Wiesenpieper - Wolfgang Held - E-Book

Wiesenpieper E-Book

Wolfgang Held

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Beschreibung

Die lustig-traurige Geschichte eines Pechvogels. Felix Ritter aus Bruselfeld scheint seinen Spitznamen aus frühesten Kindertagen zu Recht zu tragen. Er hat das Pech gepachtet und spielt ungewollt den Dorfclown. Doch dann muss der junge Mann, den alle nur Wiesenpieper rufen, seinen Grundwehrdienst ableisten. Er traut seinen Augen nicht, als seine alte verwaschene Jeanshose zum Abschied ganz oben an der Kirchturmspitze hängt. Felix tröstet sich: Das Kasernengelände ist groß, dort kennt ihn und den verhassten Spitznamen Wiesenpieper niemand. Wirklich niemand? Mit viel Humor schildert der Autor, wie der Tollpatsch Wiesenpieper zu einem selbstbewussten jungen Mann heranreift. Das spannende Buch entstand 1988 nach dem DEFA-Film von 1983 (Regie: Hans Knötzsch, Drehbuch: Wolfgang Held) LESEPROBE: Ein anderes Mal traf der von ihm getretene Fußball nicht etwa bloß eine Fensterscheibe, die ja leicht zu reparieren gewesen wäre, sondern knallte gegen den Kopf eines Maurers, warf den erschrockenen Mann vom Gerüst und verursachte bei ihm zwei gebrochene Rippen. Vor der Jugendweihe im Saal der Dorfkneipe hatte Frau Ritter ihrem Sohn eine sehr höfliche und tiefe Verbeugung beigebracht. Er sollte sich damit wohlerzogen für die Glückwünsche und den Händedruck des Bürgermeisters bedanken. Aufgeregt und bemüht, auch der mit Uli in der sechsten Reihe sitzenden Mutter eine Freude zu machen, hatte er im feierlichen Augenblick den Kopf weit nach vorn geworfen und völlig unbeabsichtigt den gewölbten Bauch des Bürgermeisters derart kräftig gerammt, dass der verdutzte Amtsträger rückwärts taumelte. Er stürzte von der Bühne herab zwischen die zur Zierde aufgestellten Grünpflanzen, wobei ihm glücklicherweise außer dem Gejohle der Zuschauer sowie ein paar blauen Flecken am Rücken und etwas weiter unten keine schlimmeren Unannehmlichkeiten widerfahren waren. Und so war es all die Jahre hindurch weitergegangen. Besonders lange hatte man in Bruselfeld über das Missgeschick gelacht, das dem Wiesenpieper passiert war, als er schon das Facharbeiterzeugnis besaß und in der LPG-Fahrzeugwerkstatt arbeitete. Auf der Probefahrt mit einem gerade erst reparierten Traktor hatte er versehentlich den Rückwärts- anstelle des Vorwärtsganges eingelegt und war, ehe er recht begriff, was geschah, in voller Fahrt durch das Schaufenster der neuen Konsumkaufhalle gedonnert, hatte Regale samt Nudeltüten, Keksschachteln und Waschpulverpaketen überrollt, bevor er das knatternde, tonnenschwere Ungetüm

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Impressum

Wolfgang Held

Wiesenpieper

Die lustig-traurige Geschichte eines Pechvogels

ISBN 978-3-86394-976-1 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1988 bei Der Kinderbuchverlag Berlin - DDR.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Godern

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.ddrautoren.de

DAS 1. KAPITEL

in dem Felix Ritter aus Bruselfeld einen Kartoffelpufferautomaten erfindet, einen Spitznamen bekommt und eine böse Überraschung erlebt.

Geschichten, solche zum Lachen genauso wie die zum Weinen, die wirklich passierten, aber auch ganz und gar ausgedachte, viele davon beginnen auf die merkwürdigste Weise. Manche haben ihren Anfang zum Beispiel in einem alten Schuhkarton oder hoch am Himmel in einer weißen Wolke, andere setzen völlig undiszipliniert während einer langweiligen Deutschstunde ein, mitten im Gebrüll einer Meute von Fußballfans oder womöglich mucksmäuschenstill am Flussufer dicht bei den Wildenten.

Erster Schauplatz der ziemlich unerfreulichen Erlebnisse des Jungen, von dem hier die Rede sein soll, ist ein kleines Dorf in Thüringen.

Bruselfeld!

Hier, wo der arg gezauste und gefoppte Held dieser Geschichte achtzehn Jahre vor ihrem Beginn geboren wurde, gibt es heute eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft mit dem schönen Namen »Butterblume«, dazu Konsumhalle, Kindergarten, Kneipe und Kirche sowie eine angeblich dreihundert Jahre alte Linde und dicht dabei einen nicht sehr gut riechenden Ententeich.

Eine Schule existiert in Bruselfeld nicht, aber deshalb bitte keine falschen Hoffnungen! Die Mädchen und Jungen aus dem Dorf fahren mit dem Bus zum Unterricht in das vier Kilometer entfernte Rodehain, wo es auch einen kleinen Bahnhof gibt, an dem sogar dreimal täglich ein Personenzug hält. Eine Menge Kinder aus Bruselfeld haben hier zum ersten Mal in ihrem Leben eine echte Diesellokomotive nicht nur im Fernsehen, sondern auch zum Greifen nahe gesehen.

Es kann leicht möglich sein, dass der eine oder andere Leser dieser Geschichte tatsächlich schon einmal im Auto, auf dem Weg zum Rennsteig, zum Inselsberg oder zur Wartburg, durch jenen Ort gefahren ist, ohne sich den Namen gemerkt zu haben.

Bruselfelds gibt es überall im Land!

An diesem ersten Montag im November ging die Sonne auch für das Dörfchen Bruselfeld pünktlich und genau nach dem Kalender 6.57 Uhr auf, begrüßt vom Spektakel der sechshundertdreiundvierzig Spatzen, vom Geschnatter und Gegacker des Federviehs sowie vom harten Tuckern eines Traktors. Dazu kläfften alle elf steuerlich registrierten und die beiden nicht gemeldeten Hunde auf den Höfen, am lautesten Schneider-Hugos einohriger Wotan, von dem ein paar Leute behaupteten, er sei nicht nur ein Raufboldköter, sondern auch eine teuflische Mischung aus drei verschiedenen bellfreudigen Rassen und einer Alarmsirene.

In diesem allmorgendlichen Lärm und Gebelfer bröckelte wieder ein wenig Putz von Schneider-Hugos Hausfassade, die Tauben flatterten aufgeschreckt vom Scheunenfirst hoch, und Oma Rapsel knallte in gewohnter Weise grimmig die Flügel ihres Küchenfensters zu. Ein Tagesanbruch wie hundert andere Tagesanbrüche zuvor, doch so sollte es nicht bleiben.

Die Knallschote platzte genau anderthalb Minuten nach dem ersten Sonnenstrahl dieses Montags!

Specht-Georg, der junge Mann hinter dem Lenkrad des LPG-Traktors, stampfte so heftig aufs Bremspedal, dass die Frauen der Feldbaubrigade hinten auf dem Anhänger juchzten und fluchten und kreischten.

Der Volkspolizei-Hauptwachtmeister Jupp Hannes, Abschnittsbevollmächtigter in Bruselfeld, stockte mitten im Schritt, nahm die Schirmmütze ab und kratzte sich die kahle Stelle über der Stirn, die er seit drei Jahren zweimal täglich ebenso eifrig wie ergebnislos mit Birkenwasser und einem angeblich wundertätigen Aufguss einrieb, den ihm der Schäfer Paul gebraut hatte.

Die hübsche Anette, die im Konsum gleichzeitig Leiterin, Verkäuferin, Dekorateurin, Heizerin, Transportarbeiterin, Raumpflegerin und trotzdem fast immer fröhlicher Laune war, hielt beim Aufstapeln der mit leeren Flaschen gefüllten Kästen inne. Sie verschluckte vor Erstaunen ihren Kaugummi.

Pfarrer Brösel stürzte wie ein alarmierter Feuerwehrmann aus seiner Kirche, rannte über den Platz hinüber zum Abschnittsbevollmächtigten und hob an dessen Seite den Blick ebenfalls hinauf zu der Stelle an der Turmspitze, auf die jetzt alle Augenpaare gerichtet waren.

Der Bürgermeister Hubert Serbisch erfuhr zur selben Minute die jüngste Dorfneuigkeit wie stets von seiner Frau. Gemächlich unterbrach er sein üppiges Frühstück und kam, ganz nach seiner Art, ohne Eile und Erregung aus seinem Häuschen. Er stellte sich, zwischen den Zähnen noch von einem kleinen Rest der hausgemachten Knackwurst belästigt, zu dem Abschnittsbevollmächtigten und Pfarrer Brösel. Den Blick in die Höhe gerichtet, stocherte er andächtig mit einem Streichholz in seinem Mund herum und brach schließlich als erster das Schweigen.

»Wir wollen keine Staatsaktion draus machen«, meinte er gelassen.

Auch die anderen Himmelsgucker fanden nun langsam ihre Sprache wieder.

»Da hat einer bestimmt 'n kalten Hintern bekommen«, witzelte Specht-Georg hinter dem Traktorlenkrad.

Vom Anhänger her antwortete Gelächter.

»Eine Ordnungswidrigkeit ... Mindestens!«, murmelte der Abschnittsbevollmächtigte und spähte dabei verstohlen zum Pfarrer hin. Er wollte dem Geistlichen deutlich zu verstehen geben, dass Verstöße gegen Ordnung und Anstand hier in Bruselfeld polizeilicherseits mit gebührender Strenge behandelt wurden, gleichgültig, ob sie die altehrwürdige Dorfkirche oder das noch im Bau befindliche Kulturhaus betrafen.

»Herr im Himmel, was hätte bei diesem Bubenstück für ein Unheil geschehen können!«, schimpfte Pfarrer Brösel leise.

»Stark!«, urteilte hingegen die hübsche Anette vom Konsum trocken, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmete, denn jede Minute konnte das Brauereiauto eintreffen.

Auch Oma Rapsel, von Neugier aus dem Häuschen gelockt, fand die Sache eher vergnüglich als empörend. »Endlich mal wieder 'n rechter Schabernack«, brabbelte sie vor sich hin. »'s gibt ehm doch noch äh paar Huttiche, wie mehr se ooch früher im Dorfe hatt'n!«

Ganz anders das Mädchen aus der Feldbaubrigade, das wegen der prallen Rundungen vorn, hinten und überhaupt nur Bombi genannt wurde. Sie teilte das schadenfrohe Feixen der anderen Mitfahrer auf dem Anhänger nicht. Wütend schickte sie ihre Blicke in die Runde, schnüffelte aufgebracht und machte dazu ein Gesicht, als stünde sie ganz nah beim Heulen.

»Es ist eine Gemeinheit!«, stieß sie hervor. »Das sind doch Saukerle, denen so was einfällt!«

»He-he-he!«, protestierte Specht-Georg.

Die Brigademitglieder zeigten mit langen Fingern auf das dicke Mädchen und lachten noch lauter.

Es gab in dieser Stunde keinen Bruselfelder, dem es schwergefallen wäre, die Herkunft eines höchst ungewöhnlichen Anhängsels, das oben an der Wetterfahne des Kirchturmes baumelte, zu erraten.

Wiesenpieper, laut Geburtsurkunde und Personalausweis eigentlich Felix Ritter, ließ nur seinen auf vier Zentimeter Haarlänge gestutzten Blondschopf und einen nackten Fuß der Schuhgröße 44 unter dem dicken Federbett hervorschauen. Er träumte.

Ein dürrer General, der zu seiner mit roten Biesen besetzten Hose, einer bunten Ordensbrust und der mit viel glitzerndem Zierrat geschmückten Jacke seltsamerweise eine meterhohe, steife Küchenmeistermütze trug, hatte unserem Felix aus Bruselfeld soeben für die Erfindung eines elektronisch gesteuerten Kartoffelpufferautomaten den goldenen Blechnapf verliehen. Nun sollte das Wunderwerk die erste, große Bewährungsprobe bestehen. Auf Befehl des Generals waren aus allen Himmelsrichtungen ein paar Hundert Soldaten herbeimarschiert. Sie saßen an langen Tischen und trommelten mit den Essbestecks ungeduldig auf die Teller, als sei das Vertilgen von Reibekuchen eine Aufgabe von höchster militärischer Bedeutung.

Felix fühlte sich stolz und hochgeehrt. Keine Spur von Unsicherheit. Gelassen schritt er zu seinem Apparat. Das Wundergerät besaß sehr viel Ähnlichkeit mit einem Traktor, dessen Auspuffrohr jedoch nicht himmelwärts, sondern waagerecht nach vorn gerichtet war und einer Kanone glich. Feierlich legte er seinen Zeigefinger auf den Startknopf.

Der General stand stramm. Er hob die flache Hand zum Gruß an den Rand der Kochmütze.

Die Soldaten an den Tischen sprangen hoch. Mit ausgestreckten Armen präsentierten sie Messer und Gabeln. Dazu schrien sie kurz und abgehackt: Hurra-Hurra-Hurra!

Krachend zerplatzten am Himmel drei grüne Leuchtkugeln.

Felix drückte auf den Knopf.

Nichts!

Stille!

Die Kinnlade des Generals klappte herab. Die Soldaten verstummten.

Felix trat vor das Kartoffelpufferausstoßrohr. Er spähte hinein, wollte etwas sagen, doch ehe es dazu kam, schoss ihm ein eiskalter Wasserstrahl ins Gesicht und nahm ihm den Atem.

Jetzt muss ich gleich jämmerlich ersaufen, dachte er und versuchte zu fliehen. In diesem Moment sausten aus der dunklen Röhre dutzendweise pfannenheiße Kartoffelpuffer heran, flogen ihm um die Ohren, klatschten links und rechts schmerzhaft gegen seine Wangen.

Gleichzeitig schmetterte eine Mädchenstimme Unfreundlichkeiten!

»Raus, du Schluckmolch! Guck dir das an und schäm dich gefälligst mit!« Die Worte knatterten wie Hagelkörner und zerlöcherten Felix' Traumwelt. Das Gezeter nahm kein Ende. »Mensch, werde ich die Zeit genießen, wenn du bei der Fahne bist! Los, wach endlich auf!«

Felix' Schwester Uli war so ärgerlich, dass sie keine Mittel scheute, um den Bruder aus seinem Schlaf und ans offene Fenster zu holen. Tatsächlich bewirkten die mit einem Glas Wasser verabreichte kalte Dusche und zwei, drei Ohrfeigen mittlerer Güte, dass er die Lider hob. Kleine Rippenstöße halfen nach.

Zuerst blieb der junge Bruselfelder freilich noch ein Weilchen auf der Bettkante sitzen. Gähnend stieß er dann einen Raubtierlaut hervor und betrachtete eine kleine Weile tiefsinnig seine weißen Füße. Es hatte den Anschein, als zähle er argwöhnisch nach, ob ihm über Nacht nicht einer seiner Zehen abhandengekommen war.

Bis auf das beinah echt silberne Halskettchen mit dem Tierkreiszeichen des Krebses als Anhänger trug Felix Ritter nichts als seine flachsfarbenen Haare auf der Haut. Eigentlich hätte das Tierkreiszeichen ein Löwe sein müssen, denn er feierte seinen Geburtstag alljährlich am 4. August, aber im Kaufhaus in der Kreisstadt hatte es an dem Tag, als er dort war, nur Krebse und Jungfrauen gegeben. Einen Anhänger wollte er unbedingt, und weil er sich mit einer Jungfrau zwischen den Brustwarzen irgendwie albern vorgekommen wäre, hatte er sich für den Krebs entschieden. Nach Ansicht seiner Schwester passte dieses Krabbelvieh sogar viel besser zu ihm als das Abbild des Königs der Tiere.

»Komm, komm, beweg deine Stolperstelzen«, drängte Uli. Sie packte beidhändig den Arm ihres Bruders und zerrte.

Dem Zwang träge folgend, watschelte Felix zum Fenster. Er stierte hinab in den Hof. Ein paar pickende und scharrende Hühner, zwei dicke, dösende Gänse, eine leere Hundehütte, alles war wie immer.

Nur mein Kopf wiegt heute Morgen drei Zentner, dachte er benommen. Wenn ich mich zu weit nach vorn beuge, kippe ich über und klatsche dort unten zwischen das Geflügel!

Die kleine, kurze Überlegung bereitete ihm mindestens so viel Mühe wie eine mathematische Gleichung mit drei Unbekannten. Immerhin fügte sich in seiner arg gestörten Erinnerung allmählich wieder Splitter an Splitter zu einem lückenlosen Bild.

Wie der Brauch in Bruselfeld bestimmte, hatte es vor der Reise zum Wehrdienst in der Kaserne und dem Beginn des Soldatenlebens eine Abschiedsfeier gegeben. Im »Roten Hirsch«, der Dorfschenke. Erst Thüringer Rostbrätel mit Mayonnaisesalat, dann sehr viel Bier, dann Kartoffelpuffer und wieder viel Bier. Dass Specht-Georg heimlich einen großen Schnaps in jedes Glas Bier des künftigen mot. Schützen geschüttet hatte, war verborgen geblieben. Felix wusste weder, wann noch wie er in der Nacht nach Hause und in sein Bett gekommen war.

»Glotz nicht auf die Hühnerkacke, schau zum Kirchturm, Wipi!«, forderte Uli grimmig. Seinen abgekürzten Spitznamen sprach sie nur in großem Zorn aus. Ihr ausgestreckter Zeigefinger war wie ein drohender Knüppel.

Gehorsam richtete Felix Ritter den Blick auf die Kirchturmspitze. Seine Augen wurden erst groß, dann kniff er die Lider fest zusammen und riss sie wieder auf, doch der Anblick erwies sich keineswegs als Hirngespinst.

»Meine?«, fragte er ungläubig.

»Deine!«, antwortete Uli knapp. »Wessen sonst!«

An der vergoldeten Wetterfahne hoch oben im Morgenwind flatterte - eine Jeanshose!

Ulis Bruder tobte nicht. Er stieß auch keines jener urdeutschen Wörter aus, die niemals in Lesebüchern oder Schulaufsätzen vorkommen, obwohl sie allen Bruselfeldern wie darüber hinaus jedermann im Lande von klein auf geläufig sind.

Felix presste weder zornig seine Fäuste noch die Lippen zusammen. Er blickte nur ein bisschen traurig. Das war alles. Er war längst daran gewöhnt, dass die Jungen und die Alten im Dorf ihren Spaß mit ihm trieben. Immerhin ging das nun schon mehr als vierzehn Jahre so.

Angefangen hatte das üble Treiben eines sommerlichen Tages, als Klein Felix zwar noch sämtliche Milchzähne besaß, aber zugunsten seines Schwesterchens aus dem Gitterbettchen auf eine Schlafliege umgezogen war. Die Eltern lebten mit ihren beiden Kindern zusammen unter einem Dach, und keiner dachte an so eine bittere Sache wie Scheidung. Das kam erst viel später.

Weil Frau und Herr Ritter ihrem Söhnchen ein langes Leben voller Freuden wünschten, hatten sie ihn »Felix« genannt, was aus dem Lateinischen kommt und soviel heißt wie »der Glückliche«. Geholfen hatte es ihm freilich wenig.

An besagtem Sommertag hatte Klein Felix gemeinsam mit ein paar anderen Knirpsen am Rand des Dorfteiches Schlammburgen gebaut. Die Wichte sahen aus wie Sumpfmolche. Selbst die Mütter konnten nur mit Mühe eigenen und nachbarlichen Nachwuchs auseinanderhalten.

Es musste ein reiner Zufall bewirkt haben, dass der aus unbekannten und nie geklärten Gründen plötzlich wutentbrannt heranzischende Gänserich ausgerechnet den kleinen Felix Ritter anpeilte. Wie ernst der wild gewordene Schnattermann seinen Angriff meinte, spürte der Junge sekundenschnell an seiner linken Hinterbacke. Der weiße Wüterich zischelte nicht nur wie ein Schnellkochtopf unter Hochdruck, das Biest biss auch zu! Und wie!! .

Felix brüllte. Erstens vor Schmerz und zweitens vor Angst, Das Geschrei ließ nicht nur die alte Linde beben und alle Fensterscheiben ringsum klirren, es brachte den Gänserich nun völlig außer Rand und Band. Der dünne, lange Hals schoss wie eine Lanze hinter dem laut kreischend fliehenden Knirps her. Die weit ausgebreiteten Flügel peitschten Staubwolken hoch. Der Schnabel schnappte die Badehose.

Das Gummiband riss!

Felix ließ dem Angreifer die Beute. Durch dieses Opfer glaubte er sich gerettet, doch der gefiederte Watschelschreck dachte anders, trieb das nackte Knäblein weiter und weiter.

Der Lärm lockte beiderseits der Dorfstraße Neugierige an die Fenster.

Eine rotgesichtige Bäuerin quietschte vor Vergnügen. Felix hingegen nahm in diesen Minuten an, dass es um sein nacktes Leben ging. Er japste und schlug Haken wie ein gejagter Hase.

Alles vergeblich!

Der Gänserich blieb seiner Beute dicht auf den Fersen.

»Ein Wiesenpieper, schaut nur, ein Wiesenpieper!«, schallte es dann von irgendwoher.

Später wusste keiner mehr, wer eigentlich als erster jenes Witzwort gerufen hatte, das Ulis Bruder seitdem von früh bis spät begleitete.

Damals war der Schäfer Paul zum Retter in der Not geworden. Er hatte den jammernden kleinen Flüchtling eingefangen, den langen Hütestab geschwungen und mit ein paar wohlgezielten Hieben die wilde Wut des Schnatterichs erstickt. Den Spitznamen allerdings vermochten nichts und niemand mehr auszulöschen. Felix musste seither damit leben wie mit den dreizehn Sommersprossen um seine Nase, mit der Farbe seiner Augen und der Tatsache, dass es keine Pillen gegen große Füße gibt.

Leider geht es mit Spitznamen sehr unterschiedlich zu. Wer beispielsweise »Langer« oder »Kalle« oder »Bohne« oder »Mäcki« genannt wird, hat dabei wohl kaum etwas auszustehen. Mit »Wiesenpieper« war das ganz anders. Jedenfalls in Bruselfeld.

Was in der Wiese piept, das kann nur klein, kläglich und zum Lachen sein. Ein tollpatschiger Winzling. Ein Happen für die großen Vögel und Vierbeiner. Ein Ulk mit Ohren. Wo immer so einer auftaucht, wird er von allen Blicken belauert. Jeder erwartet von ihm ein Missgeschick. Der Pechvogel spürt das und gibt sich Mühe, achtet auf jeden Griff, jede Silbe und - gerade deshalb passiert das Malheur. Immer und immer wieder!

So sorgte Felix als Wiesenpieper in der Schule beim Vorlesen für minutenlanges Gelächter, weil er die Formulierung »denselben« als »Tänzelbeen« aussprach. Ein anderes Mal traf der von ihm getretene Fußball nicht etwa bloß eine Fensterscheibe, die ja leicht zu reparieren gewesen wäre, sondern knallte gegen den Kopf eines Maurers, warf den erschrockenen Mann vom Gerüst und verursachte bei ihm zwei gebrochene Rippen.

Vor der Jugendweihe im Saal der Dorfkneipe hatte Frau Ritter ihrem Sohn eine sehr höfliche und tiefe Verbeugung beigebracht. Er sollte sich damit wohlerzogen für die Glückwünsche und den Händedruck des Bürgermeisters bedanken. Aufgeregt und bemüht, auch der mit Uli in der sechsten Reihe sitzenden Mutter eine Freude zu machen, hatte er im feierlichen Augenblick den Kopf weit nach vorn geworfen und völlig unbeabsichtigt den gewölbten Bauch des Bürgermeisters derart kräftig gerammt, dass der verdutzte Amtsträger rückwärts taumelte. Er stürzte von der Bühne herab zwischen die zur Zierde aufgestellten Grünpflanzen, wobei ihm glücklicherweise außer dem Gejohle der Zuschauer sowie ein paar blauen Flecken am Rücken und etwas weiter unten keine schlimmeren Unannehmlichkeiten widerfahren waren.

Und so war es all die Jahre hindurch weitergegangen.

Besonders lange hatte man in Bruselfeld über das Missgeschick gelacht, das dem Wiesenpieper passiert war, als er schon das Facharbeiterzeugnis besaß und in der LPG-Fahrzeugwerkstatt arbeitete.

Auf der Probefahrt mit einem gerade erst reparierten Traktor hatte er versehentlich den Rückwärts- anstelle des Vorwärtsganges eingelegt und war, ehe er recht begriff, was geschah, in voller Fahrt durch das Schaufenster der neuen Konsumkaufhalle gedonnert, hatte Regale samt Nudeltüten, Keksschachteln und Waschpulverpaketen überrollt, bevor er das knatternde, tonnenschwere Ungetüm endlich am Molkereiwarenstand inmitten einer Fontäne aus Milch, Quark und Käse zum Stehen bringen konnte.

Die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens zerstörte einen Traum. Felix nahm damals Abschied von dem Wunsch nach einem eigenen Motorrad, behielt nur noch zwei Mark und fünfzig Pfennig auf seinem Sparbuch und zahlte darüber hinaus noch ein paar Monate lang ein gehöriges Sümmchen von seinem Lohn an den Konsum.

Zu jenem Zeitpunkt beklagte der junge Kfz-Mechaniker aus Bruselfeld die ihm ständig widerfahrenden Heimsuchungen allerdings schon längst nicht mehr, als seien es erlittene Ungerechtigkeiten. Die vielen Nächte, in denen seine Kopfkissen nass geworden waren von still geweinten Tränen, lagen in jenen Tagen bereits weit hinter ihm. Er hatte sich damit abgefunden, dass jedermann im Dorf von ihm nichts anderes als Tölpeleien erwartete. Die Bruselfelder wollten etwas zu lachen haben, und er war von ihnen dazu bestimmt, dafür die Anlässe zu schaffen. Dagegen half kein Zetern und kein Jammern, kein Hilferuf und kein Verstecken. Wiesenpieper bleibt Wiesenpieper. Und falls ihm gar zu lange kein Missgeschick passierte, halfen Burschen wie Specht-Georg ein wenig nach.

»Irgendwann muss sich im Dorf doch mal einer finden, der diesem frechen Kerl die Gemeinheit mit einer Tracht Prügel austreibt«, sagte Frau Ritter, als sie an diesem Unglücksmorgen das kleine Zimmer ihres Sohnes betrat. Sie arbeitete seit vier Uhr früh im Kuhstall und nutzte ihre Frühstückspause, um nach Felix zu schauen.

Der junge Mann stand noch splitternackt neben seiner Schwester am Fenster.

»Vorläufig ist Specht-Georg hier im Dorf nicht nur mit dem Maul der Stärkste«, meinte Uli. »Wer ein bisschen Verstand im Kopf hat, geht solchen Typen aus dem Weg und lässt sich nicht besoffen machen, aber das begreift mein lieber Herr Bruder wahrscheinlich nie!«

»Felix ist der beste Motorenschlosser, den es in unsrer Gegend gibt, Uli!«, erinnerte Frau Ritter ruhig. Sie holte einen Bademantel aus dem Schrank und half ihrem Sohn beim Anziehen.

»Von seiner Arbeit redet doch keiner, Mutti«, widersprach Uli. »Er ist der Dorfkasper und wird es bleiben, solange er zulässt, dass alle über ihn lachen, solange er für jeden Miesling den Hampelmann spielt und niemandem die Faust unter die Nase hält!«

Felix betrachtete seine Schwester traurig.

»Leicht hast du es wirklich nicht mit mir«, gab er leise zu. »Aber was soll ich machen? Weißt du, was geschehen würde, wenn ich auf den Specht-Georg zuginge, um ihm eine runterzuhauen? Noch bevor ich ausholen könnte, wäre ich irgendwie gestolpert oder ausgerutscht und zum allgemeinen Jubel mit der Nase in ein Hundehäufchen geraten. Genau so, Uli! Oder im spannendsten Augenblick klatscht mir vom Himmel herab ein Taubendreck auf die Birne. Oder mir platzte mit Donnerknall die Hosennaht am Hintern ... Ich kann doch machen, was ich will, es wird immer ein Ulk für die anderen daraus!«

Uli sah ihren Bruder stumm an. In ihren Augen widerspiegelte sich Ratlosigkeit. Man merkte ihr an, dass sie nah am Weinen war. Sie schluckte, wollte etwas sagen, winkte dann aber müde ab und ging eilig aus dem Zimmer.

»Du hast recht, mein Junge«, sagte Frau Ritter. Sie stellte sich neben ihn und schaute hinauf zur flatternden Hose an der Kirchturmspitze. »Hier in Bruselfeld wirst du den Wiesenpieper deinen Lebtag lang nicht los. Es wird höchste Zeit, dass du mal rauskommst. Bei den Soldaten kannst du ohne Spott und Neckerei von vorn anfangen, das wird dir guttun!«

Felix nickte. Sein Blick blieb bei der vergoldeten Wetterfahne und dem vom Wind aufgeblähten Kleidungsstück.

»Bei der Armee musst du dir von Anfang an Respekt verschaffen«, riet Frau Ritter ihrem Sohn und legte ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter. »Gleich vom ersten Tag an, das ist wichtig. Besser sein als die anderen, darauf kommt es dort an, glaub mir!«

»Versuchen kann ich's ja«, erwiderte Felix, in Gedanken mit einem viel näher liegenden Plan beschäftigt. »Aber vorher muss ich hier in Bruselfeld noch etwas erledigen!«

IM 2. KAPITEL

bringt Felix einen Gottesmann zum Staunen, bekommt der Schäfer Paul nässliche Knie und bricht in einem Eisenbahnabteil buntes Chaos aus.