio, gefeierter Sachbuchautor und einer der renommiertesten Neurowissenschaftler der Welt, verbindet Erkenntnisse aus Philosophie und Hirnforschung, aus Evolutions- und Neurobiologie, aus Psychologie und KI-Forschung zu einer originellen Theorie des Bewusstseins.

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Über das Buch

Was macht uns zum Menschen? Antonio Damasio schafft die Verbindung von Philosophie und Hirnforschung zu einer erstaunlichen Theorie des Bewusstseins»Wie wir denken, wie wir fühlen« bringt Antonio Damasios Lebensthemen auf den Punkt: In glänzend geschriebenen kurzen Kapiteln führt er uns vom Beginn des Lebens auf der Erde hin zu einem umfassenden Verständnis dessen, was uns im Innersten ausmacht — Verstand, aber auch: Emotion. Was ist Bewusstsein? Kaum eine Frage rührt so sehr an den Kern des Menschseins. Seit Jahrhunderten wird sie von Philosophen gestellt, seit Neuerem bemühen sich auch die Naturwissenschaften um Antworten. Antonio Damasio, gefeierter Sachbuchautor und einer der renommiertesten Neurowissenschaftler der Welt, verbindet Erkenntnisse aus Philosophie und Hirnforschung, aus Evolutions- und Neurobiologie, aus Psychologie und KI-Forschung zu einer originellen Theorie des Bewusstseins.

Antonio Damasio

Wie wir denken, wie wir fühlen

Die Ursprünge unseres Bewusstseins

Aus dem Englischen von Sebastian Vogel

Carl Hanser Verlag

Für Hanna

The life of a play begins and ends in the moment of performance.

Peter Brook

Bevor wir anfangen

1.

Das Buch, das Sie jetzt lesen werden, hat eine eigenartige Vorgeschichte. Es verdankt seine Entstehung einerseits einem Privileg, dessen ich mich seit Langem erfreue, und andererseits einer Frustration, die ich häufig empfunden habe. Ein Privileg war es, reichlich Platz zur Verfügung zu haben und komplizierte wissenschaftliche Gedanken auf den vielen Seiten eines normalen Sachbuches erläutern zu können. Frustrierend war aber, was ich im Laufe der Jahre durch Gespräche mit vielen Leserinnen und Lesern erfuhr: Manche Ideen, über die ich mit Begeisterung geschrieben hatte — und bei denen mir am meisten daran gelegen war, dass Leser sie entdecken und genießen —, gingen inmitten langer Erläuterungen verloren und wurden kaum auch nur zur Kenntnis genommen, von der Freude daran ganz zu schweigen. Insgeheim hatte ich bei solchen Gelegenheiten einen Entschluss gefasst, die Umsetzung aber immer wieder aufgeschoben: Ich wollte nur über die Gedanken schreiben, die mir am wichtigsten sind, ohne das »Bindegewebe« und das Gerüst, die sonst ihren Rahmen bilden. Kurz gesagt wollte ich das tun, was die Dichter und Bildhauer, die ich am meisten bewundere, so gut können: alles nicht unbedingt Notwendige weglassen und dann noch ein wenig mehr weglassen. Ich wollte die Kunst des Haiku praktizieren.

Als Dan Frank, mein Lektor beim Verlag Pantheon, mich darum bat, ein konzentriertes, sehr kurzes Buch über das Bewusstsein zu schreiben, hätte er sich keinen bereitwilligeren und engagierteren Autor wünschen können. Das Buch, das Sie vor sich haben, handelt nicht nur vom Bewusstsein und entspricht demnach nicht genau seiner Vorstellung, kommt ihr aber sehr nahe. Was ich allerdings nicht vorhergesehen hatte: Im Rahmen meiner Bestrebungen, einen so umfangreichen Stoff neu zu überdenken und auf das Wesentliche zu reduzieren, konnte ich mich mit Tatsachen auseinandersetzen, die ich bisher übersehen hatte, und neue Erkenntnisse nicht nur über das Bewusstsein entwickeln, sondern auch über damit zusammenhängende Prozesse. Die Straße zur Entdeckung ist, vorsichtig ausgedrückt, gewunden.

Was Bewusstsein ist und wie es sich entwickelt hat, kann man unmöglich sinnvoll erklären, wenn man sich nicht zuvor mit einer Reihe wichtiger Themen aus der weiten Welt von Biologie, Psychologie und Neurowissenschaft beschäftigt.

Die erste Frage betrifft Intelligenz und Geist. Wir wissen, dass Bakterien und andere Einzeller die zahlreichsten Lebewesen auf der Erde sind. Sind sie intelligent? Ja, das sind sie, und zwar auf bemerkenswerte Weise. Haben sie einen Geist? Nein, den haben sie nach meiner Überzeugung nicht, und ebenso wenig haben sie ein Bewusstsein. Sie sind selbstständige Lebewesen, sie verfügen eindeutig über eine Art »Kognition« im Verhältnis zu ihrer Umwelt, und doch nutzen sie weder Geist noch Bewusstsein, sondern sie bedienen sich nichtexpliziter Fähigkeiten, die auf molekularen und submolekularen Prozessen basieren und nach den Prinzipien der Homöostase effizient über ihr Leben bestimmen.

Und wie steht es mit den Menschen? Haben wir einen Geist und ausschließlich einen Geist? Die einfache Antwort lautet: nein. Einen Geist haben wir ganz sicher. Er ist von Mustern sensorischer Repräsentationen bevölkert, die wir Bilder nennen, aber wir besitzen auch die nichtexpliziten Fähigkeiten, die den einfacheren Organismen so gute Dienste leisten. Wir werden von zwei Formen der Intelligenz gesteuert, die auf zwei Formen der Kognition basieren. Die eine ist die Form, die wir Menschen schon seit Langem erforschen und schätzen. Ihre Grundlagen sind Vernunft und Kreativität; sie basiert auf der Handhabung expliziter Informationsmuster, die wir Bilder nennen. Der zweite Typ ist die nichtexplizite Fähigkeit, die man auch bei Bakterien findet; damit ist sie die Form der Intelligenz, von der die meisten Lebewesen auf der Erde abhängig waren und sind. Der mentalen Betrachtung bleibt sie verborgen.

Die zweite Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen, hängt mit der Fähigkeit zum Fühlen zusammen. Wie können wir Freude und Schmerz, Wohlbefinden und Krankheit, Glück und Traurigkeit empfinden? Die traditionelle Antwort ist allgemein bekannt: Das Gehirn versetzt uns in die Lage, zu fühlen, und wir müssen nur die Mechanismen erforschen, die im Einzelnen hinter bestimmten Gefühlen stehen. Mir geht es aber nicht um die chemischen und neuronalen Entsprechungen zu diesem oder jenem Gefühl — dieser wichtigen Frage hat sich die Neurobiologie gewidmet und einige Erfolge erzielt. Mein Ziel ist ein anderes. Ich möchte mehr darüber erfahren, welche Mechanismen uns in die Lage versetzen, einen Prozess, der sich eindeutig im physischen Bereich des Körpers abspielt, im Geist zu erleben. Diese faszinierende Pirouette — vom physischen Körper zum mentalen Erleben — wird herkömmlicherweise auf die ordnungsgemäße Arbeit des Gehirns zurückgeführt, insbesondere auf die Aktivität der physikalischen und chemischen Vorrichtungen, die man Neuronen nennt. Dass das Nervensystem notwendig ist, um den bemerkenswerten Übergang zu vollziehen, liegt zwar auf der Hand, aber es gibt keinen Beleg dafür, dass es ihn allein bewerkstelligt. Die faszinierende Pirouette zu erklären, die den physischen Körper in die Lage versetzt, mentale Erlebnisse zu beherbergen, ist nach einer vielfach geäußerten Ansicht unmöglich.

Mit meinem Versuch, die entscheidende Frage zu beantworten, konzentriere ich mich auf zwei Beobachtungen. Die eine betrifft die einzigartigen anatomischen und funktionellen Merkmale des interozeptiven Nervensystems, das heißt des Systems, das für die Signalübertragung vom Körper zum Gehirn verantwortlich ist. Diese Merkmale unterscheiden sich grundlegend von denen anderer Sinneskanäle, und obwohl einige von ihnen schon früher dokumentiert wurden, hat man ihre Bedeutung übersehen. Sie sind aber hilfreich, wenn man die eigenartige Verschmelzung »körperlicher Signale« und »neuronaler Signale« erklären will, mit deren Hilfe wir unseren Körper erleben.

Eine weitere einschlägige Beobachtung betrifft die ebenso einzigartige Beziehung zwischen Körper und Nervensystem sowie insbesondere die Tatsache, dass der Körper das Nervensystem innerhalb seiner Grenzen beherbergt. Das Nervensystem einschließlich seines natürlichen Kerns, des Gehirns, liegt in seiner Gesamtheit im Territorium des eigentlichen Körpers und ist mit ihm ganz und gar vertraut. Deshalb können Körper und Nervensystemdirekt und in großem Umfang interagieren. Für die Beziehung zwischen der Welt außerhalb unseres Organismus und unserem Nervensystem gilt nichts Vergleichbares. Diese besondere Anordnung hat eine erstaunliche Folge: Gefühle sind keine gewöhnliche Körperwahrnehmung, sondern Hybride, die sowohl im Körper als auch im Gehirn angesiedelt sind.

Die Hybridstellung ist vielleicht eine Erklärung dafür, warum es einen tief greifenden Unterschied, aber keinen Gegensatz zwischen Gefühl und Vernunft gibt, warum wir fühlende Wesen sind, die denken, und denkende Wesen, die fühlen. Wir gehen durchs Leben, wobei wir fühlen und/oder denken, je nachdem, wie die Umstände es erfordern. Das Wesen des Menschen profitiert von einer Fülle expliziter und nichtexpliziter Formen der Intelligenz sowie von Gefühl und Vernunft, die wir jeweils entweder allein oder in Kombination nutzen. Offensichtlich besitzen wir eine Menge intellektueller Kraft, allerdings bei Weitem nicht genug, um uns unseren Mitmenschen gegenüber anständig zu verhalten, von anderen Lebewesen ganz zu schweigen.

Mit wichtigen neuen Tatsachen ausgerüstet, sind wir dann endlich so weit, dass wir uns unmittelbar mit dem Bewusstsein beschäftigen können. Wie verschafft uns das Gehirn die mentalen Erlebnisse, die wir eindeutig mit unserem Dasein — mit uns selbst — in Verbindung bringen? Die möglichen Antworten sind, wie wir noch genauer erfahren werden, verblüffend leicht zu durchschauen.

2.

Bevor wir fortfahren, muss ich einige Worte darüber verlieren, wie ich die Untersuchung mentaler Phänomene angehe. Die Methode beginnt natürlich bei den mentalen Phänomenen selbst — eine einzelne Person betreibt Introspektion und berichtet über ihre Beobachtungen. Die Introspektion hat ihre Grenzen, aber keine Konkurrenz, und erst recht gibt es keinen Ersatz. Sie bildet das einzige direkte Fenster zu den Phänomenen, die wir verstehen wollen, und leistete wissenschaftlichen und künstlerischen Genies wie William James, Sigmund Freud, Marcel Proust und Virginia Woolf denkwürdig gute Dienste. Heute, über ein Jahrhundert später, können wir auf einige Fortschritte verweisen, aber ihre Errungenschaften bleiben außergewöhnlich.

Mittlerweile können wir die Ergebnisse der Introspektion durch Befunde, die mit anderen Methoden gewonnen wurden, verknüpfen und anreichern. Diese Methoden befassen sich ebenfalls mit mentalen Phänomenen, erforschen sie aber indirekt: Sie konzentrieren sich (a) auf ihre Ausdrucksformen im Verhalten und (b) auf ihre biologischen, neurophysiologischen, physikochemischen und gesellschaftlichen Entsprechungen. Mehrere technische Fortschritte bedeuteten für diese Methoden in den letzten Jahrzehnten eine Umwälzung und haben ihnen eine beträchtliche Leistungsfähigkeit verliehen. Der Text, den Sie hier lesen, basiert auf der Zusammenführung solcher formeller wissenschaftlicher Untersuchungen mit den Ergebnissen der Introspektion.

Klagen über die Schwächen der Selbstbeobachtung und ihre offenkundigen Grenzen sind ebenso wenig zielführend wie der Verweis auf die Tatsache, dass die wissenschaftliche Erforschung mentaler Phänomene von ihrem Wesen her indirekt ist. Einen anderen Weg, um voranzukommen, gibt es nicht, und die vielschichtigen Methoden, die heute Stand der Technik sind, tun schon viel dafür, um solche Schwierigkeiten möglichst gering zu halten.

Ein letztes Wort der Warnung: Die Tatsachen, die durch einen solchen mehrgleisigen Ansatz ans Licht kommen, bedürfen der Interpretation. Sie legen Ideen und Theorien nahe, mit denen Fakten auf bestmögliche Weise erklärt werden. Manche Ideen und Theorien passen gut zu den Tatsachen und sind ziemlich überzeugend, aber täuschen wir uns nicht: Sie sind wiederum als Hypothesen zu betrachten, die einer geeigneten experimentellen Überprüfung unterzogen werden müssen und dann durch die Befunde gestützt werden oder auch nicht. Wir sollten eine Theorie, so verführerisch sie auch sein mag, nicht mit überprüften Tatsachen verwechseln. Andererseits müssen wir uns aber im Zusammenhang mit Phänomenen, die so komplex sind wie die Ereignisse in unserem Geist, oftmals mit Plausibilität abfinden, wenn wir der Verifikation nicht einmal ansatzweise nahe kommen.

I.

Über das Sein

Am Anfang war nicht das Wort

Am Anfang war nicht das Wort, so viel ist klar. Das Universum der Lebewesen war nie einfach, ganz im Gegenteil. Es war komplex, und das seit seinen Anfängen vor vier Milliarden Jahren. Das Lebendige kam ohne Worte oder Gedanken voran, ohne Gefühle oder Überlegungen, ohne Geist oder Bewusstsein. Und doch spürten die lebenden Organismen andere, die ihnen glichen, und sie spürten ihre Umgebung. Mit »spüren« meine ich die Wahrnehmung einer »Gegenwart« — eines anderen ganzen Lebewesens, eines Moleküls, das auf der Oberfläche eines anderen Organismus liegt oder von einem anderen Organismus ausgeschieden wird. Spüren ist nicht das Gleiche wie Erfassen, und es besteht nicht in der Konstruktion eines »Musters« von etwas anderem, durch das eine »Repräsentation« dieses anderen geschaffen wird und ein »Bild« im Geist entsteht. Aber Spüren ist die elementarste Variante der Kognition.

Was noch überraschender ist: Die Lebewesen reagierten intelligent auf das, was sie spürten. Mit »intelligent« ist gemeint, dass die Reaktion ihnen half, ihr Leben weiterzuführen. Stellte beispielsweise das, was sie spürten, ein Problem dar, war die Reaktion intelligent, wenn sie das Problem löste. Was dabei aber wichtig ist: Die Schlauheit dieser einfachen Lebewesen basierte nicht auf expliziten Kenntnissen, wie unser Geist sie heute nutzt, Kenntnissen, die Repräsentationen und Bilder voraussetzen. Sie beruhte vielmehr auf einer verborgenen Fähigkeit, die nur das Ziel verfolgte, das Leben aufrechtzuerhalten — sonst nichts. Diese nichtexplizite Intelligenz war dafür zuständig, das Leben zu betreuen, es in Übereinstimmung mit den Regeln und Bestimmungen der Homöostase zu managen. Homöostase? Darunter kann man sich eine Sammlung von »Anweisungen« vorstellen, die in Übereinstimmung mit einem gewöhnlichen Handbuch ohne Wörter oder Abbildungen erbarmungslos ausgeführt werden. Die Anweisungen sorgten dafür, dass die Parameter, von denen das Leben abhing — beispielsweise die Gegenwart von Nährstoffen oder ein bestimmtes Niveau von Temperatur oder pH —, im optimalen Bereich gehalten wurden.

Wie gesagt: Am Anfang wurden keine Worte gesprochen und keine Worte geschrieben, nicht einmal im ausführlichen Handbuch der Lebensregeln.

Das Ziel des Lebens

Über das Ziel des Lebens zu reden, kann ungute Gefühle hervorrufen, das weiß ich. Aber aus der arglosen Perspektive jedes einzelnen lebenden Organismus ist das Leben von einem offenkundigen Ziel nicht zu trennen: von dem Ziel, sich selbst zu erhalten, solange der altersbedingte Tod nicht vor der Tür steht.

Der unmittelbare Weg, auf dem das Leben seine Aufrechterhaltung bewerkstelligt, führt über das Befolgen der Vorschriften der Homöostase, eines komplizierten Systems von Regulationsmechanismen, die das Leben möglich machten, seit es erstmals in Form der frühen Einzeller aufblühte. Am Ende, als vielzellige Lebewesen mit vielen Organsystemen in Mode kamen — also ungefähr dreieinhalb Milliarden Jahre später —, wurde die Homöostase durch neu entstandene Koordinationsapparate unterstützt, die wir Nervensysteme nennen. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, damit diese Nervensysteme nicht nur Handlungen verwalten, sondern auch Muster darstellen konnten. Landkarten und Bilder waren unterwegs, und das Ergebnis war der Geist — der fühlende, bewusste Geist, den die Nervensysteme möglich machten. Allmählich, im Laufe einiger Hundert Millionen Jahre, wurde die Homöostase teilweise vom Geist regiert. Damit das Leben noch besser verwaltet werden konnte, bedurfte es nun nur noch kreativer, auf erinnerten Kenntnissen basierender Überlegungen. Gefühle auf der einen Seite und kreative Überlegungen auf der anderen spielten in der neuen Lenkungsebene, die durch das Bewusstsein möglich wurde, eine wichtige Rolle. Solche Entwicklungen verstärkten den Zweck des Lebens: das Überleben, natürlich, aber ergänzt durch ein Wohlbefinden, das sich zu einem großen Teil aus dem Erleben seiner eigenen, intelligenten Hervorbringungen ableitete.

Das Ziel des Überlebens und die Erfordernisse der Homöostase gelten auch heute noch, und zwar sowohl in einzelligen Lebewesen wie den Bakterien als auch bei uns selbst. Aber der Prozess wird bei Einzellern und Menschen durch unterschiedliche Arten von Intelligenz unterstützt. Den einfacheren, geistlosen Lebewesen steht ausschließlich nichtexplizite, nichtbewusste Intelligenz zur Verfügung. Ihren Kenntnissen und ihrer Kognition fehlt die Kraft offenkundiger Repräsentationen. Menschen besitzen beide Formen.

Wenn vom Leben und den unterschiedlichen Formen intelligenter Lenkung die Rede ist, deren sich die verschiedenen biologischen Arten bedienen, müssen wir natürlich das Menü der verschiedenen spezifischen, charakteristischen Strategien benennen, die den Lebewesen zur Verfügung stehen, und den Funktionsschritten, die sie darstellen, Namen geben. Am grundlegendsten ist das Spüren, das nach meiner Überzeugung bei allen Lebensformen vorhanden ist. Als Nächstes folgt das Beachten. Es setzt ein Nervensystem sowie die Schaffung von Repräsentationen und Bildern voraus, den entscheidenden Bestandteil des Geistes. Geistige Bilder fließen unaufhaltsam und sind unbegrenzt offen für die Manipulationen, durch die sie neue Bilder liefern. Wie wir noch genauer erfahren werden, eröffnet das Beachten den Weg zu Fühlen und Bewusstsein. Wenn wir nicht darauf bestehen, diese Zwischenschritte zu unterscheiden, besteht kaum Hoffnung, Licht in die Frage des Bewusstseins zu bringen.

Viren: eine Peinlichkeit

Wenn ich intelligente, aber geistlose Fähigkeiten erwähne, muss ich daran denken, welche Tragödie wir gerade durchlebt haben und wie viele Fragen im Zusammenhang mit Viren nicht beantwortet sind. Trotz aller Erfolge, die wir bei der Beherrschung von Polio und Masern, aber auch im Umgang mit HIV und den Unannehmlichkeiten und Gefahren der jahreszeitlichen Grippe erzielt haben, sind Viren bis heute ein wichtiger Quell der wissenschaftlichen und medizinischen Demütigung. Wir sind nachlässig in unserer Vorbereitung auf Virusepidemien, und wir wissen nichts, wenn wir wissenschaftliche Kenntnisse bräuchten, um präzise über Viren zu sprechen und mit ihren Folgen effizient umzugehen.

Mit unserem Wissen über die Bedeutung der Bakterien in der Evolution und ihre wechselseitige Abhängigkeit von den Menschen, die für uns im Wesentlichen nützlich ist, haben wir große Fortschritte gemacht. Das Mikrobiom ist heute ein Aspekt unserer Kenntnisse über uns selbst. Für Viren gilt nichts Vergleichbares. Die Schwierigkeiten beginnen schon mit der Frage, wie wir Viren einteilen und was wir über ihre Rolle im allgemeinen Haushalt des Lebendigen wissen. Sind Viren lebendig? Nein, das sind sie nicht. Viren sind keine Lebewesen. Aber warum reden wir dann davon, dass wir Viren »abtöten« wollen? Welche Stellung nehmen Viren im großen Bild der Biologie ein? Wohin gehören sie in der Evolution? Wie und warum richten sie bei echten Lebewesen Unheil an? Auf solche Fragen haben wir oftmals nur vorläufige, zweideutige Antworten, und das ist verwunderlich, wenn man bedenkt, welchen Preis Viren in Form des Leidens von Menschen fordern. Am aufschlussreichsten ist der Vergleich zwischen Viren und Bakterien. Viren haben keinen Stoffwechsel, Bakterien schon; Viren produzieren weder Energie noch Abfälle, Bakterien schon. Viren können keine Bewegungen in Gang setzen. Sie sind ein Gebräu aus Nucleinsäuren — DNA oder RNA — und einem Sortiment einiger Proteine.

Viren können sich allein nicht fortpflanzen, aber sie dringen in echte Lebewesen ein, bringen deren Lebenssysteme unter ihre Kontrolle und vermehren sich. Kurz gesagt sind sie nicht lebendig, können aber zu Parasiten des Lebendigen werden und ein »Pseudoleben« führen; dabei zerstören sie in den meisten Fällen das Leben, das ihnen die Fortführung ihrer zweideutigen Existenz ermöglicht und die Herstellung wie auch die Verbreitung »ihrer« Nucleinsäuren unterstützt. Deshalb können wir den Viren trotz ihres nichtlebendigen Zustandes nicht einen gewissen Anteil an der nichtexpliziten Form von Intelligenz absprechen, die alle Lebewesen, angefangen bei den Bakterien, beseelt. Viren tragen eine verborgene Fähigkeit in sich, die ihren Ausdruck erst dann findet, wenn ein geeignetes Umfeld vorhanden ist.

Gehirne und Körper

Jede Theorie, die das Vorhandensein von Geist und Bewusstsein erklären will, dabei aber das Nervensystem umgeht, ist zum Scheitern verurteilt. Das Nervensystem leistet den entscheidenden Beitrag zur Verwirklichung von Geist, Bewusstsein und den von beidem ermöglichten kreativen Überlegungen. Aber jede Theorie, die sich ausschließlich auf das Nervensystem beruft, um Geist und Bewusstsein zu erklären, muss ebenfalls scheitern. Das gilt heute leider für die meisten Theorien. Die hoffnungslosen Versuche, Bewusstsein ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Nerventätigkeit zu erklären, sind zum Teil eine Ursache für die Vorstellung, das Bewusstsein sei ein unerklärliches Geheimnis. Zwar stimmt es, dass Bewusstsein, wie wir es kennen, in vollem Umfang nur in Lebewesen entsteht, die mit einem Nervensystem ausgestattet sind; etwas anderes stimmt aber auch: Bewusstsein erfordert eine Fülle von Wechselwirkungen zwischen dem zentralen Teil dieses Systems — dem eigentlichen Gehirn — und verschiedenen nicht zum Nervensystem gehörenden Teilen des Körpers.

Der Körper bringt in die Ehe mit dem Nervensystem seine grundlegende biologische Intelligenz ein, jene nichtexplizite Fähigkeit, die über das Leben bestimmt, indem sie die Erfordernisse der Homöostase erfüllt und ihren Ausdruck letztlich in der Form von Gefühlen findet. Die Tatsache, dass Gefühl sich nur dank eines Nervensystems vollständig verwirklichen kann, ändert nichts an dieser grundlegenden Realität.

Das Nervensystem steuert zu der Ehe mit dem Körper die Möglichkeit bei, Kenntnisse explizit zu machen; dazu konstruiert es die räumlichen Muster, die, wie später noch klar werden wird, Bilder darstellen. Nervensysteme tragen auch dazu bei, dem Gedächtnis die Kenntnisse zu vermitteln, die in Bildern repräsentiert sind; damit öffnet es den Weg für die Form der Bildmanipulation, die Reflexion, Planung, vernünftiges Überlegen und letztlich die Erzeugung von Symbolen sowie die Schaffung neuer Reaktionen, Artefakte und Ideen möglich macht. Die Ehe von Körper und Gehirn legt sogar einige geheime Kenntnisse der Biologie offen, oder mit anderen Worten: die Reime und Rhythmen intelligenten Lebens.

Das Nervensystem: ein nachträglicher Einfall der Natur

Nervensysteme erschienen in der Geschichte des Lebendigen erst spät auf der Bildfläche. Sie waren nichts Primäres, sondern tauchten auf, um dem Leben zu dienen, um Leben auch dann noch möglich zu machen, als die Komplexität der Lebewesen ein hohes Maß an Funktionskoordination erforderte. Und ja, Nervensysteme trugen dazu bei, bemerkenswerte Phänomene und Funktionen zu erzeugen, die es vor ihrer Entstehung nicht gab, Dinge wie Gefühle, Geist, Bewusstsein, explizites Überlegen, eine verbale Sprache und Mathematik. Seltsamerweise erweiterten diese »neuro-ermächtigten« Neuentwicklungen die Leistungen der nichtexpliziten biologischen Intelligenz und die nichtexpliziten kognitiven Fähigkeiten, die bereits vorhanden waren und allein den Zweck hatten, dem Leben zu dienen. Die neuronalen Neuerungen bewirkten, dass die Regulation der Homöostase optimiert wurde und das Leben mit größerer Sicherheit aufrechterhalten werden konnte. Genau das erreichen die Nervensysteme, indem sie das hohe Maß an Funktionskoordination bereitstellen, das komplexe, vielzellige Organismen mit vielen Organen brauchen. Komplexe, vielzellige Lebewesen mit differenzierten Systemen — Hormon-, Atmungs-, Verdauungs-, Immun- und Fortpflanzungssystem — wurden durch die Nervensysteme gerettet, und später wurden Organismen mit einem Nervensystem von den Dingen gerettet, die das Nervensystem erfand — durch mentale Bilder, Gefühle, Bewusstsein, Kreativität, Kultur.

Das Nervensystem ist ein prächtiger »nachträglicher Gedanke« einer geistlosen, gedankenlosen und doch umwälzend vorausschauenden Natur.

Sein, Fühlen und Wissen

Die Geschichte der Lebewesen begann vor vier Milliarden Jahren und schlug verschiedene Wege ein. Für den Zweig, der zu uns führte, stelle ich mir gern drei abgegrenzte, aufeinander folgende Evolutionsstadien vor. Ein erstes Stadium ist durch das Sein gekennzeichnet; das zweite ist vom Fühlen beherrscht; charakteristisch für das dritte ist das Wissen in einem sehr allgemeinen Sinn des Wortes. Seltsamerweise kann man in jedem heutigen Menschen eine Entsprechung zu jedem der drei Stadien ausmachen, und sie entwickeln sich auch in der gleichen Reihenfolge. Die Stadien von Sein, Fühlen und Wissen entsprechen unterscheidbaren anatomischen und funktionellen Systemen, die in uns Menschen nebeneinander existieren und im Erwachsenenalter je nach Bedarf herangezogen werden.1

Die einfachsten Lebewesen — Lebewesen mit nur einer Zelle (oder sehr wenigen Zellen) und ohne Nervensystem — werden geboren, werden erwachsen, verteidigen sich und sterben schließlich am hohen Alter, an Krankheiten oder weil sie von anderen Lebewesen zerstört werden. Als Einzelwesen sind sie in der Lage, sich in ihrer Umwelt die besten Plätze für ein gutes Leben auszusuchen und sich durchs Leben zu schlagen, obwohl sie dabei ohne die Hilfe eines Geistes auskommen müssen, von einem Bewusstsein ganz zu schweigen. Auch ein Nervensystem