Wilde Kohlen - Nancy Morejón - E-Book

Wilde Kohlen E-Book

Nancy Morejón

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Beschreibung

Beeindruckende bilderreiche Gedichte aus Kuba und der Karibik.

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Inhalt

I.

Mantel

Baumwollkissen

Orte

Ein Neffe

Estela

Nélida

Skizze

Namen

Haar

Kartenspiel

II. Elegie

Elegie

III. Tamburin

Merceditas

Außerhalb des Gartens

Segelschiff

Reigen um das Nichts

Wetterfahne

Limonengrün

IV. Tomeguines

Sinnlos

Welle

Zayda del Río

Abgestürzt

Weltenwanderer

Philosophie der Augenblicke

Pole

V. Der Vogel in seinem Nest / Die Jahreszeit in meinen Augen

D

ER

V

OGEL IN SEINEM

N

EST

Mississippi

Lake Waban

Ostersonntag

Bei der Lektüre in der Bibliothek von Fordham

Kalligraphie

D

IE

J

AHRESZEIT IN MEINEN

A

UGEN

Du sagst Konstantinopel

Und die Schiffe von Ithaka

Labyrinth

Laren

Du kommst zurück

Mein verlassener Park

die Hand ist sehr dunkel

Nachwort von Ineke Phaf-Rheinberger

I.

Mantel

Oh, die Worte bilden einen Mantel

um mich herum.

Die Klarheit ihrer Klänge

zieht über mein Baumwollkissen.

Oh, die Worte klingen über den See

eines Landes im Süden Afrikas.

So viele Worte, durcheinander gewürfelt, die ich nicht sehen

sondern hören muss, wie zerquetscht, auf einmal,

in der Tiefe der Ozeane,

bis ein Delfin seine siegreiche Schwanzflosse

mitten in den Sternkorallen zeigt

und ein Sirenengesang seine rosa Nase

bis zur Spitze eines Mondes drückt,

jenes Mondes, den die Worte

mit einem silbernen Faden weben,

mit der Glut der wallenden Algen im Hintergrund,

einem silbernen Faden, der riesengroß wird,

wie in der Musik meines Nachbars José Claro Fumero,

und sich für mein Wohl in einen kostbaren feuchten Mantel verwandelt.

Baumwollkissen

Mein Kopf auf einem Baumwollkissen,

noch einmal,

während die Seen zu ihrem Glanz zurückkehren

und die Giraffen

eine verlassene Welt zwischen Lanzen

und dichten Bergen durchqueren.

Wie früher kehren die Kaufleute

mit ihren Schildern aus toten Blättern zurück

und schreien und schlagen,

stoßen Frauen und Kinder,

die besten Männer des Südens

und der Küstenregionen

zu ihren Schiffen ohne Wiederkehr.

Das Licht des Horizontes fällt

auf das Kissen aus Baumwolle und Bitterkeit.

Ich sehe die Spitze der Klippen.

Ich sehe die Insel Gorée in meiner Handfläche,

aus der Öffnung ihres Rachens spuckt sie schwarze Geschöpfe

wie in der Nacht der ersten Jagd.

Ein Baumwollkissen, noch einmal.

Wäre es besser, aus dieser Geographie einer anderen Welt zu entfliehen?

Wäre es besser, den Kopf anderswohin zu wenden

und die zwei Tränen, die jetzt zwischen den Gewässern

des Zambesi strömen, zu trocknen?

Meine Augen zeichneten eine Mondlandschaft auf die Seen.

Mein Kopf auf einem Baumwollkissen,

noch einmal.

Orte

Zur Erinnerung an Odilio Urfé

Eine Mahagoni-Tür geht auf.

Die Neffen, die acht Neffen

flogen im Raum vor den Jalousien.

Die Blümchen, violett, des kleinen simulierten Innenhofs

schoben ihre violetten Körperchen

bis zur sperrangelweit geöffneten Tür.

Die Blümchen redeten niemals mehr miteinander.

Die Zweige waren sehr traurig,

aber die Blümchen schienen eine Ruhe zu haben,

die Ruhe des friedlichen Morgengrauens einer anderen Epoche.

Es war wirklich so: Die Zweige waren sehr traurig

und dennoch spreizten sie ihre tintenfischähnlichen Arme

über das Dach des Nachbarhauses hinaus.

Die Blümchen schwimmen an der Küste und vergessen ihren Sand.

Die Neffen, wie die Blümchen, vergaßen ihren Geruch

und auch den Nektar der Innenhöfe vergaßen sie,

oder waren es die Innenhöfe, die auf eigenes Risiko zur Küste schwammen?

Eine andere Mahagoni-Tür geht auf.

Eine Türschwelle fällt richtungslos

in die Leere der Verästelungen.

Eine Mahagoni-Tür geht auf.

In wem von diesen Neffen, diese Nacht,

pfeift der Wind

des kleinen simulierten Innenhofs,

den meine Augen sehen,

jetzt in der Nacht

traurig wie die Zweige,

sich listig verstellend

wie der Schatten der schwarzen Katze,

der zwischen den traurigen Zweigen einen Buckel macht,

Bewahrer und Hüter der Blümchen, violett,

berührt durch den Wind, der zu den Sternen hochsteigt?

Oder ist es dieses Gedicht,

das vorgibt, durch die erste Mahagoni-Tür zu gehen,

eine große, große, große Tür,

um die erste Szene einer Erinnerung zu betreten,

jene Erinnerung, in der wir alle den Takt

eines Danzóns hören,

und sein Takt tanzt zwischen den Blümchen und der zweiten Tür

und jenem großen, riesigen Klavier,

gespielt auch von einem großen, schlanken Pianisten, ernsthaft

und zärtlich,

den die Neffen Odilio Urfé nannten?

Ein Neffe

Gasse, da bin ich wieder.

Nur bei dir fand ich Mitgefühl.

Populäres Lied

Die Straße hat einen Namen, einen dunklen Namen, bedeutungslos,

wie ihr eigener Eingang,

lebensklug und weit offen und zahnlos,

an ihrem Ende gibt es kein anderes Licht als das Licht, das der dunklen Haut

meines Neffen Fernando entspringt.

Wir sprechen, aber wir sprechen auch nicht,

wir ähneln uns im Schweigen,

unser Schweigen ist fast wie

das Schweigen der Freudenfeuer in Malawi,

ein ständiges Schweigen, das in unseren Poren atmet,

aber wir, ohne zu wissen,

ohne zu ahnen, dass jenes Schweigen

nur unser Schweigen ist, weil irgendein Vorfahr es mitbrachte,

unser Schweigen ist wie das der

betäubten Bodega,

die es schaffte, die zwei Ufer

und den Gang der Winde zu durchqueren.

Eines Tages im Oktober,

als ein Schiff in der Bai der Stadt explodierte

und der Krach fremder Raketen

das Brett der Waschfrauen brach.

Im Innenhof leblos und ohne zu vergessen

verließ mein Neffe Fernando die Cristina-Straße

– eine breite Straße, die breiteste Straße weit und breit – ,

fast immer betäubt von den Schreien der nahen Schlachthöfe

und dem schonungslosen Pfeifen der Eisenbahnen.

Mein Neffe Fernando, neben mir, hat Heimweh nach dem verrückten Wuschelkopf

einer entfernten Nichte und nach dem Geruch der Bäckereien

an der Ecke der Toyo-Straße, nach dem Aroma von Sesam

und nach den Sonntagen des Karnevals, als er wie ein schlafender Hase

durch die Reihen der riesigen Pappmaché-Figuren rannte.

Mein Neffe Fernando erzählt mir dies alles ohne zu verstehen,

jetzt,

das eilige Hin und Her der Radfahrer,

ohne das heitere Quietschen der Schmetterlinge verstehen zu können

über den Plastikbechern mit Bier.

Wir sind bei einem kleinen Hügel in Tallapiedra angekommen.

Der Zug aus Santiago hält an

und mein Neffe Fernando wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht

mit einer nutzlosen Serviette aus weißem Papier,

das alle meine Gefühle ausspioniert.

Fernando und ich

vor einem Wirbel aus schwarzen Tränen.

Fernando und ich in der Empedrado-Straße.

Fernando und ich, uns wieder erkennend

in jenem Dunst der Webstühle von Muralla im August.

Mein Neffe Fernando

mit zehn Kreditkarten

in der Tasche,

aber ohne Hausschuhe, ohne Luft, ohne Sprache:

»Auch ich musste weg aus der Stadt,

in der ich mehr als zwanzig Jahre lebte.

Ich ertrug es nicht und ging weiter nach Norden,

in ein Viertel mit Italienern, Fleischpackern,

die mein Leben ebensowenig verstanden.«

Mein Neffe Fernando in seiner nomadischen Zukunft,

immer noch besessen

vom Schweigen der Freudenfeuer.

Estela

Für Gustavo, für Ester

Estela, wenn du gehst,

komm zurück über den Weg der Eisenkräuter

wenn die Immortellen

den Regenbogen oder

den grauen Fond jenes Weges berührt haben.

Estela, wenn du gehst,

komm zurück mit einer Hortensia an jeder Schläfe,

am Nachmittag in Alicante.

Unsere Estela,

Königin der Lorbeerkränze,

komm zurück, komm zurück,

mit einem riesigen Brunnen von vergoldeten Krebsen

und den sauberen Fliesen jenes Innenhofs

die für immer in der Erinnerung pfeifen.

Deine Arme wiegten einen großen blauen Vogel.

Komm zurück, göttliches Kind,

in einer Wasserkutsche,

zum Geräusch der überquellendenen Plätze am Hafen,

und zum Pinsel, still, von Fidelio Ponce.1

Estela, wenn du gehst,

komm noch mal zurück mit einer Turteltaube in deinen Händen,

komm, komm noch mal zurück zum stillen Rauschen deiner stummen Farnpflanzen

und sing, während du ihre schäumenden Blätter gießt,

einen Bolero von Roberto Faz oder Marta Valdés.

Estela, erinnere dich immer zwischen den Meeren:

Deine Armen wiegten einen großen blauen Vogel.

1 Fidelio Ponce de León (1895-1949), kubanischer Maler

Nélida

Zur Erinnerung an Ángel Roberto Hernández Riverend

Es ging die Frühlingsbrise

und Nélida, schweigend, lehnte sich an den Balkon,

jeden Tag.

Das war immer so.

Und Nélida, wie in den Marktständen,

an den Balkon gelehnt.