Selbst ist der Mensch - Antonio Damasio - E-Book

Selbst ist der Mensch E-Book

Antonio Damasio

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Beschreibung

Vom Sein zum Bewusstsein
Eine atemberaubende Reise in die Tiefen des menschlichen Geistes


Antonio Damasio ist einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler unserer Zeit, seine Bücher sind internationale Bestseller. In seinem neuesten Werk widmet er sich einer Frage, die Neurologen, Philosophen und Psychologen seit Jahrhunderten rätseln lässt: Wie entsteht Bewusstsein? Mit seiner Antwort erklärt Damasio, wie der Mensch zum selbstbewussten Wesen wurde und dabei Fähigkeiten wie Sprache, Kreativität und Moral entwickelte.

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Für Hanna

Meine Seele ist ein verborgenes Orchester; ich weiß nicht, welche Instrumente, Geigen und Harfen, Pauken und Trommeln, es in mir spielen und dröhnen lässt. Ich kenne mich nur als Symphonie.

FERNANDO PESSOA, Das Buch der Unruhe

 

 

Was ich nicht bauen kann, kann ich nicht verstehen.

RICHARD FEYNMAN

Inhaltsverzeichnis

WidmungInschriftI. Neuanfang
1. Erwachen2. Von der Lebenssteuerung zum biologischen Wert
II. Was im Gehirn könnte der Geist sein?
3. Wie Karten und Bilder entstehen4. Der Körper im Geist5. Emotionen und Gefühle6. Eine Architektur für das Gedächtnis
III. Bewusst sein
7. Das beobachtete Bewusstsein8. Ein bewusster Geist wird aufgebaut9. Das autobiografische Selbst10. Zusammenbau der Einzelteile
IV. Bewusstsein und seine Folgen

I. Neuanfang

1. Erwachen

Als ich aufwachte, ging es schon abwärts. Ich hatte geschlafen und die Ansage über Landeanflug und Wetter verpasst. Ich hatte rein gar nichts von meiner Umgebung mitbekommen, ja nicht einmal von mir selbst. Ich war ohne Bewusstsein gewesen.

Nur wenige unserer biologischen Eigenschaften sind so scheinbar trivial wie jenes Etwas, das wir Bewusstsein nennen; zu dieser phänomenalen Fähigkeit gehören ein Geist mit einem Besitzer, einem Protagonisten des eigenen Daseins, einem Selbst, das die Welt in und um sich herum betrachtet, einem Handelnden, der offenbar allzeit bereit ist.

Bewusstsein ist nicht nur Wachsein. Als ich vor zwei kurzen Textabschnitten aufwachte, blickte ich mich nicht einfach nur um. Ich nahm das, was ich sah und hörte, nicht so auf, als sei mein wacher Geist von allem und jedem losgelöst. Im Gegenteil: Fast im selben Augenblick, ohne mich anzustrengen und höchstens mit einer geringfügigen Verzögerung, wusste ich, dass ich das hier war, dass ich in einem Flugzeug saß, dass meine fliegende Identität nach Hause kam, nach Los Angeles, mit einer langen Liste von Dingen, die zu erledigen waren, bevor der Tag zu Ende ging. Ich verspürte eine eigenartige Kombination aus Reisemüdigkeit und Begeisterung für das, was vor mir lag. Ich war neugierig, auf welcher Landebahn wir aufsetzen würden, und lauschte auf die sich verändernden Geräusche der Triebwerke, die uns zur Erde bringen würden. Wachsein war zweifellos eine unabdingbare Voraussetzung für diesen Zustand, aber es war wohl kaum sein wichtigster Aspekt. Welches war dieser wichtigste Aspekt? Die Tatsache, dass die unzähligen in meinem Geist aufscheinenden Inhalte – unabhängig davon, wie lebhaft oder geordnet sie waren – mit mir, dem Besitzer dieses Geistes, in einer Verbindung standen. Es schien, als seien diese Inhalte durch unsichtbare Fäden zu jenem bunten, reichen, quirligen Etwas verbunden, das wir Selbst nennen. Nicht weniger wichtig war, dass die Verbindung zu spüren war. Das Erlebnis des verbundenen Ichs hatte eine Spürbarkeit.

Aufzuwachen bedeutete, dass mein vorübergehend abwesender Geist zurückkehrte, aber mit mir darin, dem Eigentum (Geist) wie auch dem Eigentümer (Ich). Durch das Aufwachen konnte ich wieder auftauchen und mein geistiges Terrain überblicken, die von Horizont zu Horizont reichende Projektion eines magischen Films, teils Dokumentar- und teils Spielfilm, den man auch »bewusster menschlicher Geist« nennt.

Wir alle haben freien Zugang zu unserem Bewusstsein. Es perlt in unserem Kopf so leicht und reichlich, dass wir es ohne jedes Zögern und ohne Besorgnis jeden Abend nach dem Zubettgehen abschalten lassen, und wenn am Morgen der Wecker klingelt, lassen wir es wiederkehren – mindestens 365-mal im Jahr, Nickerchen nicht mitgerechnet. Und doch ist kaum etwas anderes an unserem Dasein so bemerkenswert, grundlegend und scheinbar rätselhaft wie das Bewusstsein. Ohne Bewusstsein, das heißt ohne einen mit Subjektivität ausgestatteten Geist, könnten wir nicht wissen, dass es uns gibt, ganz zu schweigen von der Frage, wer wir sind und was wir denken. Hätte die Subjektivität nicht – anfangs vielleicht nur in bescheidenem Umfang – bei Lebewesen eingesetzt, die viel einfacher sind als wir, Gedächtnis und Vernunft hätten sich vermutlich nicht auf so üppige Weise entfalten können, und der Evolutionsweg zur Sprache sowie zu unserer raffinierten menschlichen Form des Bewusstseins hätte sich nicht eröffnet. Die Kreativität hätte nicht gedeihen können. Es gäbe keine Lieder, keine Malerei und keine Literatur. Liebe wäre nie Liebe gewesen, sondern immer nur Sex. Freundschaft wäre nur Kooperation um der Bequemlichkeit willen. Schmerzen wären nie zu Leid geworden, was vielleicht gar nicht so schlecht wäre, allerdings wäre Lust dann wohl auch nicht zum Glück geworden. Hätte die Subjektivität nicht ihren radikalen Auftritt gehabt, es gäbe kein Wissen, und niemand würde es bemerken; entsprechend gäbe es auch keine Geschichte (als Bewusstsein dessen, was die Lebewesen im Laufe der Zeitalter getan haben) und keinerlei Kultur.

Bis hierher habe ich zwar noch keine tragfähige Definition für das Bewusstsein geliefert, aber ich habe hoffentlich schon jetzt keinen Zweifel daran gelassen, was es bedeutet, kein Bewusstsein zu haben. Ohne Bewusstsein ist die persönliche Sichtweise aufgehoben, wir wissen nichts von unserer Existenz, und wir wissen auch nicht, dass irgendetwas anderes existiert. Wenn sich das Bewusstsein nicht im Laufe der Evolution entwickelt und bis zu seiner menschlichen Version ausgeweitet hätte, dann hätte auch die Menschheit mit allen ihren Stärken und Schwächen, wie wir sie heute kennen, nicht entstehen können. Man schaudert bei dem Gedanken, dass eine einzige nicht vollzogene Wendung vielleicht den Verlust der biologischen Alternativen bedeutet hätte, die uns eigentlich erst zu Menschen machen. Aber wie hätten wir merken sollen, dass etwas fehlt?

 

Wir halten das Bewusstsein für etwas Selbstverständliches: Es ist so leicht verfügbar, so einfach zu benutzen und so elegant mit seinem täglichen Verschwinden und Wiedererscheinen. Wenn wir aber genauer darüber nachdenken, stehen wir – Wissenschaftler ebenso wie Laien – vor einem Rätsel. Woraus besteht das Bewusstsein? Mir scheint: Aus Geist mit einem zusätzlichen Dreh. Wir können nicht bewusst sein, ohne einen Geist zu haben, dessen wir uns bewusst sind. Aber woraus besteht der Geist? Kommt er aus der Luft oder aus dem Körper? Schlaue Leute sagen, er entstamme dem Gehirn, er sei im Gehirn, aber das ist keine zufriedenstellende Antwort. Wie macht das Gehirn den Geist?

Besonders rätselhaft ist, dass niemand den Geist eines anderen sehen kann, ob bewusst oder nicht. Wir können den Körper und die Handlungen anderer beobachten, und wir nehmen wahr, was sie tun, sagen oder schreiben. Daraus können wir begründete Vermutungen darüber ableiten, was sie denken. Aber ihren Geist können wir nicht beobachten; nur wir selbst können uns von innen betrachten, und auch das nur durch ein recht schmales Fenster. Der Geist und erst recht der bewusste Geist scheint so grundlegend andere Eigenschaften zu haben als die sichtbare lebende Materie, dass sich kluge Leute fragen, wie der eine Prozess – der bewusste Geist – mit dem anderen – den konkreten Zellen im Verbund eines Gewebes – verzahnt ist.

Aber die Aussage, dass der bewusste Geist rätselhaft ist – was auf der Hand liegt –, bedeutet nicht, dass das Rätsel nicht zu lösen wäre. Es ist etwas anderes als Aussage: Wir werden nie verstehen, wie ein mit einem Gehirn ausgestattetes Lebewesen einen bewussten Geist entwickeln kann.1

Ziele und Gründe

Dieses Buch beschäftigt sich mit zwei Fragen. Erstens: Wie baut das Gehirn einen Geist auf? Und zweitens: Wie sorgt das Gehirn in diesem Geist für Bewusstsein? Mir ist klar, dass die Beschäftigung mit diesen Fragen nicht das Gleiche ist wie ihre Beantwortung. In Fragen des bewussten Geistes so zu tun, als habe man eindeutige Antworten, wäre töricht. Außerdem, und auch das ist mir klar, hat sich die Bewusstseinsforschung so ausgeweitet, dass es nicht mehr möglich ist, allen ihren Erkenntnissen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das hat – zusammen mit Problemen der Terminologie und unterschiedlichen Sichtweisen – zur Folge, dass Arbeiten zum Bewusstsein heute dem Gang durch ein Minenfeld ähneln. Dennoch ist es vernünftig, die Fragen auf eigene Gefahr zu durchdenken und mithilfe der vorhandenen Kenntnisse, so unvollständig und vorläufig sie auch sein mögen, überprüfbare Vermutungen anzustellen und von der Zukunft zu träumen. Dieses Buch hat das Ziel, den Vermutungen nachzugehen und ein Gerüst von Hypothesen zu erörtern. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Strukturen im Gehirn des Menschen erforderlich sind und wie es arbeiten muss, damit ein bewusster Geist entstehen kann.

Wenn man ein Buch schreibt, sollte man einen Grund haben. Dieses hier wurde geschrieben, weil ich noch einmal von vorn anfangen wollte. Ich erforsche den Geist und das Gehirn der Menschen seit über 30 Jahren und habe auch zuvor schon Fachartikel und Bücher über das Bewusstsein verfasst.2 Zunehmend war ich aber mit meinen Ausführungen zu dem Thema nicht mehr zufrieden, und durch das Nachdenken über einschlägige alte und neue Forschungsergebnisse haben sich meine Ansichten insbesondere zu zwei Themen verändert: zu Ursprung und Wesen der Gefühle und zu den Mechanismen, die hinter dem Aufbau des Selbst stehen. Das vorliegende Buch ist der Versuch, die aktuelle Sichtweise zu erörtern. Und in nicht geringem Umfang handelt es auch davon, was wir noch nicht wissen, aber gern wissen würden.

Im verbleibenden Teil dieses ersten Kapitels lege ich die Fragestellung dar, beschreibe den Rahmen, in dem ich sie erörtern möchte, und gebe einen Vorgeschmack auf einige Gedanken, von denen in späteren Kapiteln die Rede sein wird. Manche Leser werden vielleicht den Eindruck haben, dass die lange Darstellung im Kapitel 1 den Lesefluss hemmt, aber ich verspreche, dass der Rest des Buches dadurch besser verständlich wird.

Annäherung an das Problem

Bevor wir versuchen wollen, in der Frage, wie das menschliche Gehirn einen bewussten Geist aufbaut, ein Stück voranzukommen, müssen wir uns mit zwei wichtigen Vermächtnissen auseinandersetzen. Das erste besteht aus früheren Versuchen, die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins aufzuklären – Arbeiten, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückreichen. In einer Reihe von Pionierarbeiten wies eine kleine Wissenschaftlergruppe in Nordamerika und Italien mit erstaunlicher Gewissheit auf einen Gehirnabschnitt hin, der, wie wir heute wissen, eindeutig an der Entstehung des Bewusstseins mitwirkt: den Hirnstamm. Wie angesichts unserer heutigen Kenntnisse nicht anders zu erwarten, erwiesen sich die Beschreibungen dieser Pioniere – Wilder Penfield, Herbert Jasper, Giuseppe Moruzzi und Horace Magoun – als gänzlich verschieden von meinen eigenen, was Umfang und Ausrichtung betrifft.. Dennoch sollte man diesen Wissenschaftlern uneingeschränkt Lob und Bewunderung zollen: Sie fanden intuitiv das richtige Zielobjekt und steuerten es mit großer Präzision an. Es war der mutige Beginn einer Unternehmung, zu der einige von uns auch heute beitragen wollen.3

Ein weiterer Teil dieses Vermächtnisses sind Untersuchungen, die man in jüngerer Zeit an Patienten vornahm, nachdem ihr Bewusstsein durch eng umgrenzte Gehirnverletzungen beeinträchtigt wurde. Begründet wurde diese Forschungsrichtung durch die Arbeiten von Fred Plum und Jerome Posner.4 Ihre Studien ergänzten die Befunde der Pioniere der Bewusstseinsforschung und lieferten eine ganze Reihe wichtiger neuer Erkenntnisse über die Gehirnstrukturen, die an der Entstehung des bewussten menschlichen Geistes mitwirken oder auch nicht. Damit schufen sie ein Fundament, auf dem wir aufbauen können.

Das zweite Vermächtnis, das wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist die lange Tradition im Formulieren von Vorstellungen über Geist und Bewusstsein. Ihre Geschichte ist ebenso lang und vielfältig wie die Geschichte der Philosophie. Aus der Fülle ihrer Angebote bevorzuge ich die Schriften von William James als Ausgangspunkt für meine eigenen Gedanken, aber das bedeutet nicht, dass ich mich seinen Ansichten über das Bewusstsein und insbesondere über Gefühle in vollem Umfang anschließe.5

Der Titel dieses Buches wie auch die ersten Seiten lassen keinen Zweifel daran, dass ich bei der Annäherung an den bewussten Geist dem Selbst eine besondere Rolle beimesse. Nach meiner Überzeugung entsteht ein bewusster Geist, wenn zu grundlegenden geistigen Vorgängen ein Selbst-Prozess hinzukommt. Taucht in einem Geist kein Selbst auf, ist er auch nicht im eigentlichen Sinn bewusst. In dieser misslichen Lage befinden sich Menschen, deren Selbst-Prozess durch traumlosen Schlaf, Anästhesie oder eine Erkrankung des Gehirns außer Kraft gesetzt ist.

Den Selbst-Prozess zu definieren, den ich für eine unentbehrliche Voraussetzung des Bewusstseins halte, ist allerdings leichter gesagt als getan. Das ist der Grund, warum William James für diese Vorbemerkungen so hilfreich ist. James schrieb sehr beredt über die Bedeutung des Selbst, wie er aber ebenfalls bemerkte, ist die Gegenwart des Selbst in vielen Fällen so unaufdringlich, dass die dahinströmenden geistigen Inhalte das Bewusstsein beherrschen. Mit diesem flüchtigen Wesen müssen wir uns auseinandersetzen und entscheiden, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Erst dann können wir unsere Gedanken weiterführen. Gibt es ein Selbst oder gibt es keines? Und wenn es ein Selbst gibt: Ist es immer vorhanden, wenn wir bei Bewusstsein sind, oder nicht?

Die Antworten sind eindeutig. Es gibt tatsächlich ein Selbst, aber es ist kein Gegenstand, sondern ein Prozess, und dieser Prozess läuft immer ab, wenn wir mutmaßlich bei Bewusstsein sind. Wir können den Selbst-Prozess aus zwei Blickwinkeln betrachten. Der eine ist der eines Beobachters, der ein dynamisches Objekt betrachtet – das dynamische Objekt, das durch bestimmte geistige Abläufe, Verhaltensmerkmale und Aspekte unserer Lebensgeschichte gebildet wird. Der andere Blickwinkel ist der des Selbst als Wissenden, der Prozess, der unseren Erfahrungen einen Mittelpunkt gibt und uns am Ende über diese Erfahrungen reflektieren lässt. Durch Kombination der beiden Sichtweisen ergibt sich der doppelte Begriff des Selbst, wie er in diesem Buch benutzt wird. Wie wir noch genauer erfahren werden, entsprechen die beiden Begriffe zwei Stadien in der Evolution des Selbst, wobei das Selbst-als-Wissender seinen Ursprung im Selbst-als-Objekt hat. Im Alltagsleben entspricht jeder der beiden Begriffe einer Funktionsebene des bewussten Geistes; dabei ist das Selbst-als-Objekt in seinem Aufgabenspektrum einfacher als das Selbst-als-Wissender.

Je nach Blickwinkel schwanken Aufgabenbereiche und Intensität des Prozesses, und je nach Gelegenheit findet er unterschiedliche Ausdrucksformen. Das Selbst kann auf einer unauffälligen Ebene als »halb geahnte Ahnung« in einem Lebewesen wirken,6 aber auch auf einer vordergründigen Ebene, die Persönlichkeit und Identität des Besitzers des Geistes einschließt. Ich möchte die Situation so zusammenfassen: Mal spürt man es, mal nicht, aber man fühlt es immer.

James hielt das Selbst-als-Objekt, das materielle Ich, für die Summe von allem, was ein Mensch als sein Eigen bezeichnen kann – »nicht nur sein Körper und seine Geisteskräfte, sondern auch seine Kleidung, seine Frau und Kinder, seine Vorfahren und Freunde, seinen Ruf und seine Arbeit, sein Land und seine Pferde, Yacht und Bankkonto«.7 Sieht man von der politischen Unkorrektheit einmal ab, stimme ich ihm zu. Aber mit einem anderen Gedanken von James bin ich noch stärker einig: Wenn der Geist wissen kann, dass solche Besitztümer – Körper, Geist, Vergangenheit, Gegenwart und alles andere – existieren und ihrem geistigen Eigentümer gehören, dann nur deshalb, weil die Wahrnehmung all dieser Dinge Emotionen und Gefühle weckt. Und die Gefühle sorgen ihrerseits für die Trennung zwischen Inhalten, die zum Selbst gehören, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Aus meiner Sicht wirken solche Gefühle als Markierungen. Sie sind die emotionsbasierten Signale, die ich als somatische Marker bezeichne.8 Wenn im Geistesstrom Inhalte auftauchen, die das Selbst betreffen, lösen sie die Entstehung eines Markers aus, der als Bild in den Geistesstrom einfließt und dem Bild, das ihn ausgelöst hat, gegenübersteht. Diese Gefühle ermöglichen die Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Es sind, kurz gesagt, Gefühle des Wissens. Wie wir noch genauer erfahren werden, hängt der Aufbau eines bewussten Geistes in mehreren Stadien von der Entstehung solcher Gefühle ab. Entsprechend lautet meine vorläufige Definition für das materielle Ich, für das Selbst-als-Objekt, so: eine dynamische Ansammlung integrierter neuronaler Prozesse, die sich auf die Repräsentation des lebenden Körpers konzentrieren und in einer dynamischen Ansammlung integrierter geistiger Prozesse ihren Ausdruck finden.

Das Selbst-als-Subjekt, als Wissender, ist ein schwerer fassbares Gebilde; es lässt sich viel weniger unter geistigen oder biologischen Begriffen subsumieren, ist dezentraler, löst sich oftmals im Bewusstseinsstrom auf und ist manchmal so entsetzlich unauffällig, dass es zwar noch da, aber auch fast nicht mehr da ist. Das Selbst-als-Wissender ist ohne Frage schwerer dingfest zu machen als das einfache Ich, aber das mindert keineswegs seine Bedeutung für das Bewusstsein. Das Selbst-als-Subjekt-und-Wissender ist nicht nur etwas sehr Reales, sondern auch ein Wendepunkt der biologischen Evolution. Man kann sich vorstellen, dass das Selbst-als-Subjekt-und-Wissender gewissermaßen oben auf das Selbst-als-Objekt aufgepropft ist wie eine zusätzliche Schicht neuronaler Prozesse, die eine neue Schicht geistiger Prozesse hervorbringt. Das Selbst-als-Objekt und das Selbst-als-Subjekt sind nicht getrennt, sondern durch Kontinuität und Fortentwicklung verbunden. Das Selbst-als-Wissender beruht auf dem Selbst-als-Objekt.

Bewusstsein besteht nicht nur aus geistigen Bildern. Es ist zumindest auch die Organisation geistiger Inhalte, die sich auf das Lebewesen, das diese Inhalte hervorbringt und fördert, konzentrieren. Aber Bewusstsein in dem Sinn, in dem Autor und Leser es in jedem gewünschten Augenblick erleben können, ist mehr als nur ein Geist, der unter dem Einfluss eines lebenden, handelnden Organismus organisiert wird. Der Geist kann vielmehr auch wissen, dass ein solcher lebender, handelnder Organismus existiert. Dass dem Gehirn die Schaffung neuronaler Muster gelingt, welche die als Bilder erlebten Dinge kartieren, ist natürlich ein wichtiger Bestandteil des Bewusstwerdungsprozesses. Die Bilder in der Perspektive des jeweiligen Organismus auszurichten, gehört ebenfalls zu diesem Prozess. Es ist aber nicht dasselbe wie das automatische und explizite Wissen um Bilder, die in mir existieren, mir gehören und, wie man heute sagt, einklagbar sind. Wenn also nicht ein weiterer Prozess ergänzend hinzukommt, bleibt der Geist unbewusst. Was in einem solchen unbewussten Geist fehlt, ist ein Selbst. Um bewusst zu werden, muss das Gehirn eine neue Eigenschaft annehmen, die Subjektivität. Ein definierendes Merkmal der Subjektivität ist das Gefühl, das subjektiv erlebte Bilder durchtränkt. Eine neuere Abhandlung über die Bedeutung der Subjektivität aus philosophischer Sicht findet sich in dem Buch The Mystery of Consciousness von John Searle.9

Nach dieser Vorstellung besteht der entscheidende Schritt der Bewusstseinsentstehung nicht in der Produktion von Bildern und der Schaffung der Grundlagen eines Geistes. Vielmehr liegt der entscheidende Schritt darin, sich die Bilder zu eigen zu machen, so dass sie Teil ihres rechtmäßigen Besitzers werden, jenes einzigartigen, klar abgegrenzten Lebewesens, in dem sie entstehen. In der Evolution wie auch in der individuellen Lebensgeschichte kam der Wissende schrittweise hinzu: zuerst das Protoselbst und seine ursprünglichen Gefühle, dann das von Handlungen getriebene Kern-Selbst und schließlich das autobiografische Selbst, das auch soziale und spirituelle Dimensionen einschließt. Aber das alles sind keine starren Dinge, sondern dynamische Prozesse, deren Niveau (einfach, komplex, irgendetwas dazwischen) jeden Tag schwankt und sich je nach den Umständen leicht anpassen kann. Wenn der Geist bewusst werden soll, muss im Gehirn ein Wissender erzeugt werden, ganz gleich, welchen Namen – Selbst, Erlebender, Protagonist – wir ihm geben. Wenn es dem Gehirn gelingt, in den Geist einen Wissenden einzuschleusen, ist Subjektivität die Folge.

Wenn sich der eine oder andere jetzt fragt, ob eine solche Verteidigung des Selbst notwendig ist, kann ich sagen: Sie ist ganz und gar gerechtfertigt. Diejenigen unter uns Neurowissenschaftlern, die mit ihren Arbeiten das Bewusstsein aufklären wollen, vertreten ganz unterschiedliche Vorstellungen vom Selbst. Das Spektrum reicht von jenen, die es für einen unverzichtbaren Forschungsgegenstand halten, bis zu denen, nach deren Ansicht die Zeit für eine Behandlung des Themas noch nicht gekommen ist (und zwar ganz buchstäblich!). 10 Da die auf den beiden unterschiedlichen Vorstellungen fußenden Arbeiten nach wie vor nützliche Gedanken hervorbringen, besteht bisher keine Notwendigkeit, zu entscheiden, welcher Ansatz sich als befriedigender erweisen wird. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sie zu unterschiedlichen Aussagen führen.

Vorerst bleibt festzustellen, dass diese beiden Haltungen einen Interpretationsunterschied fortbestehen lassen, der William James von David Hume unterscheidet und in solchen Diskussionen häufig übersehen wird. James wollte sicherstellen, dass seine Vorstellungen vom Ich ein solides biologisches Fundament haben: Sein »Selbst« konnte man nicht fälschlich für eine wissende metaphysische Instanz halten. Das hinderte ihn aber nicht daran, im Selbst eine wissende Funktion zu erkennen, auch wenn diese nicht überschwänglich, sondern eher subtil war. David Hume dagegen zerpflückte das Selbst so weit, dass es irgendwann nicht mehr vorhanden war. Humes Ansichten werden in folgender Passage deutlich: »Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an, und niemals kann ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption. « Und weiter: »Ich kann wagen, von allen übrigen Menschen zu behaupten, dass sie nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind.«

In einer Stellungnahme zu Humes Abschaffung des Selbst ließ James sich zu einer denkwürdigen Entgegnung hinreißen. Darin bestätigte er die Existenz des Selbst, wies auf die darin enthaltene seltsame Mischung aus »Einheit und Vielfalt« hin und lenkte die Aufmerksamkeit auf den »Kern der Gleichartigkeit«, der in allen Zutaten des Selbst steckt.11

Die hier beschriebenen Grundlagen wurden von Philosophen und Neurowissenschaftlern so abgewandelt und erweitert, dass sie verschiedene Aspekte des Selbst einschließen.12 Die Bedeutung des Selbst für den Aufbau des bewussten Geistes hat sich dadurch aber nicht vermindert. Ich selbst bezweifle, dass man die neuronalen Grundlagen des bewussten Geistes umfassend aufklären kann, ohne zuvor das Selbst-als-Objekt – das materielle Selbst – und das Selbst-als-Wissender zu erklären.

Neuere philosophische und psychologische Arbeiten haben das begriffliche Erbe erweitert. Gleichzeitig profitierten die ungeheuren Weiterentwicklungen in allgemeiner Biologie, Evolutionsbiologie und Neurowissenschaft vom Erbe der Gehirnforschung: Diese Wissenschaftler erdachten ein breites Spektrum verschiedener Methoden und häuften Berge von Faktenwissen an. Auf solche Entwicklungen stützen sich alle Belege, Mutmaßungen und Hypothesen, von denen in dem vorliegenden Buch die Rede sein wird.

Das Selbst als Zeuge

Schon seit Jahrmillionen haben unzählige Lebewesen einen aktiven Geist, aber seine Existenz wurde nur bei denen zur Kenntnis genommen, bei denen sich ein Selbst entwickelte, das den Geist bezeugen konnte. Und erst nachdem der Geist eine Sprache entwickelt hatte und lange genug lebte, um etwas zu sagen, wurde die Existenz des Geistes allgemein bekannt. Das Selbst als Zeuge ist jenes zusätzliche Extra, das in jedem von uns die Vorgänge offenbart, die wir als mental bezeichnen. Wir müssen verstehen, wie dieses Extra geschaffen wird.

Die Begriffe »Zeuge« und »Protagonist« sind nicht ausschließlich als Metaphern gemeint. Sie sollen vielmehr deutlich machen, welches Spektrum von Rollen das Selbst im Geist übernehmen kann. Einerseits können wir mithilfe der Metaphern erkennen, welcher Situation wir gegenüberstehen, wenn wir mentale Vorgänge verstehen wollen. Ein Geist, der keinen Selbst-Protagonisten als Zeugen hat, ist dennoch ein Geist. Da aber das Selbst das einzige natürliche Mittel ist, mit dem wir den Geist kennenlernen können, sind wir vollständig von der Gegenwart, den Fähigkeiten und den Grenzen des Selbst abhängig. Wegen dieser systematisch bedingten Abhängigkeit kann man sich das Wesen der Geistesprozesse nur sehr schwer unabhängig vom Selbst vorstellen ; unter Evolutionsgesichtspunkten ist aber klar, dass reine Geistesprozesse früher vorhanden waren als Selbst-Prozesse. Das Selbst erlaubt einen Blick auf den Geist, aber dieser Blick ist vernebelt. Die Aspekte des Selbst, mit deren Hilfe wir Interpretationen über unser Dasein und die Welt formulieren können, unterliegen zumindest auf kultureller, sehr wahrscheinlich aber auch auf biologischer Ebene nach wie vor der Evolution. Die höheren Bereiche des Selbst zum Beispiel werden nach wie vor durch alle möglichen sozialen und kulturellen Wechselbeziehungen sowie durch die wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse über die Funktionsweise von Geist und Gehirn abgewandelt. Ein ganzes Jahrhundert mit Kino- und Fernsehfilmen hatte sicher ebenso Auswirkungen auf das Selbst der Menschen wie die globalisierten Gesellschaften, die uns die elektronischen Medien heute ständig vor Augen führen. Und was die Auswirkungen der digitalen Revolution angeht, so stehen wir mit der Beurteilung noch ganz am Anfang. Kurz gesagt, hängt unser einziger direkter Blick auf den Geist von einem Teil ebendieses Geistes ab, und wir haben guten Grund zu der Annahme, dass ein solcher Selbst-Prozess kein umfassendes, zuverlässiges Bild der gesamten Vorgänge liefern kann.

Nachdem wir gerade festgestellt haben, dass das Selbst unser Zugang zum Wissen ist, erscheint es auf den ersten Blick vielleicht paradox oder geradezu undankbar, wenn wir seine Zuverlässigkeit infrage stellen. Aber genau das ist die Situation. Mit Ausnahme des Fensters, das unser Selbst uns unmittelbar zu unseren eigenen Schmerzen und Freuden öffnet, müssen wir die von ihm gelieferte Information infrage stellen, und zwar erst recht dann, wenn die Information sein eigenes Wesen betrifft. Das Gute dabei ist aber, dass das Selbst auch Vernunft und wissenschaftliche Beobachtungen ermöglicht hat: Vernunft und Wissenschaft korrigieren dann nach und nach die irreführenden Intuitionen, die vom Selbst ohne solche Hilfe in die Welt gesetzt werden.

Überwinden einer irreführenden Intuition

Man kann davon ausgehen, dass sich ohne Bewusstsein keine Kulturen und Zivilisationen entwickelt hätten. Das Bewusstsein war also in der biologischen Evolution eine folgenschwere Errungenschaft. Andererseits wirft aber die Natur des Bewusstseins für diejenigen, die seine biologischen Grundlagen aufklären wollen, ernste Probleme auf. Wir betrachten das Bewusstsein von unserem heutigen Entwicklungsstand aus – voller Geist und ausgerüstet mit einem Selbst. Darin kann man die Ursache für eine verständliche, aber problematische Verzerrung der Geschichte der Geistes- und Bewusstseinsforschung sehen. Von oben betrachtet, nimmt der Geist eine Sonderstellung ein, getrennt vom übrigen Organismus, zu dem er gehört. Von oben betrachtet, wirkt der Geist auch nicht nur sehr komplex – was sicherlich zutrifft –, sondern er scheint auch eine ganz andere Qualität zu haben als die biologischen Gewebe und Funktionen des Organismus, der ihn hervorbringt. In der Praxis betrachten wir uns auf zweierlei Weise: Den Geist nehmen wir mit nach innen gerichtetem Blick ins Visier, die biologischen Gewebe dagegen mit einem Blick, der sich nach außen richtet. (Und obendrein erweitern wir unser Sehvermögen auch noch mit Mikroskopen.) Unter solchen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass der Geist körperlos zu sein scheint und dass seine Phänomene scheinbar in eine andere Kategorie gehören.

Da der Geist als nichtphysisches Phänomen betrachtet wurde, das von den biologischen Vorgängen, die ihn schaffen und aufrechterhalten, getrennt ist, stellte man ihn auch außerhalb der Gesetze der Physik, eine Unterscheidung, die bei anderen Vorgängen im Gehirn in der Regel nicht getroffen wird. Ihren auffälligsten Ausdruck findet diese Eigentümlichkeit in dem Versuch, den bewussten Geist auf bisher nicht beschriebene Eigenschaften der Materie zurückzuführen und das Bewusstsein beispielsweise mit Quantenphänomenen zu erklären. Hinter diesem Gedanken steckt offenbar folgende Begründung: Der bewusste Geist erscheint rätselhaft, und da die Quantenphysik bisher ebenfalls rätselhaft ist, besteht zwischen den beiden Rätseln vielleicht ein Zusammenhang.13

Angesichts unserer unvollständigen Kenntnisse über Biologie wie auch über Physik sollte man mit der Ablehnung von Erklärungsalternativen vorsichtig sein. Schließlich ist unser Wissen vom Gehirn des Menschen trotz aller Fortschritte der Neurobiologie nach wie vor sehr lückenhaft. Dennoch steht immer noch die Möglichkeit offen, Geist und Bewusstsein nach dem Sparsamkeitsprinzip innerhalb der Grenzen der Neurobiologie, wie sie sich heute darstellt, zu erklären. Man sollte sie nicht aufgeben, solange die technischen und theoretischen Möglichkeiten der Neurobiologie noch nicht erschöpft sind, und danach sieht es im Moment nicht aus.

Unsere Intuition sagt uns, der quecksilbrigen, flüchtigen Tätigkeit des Geistes fehle eine physische Erweiterung. Diese Intuition ist nach meiner Überzeugung falsch und lässt sich auf die Begrenzungen des ununterstützten Selbst zurückführen. Ich sehe keinen Anlass, ihr mehr zu trauen als früheren scheinbar offenkundigen, machtvollen Intuitionen wie den vorkopernikanischen Ansichten über Sonne und Erde oder auch der Vorstellung, der Geist sei im Herzen angesiedelt. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen. Weißes Licht ist eine Mischung aus den Regenbogenfarben, auch wenn dies mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist.14

Eine integrierte Sichtweise

Die heutigen Fortschritte in der neurobiologischen Erforschung des bewussten Geistes erwuchsen zum größten Teil aus der Kombination von drei Sichtweisen: erstens der Sichtweise des direkt bezeugten bewussten Geistes, die persönlich, privat und bei jedem von uns einzigartig ist, zweitens der verhaltensorientierten Sichtweise, die es uns erlaubt, aufschlussreiche Handlungen anderer zu beobachten, wobei wir Grund zu der Annahme haben, dass auch diese anderen über einen bewussten Geist verfügen, und drittens der Sichtweise der Gehirnforschung, mit deren Hilfe wir bestimmte Aspekte der Gehirnfunktion an Individuen untersuchen können, deren bewusster Geisteszustand mutmaßlich entweder vorhanden ist oder fehlt. Die Befunde aus diesen drei Perspektiven reichen aber selbst dann, wenn man sie intelligent zusammenführt, in der Regel nicht aus, um einen bruchlosen Übergang zwischen den drei Phänomenen zu schaffen: der Introspektion in der ersten Person, dem äußeren Verhalten und den Vorgängen im Gehirn. Insbesondere zwischen den Befunden der Introspektion in der ersten Person und den Belegen für bestimmte Vorgänge im Gehirn besteht offenbar eine größere Kluft. Wie können wir solche Lücken überbrücken?

Wir brauchen eine vierte Sichtweise, und dazu muss sich die Art, wie wir die Geschichte des bewussten Geistes betrachten und erzählen, radikal wandeln. In früheren Arbeiten habe ich vorgeschlagen, die Lebenssteuerung in die Unterstützung und Rechtfertigung von Selbst und Bewusstsein umzumünzen, und damit deutete sich die Richtung der neuen Sichtweise an: die Suche nach Vorstufen von Selbst und Bewusstsein in der Evolutionsvergangenheit.15 Entsprechend gründet sich die vierte Sichtweise auf Fakten aus der Evolutions- und der Neurobiologie. Sie erfordert, dass wir uns zuerst mit früheren Lebewesen befassen und uns dann nach und nach durch die Evolutionsgeschichte zu den heutigen Organismen vorarbeiten. Dabei müssen wir die schrittweisen Veränderungen des Nervensystems erkennen und mit dem schrittweisen Auftauchen von Verhalten, Geist und Selbst in Verbindung bringen. Außerdem brauchen wir eine interne Arbeitshypothese, wonach geistige Abläufe gleichbedeutend mit bestimmten Abläufen im Gehirn sind. Natürlich werden geistige Tätigkeiten von der Gehirntätigkeit verursacht, die ihnen vorausgeht, aber in bestimmten Stadien des Prozesses entsprechen die geistigen Vorgänge bestimmten Zuständen der Gehirnschaltkreise. Mit anderen Worten: Manche neuronalen Muster sind gleichzeitig geistige Bilder. Erzeugen dann andere neuronale Muster ein ausreichend reichhaltiges Selbst-Prozess-Subjekt, können die Bilder bekannt werden. Wird aber kein Selbst erzeugt, sind die Bilder dennoch da; allerdings weiß dann niemand innerhalb oder außerhalb des Organismus von ihrer Existenz. Subjektivität ist nicht erforderlich, damit geistige Zustände existieren können, sondern nur dafür, dass man privat von ihnen weiß.

Kurz gesagt, erfordert die vierte Sichtweise, dass wir mithilfe der verfügbaren Tatsachen gleichzeitig einen Blick aus der Vergangenheit und aus dem Inneren tun, also buchstäblich eine Momentaufnahme eines Gehirns schaffen, das einen bewussten Geist enthält. Natürlich handelt es sich dabei nur um einen mutmaßlichen, hypothetischen Blick. Manche Teile dieser Vorstellungswelt werden dabei durch Tatsachen untermauert; es liegt aber in der Natur des »Geist-Selbst-Leib-Gehirn«-Problems, dass wir noch geraume Zeit mit theoretischen Annäherungen statt vollständiger Erklärungen leben müssen.

Man ist leicht versucht, die hypothetische Äquivalenz von Vorgängen in Geist und Gehirn als grobe Reduktion des Komplexen auf das Einfache zu betrachten. Dies wäre aber ein falscher Eindruck angesichts der Tatsache, dass neurobiologische Vorgänge von vornherein durchaus nicht einfach, sondern höchst komplex sind. Die Reduktion in den Erklärungen verläuft hier nicht vom Komplexen zum Einfachen, sondern vom extrem Komplexen zum ein wenig weniger Komplexen. In diesem Buch geht es zwar nicht um die biologischen Vorgänge bei einfachen Organismen, aber die Tatsachen, auf die ich in Kapitel 2 anspiele, machen eines klar: Das Leben von Zellen spielt sich in einem äußerst komplexen Universum ab, das formal in vielerlei Hinsicht unserem verschlungenen menschlichen Universum entspricht. Die Welt und das Verhalten eines einfachen Lebewesens, beispielsweise des Pantoffeltierchens (Paramecium), sind wirklich staunenswert und haben mehr mit uns gemein, als man auf den ersten Blick meinen möchte..

Ebenso ist man leicht versucht, die mutmaßliche Äquivalenz von Gehirn und Geist so zu interpretieren, als würde man damit die Bedeutung der Kultur für die Entstehung des Geistes gering schätzen oder als würde man der Rolle individueller Bemühungen für die Prägung des Geistes einen geringen Stellenwert beimessen. Wie noch deutlich werden wird, trifft das in keiner Weise meine Intentionen.

Aus dem vierten Blickwinkel heraus kann ich nun einige meiner früheren Aussagen neu formulieren, wobei ich Erkenntnisse der Evolutionsbiologie einbeziehe und das Gehirn einschließe: Seit Jahrmillionen hatten unzählige Lebewesen einen aktiven Geist, der sich in ihrem Gehirn abspielte, aber erst nachdem sich in diesem Gehirn ein Protagonist entwickelt hatte, der Zeugnis ablegen konnte, setzte das Bewusstsein im strengen Sinne ein, und erst nachdem sich in den Gehirnen eine Sprache entwickelt hatte, wurde allgemein bekannt, dass ein Geist existiert. Der Zeuge ist das Extra, das die Gegenwart unausgesprochener, im Gehirn ablaufender, von uns als mental bezeichneter Vorgänge offenlegt. Zu verstehen, wie das Gehirn dieses Extra erzeugt, den Protagonisten, den wir mit uns herumtragen und als Selbst oder Ich bezeichnen, ist ein wichtiges Ziel der neurobiologischen Bewusstseinsforschung.

Das Gerüst

Bevor ich das Gerüst des vorliegenden Buches skizziere, muss ich einige grundlegende Tatsachen erläutern. Der Geist der Lebewesen entsteht durch die Aktivität bestimmter Zellen, der Nervenzellen oder Neuronen. Diese haben ihre meisten Eigenschaften mit allen anderen Zellen unseres Körpers gemeinsam, sie funktionieren aber auf besondere Weise: Sie reagieren auf Veränderungen in ihrer Umgebung, sie sind erregbar (eine interessante Eigenschaft, die sie mit Muskelzellen teilen), und mit einer faserartigen, als Axon bezeichneten Verlängerung und deren Endabschnitt, der Synapse, können die Neuronen Signale an andere, oftmals weit entfernte Zellen senden – an weitere Neuronen oder auch an Muskelzellen. Die Neuronen konzentrieren sich zum größten Teil im Zentralnervensystem (oder kurz gesagt, im Gehirn), übermitteln ihre Signale aber sowohl in den gesamten Körper als auch in die Außenwelt, und aus beiden Richtungen empfangen sie auch Signale.

Die Zahl der Neuronen in einem menschlichen Gehirn liegt in der Größenordnung von vielen Milliarden, und die Zahl der Synapsenverbindungen zwischen den Neuronen geht in die Billionen. Neuronen sind in mikroskopisch kleinen Schaltkreisen organisiert; diese bilden größere Schaltkreise, aus denen schließlich Netzwerke oder Systeme entstehen. Weitere Informationen über Neuronen und den Aufbau des Gehirns finden sich in Kapitel 2 und im Anhang.

Der Geist erwächst aus der Aktivität kleiner Schaltkreise in großen Netzwerken, die so organisiert wird, dass sich kurzzeitige Muster ergeben. Diese Muster repräsentieren Dinge und Ereignisse, die sich außerhalb des Gehirns entweder im Körper oder in der Außenwelt befinden; manche Muster bilden aber offenbar auch die Verarbeitung anderer Muster im Gehirn selbst ab. Alle diese Abbildungsmuster werden als Karten (im Sinne von Landkarten) bezeichnet; manche davon sind grob, andere sehr detailliert, manche konkret, andere abstrakt. Kurz gesagt, kartiert das Gehirn sowohl seine Umwelt als auch seine eigene Tätigkeit. Solche Karten erleben wir in unserem Geist als Bilder; der Begriff bezeichnet dabei nicht nur visuelle Abbildungen, sondern alle Eindrücke, die mit den Sinnen wahrgenommen werden, also auch akustische, ertastete oder »Bauchgefühle«.

 

Wenden wir uns nun dem Gerüst zu. Für die Vermutungen darüber, wie das Gehirn dieses oder jenes Phänomen erzeugt, ist der Begriff Theorie ein wenig deplatziert. Solange Theorien nicht einen sehr großen Umfang haben, sind sie meist nur Hypothesen. Was ich in diesem Buch formuliere, ist aber mehr als nur eine Hypothese: Es umfasst mehrere hypothetische Bestandteile für diesen oder jenen Aspekt der Phänomene, die ich beschreiben möchte. Was wir zu erklären hoffen, ist so komplex, dass man es nicht mit einer einzigen Hypothese beschreiben und nicht mit einem einzigen Mechanismus erklären kann. Deshalb habe ich mich zur zusammenfassenden Bezeichnung dieser Bemühungen für den Begriff Gerüst entschieden.

Um den hochtrabenden Titel zu rechtfertigen, müssen die in den folgenden Kapiteln skizzierten Gedanken bestimmten Anforderungen gerecht werden. Da wir einerseits verstehen wollen, wie das Gehirn einen bewussten Geist erzeugt, es andererseits aber völlig unmöglich ist, sich beim Zusammenbauen einer Erklärung gleichzeitig mit allen Ebenen der Gehirnfunktion zu beschäftigen, muss das Gerüst festlegen, für welche Ebene die Erklärung gilt. Wir sprechen von der Ebene, auf der die makroskopischen, aus Neuronenschaltkreisen zusammengesetzten Gehirnregionen untereinander in Wechselbeziehung treten und umfangreiche Systeme bilden. Dabei handelt es sich zwangsläufig um makroskopische Systeme, aber die mikroskopische Anatomie, die ihnen zugrunde liegt, ist teilweise bekannt, und ebenso weiß man, nach welchen Grundregeln die Neuronen funktionieren, aus denen sie zusammengesetzt sind. Solche großen Systeme sind der Untersuchung mit zahlreichen alten und neuen Methoden zugänglich. Dazu gehören die moderne Version der Läsionsmethode (die Untersuchung von Patienten, bei denen umgrenzte Gehirnschäden vorliegen, mit bildgebenden Verfahren sowie kognitiven und neuropsychologischen Tests), die Funktionsdarstellung mit bildgebenden Verfahren (Magnetresonanz-Scanaufnahmen, Positronen-Emissions-Tomographie, Magnetenzephalographie und verschiedene elektrophysiologische Methoden), die unmittelbare neurophysiologische Aufzeichnung der Neuronenaktivität im Rahmen neurochirurgischer Therapien, und die transkranielle Magnetstimulation.

Das Gerüst muss Verbindungen zwischen Verhalten, Geist und den Vorgängen im Gehirn herstellen. Um diesem zweiten Ziel gerecht zu werden, stellt es Verhalten, Geist und Gehirn eng nebeneinander; und da es auch auf die Evolutionsbiologie zurückgreift, stellt es das Bewusstsein in einen historischen Zusammenhang – ein angemessenes Vorgehen für Lebewesen, die sich in der Evolution durch natürliche Selektion wandeln. Außerdem wird die Reifung der Neuronenschaltkreise im einzelnen Gehirn ebenfalls als Gegenstand des Selektionsdrucks betrachtet, der sich aus der Tätigkeit der Lebewesen selbst und ihren Lernprozessen ergibt. Entsprechend verändert sich auch das Repertoire der Neuronenschaltkreise, die ursprünglich vom Genom bereitgestellt worden sind.16

Das Gerüst liefert Hinweise auf die Lage der Gehirnregionen, die an der Entstehung des Geistes mitwirken, und macht Vorschläge, wie einzelne Gehirnregionen durch ihr Zusammenwirken das Selbst erzeugen. Es stellt Vermutungen darüber an, wie eine Gehirnarchitektur, die sowohl das Zusammen- als auch das Auseinanderstreben der Neuronenschaltkreise umfasst, an der Koordination der Bilder auf höherer Ebene mitwirkt und eine unentbehrliche Voraussetzung für den Aufbau des Selbst und anderer Aspekte der Geistesfunktion darstellt, nämlich für Gedächtnis, Fantasie und Kreativität.

Mein Gerüst muss das Phänomen des Bewusstseins in Einzelbestandteile zerlegen, die der neurowisssenschaftlichen Forschung zugänglich sind. Dies führt zu zwei Bereichen, die man untersuchen kann: Prozesse im Geist und Prozesse des Selbst. Die Selbst-Prozesse werden nochmals in Untergruppen unterteilt, eine Trennung, die zwei Vorteile mit sich bringt: Man kann Bewusstsein auch bei biologischen Arten, die wahrscheinlich ebenfalls – allerdings weniger komplizierte – Selbst-Prozesse besitzen, unterstellen und untersuchen, und man kann eine Brücke bauen, die die hohen Ebenen des Selbst mit dem soziokulturellen Umfeld verbindet, in dem die Menschen handeln.

Ein weiteres Ziel lautet: Das Gerüst muss sich mit der Frage beschäftigen, wie sich Makroereignisse des Systems aus Mikroereignissen zusammensetzen. Hier setzt das Gerüst geistige Zustände hypothetisch mit bestimmten Tätigkeitszuständen einzelner Gehirnregionen gleich. Das Gerüst geht von folgender Annahme aus: Wenn die Neuronen in kleinen Neuronenschaltkreisen innerhalb eines bestimmten Intensitäts- und Häufigkeitsspektrums »feuern«, wenn einige derartige Schaltkreise gleichzeitig aktiviert werden und wenn bei den Verknüpfungen im Netzwerk bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, dann entsteht daraus ein »Geist mit Gefühlen«. Mit anderen Worten: Aufgrund der zunehmenden Größe und Komplexität der Neuronennetzwerke nehmen auch »Kognition« und »Fühlen« – durch die Hierarchien hindurch – von der Mikro- zur Makro-Ebene einen immer größeren Umfang an. Das Vorbild für eine solche Umfangserweiterung des Geistes mit Gefühlen finden wir in der Physiologie der Bewegung. Die Kontraktion einer einzelnen, mikroskopisch kleinen Muskelzelle ist ein unerhebliches Phänomen, aber wenn sich viele Muskelzellen gleichzeitig zusammenziehen, kann eine sichtbare Bewegung entstehen.

Die wichtigsten Gedanken: eine Vorschau

1.

Unter allen in diesem Buch vorgetragenen Gedanken nimmt einer eine zentrale Stellung ein: Der Körper ist das Fundament des bewussten Geistes. Wir wissen, dass die stabilsten Aspekte der Körperfunktionen in Form von Karten im Gehirn repräsentiert sind und demnach Bilder zum Geist beisteuern. Das ist die Grundlage für die Hypothese, dass die besonderen geistigen Abbilder des Körpers, die in den Körperkartierungsstrukturen entstehen, das Protoselbst bilden, das der Entstehung des Selbst vorausgeht. Dabei gilt es zu beachten, dass die entscheidenden Strukturen für die Kartierung des Körpers und die Konstruktion der Bilder im oberen Hirnstamm angesiedelt sind, einer Region, die unterhalb der Ebene der Großhirnrinde legt. Diesen alten Teil unseres Gehirns haben wir mit vielen anderen biologischen Arten gemeinsam.

2.

Ein weiterer zentraler Gedanke geht von der regelmäßig übersehenen Tatsache aus, dass sich die Protoselbst-Strukturen des Gehirns nicht nur auf den Körper ausrichten. Sie sind vielmehr buchstäblich und unauflöslich an den Körper gebunden. Insbesondere sind sie mit jenen Teilen des Körpers verknüpft, die das Gehirn ständig mit ihren Signalen bombardieren, nur um ihrerseits vom Gehirn bombardiert zu werden, so dass sich eine Resonanzschleife ergibt. Diese Resonanzschleife ist von Dauer und wird nur durch Gehirnerkrankungen oder den Tod unterbrochen. Körper und Gehirn sind verbunden. Aufgrund dieser Anordnung stehen die Strukturen des Protoselbst in einer privilegierten, unmittelbaren Beziehung zum Körper. Die von ihnen verkörperten Bilder des Körpers werden unter anderen Bedingungen wahrgenommen als andere, beispielsweise visuelle oder akustische Bilder im Gehirn. Im Licht dieser Tatsachen stellt man sich den Körper am besten als Felsen vor, auf den das Protoselbst gebaut ist, und das Protoselbst ist seinerseits der Dreh- und Angelpunkt, um den sich der bewusste Geist dreht.

3.

Das erste, elementarste Produkt des Protoselbst sind nach meiner Hypothese die ursprünglichen Gefühle, die ständig spontan auftauchen, wenn wir wach sind. Sie sorgen für die direkte Erfahrung des eigenen, lebendigen Körpers, wortlos, schnörkellos und mit nichts anderem als der puren Existenz verknüpft. In diesen ursprünglichen Gefühlen spiegelt sich der augenblickliche Zustand des Körpers in verschiedenen Dimensionen wider, beispielsweise auf der Skala, die von der Lust bis zum Schmerz reicht; ihren Ursprung haben sie nicht in der Großhirnrinde, sondern auf der Ebene des Hirnstamms. Alle Gefühle von Emotionen sind komplexe Variationen der ursprünglichen Gefühle. 17

Nach der hier skizzierten, funktionsorientierten Anordnung sind Schmerz und Lust körperliche Vorgänge. Sie werden aber auch im Gehirn kartiert, das in keinem Augenblick von seinem Körper abgegrenzt ist. Die ursprünglichen Gefühle sind also Bilder eines besonderen Typs; sie entstehen durch die obligatorischen Wechselbeziehungen zwischen Körper und Gehirn, durch die Eigenschaften der Schaltkreise, die für die Verbindung sorgen, und möglicherweise auch durch bestimmte Eigenschaften der Neuronen. Zu sagen, dass wir Gefühle spüren, weil sie den Körper kartieren, reicht nicht. Nach meiner Hypothese steht der Apparat des Hirnstamms, der die von uns als Gefühle bezeichneten Bilder erzeugt, nicht nur in einer einzigartigen Beziehung zum Körper, sondern er kann Signale aus dem Körper auch in großem Umfang vermischen und so komplizierte Zustände mit besonderen, neuen Gefühlseigenschaften hervorbringen, die weit mehr sind als sklavisch genaue Abbilder des Körpers. Dass wir auch Bilder fühlen, die keine Gefühle sind, liegt daran, dass sie normalerweise von Gefühlen begleitet werden.

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die Vorstellung von einer scharfen Grenze zwischen Körper und Gehirn problematisch ist. Außerdem liefert es uns eine potenziell nützliche Herangehensweise an die drängende Frage, warum und wie normale Geisteszustände zwangsläufig in irgendeiner Form von Gefühlen durchtränkt sind.

4.

Der Aufbau eines bewussten Geistes im Gehirn beginnt nicht auf der Ebene der Großhirnrinde, sondern im Hirnstamm. Ursprüngliche Gefühle sind nicht nur die ersten Bilder, die das Gehirn erzeugt, sondern auch eine unmittelbare Ausdrucksform der Empfindungsfähigkeit. Als Protoselbst bilden sie die Grundlage für komplexere Ebenen des Selbst. Solche Vorstellungen widersprechen allgemein verbreiteten Ansichten; der zuvor bereits zitierte Jaak Panksepp und auch Rodolfo Llinás vertreten allerdings ähnliche Positionen. Aber der bewusste Geist, wie wir ihn kennen, ist etwas ganz anderes als der bewusste Geist, der aus dem Hirnstamm hervorgeht – in diesem Punkt herrscht wahrscheinlich allgemein Einigkeit. Die verschiedenen Teile der Großhirnrinde statten den Vorgang der Geistentstehung mit einer Fülle von Bildern aus, die, wie Hamlet es vielleicht formulieren würde, weit über das hinausgehen, was sich der arme Horatio und seine Schulweisheit träumen lassen würden.

Der bewusste Geist beginnt da, wo das Selbst zum Geist hinzukommt, wo das Gehirn der Geistesmischung einen Selbst-Prozess hinzufügt, der anfangs bescheiden, später aber sehr robust ist. Das Selbst wird in einzelnen Schritten auf dem Fundament des Protoselbst aufgebaut. Der erste Schritt ist die Erzeugung der ursprünglichen Gefühle, jener urtümlichen Daseinsempfindung, die ganz von allein aus dem Protoselbst erwächst. Als Nächstes kommt das Kern-Selbst hinzu. Das Kern-Selbst handelt von Taten – insbesondere von einer Beziehung zwischen Organismus und Objekt. Es entfaltet sich in einer Abfolge von Bildern: Diese beschreiben, wie ein Objekt das Protoselbst beschäftigt und es – einschließlich der ursprünglichen Gefühle – abwandelt. Und schließlich gibt es noch das autobiografische Selbst. Dieses Selbst definiert sich unter dem Gesichtspunkt autobiografischen Wissens, das sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die vorhersehbare Zukunft bezieht. Die vielen Bilder, die in ihrer Gesamtheit eine Biografie definieren, erzeugen Pulse des Kern-Selbst, die in ihrer Summe ein autobiografisches Selbst ausmachen.

Das Protoselbst mit den ursprünglichen Gefühlen und das Kern-Selbst bilden gemeinsam ein »materielles Ich«. Das autobiografische Selbst, dessen höhere Bereiche alle Aspekte der sozialen Persönlichkeit umfassen, besteht aus einem »sozialen Ich« und einem »spirituellen Ich«. Diese Aspekte des Selbst können wir in unserem eigenen Geist beobachten oder ihre Wirkungen am Verhalten anderer studieren. Darüber hinaus bilden Kern-Selbst und autobiografisches Selbst in unserem Geist aber auch einen Wissenden; mit anderen Worten: Sie statten unseren Geist mit einer weiteren Form der Subjektivität aus. Unter praktischen Gesichtspunkten entspricht das normale menschliche Bewusstsein einem Geistesprozess, bei dem alle diese Ebenen des Selbst mitwirken und eine Anzahl ausgewählter Geistesinhalte vorübergehend mit einem Puls des Kern-Selbst verknüpfen.

5.

Weder die einfachen noch die robusten Ebenen des Selbst laufen in irgendeinem Areal oder einer Region des Gehirns ab. Der bewusste Geist erwächst aus der bruchlos gegliederten Tätigkeit mehrerer, manchmal sogar vieler Stellen im Gehirn. Zu den entscheidenden Strukturen, die für die Umsetzung der erforderlichen Funktionsschritte sorgen, gehören bestimmte Abschnitte des oberen Hirnstamms, eine Reihe von Kernen in der als Thalamus bezeichneten Region und spezifische, aber weit verstreute Regionen der Großhirnrinde.

Das Bewusstsein erwächst letztlich nicht aus einer bestimmten Stelle im Gehirn, sondern es entsteht gleichzeitig als Produkt dieser vielen Regionen, ganz ähnlich wie die Aufführung einer Symphonie, die nicht auf die Tätigkeit eines einzelnen Musikers oder einer Musikergruppe im Orchester zurückgeht. Das Seltsamste an den oberen Ebenen der Bewusstseinsaufführung ist das offenkundige Fehlen eines Dirigenten vor Beginn der Vorstellung. Wenn sie dann aber läuft, ist der Dirigent da. Unter allen praktischen Gesichtspunkten wird das Orchester jetzt von einem Dirigenten geleitet, aber dieser Dirigent wurde durch die Aufführung – das Selbst – erschaffen und nicht andersherum. Der Dirigent wird von Gefühlen und einer Erzählvorrichtung des Gehirns zusammengestückelt, er ist aber deshalb nicht weniger real. Dass der Dirigent in unserem Geist existiert, lässt sich nicht leugnen, und man gewinnt nichts dadurch, dass man ihn als Illusion abtut.

Die Koordination, auf die der bewusste Geist angewiesen ist, wird mit verschiedenen Mitteln erreicht. Auf der bescheidenen Ebene des Kerns beginnt sie in aller Stille als spontane Ansammlung von Bildern, die nacheinander in kurzen zeitlichen Abständen auftauchen: einerseits das Bild eines Objekts und andererseits das Bild des Protoselbst, das durch das Objekt verändert wird. Damit auf dieser einfachen Ebene ein Kern-Selbst entsteht, sind keine weiteren Gehirnstrukturen erforderlich. Die Koordination ist ein natürlicher Vorgang und ähnelt manchmal einem schlichten musikalischen Duo, das vom Organismus und dem Objekt gespielt wird; manchmal ähnelt es auch einem Kammermusikensemble, aber in beiden Fällen kommt es gut ohne Dirigenten aus. Nimmt die Zahl der im Geist verarbeiteten Inhalte aber zu, muss die Koordination auf andere Weise gewährleistet werden. In diesem Fall spielen verschiedene Gehirnregionen unterhalb der Ebene der Großhirnrinde und auch in ihr eine Schlüsselrolle.

Der Aufbau eines Geistes, der die eigene, gelebte Vergangenheit sowie die vorhersehbare Zukunft beinhaltet, das Leben anderer in das Gewebe einfließen lässt und obendrein noch zur Reflexion in der Lage ist, ähnelt der Aufführung einer Symphonie von Mahler’schen Proportionen. Aber wie bereits angedeutet, besteht das eigentliche Wunder darin, dass Partitur und Dirigent erst mit der Entfaltung des Lebens Realität werden. Die Koordinatoren sind keine wundersamen, klugen Homunculi, die dafür zuständig wären, irgendetwas zu interpretieren. Und doch sind die Koordinatoren hilfreich, weil sie ein außergewöhnliches Medienuniversum aufbauen und den Protagonisten in dessen Mitte platzieren.

Die große Symphonie namens Bewusstsein umfasst die grundlegenden Beiträge des Hirnstamms, die auf ewig an den Körper gebunden sind, und die ungeheuer weit gefasste Bilderwelt, die durch das Zusammenwirken der Großhirnrinde mit den subkortikalen Strukturen entsteht. Das alles ist harmonisch verwoben, bewegt sich ständig vorwärts und kann nur von Schlaf, Narkose, Funktionsstörungen des Gehirns oder den Tod unterbrochen werden.

Das Bewusstsein im Gehirn lässt sich ebenso wenig mit einem einzelnen Mechanismus, einem einzelnen Gehirnareal, Merkmal oder Trick erklären, wie eine Symphonie von einem einzigen Musiker oder einigen wenigen gespielt werden kann. Dazu sind viele notwendig. Zwar zählt jeder Einzelbeitrag, doch erst das Ensemble bringt das Produkt hervor, das wir zu erklären suchen.

6.

Zwei leicht erkennbare Leistungen des Bewusstseins sind die Verwaltung und Sicherung des Lebens: Neurologiepatienten mit Bewusstseinsstörungen können selbst dann kein unabhängiges Leben führen, wenn ihre grundlegenden Lebensfunktionen normal ablaufen. Andererseits sind Mechanismen für die Verwaltung und Aufrechterhaltung des Lebens in der biologischen Evolution nichts Neues, und sie setzen auch nicht zwangsläufig ein Bewusstsein voraus. Solche Mechanismen gibt es bereits bei Einzellern, und sie sind im Genom festgeschrieben. Außerdem vervielfältigen sie sich bereits in uralten, bescheidenen, ungeistigen und unbewussten Neuronenschaltkreisen, und sie sind tief im Gehirn der Menschen verwurzelt. Wie wir noch genauer erfahren werden, sind die Verwaltung und Sicherung des Lebens die grundlegende Voraussetzung für biologischen Wert. Der biologische Wert hatte Einfluss auf die Evolution der Gehirnstrukturen und wirkt sich in jedem Gehirn auf nahezu alle Schritte seiner Tätigkeit aus. Seinen Ausdruck findet er in einfacher Form in der Ausschüttung von Molekülen, die mit Belohnung oder Bestrafung zu tun haben, oder aber auf komplizierte Weise beispielsweise in unseren zwischenmenschlichen Gefühlen und verschlungenen Überlegungen. Biologischer Wert lenkt und färbt eigentlich fast alles, was sich in unserem sehr geistvollen, sehr bewussten Gehirn abspielt. Biologischer Wert hat den Rang einer Gesetzmäßigkeit.

Kurz gesagt, erwächst der bewusste Geist aus der Geschichte der Lebenssteuerung. Die Lebenssteuerung ist ein dynamischer Prozess, der auch als Homöostase bezeichnet wird. Er beginnt bei den einzelligen Lebewesen, beispielsweise den Bakterienzellen oder einfachen Amöben, die kein Gehirn besitzen, aber zu angepasstem Verhalten in der Lage sind. Seine Fortsetzung findet er bei Individuen, deren Verhalten – wie beispielsweise bei den Würmern – von einem einfachen Gehirn gesteuert wird, und dann führt sein Weg zu Organismen, deren Gehirn sowohl Verhalten als auch Geist erzeugt (Beispiele sind hier Insekten oder Fische). Ich glaube gern, dass Lebewesen immer dann, wenn ihr Gehirn ursprüngliche Gefühle erzeugt – was in der Evolutionsgeschichte schon sehr früh der Fall gewesen sein könnte –, zu einer frühen Form von Empfindungsfähigkeit in der Lage sind. Von da an kann sich ein organisierter Prozess des Selbst entwickeln, der zum Geist hinzukommt und damit den Grundstein für einen höher entwickelten, bewussten Geist legt. Anwärter für diese Unterscheidung sind unter anderem die Reptilien und noch mehr die Vögel, den Preis bekommen jedoch die Säugetiere, und zwar vor allem ein paar ganz bestimmte.

Bei den meisten Arten, die ein Selbst hervorbringen, geschieht dies auf der Ebene des Kerns. Menschen besitzen sowohl ein Kern-Selbst als auch ein autobiografisches Selbst. Auch manche Säugetiere verfügen vermutlich über beides, so unter anderem Wölfe, unsere Menschenaffenvettern, Meeressäuger und Elefanten, Katzen und natürlich jene außergewöhnliche Spezies, die als Haushund bezeichnet wird.

7.

Der Weg des Geistes ist mit der Entstehung der modernsten Ebenen des Selbst noch nicht zu Ende. In der Evolution der Säugetiere und insbesondere der Primaten wird der Geist immer komplexer, Gedächtnis und Vernunft weiten sich beträchtlich aus, und die Selbst-Prozesse erweitern ihre Spannbreite. Das Kern-Selbst bleibt erhalten, aber es wird allmählich vom autobiografischen Selbst umgeben, das sich neuronal und mental stark vom Kern-Selbst unterscheidet. Wir erwerben die Fähigkeit, mit einem Teil unserer Geistestätigkeit die Tätigkeit anderer Teile zu überwachen. Der bewusste Geist des Menschen, der mit einem so komplexen Selbst ausgerüstet ist und darüber hinaus noch über so großartige Fähigkeiten wie Gedächtnis, Vernunft und Sprache verfügt, bringt die Instrumente der Kultur hervor und eröffnet auf den Ebenen von Gesellschaft und Kultur den Weg zu neuen Mitteln der Homöostase. In einem außergewöhnlichen Sprung erfährt die Homöostase eine Erweiterung in die soziokulturelle Sphäre. Beispiele für diese neuen Mittel der Regulation sind Justizsysteme, wirtschaftliche und politische Organisationen, Künste, Medizin und Technologie.

Die dramatische Verringerung der Gewaltanwendung in Verbindung mit zunehmender Toleranz – eine unübersehbare Entwicklung der letzten Jahrhunderte – hätte ohne soziokulturelle Homöostase nicht stattfinden können. Das Gleiche gilt für den allmählichen Übergang von erzwungener Macht zur Macht der Überzeugung, die trotz aller Rückschläge das Kennzeichen hoch entwickelter gesellschaftlicher und politischer Systeme ist. Die Erforschung der soziokulturellen Homöostase kann ihre Anregungen in Psychologie und Neurowissenschaft finden, ihre Heimat haben ihre Phänomene aber in der Kultur. Man kann mit Fug und Recht sagen: Wer die Urteile des Obersten Gerichtshofes der USA, die Entscheidungen des US-Kongresses oder die Arbeitsweise der Finanzinstitutionen beschreibt, untersucht indirekt auch die Merkwürdigkeiten der soziokulturellen Homöostase.

Sowohl die grundlegende Homöostase (die unbewusst reguliert wird) als auch die soziokulturelle Homöostase (die durch den reflektierenden, bewussten Geist erschaffen wird) wirken als Verwalter des biologischen Wertes. Die grundlegende und die soziokulturelle Form der Homöostase sind durch Jahrmilliarden der Evolution getrennt, und doch dienen sie, wenn auch in unterschiedlichen ökologischen Nischen, dem gleichen Ziel: dem Überleben der Organismen. Dieses Ziel wird im Fall der soziokulturellen Homöostase so erweitert, dass es auch das gezielte Streben nach Wohlbefinden einschließt. Dass für die Art, wie das menschliche Gehirn das Leben verwaltet, beide Formen der Homöostase und ihr ständiges Wechselspiel erforderlich sind, braucht nicht besonders betont zu werden. Aber während die grundlegende Form der Homöostase ein festes Erbe darstellt, das jedem Menschen von seinem Genom bereitgestellt wird, ist die soziokulturelle Variante ein empfindliches, noch im Werden begriffenes Werk, das für die meisten menschlichen Dramen, Torheiten und Hoffnungen verantwortlich zeichnet. Die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Formen der Homöostase sind nicht auf das Individuum beschränkt. Wachsenden Hinweisen zufolge führen kulturelle Entwicklungen im Laufe vieler Generationen auch zu Veränderungen im Genom.

8.

Betrachtet man den bewussten Geist unter dem Gesichtspunkt der Evolution von einfachen Lebensformen zu komplexen Organismen wie uns selbst, so fällt es leichter, in ihm etwas Natürliches zu sehen: Man erkennt, dass er das Ergebnis einer stufenweise zunehmenden Komplexität innerhalb des biologischen Rahmens ist.

Das menschliche Bewusstsein und die Funktionen, die es ermöglichte (Sprache, erweitertes Gedächtnis, Vernunft, Kreativität, das ganze Gebäude der Kultur) können wir als Sachwalter des Wertes in unserem modernen, sehr geistbegabten, sehr sozialen Wesen betrachten. Und wir können uns eine lange Nabelschnur vorstellen, die den kaum von der Mutter entwöhnten, stets abhängigen bewussten Geist mit den Tiefen ganz elementarer, völlig unbewusster Regulatoren des Wertprinzips verbindet.

Die Geschichte des Bewusstseins kann man nicht auf konventionelle Weise erzählen. Das Bewusstsein entstand wegen seines biologischen Wertes als Beitrag zu einer effizienteren Werteverwaltung. Aber das Bewusstsein hat weder den biologischen Wert noch den Prozess der Bewertung erfunden. Erst im Geist des Menschen hat das Bewusstsein den biologischen Wert aufgedeckt und die Entwicklung neuer Mittel und Wege zum Umgang damit ermöglicht.

Leben und der bewusste Geist

Ich würde es keinem Leser verübeln, wenn er sich fragt, ob es überhaupt vernünftig ist, ein ganzes Buch der Frage zu widmen, wie ein Gehirn einen bewussten Geist hervorbringt. Im Gegenteil: Sinnvollerweise sollte man sich fragen, ob Kenntnisse über die Gehirntätigkeiten, die hinter Geist und Selbst stehen, überhaupt von praktischer Bedeutung sind und nicht nur unsere Neugier auf das Wesen des Menschen befriedigen sollen. Haben sie tatsächlich Auswirkungen auf unser Alltagsleben? Ich bin aus vielen großen und kleinen Gründen überzeugt, dass die Antwort Ja lautet.

Wenn wir verstehen, unter welchen Umständen der bewusste Geist in der Geschichte des Lebendigen entstanden ist und insbesondere wie er sich in der Geschichte der Menschheit entwickelt hat, können wir die Qualität der Kenntnisse und Ratschläge, die ein solcher bewusster Geist uns liefert, vielleicht besser beurteilen. Sind die Kenntnisse zuverlässig? Hat der Ratschlag Hand und Fuß? Nützt es uns, wenn wir verstehen, welchen Mechanismen der Geist unterliegt, der uns den Rat gibt?

Bei der Aufklärung der neuronalen Mechanismen hinter dem bewussten Geist zeigt sich, dass unser Selbst nicht immer fehlerfrei ist und nicht die Kontrolle über alle Entscheidungen hat. Aber die Tatsachen rechtfertigen es auch, den falschen Eindruck abzulehnen, unsere Fähigkeit zu bewusstem Abwägen sei ein Mythos. Indem wir Licht in bewusste und unbewusste geistige Vorgänge bringen, verbessern wir unsere Aussichten, unsere Denkfähigkeit noch zu erhöhen. Das Selbst ebnet den Weg zu gezieltem Nachdenken und zum Abenteuer der Wissenschaft, zwei spezifischen Hilfsmitteln, mit denen wir allen irreführenden Empfehlungen des ununterstützten Selbst entgegenwirken können.

Es wird die Zeit kommen, in der man in der Diskussion über die Verantwortung der Menschen – und zwar sowohl die allgemein-moralischen Aspekte wie auch die juristischen Gesichtspunkte – die Entwicklungen der Bewusstseinsforschung in Betracht ziehen wird. Vielleicht ist diese Zeit bereits gekommen. Dank reflexivem Denken und wissenschaftlichen Hilfsmitteln kann ein tieferes Verständnis der neuronalen Konstruktion des bewussten Geistes auch seinen Teil dazu beitragen, die Entwicklung und Ausgestaltung von Kulturen, den Spitzenprodukten des kollektiven bewussten Geistes, zu erforschen. In der Debatte über Nutzen und Gefahren kultureller Trends oder über Entwicklungen wie die digitale Revolution ist es von Nutzen, wenn wir mehr darüber wissen, wie unser vielseitiges Gehirn das Bewusstsein schafft. Wird beispielsweise die von der digitalen Revolution ausgehende fortschreitende Globalisierung des menschlichen Bewusstseins die Ziele und Prinzipien der grundlegenden Homöostase ebenso verfolgen, wie es die derzeitige soziokulturelle Homöostase tut? Oder wird sie sich von ihrer evolutionären Nabelschnur losreißen, sei dies nun gut oder schlecht?18

Wenn man den bewussten Geist zu etwas Natürlichem erklärt und ihn fest im Gehirn verankert, schmälert man damit weder die Bedeutung der Kultur für das Wesen der Menschen noch die Menschenwürde, und es bedeutet auch nicht das Ende von Rätsel und Erstaunen. Kulturen entstehen und entwickeln sich im Laufe vieler Generationen aus der kollektiven Anstrengung menschlicher Gehirne, und im Laufe dieses Prozesses gehen manche Kulturen sogar zugrunde. Sie brauchen Gehirne, die bereits durch frühere kulturelle Effekte geprägt wurden. Die Bedeutung der Kultur für die Entstehung des modernen menschlichen Geistes steht außer Frage. Ebenso wird die Würde dieses Geistes nicht dadurch geschmälert, dass man ihn mit der erstaunlichen Komplexität und Schönheit in Verbindung bringt, die sich in lebenden Zellen und Geweben findet. Im Gegenteil: Die Verknüpfung von Persönlichkeit und Biologie ist eine Quelle unendlichen Staunens und Respekts für alles Menschliche. Indem man den Geist zu etwas Natürlichem erklärt, löst man letztlich vielleicht nur ein Rätsel, doch dadurch könnte der Schleier über weiteren Rätseln gelüftet werden, die in aller Stille warten, bis sie an der Reihe sind.

Ordnet man die Entstehung des bewussten Geistes in die Biologie- und Kulturgeschichte ein, eröffnet sich ein Weg, um den traditionellen Humanismus mit der modernen Naturwissenschaft in Einklang zu bringen. Wenn also Neurowissenschaftler das Erleben der Menschen in der fremdartigen Welt der Gehirnphysiologie und Genetik erforschen, wird die Würde des Menschen damit nicht nur aufrechterhalten, sondern sogar gestärkt.

F. Scott Fitzgerald schrieb einmal die denkwürdigen Worte: »Wer als erster das Bewusstsein erfand, beging eine große Sünde.« Ich kann verstehen, warum er das sagte, aber seine Verdammung ist nur die halbe Geschichte; sie eignet sich für jene Augenblicke, in denen wir wegen der Unvollkommenheiten der Natur, die der menschliche Geist so gnadenlos offenlegt, entmutigt sind. Die andere Hälfte sollte aus Lob für eine Erfindung bestehen, die uns zu all den Schöpfungen und Entdeckungen befähigt, mit denen wir Verlust und Trauer gegen Freude und Jubel eintauschen. Die Entstehung des Bewusstseins öffnete den Weg zu einem lebenswerten Leben. Zu verstehen, wie es dazu kommt, kann diesen Wert nur vergrößern.19

2. Von der Lebenssteuerung zum biologischen Wert

Die Implausibilität der Realität

Mark Twain sagte einmal, der große Unterschied zwischen Fiktion und Realität bestehe darin, dass die Fiktion glaubhaft sein müsse. Die Realität kann es sich leisten, unplausibel zu sein, die Fiktion nicht. Auch das, was ich hier über Geist und Bewusstsein berichte, entspricht nicht den Anforderungen an Fiktion. Es widerspricht der Intuition und bringt die traditionell erzählten Geschichten durcheinander. Immer wieder straft es altbewährte Annahmen und nicht wenige Erwartungen Lügen. Aber das alles macht meine Darstellung nicht weniger wahrscheinlich.

Die Vorstellung, dass sich hinter dem bewussten Geist unbewusste geistige Vorgänge verbergen, ist wahrlich nichts Neues. Mit dem gleichen Gedanken spielte man schon vor über einem Jahrhundert, und damals wurde er in der Öffentlichkeit mit großer Überraschung aufgenommen. Heute ist er ein Allgemeinplatz. Etwas anderes dagegen ist zwar ebenfalls bekannt, wird aber nicht allgemein zur Kenntnis genommen: Schon lange bevor die Lebewesen einen Geist hatten, zeigten sie effiziente, der Anpassung dienende Verhaltensweisen, und diese Verhaltensweisen ähnelten unter allen praktischen Gesichtspunkten jenen, die sich in geistbegabten, bewussten Lebewesen entwickeln. Diese Verhaltensweisen wurden zwangsläufig gerade nicht von einem Geist verursacht, von einem Bewusstsein ganz zu schweigen. Kurz gesagt, existieren bewusste und unbewusste Prozesse nicht nur nebeneinander, sondern unbewusste Prozesse, die für die Aufrechterhaltung des Lebens von großer Bedeutung sind, können sogar ohne ihre bewusste Entsprechung existieren.

Was Geist und Bewusstsein betrifft, hat die Evolution unterschiedliche Gehirne entstehen lassen. Es gibt einen Typ von Gehirnen, die Verhalten hervorbringen, offensichtlich aber weder Geist noch Bewusstsein besitzen; ein Beispiel ist das Nervensystem der Meeresschnecke Aplysia californica, die sich im Labor des Neurobiologen Eric Kandel besonderer Beliebtheit erfreute. Eine andere Form – Paradebeispiel ist das menschliche Gehirn – produziert das ganze Spektrum der Phänomene: Verhalten, Geist und Bewusstsein. Der dritte Hirntyp bringt eindeutig Verhalten hervor, erzeugt wahrscheinlich auch einen Geist, aber ob er auch Bewusstsein in dem hier erörterten Sinn entstehen lässt, ist nicht geklärt. Dies gilt zum Beispiel für Insekten.

Mit der Erkenntnis, dass ein Gehirn auch ohne Geist und Bewusstsein ganz respektable Verhaltensweisen erzeugen kann, sind die Überraschungen noch nicht zu Ende. Wie sich herausstellt, zeigen auch Lebewesen ohne jedes Gehirn bis hinab zu den Einzellern scheinbar intelligente, zielgerichtete Verhaltensweisen. Auch diese Tatsache wird nicht allgemein zur Kenntnis genommen.