Wildes Wasser - Louise Penny - E-Book

Wildes Wasser E-Book

Louise Penny

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Beschreibung

Nach einer Suspendierung wegen diverser Fehlentscheidungen ist Armand Gamache zurück bei der Sûreté du Québec, allerdings nicht als Chief Superintendent, sondern nur als Chief Inspector der Mordkommission – womit er und Schwiegersohn Jean-Guy Beauvoir jetzt gleichgestellt sind. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt an Gamaches erstem Arbeitstag, in den sozialen Medien fällt man über ihn her, und sein neuer Fall hat es in sich: Eine junge schwangere Frau ist verschwunden, womöglich gar ermordet worden. Verdächtigt wird ihr Ehemann, der ihr gegenüber schon mehrmals handgreiflich geworden ist. Als wäre das nicht genug, spielt die Natur in diesem April verrückt: Der Sankt-Lorenz-Strom droht über die Ufer zu treten, und auch der Pegel des Flüsschens Bella Bella in Three Pines steigt und steigt. Schließlich wird der Notstand ausgerufen. Und dann wird am Bella Bella die Leiche einer Frau gefunden …

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Louise Penny

Wildes Wasser

Der 15. Fall für Gamache

Roman

Aus dem kanadischen Englisch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck

Kampa

Dieses Buch ist Bishop gewidmet,

dem besten Hund, dem liebevollsten Begleiter.

1

Was ist bloß mit Clara Morrow los? Die war mal ne tolle Malerin. #FuckMorrow

Soll das ein Witz sein? Die lassen ihn zurück in die Sûreté? #SûretéFck

Merde.«

»Merde?« Myrna Landers blickte ihre Freundin über den Rand ihrer Schale Café au Lait hinweg an.

»Entschuldigung«, sagte Clara Morrow. »Ich habe Fuck gemeint. Fuckity fuck.«

»So ist es brav. Aber warum?«

»Kannst du dir das nicht denken?«

»Ist Ruth im Anmarsch?« In gespielter Panik sah Myrna sich im Bistro um. Oder vielleicht auch gar nicht so sehr gespielt.

»Schlimmer.«

»Kann nicht sein.«

Clara gab Myrna ihr Handy, obwohl die Besitzerin des Buchladens bereits wusste, was dort zu sehen war.

Bevor sie sich mit Clara zum Frühstück getroffen hatte, hatte sie ihren Twitter-Feed gecheckt. Auf dem Display war für alle Welt der rasch erkaltende Leichnam von Claras künstlerischer Karriere zu sehen gewesen.

Während Myrna las, legte Clara ihre großen farbverschmierten Hände um den Becher heiße Schokolade, eine specialité de la maison, und ließ den Blick von ihrer Freundin zum Fenster wandern, hinter dem das winzige Québecer Dorf lag.

Wenn das Handy Körperverletzung war, dann war das Fenster Balsam auf die Wunden. Es konnte sie vielleicht nicht vollständig heilen, aber in seiner Vertrautheit war es zumindest ein Trost.

Der Himmel war grau und drohte mit Regen. Oder Schneeregen. Oder Graupel. Die unbefestigte Straße verschwand unter Matsch und Schlamm. Auf dem aufgeweichten Rasen lagen hier und da Reste von Schnee. Die Dorfbewohner, die ihre Hunde spazieren führten, stapften in Gummistiefeln herum und hatten sich in mehrere Kleiderschichten eingemummelt, in der Hoffnung, der April würde ihnen dann nicht so durch Mark und Bein dringen.

Es war jedes Jahr dasselbe. Kaum hatten sie einen weiteren bitterkalten kanadischen Winter überstanden, erwischte sie der Frühling. Die Feuchtigkeit. Die Temperaturschwankungen. Und der Wunsch und die Wahnvorstellung, dass es draußen inzwischen ganz bestimmt milder sei.

Der Wald auf der anderen Seite des Dorfangers stand mit seinen herunterbaumelnden Skelettarmen, die im Wind klappernd aneinanderstießen, da wie eine Armee von Wintergespenstern.

Von den aus Naturstein, Ziegeln und Schindeln erbauten alten Häusern stieg Rauch auf. Ein Signal an eine höhere Macht. Schick uns Hilfe. Schick uns Wärme. Schick uns einen richtigen Frühling statt dieses Mistwetters, das uns mit Matsch und eisig kalten oder verführerisch warmen Tagen verspottet. Tage mit Schnee und Sonne.

Der April in Québec war ein Monat grausamer Gegensätze. Wunderbare Nachmittage, an denen man mit einem Glas Wein draußen im hellen Sonnenschein saß, um am nächsten Tag bei dreißig Zentimetern Neuschnee aufzuwachen. Ein Monat gemurmelter Flüche und schlammverkrusteter Stiefel und dreckiger Autos und sich im Dreck herumwälzender und danach schüttelnder Hunde. Sodass jeder Hauseingang schmutzgesprenkelt war. Die Wände. Die Decken. Die Böden. Und die Menschen.

Der April in Québec war ein klimatologischer Shitstorm. Ein Mindfuck unvorstellbaren Ausmaßes.

Doch im Vergleich zu dem, was sich auf dem kleinen Display von Claras Handy abspielte, war das, was sich draußen vor den großen Fenstern abspielte, beruhigend.

Claras und Myrnas Sessel waren dicht an den Kamin gerückt, in dem die Scheite knisterten und glühende Asche in den Schornstein hochwirbelte. Im Dorfbistro roch es nach Holzfeuer und Ahornsirup und starkem, frisch gebrühtem Kaffee.

Clara Morrow hat gerade ihre braune Periode, las Myrna. Ihre jüngsten Elaborate als Scheiße zu bezeichnen, wäre unfair gegenüber Ausscheidungen. Hoffen wir, dass es bloß eine Periode ist und nicht das Ende.

»Oje«, sagte Myrna. Sie legte das Handy hin und griff nach der Hand ihrer Freundin. »Merde.«

 

»Tabernac. Jemand aus der Abteilung für Schwerverbrechen hat gerade einen Link geschickt. Hört euch das an.«

Die Blicke der anderen Anwesenden im Besprechungsraum richteten sich auf den Agent, der von seinem Handy ablas: »Heute ist Armand Gamaches erster Tag in der Sûreté du Québec nach einer neunmonatigen Suspendierung, die auf eine Reihe unüberlegter und katastrophaler Entscheidungen folgte.«

»Katastrophal? So ein Schwachsinn«, sagte einer.

»Na ja, ein Schwachsinn mit Hunderten von Retweets.«

Einige andere zogen ihre Handys hervor, tippten darauf herum und blickten dabei immer wieder auf die offene Tür. Für alle Fälle …

Es war elf Minuten vor acht, und die Mitarbeiter der Mordkommission hatten sich zu dem regulären Montagmorgen-Meeting versammelt, um sich über die laufenden Ermittlungen auszutauschen.

Obwohl an diesem Meeting kaum etwas regulär war. Oder an diesem Morgen. Die Atmosphäre knisterte vor Spannung, die durch das, was auf den Handydisplays erschien, noch verstärkt wurde.

»Merde«, murmelte eine Beamtin. »Kaum hatte Gamache als Chief Superintendent der Sûreté den Gipfel der Macht erreicht, hat er sie prompt missbraucht«, las sie vor. »Indem er mit voller Absicht ungeheuerliche Mengen an Opioiden in Umlauf kommen ließ. Im Anschluss an eine Untersuchung wurde er degradiert.«

»Die haben doch keine Ahnung, wovon sie reden. Trotzdem, so schlimm ist es nicht.«

»Es geht noch weiter. Das Mindeste wäre gewesen, ihn zu feuern. Eigentlich hätte man ihn vor Gericht stellen und ins Gefängnis werfen müssen.«

»Das ist doch irre«, sagte eine der höherrangigen Beamtinnen und griff nach dem Handy, um es selbst zu lesen. »Wer schreibt denn so einen Scheiß? Da wird nicht mal erwähnt, dass er das Zeug zurückgeholt hat.«

»Natürlich nicht.«

»Ich hoffe, er sieht das nicht.«

»Machst du Witze? Klar sieht er das.«

Es wurde still im Raum, abgesehen von den leisen Tönen der Handytasten. Es ähnelte dem Knistern abgestorbener Zweige, durch die der Wind fuhr.

Die Leute murmelten beim Lesen leise vor sich hin. Worte, die ihren Großeltern als heilig gegolten hatten und die sich ins Gegenteil verkehrt hatten. Tabernac. Câlice. Hostie.

Einer der älteren Beamten stützte den Kopf in die Hände und rieb sich die Schläfen. Dann ließ er die Hände sinken und griff nach seinem Handy. »Ich schreib eine Gegendarstellung.«

»Besser nicht. Das sollte von oben kommen. Chief Superintendent Toussaint wird diesen Idioten schon den Kopf zurechtrücken.«

»Bis jetzt hat sie nichts getan.«

»Wart’s ab. Sie hat ihre Ausbildung unter Gamache gemacht. Sie wird ihn verteidigen.«

In der hinteren Ecke des Raums starrte eine Beamtin auf ihr Handy, und zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte.

Während ihre Kollegen blass geworden waren, rötete sich ihr Gesicht, als sie statt einer SMS oder eines Tweets eine E-Mail las.

Obwohl bereits Ende vierzig, war Lysette Cloutier einer der Neuzugänge bei der Mordkommission, nachdem man sie aus der Buchhaltung der Sûreté hierher versetzt hatte. In aller Stille hatte sie jahrelang über das Budget der Sûreté gewacht, das sich inzwischen auf mehr als eine Milliarde Dollar belief, bis Chief Superintendent Gamache auf ihre Arbeit aufmerksam wurde und zu dem Schluss kam, dass sie bei der Verfolgung von Mördern nützlich sein könnte.

Sie hätte zwar nicht einmal dann einer DNA-Spur oder der eines Verdächtigen folgen können, wenn ihr Leben davon abgehangen hätte, aber dafür konnte sie der Spur des Geldes folgen. Und die führte oft zum selben Ziel.

Alle anderen Agents in diesem Besprechungsraum hatten sich schwer ins Zeug gelegt, um in die prestigeträchtigste Abteilung der Sûreté du Québec reinzukommen.

Agent Lysette Cloutier tat ihr Bestes, um wieder rauszukommen. Und zu ihren angenehmen, ungefährlichen, vorhersehbaren, verständlichen Zahlen zurückzukehren. Weg von den täglichen Gräueln, der körperlichen Gewalt, dem emotionalen Chaos von Morden.

Bei diesen Meetings setzte Cloutier sich immer auf denselben Platz. Darauf bedacht, dass ihr Rücken dem langen Whiteboard mit den daran befestigten Fotos zugekehrt war.

Kurz dachte sie über die E-Mail nach, die sie gerade erhalten hatte, dann tippte sie eine Antwort und schickte sie ab, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

»Was wollen wir wetten, dass ein paar dieser Tweets von Beauvoir stammen?«, sagte einer der jüngeren Agents.

»Meinen Sie Chief Inspector Beauvoir?«

Die Köpfe drehten sich zur Tür. Gefolgt von Stühlerücken und dem Scharren von Füßen, als sich alle erhoben.

In der Tür stand Isabelle Lacoste, einen Stock in der Hand, und sah den jungen Agent an. Dann wich ihre strenge Miene einem Lächeln, als sie sich im Kreis der vertrauten Gesichter umblickte.

Beim letzten Montagmorgen-Meeting, an dem sie teilgenommen hatte, hatte sie den Vorsitz geführt, als Leiterin der Mordkommission. Jetzt betrat sie den Raum hinkend.

Ihre Verletzungen waren zwar fast ausgeheilt, aber sie hatten Spuren hinterlassen, die nie mehr verschwinden würden.

Ihre Kollegen scharten sich um sie, beglückwünschten sie zu ihrer Rückkehr, während sie zu erklären versuchte, dass sie genau genommen noch nicht zurück war. Man hatte sie zum Superintendent befördert, und sie war da, um in verschiedenen Besprechungen den Zeitplan und die Bedingungen ihrer Rückkehr in den aktiven Dienst zu klären.

Allerdings war es kein Zufall, wie jeder im Raum wusste, dass sie ausgerechnet an diesem Montag hier war. Es war kein x-beliebiger Tag. Keine x-beliebige Besprechung.

Sie ließ sich auf einem Stuhl am Kopfende des Tischs nieder und bedeutete den anderen mit einem Nicken, wieder Platz zu nehmen. Dann richtete sie den Blick auf den jungen Agent, der die Bemerkung über Chief Inspector Beauvoir gemacht hatte.

»Wie haben Sie das gemeint?«

Ihre Stimme war ruhig, aber ihr Blick war unnatürlich starr. Altgediente Ermittler der Mordkommission, die unter Chief Inspector Lacoste gearbeitet hatten, kannten diesen Blick. Und beinahe hatten sie Mitleid mit dem dummen jungen Agent, der unversehens in ihr Visier geraten war.

»Na ja, wir wissen doch alle, dass Chief Inspector Beauvoir die Sûreté verlässt«, sagte er. »Er zieht nach Paris. Aber erst in ein paar Wochen. Was passiert bis dahin? Wenn Gamache zurückkommt. Ich an Chief Inspector Beauvoirs Stelle würde lieber in ein Feuergefecht geraten als an diesem Meeting heute teilnehmen. Ich wette, ihm geht’s genauso.«

»Die Wette würden Sie verlieren«, sagte Lacoste.

Im Raum wurde es still.

Er ist jung und dumm, dachte Lacoste. Wahrscheinlich hatte er eine etwas merkwürdige Vorstellung von einer ruhmvollen Rückkehr aus der Schlacht.

Sie wusste, dass dieser Agent noch nie in ein sogenanntes Feuergefecht geraten war. Allein dass er diesen albernen Ausdruck verwendete, verriet ihn. Niemand, der tatsächlich schon einmal eine Waffe gehoben, auf einen anderen Menschen gezielt und geschossen hatte – wieder und wieder –, niemand, auf den geschossen worden war, würde das jemals als etwas Ruhmvolles betrachten oder es als Feuergefecht bezeichnen.

Und er würde es unter keinen Umständen ein zweites Mal erleben wollen.

Diejenigen im Raum, die bei diesem letzten Einsatz dabei gewesen waren, blickten den Agent an. Einige empört. Andere dagegen fast wehmütig. Sie erinnerten sich an die Zeit, als sie selbst so jung gewesen waren. So naiv. So unsterblich.

Vor neun Monaten.

Sie dachten an jenen Sommernachmittag in den herrlichen Wäldern an der Grenze zu Vermont zurück. Wie die Sonne durch die Bäume brach und sie die Wärme auf dem Gesicht spürten.

Dieser Augenblick, in dem die Zeit stillzustehen schien, bevor die Hölle losbrach.

Als Waffen gehoben und abgefeuert wurden. Immer wieder. Junge Bäume niederstreckten. Menschen niederstreckten.

Die Schreie. Der erstickende, stechende Geruch von Pulverdampf. Von Holz und Fleisch, versengt von Kugeln.

Chief Inspector Lacoste war eine der Ersten, die fielen. Durch ihr Handeln verschaffte sie Chief Superintendent Gamache den einen Moment, den er brauchte, um seinerseits zu handeln. Und das tat er.

Was Chief Superintendent Gamache tat, hatte Isabelle Lacoste nicht mehr gesehen. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits bewusstlos gewesen. Aber sie hatte davon gehört. Sie hatte die Untersuchungsberichte gelesen, nachdem man ihn suspendiert hatte.

Gamache hatte die Geschehnisse dieses Tages überstanden.

Nur um von seinen eigenen Leuten niedergestreckt zu werden.

Und die Angriffe hielten an, auch als er seine Arbeit wiederaufnahm.

Isabelle Lacoste wusste ebenso wie jeder andere altgediente Sûreté-Beamte in diesem Raum, dass die Entscheidungen, die Chief Superintendent Gamache getroffen hatte, waghalsig gewesen waren. Riskant. Unkonventionell. Und, entgegen dem, was in den Tweets behauptet wurde, ungemein wirkungsvoll.

Aber genauso gut hätte es auch ganz anders ausgehen können.

Er hatte alles auf eine Karte gesetzt. Die letzte verzweifelte Tat des ranghöchsten Polizisten in Québec, der keine andere Möglichkeit sah.

Wenn Gamache damit gescheitert wäre, und eine Zeitlang sah es ganz danach aus, hätte es die Sûreté handlungsunfähig gemacht und Québec schutzlos einem Ansturm von Bandengewalt, Drogenhandel und organisiertem Verbrechen ausgeliefert.

Gamache hatte gesiegt. Aber nur knapp, und es hatte seinen Tribut gefordert.

Jeder vernünftige Mensch, der solche Entscheidungen traf, würde mit Konsequenzen rechnen, ganz gleich, wie die Sache ausging. Der Chief Superintendent war vernünftig. Er musste damit gerechnet haben, dass man ihn suspendieren würde. Dass eine Untersuchung stattfinden würde.

Aber hatte er damit gerechnet, gedemütigt zu werden?

Die politische Führung hatte sich ihrerseits zu einer Verzweiflungstat entschlossen und sich zu retten versucht, indem sie Gamaches Karriere den Gnadenstoß versetzte. Obwohl er durch die Untersuchung rehabilitiert worden war, bot man ihm einen Posten an, den er unmöglich annehmen konnte. Chief Inspector in der Mordkommission. Eine Position, die er viele Jahre innegehabt hatte. Die er an Lacoste abgetreten hatte, als er zum Leiter der Sûreté befördert worden war. Nachdem sie schwer verletzt worden war, hatte Jean-Guy Beauvoir die Aufgabe übernommen.

Die Führung wusste, dass Armand Gamache eine solche Degradierung nicht akzeptieren konnte. Die Demütigung wäre zu groß. Die Verletzung zu schwer. Er würde zurücktreten. In Pension gehen. Verschwinden.

Aber Armand Gamache weigerte sich zu gehen. Zu ihrer Verblüffung hatte er das Angebot angenommen.

Sein Sturz würde hier sein Ende finden. In diesem Raum. Heute.

Und wie es schien, würde er mit einem dumpfen Schlag direkt auf Jean-Guy Beauvoir landen.

Es war sieben Minuten vor acht. Bald würden die beiden Männer durch die Tür treten. Beide im Rang des Leiters der Mordkommission.

Und was dann?

Selbst Isabelle Lacoste ertappte sich dabei, dass sie verstohlen zur Tür blickte. Nachdenklich. Sie rechnete zwar nicht mit Schwierigkeiten, aber trotzdem musste sie unwillkürlich an das denken, was George Will als »Ohio Event« bezeichnet hatte.

1895 hatte es im gesamten Bundesstaat nur zwei Automobile gegeben. Und die waren kollidiert.

Niemand wusste besser als Lacoste, dass das Unerwartete oft geschah. Und jetzt merkte sie, dass sie sich gegen die Kollision wappnete.

 

»Selber schuld«, sagte Ruth Zardo. »Du hättest dich nie darauf einlassen dürfen, wenn du mich fragst.«

Niemand hatte sie gefragt.

»Hört euch das an«, fuhr die alte Dichterin fort und las vom Display ihres Handys ab. »Clara Morrows Beitrag ist einfallslos, klischeehaft und banal. Fehlt noch abgekupfert und langweilig. Aber vielleicht schreibt das ja noch jemand weiter unten.«

»Ich glaube, das reicht, Ruth«, sagte Reine-Marie Gamache.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Kurz vor acht. Sie fragte sich, wie es ihrem Mann gehen mochte. Um zu wissen, wie es Clara ging, musste man kein Hellseher sein.

Ihre Freundin hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah angespannt aus. Und ein bisschen angemalt. Ihr Gesicht und ihre Haare zierten Kleckse aus Kadmiumrot und gebrannter Umbra.

Wie üblich trug Clara Jeans und Pullover. Ihr Erfolg als Malerin hatte keinen Einfluss auf ihren Kleiderstil gehabt. Soweit vorhanden. Vielleicht weil Clara erst spät in ihrem Leben Anerkennung erfahren hatte. Lange Jahre hatte sie in ihrem Atelier gestanden und Werke geschaffen, die unbeachtet blieben. Ihr größter Erfolg war die Serie der Uterus-Kriegerinnen gewesen. Sie hatte ein Bild verkauft. An sich selbst. Und es ihrer Schwiegermutter geschenkt. Ihre Kunst zur Waffe gemacht. Und ihren Uterus.

Dann war Clara nach einem Abend, den sie mit ihren Freundinnen aus dem Dorf im Bistro verbracht hatte, in ihr Atelier gegangen und hatte mit etwas Neuem begonnen. Porträts. Ölgemälden. Von ebendiesen Frauen.

Sie hatte sie so gemalt, wie sie wirklich aussahen, ihre Falten, Beulen und Runzeln. Doch was sie mit kühnen Pinselstrichen tatsächlich eingefangen hatte, waren ihre Gefühle.

Die Porträts schlugen wie eine Bombe in der Kunstszene ein und wurden als revolutionär gefeiert. Sie griffen eine tradierte Form auf und füllten sie mit neuem Leben. Ihre Porträts strahlten. Sie waren fröhlich. Lebendig. Manchmal verstörend, wenn die Einsamkeit und der tiefe Kummer in einigen Gesichtern zutage trat.

Ihre Frauenporträts waren eine Herausforderung, und sie waren mutig und unverfroren.

Und jetzt, an diesem Aprilmorgen, waren viele dieser Frauen ins Bistro gekommen. Hier hatten sie Claras Erfolge gefeiert. Heute waren sie da, um sie zu trösten.

»Die haben doch keine Ahnung«, sagte Myrna. »Das ist einfach nur gemein und bösartig.«

»Aber wenn ich ihnen geglaubt habe, als sie von meinen Bildern begeistert waren, sollte ich ihnen jetzt nicht auch glauben?«, fragte Clara. »Warum hatten sie damals recht und jetzt nicht?«

»Das sind doch keine Kunstkritiker«, sagte Reine-Marie. »Ich wette, die meisten von ihnen haben die Ausstellung nicht mal gesehen.«

»Der Kunstkritiker der New York Times hat gerade was gepostet«, vermeldete Ruth. »Er schreibt, dass er sich in Anbetracht dieser Katastrophe noch mal deine früheren Arbeiten anschauen will, die Porträts, um zu sehen, ob er sich da getäuscht hat. Scheiße. Der meint doch wohl nicht das Porträt von mir, oder?«

»Fuck, fuck, fuck«, murmelte Rosa. Die Ente saß auf Ruth’ Schoß und blickte verwirrt drein. Aber das taten Enten ja oft.

»Das gibt sich wieder«, sagte Myrna.

»Klar doch«, sagte Clara und fuhr sich durch ihre dichten Haare, sodass sie in alle Richtungen vom Kopf abstanden. Und sie wie eine aufgebrachte Irre aussehen ließen.

Ruth, die mit ziemlicher Sicherheit tatsächlich irre war, wirkte seltsamerweise völlig gelassen.

»Das Gute ist, dass niemand deinen Schrott sehen wird«, sagte Ruth. »Wer geht schon in eine Miniaturenausstellung? Warum in aller Welt hast du dich darauf eingelassen, dich an einer Gruppenausstellung mit briefmarkengroßen Ölbildern zu beteiligen? So was haben gelangweilte Frauen der besseren Gesellschaft im 18. Jahrhundert gemalt.«

»Und viele waren weitaus besser als ihre männlichen Kollegen«, sagte Myrna.

»Klar«, sagte Ruth. »Wer’s glaubt, wird selig.«

Rosa verdrehte ihre Entenaugen.

»Du malst Porträts auf großen Leinwänden«, bohrte Ruth nach. »Warum auf einmal Minilandschaften?«

»Ich wollte meine Bandbreite erweitern«, sagte Clara.

»Indem du Miniaturen malst?«, sagte Ruth. »Klingt ein bisschen paradox.«

»Hast du Claras Arbeiten gesehen?«, fragte Reine-Marie.

»Muss ich nicht. Ich kann sie riechen. Sie riechen wie …«

»Vielleicht siehst du sie dir erst mal an, bevor du einen Kommentar abgibst.«

»Warum? Offenbar sind sie einfallslos und banal.«

»Schreibst du immer wieder das gleiche Gedicht?«, fragte Myrna.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Ruth. »Aber ich versuch auch nicht, einen Roman zu schreiben. Das sind auch nur Worte, aber ich weiß, worin ich gut bin. Großartig.«

Myrna Landers stieß einen Seufzer aus und verlagerte ihr beträchtliches Gewicht. So gern sie Ruth auch widersprochen hätte, sie konnte es nicht. Es ließ sich nicht leugnen, dass ihre versoffene und ungehobelte alte Nachbarin in Three Pines eine großartige Dichterin war. Wenn auch wenig menschlich.

Ruth gab ein Geräusch von sich, das ein Lachen sein konnte. Oder eine Verdauungsstörung.

»Ich sag euch mal, was lustig ist. Du fällst auf die Schnauze bei dem Versuch, was anderes zu machen, während Armand seine Karriere zerstört, indem er sich darauf einlässt, zurückzugehen und das Gleiche wie vorher zu machen.«

»Niemand fällt auf die Schnauze«, sagte Reine-Marie und sah erneut auf ihre Uhr.

 

Die Spannung im Besprechungsraum stieg weiter.

»Also, wie soll das laufen?«, fragte einer der Agents. »Haben wir zukünftig zwei Chief Inspectors?«

Sie sahen Superintendent Lacoste an. »Nein. Chief Inspector Beauvoir hat die Leitung, bis er nach Paris geht.«

»Und Gamache ist …?«, fragte ein anderer Agent.

»Chief Inspector Gamache. Die Doppelbesetzung ist eine Übergangslösung für ein paar Wochen, weiter nichts«, sagte Lacoste, bemüht, zuversichtlicher zu klingen, als sie es war. »Das ist doch gut. Damit haben wir zwei erfahrene Leiter.«

Aber die Männer und Frauen in dem Raum waren nicht dumm. Ein starker Leiter war gut. Zwei führten zu Machtkämpfen. Widersprüchliche Anweisungen. Chaos.

»Sie haben jahrelang zusammengearbeitet«, sagte Lacoste. »Sie werden auch jetzt kein Problem damit haben.«

»Fänden Sie es in Ordnung, Anweisungen von jemandem entgegenzunehmen, der mal Ihr Untergebener war?«

»Natürlich.«

Es war eine legitime Frage, musste Lacoste sich trotz ihrer Verärgerung eingestehen.

Brachte Beauvoir es fertig, seinem ehemaligen Vorgesetzten und Mentor Anweisungen zu erteilen?

Und, wichtiger noch, konnte der ehemalige Chief Superintendent sie entgegennehmen? So respektvoll Gamache auch sein mochte, war er es doch gewohnt, die Verantwortung zu tragen. Auch für Beauvoir.

»Aber da ist noch was«, sagte ein höherrangiger Beamter.

»Was denn noch?«, fragte einer der Agents.

»Das wissen Sie nicht?« Der Beamte sah sich um und wich dabei Lacostes warnendem Blick absichtlich aus, wie es schien. »Gamache war nicht nur Beauvoirs Chef. Er ist auch sein Schwiegervater.«

»Sie machen Witze«, sagte der Agent, wohl wissend, dass er das nicht machte.

»Nein. Er ist mit Gamaches Tochter Annie verheiratet. Sie haben ein Kind.«

Die persönliche Beziehung zwischen Gamache und Beauvoir war zwar kein Geheimnis, aber die beiden Männer hängten es auch nicht an die große Glocke.

Am anderen Ende des Tischs war ein Schnauben zu vernehmen, und ein Agent blickte von seinem Handy auf. »Die haben ihn wirklich auf dem Kieker. Hören Sie sich das an …«

»Nein«, sagte Lacoste. »Ich will es nicht hören.«

Von der Tür kam ein Geräusch.

Sie blickten hinüber, dann sprangen sie auf.

Die Dienstälteren salutierten. Die Jüngeren wirkten einen Moment lang verdattert.

Einige der Anwesenden waren Gamache noch nie persönlich begegnet. Andere hatten ihn monatelang nicht gesehen. Nicht seit jenem heißen Julinachmittag in den Wäldern. Die Luft erfüllt vom Gestank des Pulverdampfs und den Schreien der Verwundeten. Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, war ihr Blick auf den Leiter der Sûreté gefallen, die Waffe in der Hand. Eine Leiche durch den schönen Wald schleifend.

Hatte Gamache, als er am Morgen ein sauberes weißes Hemd, Anzug und Krawatte angezogen hatte, gewusst, dass dieser Tag so enden würde? Mit Blut auf seiner Kleidung. Und an seinen Händen.

Aufgestanden war er an diesem schwülen Tag als Chief Superintendent der Sûreté du Québec. Voller Selbstbewusstsein und Autorität. Nicht gerade glücklich über einen riskanten Plan, dennoch entschlossen, ihn auszuführen.

Bis in sein Innerstes erschüttert hatte er die Wälder am späten Nachmittag verlassen.

Und jetzt war er zurück.

Als ein besserer Mann? Ein verbitterter Mann?

Sie würden es bald herausfinden.

2

Der Mann, den sie an der Tür stehen sahen, war Ende fünfzig. Groß, nicht dick, aber kräftig. Glatt rasiert. Und wenn er auch nicht im üblichen Sinn attraktiv war, sah er doch besser aus, distinguierter, als es die Bilder in den sozialen Medien an diesem Morgen die jüngeren Agents glauben gemacht hatten.

Armand Gamaches leicht gewellte Haare, einst dunkel, waren inzwischen überwiegend grau. Er hatte das Aussehen von jemandem, der viele Stunden auf freiem Feld, in feuchten Wäldern, in knietiefem Schnee verbracht und Leichen betrachtet hatte. Und die dafür Verantwortlichen zur Strecke gebracht hatte.

Er sah aus wie jemand, der jahrelang eine schwere Verantwortung auf den Schultern getragen hatte. Furchtbare Entscheidungen gegeneinander abgewogen hatte.

Die Falten in seinem Gesicht verrieten Entschlossenheit, Konzentration. Sorge, die sich über die Jahre eingegraben hatte. Und Trauer. Eingegraben über Jahrzehnte.

Doch während die Agents ihn musterten, lächelte Gamache, und sie sahen, dass die tiefsten Falten von seinen Augenwinkeln ausgingen.

Lachfalten. Wesentlich ausgeprägter als diejenigen, die von Sorge und Schmerz herrührten. Wobei sie sich trafen und ineinander übergingen.

Und dann war da noch die unübersehbare, unverwechselbare Narbe an seiner Schläfe. Wie eine Visitenkarte. Ein Kennzeichen. Sie schnitt sich mit den Sorgenfalten und den Lachfalten. Und erzählte eine ganz eigene Geschichte.

Das war es, was die jüngeren Agents sahen.

Bei den älteren verhielt es sich anders. Sie spürten mehr als sie sahen.

Stille breitete sich aus, während Armand Gamache in der Tür stand, sie ansah, in Augen blickte, die plötzlich feucht waren.

Niemals hätten sie damit gerechnet, dass er zurückkommen würde. Nicht zur Sûreté und schon gar nicht in die Mordkommission. Dieser Mann, an dessen Seite sie jahrelang gearbeitet hatten. Der für die meisten von ihnen ein Mentor gewesen war. Der ihnen beigebracht hatte, wie man Mörder fing und sich dabei nicht selbst verlor. Wie sie es schafften, gute Polizisten und noch bessere Männer und Frauen zu werden.

Kurze Zeit nach ihrem Eintritt in die Mordkommission hatte er mit jedem von ihnen einen kleinen Spaziergang unternommen und ihnen die vier Sätze gesagt, die zur Weisheit führten.

Er hatte sie nie wiederholt.

Ich hatte unrecht. Es tut mir leid. Ich weiß nicht. Ich brauche Hilfe.

Hilflos hatten sie zugesehen, wie Gamache zu Fall gebracht wurde. Und ausgemustert.

Aber heute war er zurückgekommen. Zu ihnen.

Er trug Anzug und Krawatte und ein frisch gebügeltes weißes Hemd, wie er es immer tat. Sogar im Außeneinsatz. Aus Respekt für das Opfer und dessen Familie. Und als Symbol der Ordnung angesichts des drohenden Chaos.

Er wirkte unverändert. Aber ihnen war klar, dass das nur ein äußerlicher Eindruck war. Wer wusste schon, was unter der Oberfläche vor sich ging?

Gamache betrat den Besprechungsraum. »Bonjour.«

»Bonjour, patron«, ertönte die Antwort.

Er nickte, nahm die respektvolle Begrüßung schweigend zur Kenntnis und gab gleichzeitig zu verstehen, dass es nicht nötig war.

»Superintendent, ich habe nicht erwartet, Sie hier zu sehen.« Er streckte die Hand aus, und Isabelle Lacoste ergriff sie. Eine wesentlich förmlichere Begrüßung als beim Besuch mit ihrer Familie bei den Gamaches in Three Pines.

»Ich war gerade in der Nähe«, sagte sie.

»Verstehe.« Er warf einen Blick zur Wanduhr. »Ich glaube, Ihr erster Termin ist in einer halben Stunde.«

Isabelle Lacoste lächelte. Er wusste es. Natürlich wusste er es. Dass sie heute Vormittag zu einer Reihe von Gesprächen in verschiedenen Abteilungen hier war, um zu klären, welche sie nach ihrer Rückkehr in ein paar Wochen leiten würde.

Wobei sie die Termine nicht ganz zufällig auf den Vormittag von Gamaches erstem Arbeitstag gelegt hatte.

»Stimmt. Ich fange ganz oben an.«

»Beim Hausmeisterdienst?«

»Natürlich. Träumen darf man doch.«

»All die Jahre, in denen Sie hinter mir aufgeräumt haben …«

»Machen sich endlich bezahlt, ja.«

Er lachte.

Gamache wusste, dass Isabelles erstes Gespräch in der Abteilung für Schwerverbrechen stattfand. Der Posten dort würde sie zu seiner Vorgesetzten machen.

»Sie haben die Auswahl, Superintendent. Jede Abteilung, die Sie kriegt, kann sich glücklich schätzen.«

»Merci.« Seine Worte berührten sie zutiefst.

Dann drehte Gamache sich um und streckte die Hand dem jungen Agent entgegen, der ihm am nächsten stand. »Wir sind uns noch nicht begegnet. Ich bin Armand Gamache.«

Der Agent stand stocksteif da, starrte auf die Hand, dann in das lächelnde Gesicht. In Gamaches Augen.

Es waren nicht die Augen eines Volltrottels, als der er in einigen Tweets bezeichnet wurde. Nicht die Augen eines kaltblütigen Mörders, als den andere ihn hinstellten.

Während der junge Agent sich vorstellte, stieg ihm ein leichter Duft nach Sandelholz und Rosen in die Nase.

»Ach ja«, sagte Gamache. »Sie gehörten zu dem Sicherheitsteam bei der Nationalversammlung in Québec.«

»Ja, patron.«

»Haben Sie sich in Montréal gut eingelebt?«

»Ja, Sir.«

Gamache ließ den Agent etwas verwirrt und mehr als ein bisschen beschämt wegen seiner Worte von vorhin stehen und ging langsam um den Tisch. Stellte sich denjenigen vor, die er noch nicht kannte. Plauderte kurz mit denen, die in der Vergangenheit unter ihm gearbeitet hatten.

Schließlich sah er sich im Zimmer um.

Der Stuhl am Kopfende des Tischs war leer, und Gamache ging darauf zu, alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er zog den Stuhl rechts von dem freien Platz hervor, setzte sich und bedeutete den anderen mit einem Nicken, ebenfalls ihre Plätze einzunehmen.

Er war ein paar Minuten zu früh zu dem Meeting erschienen, weil er wusste, dass es vielleicht nötig sein würde, einige Dinge klarzustellen. Und einige Fragen zu beantworten. Um für klare Verhältnisse zu sorgen, bevor Jean-Guy Beauvoir eintraf.

Wenn er ehrlich war, hatte er nicht damit gerechnet, dass die Verhältnisse so unklar waren.

»Ich glaube, Sie haben gerade über einen Blog-Post gesprochen«, sagte er.

Er hatte ein Taschentuch herausgezogen und wischte sich über die Augen.

»Genau genommen einen Tweet«, sagte der Agent und erntete dafür einen finsteren Blick von den anderen. »Nicht weiter wichtig, Sir.«

Er legte das Handy auf den Tisch.

»Wir wollen nicht damit anfangen, dass wir einander die Wahrheit verschweigen, oder? Es war wichtig genug, um vor meinem Kommen darüber zu sprechen. Es wäre mir lieber, wenn Kollegen nicht hinter meinem Rücken reden.« Er erwiderte die Blicke, dann lächelte er. »Ich weiß, das ist unangenehm. Ich habe einige der Posts gelesen. Ich weiß, was die Leute sagen. Dass man mich hätte feuern sollen. Dass ich ins Gefängnis gehöre. Dass ich geradezu sträflich inkompetent bin. Stimmt’s?«

Jetzt lächelte er nicht mehr, aber er war auch nicht verärgert. Armand Gamache stellte einfach Tatsachen fest. Sorgte für klare Verhältnisse, indem er die Dinge beim Namen nannte.

Er beugte sich vor. »Denken Sie vielleicht, dass ich empfindlich bin?«

Kopfschütteln.

»Gut. Ich bezweifle, dass Sie irgendetwas lesen werden, was ich nicht schon mal gehört habe. Lassen Sie uns ganz offen sprechen. Ich werde Ihre Fragen beantworten, ein einziges Mal, und dann können wir es ad acta legen. D’accord?«

Der unglückliche junge Mann umklammerte erneut sein Handy und wünschte sich, das Gebäude würde über ihm einstürzen.

Niemand schaffte es an die Spitze einer so großen und mächtigen Polizeibehörde wie der Sûreté, ohne ehrgeizig zu sein. Und skrupellos. Der Agent wusste, was Gamache hatte tun müssen, um an die Spitze zu gelangen. Er wusste auch, was in den sozialen Medien über Gamache gesagt wurde. Dass er nichts weiter als ein Soziopath sei.

Und jetzt sah dieser Mann ihn an und forderte ihn auf, in die Falle zu tappen, denn etwas anderes konnte es nicht sein.

»Lieber nicht, patron.«

»Verstehe.« Gamache senkte die Stimme, aber alle konnten hören, was er sagte. »Als ich Chief Superintendent war, hatte ich in meinem Büro einen gerahmten Spruch hängen. Die letzten Worte eines meiner Lieblingsdichter, Seamus Heaney. Noli timere. Das ist Latein. Wissen Sie, was es heißt?«

Er blickte sich im Raum um.

»Ich wusste es auch nicht«, gab er zu, als sich niemand meldete. »Ich musste es nachschlagen. Es bedeutet, ›Fürchte dich nicht‹.« Seine Augen kehrten zu dem unglücklichen jungen Agent zurück. »In diesem Beruf müssen Sie Dinge tun, die Ihnen Angst machen. Vielleicht fürchten Sie sich, aber Sie müssen mutig sein. Wenn ich Sie auffordere, etwas zu tun, müssen Sie darauf vertrauen, dass es einen guten Grund dafür gibt. Und ich muss darauf vertrauen können, dass Sie es tun. D’accord?«

Der Agent blickte auf sein Handy, schaltete es ein und begann zu lesen. »Gamache ist ein Irrer. Ein Feigling«, las er. Seine Stimme klang fest und ruhig, aber er war knallrot geworden. »Man sollte ihn einsperren und nicht zurück in den Dienst schicken. Solange er da ist, ist Québec nicht sicher.«

Der Agent hob den Kopf, seine Augen bettelten darum, aufhören zu dürfen. »Das sind bloß Kommentare, Sir. Zu irgendeinem Artikel. Das sind keine echten Menschen.«

Gamache hob die Augenbrauen. »Falls Sie damit nicht sagen wollen, dass es Bots sind …«

Der Agent schüttelte den Kopf.

»… dann sind es echte Menschen. Ich hoffe nur, es sind keine Québecer.«

»Der kommt aus Trois-Rivières.«

Gamache verzog das Gesicht. »Weiter. Hat noch jemand was?«

Der Reihe nach lasen sie beleidigende Posts vor.

»Gamache will doch gar nicht zurück«, las ein Agent vor. »Ich hab gehört, dass er den Posten abgelehnt hat. Die Leute in Québec sind ihm egal. Er interessiert sich nur für sich selber.« Der Agent blickte hoch und nahm ein leichtes Zusammenzucken wahr.

»Andere sagen das Gleiche. Dass Sie nicht zurück in die Mordkommission wollten. Nicht mit uns zusammenarbeiten. Stimmt das?«

»Zum Teil, ja.«

Mit dieser Antwort hatte niemand im Raum gerechnet. Alle ließen ihre Handys sinken und starrten ihn an.

»Ich habe das Angebot abgelehnt, als Chief Inspector in die Mordkommission zurückzukehren«, sagte Gamache. »Aber nicht, weil ich es nicht wollte.«

»Warum dann?«

»Weil Sie in Chief Inspector Beauvoir einen hervorragenden Vorgesetzten haben. Ich würde ihn niemals verdrängen. Das würde ich weder ihm noch Ihnen antun.«

Er verstummte kurz und ließ seine Worte sacken.

»Sie fragen sich wahrscheinlich, ob ich wirklich hier sein will oder ob ich die Stelle nur angenommen habe, weil ich diejenigen ärgern will, die sie mir angeboten haben, um mich zu demütigen.«

Die Mienen ließen erkennen, dass sie von seiner Offenheit überrascht waren. Zumindest die Jüngeren. Isabelle Lacoste und andere altgediente Beamte registrierten ihr Erstaunen mit einer gewissen Belustigung.

»Und, ist es so?«, fragte ein Agent.

»Nein. Als ich das Angebot abgelehnt habe, dachte ich, dass Chief Inspector Beauvoir bleiben würde. Aber dann sagte er mir, dass er in Paris eine Stelle in der freien Wirtschaft annehmen würde, und wir hatten ein längeres Gespräch. Ich habe mit meiner Frau gesprochen und beschlossen, den Posten anzunehmen.« Er blickte sich im Zimmer um. »Ich verstehe Ihre Bedenken, aber ich wäre nicht hier, wenn ich es nicht wollte. Es ist ein Privileg, bei der Sûreté zu arbeiten, egal in welcher Funktion. Eine größere Ehre ist mir in meinem Leben nicht zuteilgeworden. Eine bessere Möglichkeit, nützlich zu sein, kann ich mir nicht vorstellen, und auch keine besseren Leute zur Zusammenarbeit.«

Er sagte das mit so viel Überzeugung und unerschrockener Aufrichtigkeit, dass das Motto auf ihren Dienstausweisen, ihren Autos, ihren Marken mit Bedeutung erfüllt schien.

Service, Integrité, Justice. Pflichterfüllung. Integrität. Gerechtigkeit.

Gamache wandte seine Aufmerksamkeit dem Whiteboard zu, das die Breite einer Wand einnahm. Er war am Wochenende hier gewesen, als es ruhig war, hatte in diesem Besprechungsraum gesessen und die Akten studiert. Die Fotos. War die Fälle durchgegangen, die Gesichter an der Wand.

Er kannte den Stand der jeweiligen Ermittlungen und wusste, was die einzelnen Ermittlungsleiter getan hatten – oder nicht getan hatten.

In diesem Moment wandten sich alle Augen von Gamache ab und der Tür zu.

 

Als Jean-Guy zwanzig Minuten zuvor eingetroffen war, war er direkt in sein Büro gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Normalerweise machte er das nicht. Normalerweise stand seine Tür weit offen. Normalerweise ging er ohne Umwege in den Besprechungsraum. Normalerweise war er dort der einzige Chief Inspector der Mordkommission.

Aber das war kein normaler Tag. Der Verlauf der nächsten halben Stunde würde die Weichen für die kommende Zeit stellen.

Er musste sich sammeln.

Wie würden seine Agents und Inspectors darauf reagieren, dass ihr ehemaliger Chief Inspector nicht nur zurück war, sondern dass sich auch noch so viele Gerüchte um ihn rankten? Ein Privatmann, der zu einer öffentlichen Person geworden war.

Komplizierter machte die Sache für Beauvoir noch, dass er sich ganz und gar nicht sicher war, wie er selbst darauf reagieren würde. Natürlich hatten Armand und er ausführlich darüber gesprochen, aber Theorie und Wirklichkeit klafften oft weit auseinander.

In der Theorie würde alles reibungslos vonstattengehen. Er würde sich nicht einschüchtern lassen, nicht gereizt reagieren, wozu er neigte, wenn er sich unsicher fühlte. Er würde nicht in die Defensive gehen oder sich in Sarkasmus flüchten.

Chief Inspector Beauvoir wäre souverän. Ruhig. Er hätte das Meeting im Griff und vor allem sich selbst.

So weit der Plan. Die Theorie.

In der Realität war es jedoch so, dass er den Großteil seines Berufslebens neben und einen Schritt hinter Gamache gearbeitet hatte. Es war für ihn eine Selbstverständlichkeit, fast ein Automatismus, Gamache das letzte Wort zu überlassen. Der Autorität.

Jean-Guy atmete tief ein. Und tief aus. Und fragte sich, ob er seinen Paten anrufen sollte, beschloss dann jedoch, stattdessen ein paarmal das Gelassenheitsgebet zu wiederholen.

Er öffnete die Augen, als sein Handy ein vertrautes Pling von sich gab. Eine E-Mail von Annie.

Bist du bei Dad? Das musst du dir ansehen.

Er klickte den Link an und las. Folgte dem Thread. Tweet für Tweet. Kommentar, Erwiderung. Wie ein pervertierter Wechselgesang. Eine schiefgelaufene Liturgie.

»Mein Gott«, murmelte er und schloss den Link.

Er war froh, dass seine Frau ihn geschickt hatte. Sie war Anwältin und wusste, wie wichtig es war, vorbereitet und informiert zu sein. Selbst bei Dingen, vor allem bei Dingen, die man eigentlich gar nicht wissen wollte.

Die Uhr vor ihm zeigte eine Minute vor acht. Er rieb seine schweißnassen Hände an seiner Hose ab und betrachtete das Foto auf seinem Schreibtisch. Annie und Honoré. Aufgenommen im Haus der Gamaches in Three Pines. Im Hintergrund, unbemerkt von jedem, der nicht wusste, dass es da stand, ein gerahmtes Foto auf einem Regal. Ein Familienfoto von Annie, Honoré, Jean-Guy, Reine-Marie und Armand.

Armand. Immer da. Ein Trost und eine unbestreitbare Präsenz.

Mit einem tiefen Atemzug stützte Jean-Guy sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und stemmte sich von seinem Stuhl hoch. Dann öffnete er die Tür und ging, schritt, durch den großen offenen Raum, vorbei an verwaisten Schreibtischen mit Stapeln von Berichten und Fotos und Laptops.

Er betrat den Besprechungsraum. »Salut tout le monde.«

Alle erhoben sich, einschließlich Gamache.

Ohne zu zögern, streckte Jean-Guy die Hand aus, und Armand ergriff sie.

»Willkommen zurück.«

»Merci.« Gamache nickte. »Patron.«

3

Natürlich sahen sie zuerst Chief Inspector Gamache an. Sprachen zu ihm. Erstatteten ihm Bericht. Warteten auf seine Anmerkungen und seine Zustimmung, während sie ihre Fälle durchgingen.

 

Gamache hörte aufmerksam zu, sagte jedoch nichts. Stattdessen blickte er nach links. Zu Chief Inspector Beauvoir.

Wartete auf Anweisungen.

Und Chief Inspector Beauvoir gab sie. Ruhig, überlegt. Wenn nötig, stellte er präzise Fragen. Lenkte, gab hin und wieder einen Anstoß. Im Übrigen hörte er nur zu.

Er ging nicht in die Defensive, reagierte nicht gereizt.

Allerdings empfand er keinen geringen Ärger. Nicht gegenüber Gamache. Auch nicht gegenüber seinen Ermittlern. Sondern gegenüber der Situation. Und gegenüber denen in der Chefetage, die sie vermutlich mit Absicht in diese Situation gebracht hatten. Zwei altgediente Polizisten gegeneinander ausspielten. Zum Nutzen der Behörde? Nein. Zum Spaß. Um zu sehen, ob sie einen Keil zwischen sie treiben konnten. Mithilfe einer Art schwarzer Magie aus Freunden Feinde machen konnten.

Und vielleicht, ließ sich leise eine warnende Stimme vernehmen, vielleicht nicht nur zum Spaß.

Superintendent Lacoste zu seiner Linken verfolgte das Ganze aufmerksam. Sie war sich der Kräfte bewusst, die hier am Werk waren. Hoffte das Beste und wappnete sich gleichzeitig vorsorglich gegen die Kollision.

Im weiteren Verlauf des Meetings kam an Jean-Guy Beauvoir jedoch eine Seite zum Vorschein, die sie bislang nicht an ihm gesehen hatte.

Sie hatte gesehen, wie er unglaublichen Mut bewies. Unerschütterliche Loyalität. Den hartnäckigen, mit höchstem Einsatz verbundenen Willen, Mörder zur Strecke zu bringen.

Was sie an diesem energiegeladenen Mann noch nie gesehen hatte, war Zurückhaltung.

Bis heute.

Irgendwann, wahrscheinlich in diesem sonnenbeschienenen Québecer Wald, hatte Beauvoir gelernt, welche Kämpfe ausgetragen werden mussten und welche nicht. Was wichtig war und was nicht. Wer echte Verbündete waren und wer nicht.

Als Stellvertreter war er in den Wald hineingegangen. Als Anführer war er herausgekommen.

Zu schade, dachte Lacoste, dass das gerade dann passierte, als er im Begriff war, die Sûreté zu verlassen.

Nacheinander gingen sie die Fälle durch, jeder Ermittlungsleiter gab eine kurze Zusammenfassung zu dem Mord, an dem er mit seinem Team arbeitete. Informierte sie über die neuesten Ergebnisse der Kriminaltechnik, der Befragungen. Motive. Verdächtige.

Wie immer waren alle Handys ausgeschaltet und weggesteckt worden, für die Dauer des Meetings verbannt.

Irgendwann hörten die Ermittler auf, ständig zu Gamache zu sehen oder verstohlen zu Superintendent Lacoste zu blicken. Stattdessen richteten sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf Chief Inspector Beauvoir, und der erwiderte sie.

Wenn eine Verhaftung erfolgt war und ein Fall vor Gericht kam, fragte Beauvoir, was der Staatsanwalt davon hielt. Ungeachtet dessen, dass er es bereits wusste. Kein Mord kam zur Verhandlung, ohne dass Chief Inspector Beauvoir sich der Stärken und Schwächen des Falls bewusst war.

Seine Fragen dienten dem Team.

Die Ellbogen auf den glänzenden Tisch gestützt, die Hände ineinander verschränkt, saß Beauvoir leicht vorgebeugt da. Aufmerksam, konzentriert. Er hoffte, Gelassenheit und ruhige Kompetenz auszustrahlen. Doch in Wirklichkeit strahlte er Energie aus. Vitalität. Allergrößte Wachsamkeit.

Jean-Guy Beauvoir sah seine Ermittler mit einem klaren und ermutigenden Blick an. Seine Brille ließ ihn älter wirken, als er war. Mit Ende dreißig war er jünger als viele der altgedienten Ermittler im Raum.

Zwanzig Jahre jünger als der Mann zu seiner Rechten.

In seinen sorgfältig frisierten dunklen Haaren zeigten sich erste graue Strähnen. Und er war nicht mehr ganz so schlank wie früher.

Auf dem Weg zum Besprechungsraum hatte er einige Bemerkungen aufgeschnappt. Er wusste, von wem sie kamen. Es war keine Überraschung. Es waren die Agents, die gerne alles infrage stellten.

Als Gamache den Posten des Chief Superintendent innegehabt hatte, war er zusammen mit Lacoste zu ihm gegangen, und sie hatten ihn gebeten, die Unruhestifter rauszuwerfen.

»Denk daran, wie es vorher war«, hatte Beauvoir gesagt.

In der Sûreté du Québec gab es ein Vorher und ein Nachher. Eine Trennlinie, die sich durch das kollektive und institutionelle Gedächtnis zog.

»Vorher« war eine Zeit der Angst. Des Misstrauens. Der Feinde, die sich als Verbündete tarnten. Es war eine Zeit allgegenwärtiger und ungehemmter Brutalität. Hochrangiger Beamter, die Prügel und sogar Morde billigten.

Gamache hatte unter hohem persönlichem Risiko den Widerstand angeführt und sich schließlich bereit erklärt, den Posten des Chief Superintendent zu übernehmen.

Niemand, der in der Sûreté übrig geblieben war und all das durchgemacht hatte, konnte jemals vergessen, was »vorher« geschehen war.

»Wir müssen diese Agents loswerden«, hatte Lacoste gesagt. »Sie wurden in die Mordkommission versetzt, als gerade alles außer Kontrolle war, und machen nur Schwierigkeiten.«

Gamache nickte. Er wusste, dass das stimmte.

Aber er wusste auch, dass kaum jemand loyaler war als diejenigen, denen man eine Chance gegeben hatte.

»Wir behalten sie«, hatte Gamache gesagt, »und bilden sie richtig aus.«

Das hatten sie also getan. Und jetzt, unter Chief Inspector Beauvoir, waren diese Agents selbst zu Führungspersönlichkeiten geworden. Kampferprobt und vertrauenswürdig.

Was nicht hieß, dass sie nicht ihre eigene Meinung hatten, eine Meinung, die sie auch gerne kundtun wollten.

Ebendiese Mordermittler hatte Beauvoir Gamache infrage stellen hören, bevor er das Besprechungszimmer betreten hatte.

Als das Montagmorgen-Meeting sich seinem Ende näherte, zog etwas Beauvoirs Aufmerksamkeit auf sich, und er blickte den langen Konferenztisch hinunter.

»Langweilen wir Sie?«

Agent Lysette Cloutier hob mit weit aufgerissenen Augen den Kopf.

»Désolée«, sagte sie und fummelte an ihrem Handy herum.

Chief Inspector Beauvoir hielt so lange den Blick auf sie gerichtet, bis sie es weggelegt hatte.

Das Meeting ging weiter, aber bereits nach einer Minute unterbrach Beauvoir erneut.

»Agent Cloutier, was machen Sie da?«

Obwohl es offensichtlich war, was sie machte. Sie tippte etwas auf ihrem Handy. Schon wieder.

Verlegen blickte sie auf.

»Entschuldigung. Tut mir leid, aber …«

»Handelt es sich um einen persönlichen Notfall?«, fragte Beauvoir.

»Nein, eigentlich nicht. Ich glaube nicht …«

»Dann stecken Sie das Handy weg.«

Sie legte es auf den Tisch, doch gleich darauf griff sie erneut danach. »Entschuldigung, Sir, aber da ist etwas.«

»Geht es uns etwas an?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

Der letzte Bericht war beinahe abgeschlossen, und die anderen wollten zum Ende kommen und gehen. Mit anderen Worten, sie wollten, dass sie das verdammte Handy weglegte und die Klappe hielt.

Sie spürte, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Spürte ihr Herz in der Brust pochen. Im Hals. In den Schläfen. Agent Cloutier umklammerte das Handy und begann zu sprechen.

»Ich habe eine E-Mail von einem Freund bekommen. Seine Tochter ist verschwunden. Seit Samstagnacht.«

»Wo?«, fragte Beauvoir und zog seinen Notizblock heran.

»In den Eastern Townships.«

»Wie alt ist sie?«

»Fünfundzwanzig.«

Seine Hand mit dem Stift hielt inne. Er hatte mit einem Kind gerechnet. Er war erleichtert, aber auch leicht verärgert. Agent Cloutier merkte es und bemühte sich, seine Aufmerksamkeit nicht zu verlieren.

»Sie war auf dem Weg zu ihm in den Norden und ist niemals angekommen.«

»Ist sie verheiratet?«

»Ja.«

»Was sagt ihr Mann dazu?«

»Nichts. Homer, ihr Vater, hat ihn immer wieder angerufen, aber Carl behauptet, dass alles in Ordnung ist. Homer soll ihn in Ruhe lassen.«

»Aber sie ist nicht zu Hause?«

»Offenbar nicht. Carl will nicht sagen, wo sie ist. Er legt einfach auf. Jetzt geht er gar nicht mehr ans Telefon.« Sie sprach schnell, um ja nichts auszulassen. Suchte im Gesicht des Chief Inspector nach einem Anzeichen von Besorgnis. Einem Zeichen, dass sie zu ihm durchdrang.

»Wo wohnt der Vater?«

»Nördlich von Montréal. In den Laurentinischen Bergen. Sainte-Agathe-des-Monts.«

»Ist er hergekommen?«

»Nein. Er wollte noch bis heute warten.«

Beauvoir betrachtete die Frau am anderen Ende des Tischs. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass Agent Cloutier in einem Meeting etwas gesagt hatte.

»Ich verstehe, dass Sie besorgt sind, aber dafür ist die örtliche Dienststelle zuständig. Überlassen Sie die Sache den Kollegen vor Ort.«

Beauvoir wandte sich wieder der Ermittlerin zu, die gerade dabei gewesen war, ihren Bericht abzuschließen.

»Homer hat bei der örtlichen Dienststelle angerufen. Sie haben eine Streife vorbeigeschickt, aber nichts gefunden. Das war gestern. Sie ist immer noch verschwunden. Er macht sich wirklich große Sorgen.«

»Dann soll er eine Vermisstenanzeige aufgeben. Dabei können Sie ihm helfen.«

Er wollte nicht gefühllos klingen, aber es gab eine klare Aufgabenteilung, und man sollte besser niemandem in die Quere kommen.

»Bitte, patron«, sagte Cloutier. »Darf ich hinfahren? Mich mal umsehen?« Sie sah, dass Chief Inspector Beauvoir unentschlossen war. Zögerte. »Sie ist schwanger.«

Cloutier merkte, dass sich alle Köpfe zu ihr drehten. Sie wurde rot, hielt den Blick aber weiter auf den Chief Inspector gerichtet.

Beauvoir musterte sie erneut und wägte seine Möglichkeiten ab.

Der Umstand, dass die Frau schwanger war, sollte keine Rolle spielen. Und doch tat er das für Beauvoir.

Verschwunden. Schwanger. Unkooperativer Ehemann.

Das waren besorgniserregende Anzeichen. Alarmzeichen.

Lysette Cloutier war weder eine erfahrene noch – man konnte es nicht anders sagen – eine erfolgreiche Ermittlerin. Wenn er sie freistellte, nur für heute, um der Sache nachzugehen, würde sie mit leeren Händen zurückkommen. Wahrscheinlich, weil es nichts zu finden gab.

Bestimmt war die verschwundene Frau nur übers Wochenende weggefahren. Ihrem Mann hatte sie erzählt, sie wolle ihre Eltern besuchen, während sie in Wirklichkeit mit ihren Freundinnen unterwegs war. Oder mit einem Liebhaber.

Da wäre sie nicht die Erste.

»Was soll ich ihrem Vater sagen?«, bohrte Cloutier nach. »Er ist wirklich besorgt. Es ist nicht ihre Art.«

»Vielleicht kennt er sie nicht so gut, wie er denkt.«

»Aber er kennt seinen Schwiegersohn.«

»Was soll das heißen?«

»Er hat es nie offen gesagt, aber ich weiß, dass er ihn nicht mag.«

»Das ist kein Grund, die Mordkommission in Bewegung zu setzen, Agent Cloutier.«

»Er glaubt, dass etwas passiert ist.« Sie merkte, dass sein Interesse schwand, und überlegte fieberhaft, was sie noch sagen konnte. »Wie würde es Ihnen gehen, Sir? Wenn Ihr Kind nicht nach Hause kommen würde?«

Sie konnte sehen, dass ihre Worte ihn getroffen hatten, aber nicht so, wie sie gehofft hatte.

Jetzt sah Chief Inspector Beauvoir verärgert aus.

Superintendent Lacoste neben ihm verfolgte den Dialog und wappnete sich innerlich. Es würde also doch eine Kollision geben, aber nicht mit Gamache. Chief Inspector Beauvoir war im Begriff, Agent Cloutier zurechtzustutzen.

»Mein Sohn ist noch ein kleines Kind«, sagte Beauvoir mit kalter Stimme. »Das ist etwas ganz anderes.«

»Aber wenn man sein Kind liebt, spielt das Alter keine Rolle, oder?«, beharrte Cloutier und konnte selbst kaum fassen, dass sie das tat. »Es ist und bleibt Ihr Kind.«

Beauvoir starrte sie an, alle im Raum hielten den Atem an, während der Chief Inspector überlegte.

»Wie heißt sie?«

»Vivienne. Vivienne Godin.«

Beauvoir notierte den Namen. »Und der Ehemann?«

»Carl Tracey.«

Wenn diese Vivienne Godin tatsächlich verschwunden war, dann war etwas Schlimmes passiert, und jede Minute zählte.

Leider war Cloutier so etwas wie der Clouseau ihrer Abteilung. Sie würde die Frau nicht finden, selbst wenn sie im Coffeeshop in der Schlange vor der Theke direkt vor ihr stand.

Es war nicht so, dass Agent Cloutier dumm war, aber solche Ermittlungen waren eben nicht ihre Stärke. Sie war aus einem anderen Grund in die Mordkommission geholt worden.

Rasch ließ Beauvoir seinen Blick über die um den Tisch versammelten Männer und Frauen wandern. Sie hatten alle Hände voll mit Mordfällen zu tun. Mit Morden, die tatsächlich begangen worden waren, und Mördern, die gefunden werden mussten. Schnell.

Sein Blick blieb an dem Einzigen von ihnen hängen, dem noch keine Aufgabe zugewiesen worden war.

Mein Gott, dachte Beauvoir, bin ich wirklich im Begriff, ihm das anzutun?

»Würdest du Agent Cloutier begleiten, um festzustellen, was da los ist? Nur für heute?«

»Mit Vergnügen«, sagte Chief Inspector Gamache.

4

»Tut mir leid«, sagte Beauvoir leise, als sie das Meeting ver- ließen.

»Warum?«, fragte Gamache.

»Du weißt, warum.« Beauvoir deutete mit dem Kopf auf Cloutier, die an ihrem Schreibtisch saß. »An ihrem ersten Tag hier hat sie es geschafft, sich ihren Versetzungsbescheid an den Oberschenkel zu tackern.«

»Sie hat keine Waffe, oder?«, fragte Gamache.

»Machst du Witze?«

»Läuft es mit ihr?«, fragte Gamache. Immerhin war es seine Entscheidung gewesen, diese Schreibtischbeamtin in die Mordkommission zu holen.

»Na ja, solange man sie von der Straße fernhält und von den Bürgern oder irgendwelchen spitzen Gegenständen, ja.«

»Gut zu wissen.«

Gamache beobachtete Agent Cloutier, die an ihrem Schreibtisch saß und ins Leere starrte. Er hätte gern geglaubt, dass sie nachdachte, ihr Gesichtsausdruck ließ jedoch vermuten, dass sie von Unentschlossenheit gelähmt war.

»Noli timere«, sagte Beauvoir mit einem Grinsen.

»Hm. Na ja, vielleicht doch ein bisschen timere«, gab Gamache zu. Agent Cloutier weiter im Blick behaltend, dachte er über ihre Frage nach.

Wie würde es Ihnen gehen …?

Wie würde es ihm gehen, wenn seine Tochter, eine erwachsene Frau, eine verheiratete Frau, seit anderthalb Tagen verschwunden wäre?

Er wäre verzweifelt. Er würde hoffen und beten, dass jemand der Sache Beachtung schenkte. Dass jemand half.

Agent Cloutiers Beharrlichkeit zeugte von Mut. Ihre Frage zeugte von Empathie.

Beides war von allergrößtem Wert, sagte er sich, während er gleichzeitig dabei zusah, wie sie versehentlich ihr Handy vom Schreibtisch fegte. In den Papierkorb.

Sie war nervös, das war unübersehbar. Weil diese junge Frau verschwunden war? Weil sie mit ihm zusammenarbeiten sollte? Weil sie Angst hatte zu versagen? Oder war da etwas anderes?

»Ich habe veranlasst, dass im Büro ein zweiter Schreibtisch aufgestellt wird«, sagte Beauvoir. Um ein Haar hätte er »in meinem Büro« gesagt, konnte sich aber gerade noch bremsen.

»Merci. Ich weiß die Absicht zu schätzen, aber ich würde lieber hier draußen sitzen.«

»Im Ernst?« Beauvoir sah sich um. Die Schreibtische waren so aufgestellt, dass sich immer zwei gegenüberstanden. Manche aufgeräumt, andere unter Papierstapeln begraben. Manche persönlich gestaltet, mit Familienfotos und Erinnerungsstücken. Andere antiseptisch.

Gamache folgte Beauvoirs Blick. Es war Jahre her, Jahrzehnte, seit er in einem Großraumbüro gesessen hatte. An einem Schreibtisch wie jeder andere.

Ein Ermittler wie jeder andere.

Ganz im Gegensatz zu der Demütigung, als die es gedacht war, hatte es etwas Bequemes. Sogar Beruhigendes. Jemand anderes trug die Verantwortung, und er konnte sich einfach auf die anstehende Aufgabe konzentrieren.

»Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich den da.« Er deutete auf den leeren Schreibtisch gegenüber von Cloutier.

»Nur zu.« Beauvoir legte Gamache die Hand auf den Rücken. »Wenn du irgendetwas brauchst oder auch einfach nur reden willst, meine Tür ist immer offen.«

Gamache erkannte darin das wieder, was er selbst zu blutigen Anfängern gesagt hatte. »Wann ist gleich noch mal dein letzter Tag?«

Beauvoir lachte. »Schön, dass du wieder da bist. Sir.«

Gamache holte tief Luft. Es roch nach Schweiß. Nach am Boden der Glaskanne eingebranntem Kaffee. Jeden Tag. Seit Jahren.

Von all den intelligenten Leuten in der Mordkommission schien keiner jemals gelernt zu haben, das Ding auszuschalten.

Es roch nach Papier und Akten und Füßen.

Es roch vertraut.

Als an seinem ersten Tag in der Mordkommission ein nervöser Agent Gamache den Raum betreten hatte, hatte hier ein Heidenlärm geherrscht. Agents, die sich gegenseitig etwas zuriefen. Klingelnde Telefone. Klappernde Schreibmaschinen.

Jetzt war leises Stimmengemurmel zu vernehmen, das Summen von Handys und das gedämpfte Klappern von Laptop-Tastaturen.

Plus ça change, plus c’est la même chose.

Je mehr sich die Dinge ändern, umso mehr bleiben sie gleich.

Die Technik hatte sich verändert, die Arbeit nicht.

Noch immer begingen Mörder Morde, und noch immer brachten die Agents der Sûreté sie zur Strecke.

Erst in diesem Moment wurde Gamache klar, wie sehr er all das tief in seinem Inneren vermisst hatte.

 

Sie verließen die Insel von Montréal und fuhren über die Champlain Bridge auf die Südseite.

Gamache saß auf dem Beifahrersitz und Cloutier hinter dem Lenkrad. Auf dem Sankt-Lorenz-Strom unter ihnen türmten sich mit dem Einsetzen des Tauwetters die Eisschollen. In ganz Québec tauten gefrorene Flüsse auf und froren erneut zu. Produzierten gewaltige Eisstaus. Die durch die Schneeschmelze und Aprilschauer angeschwollenen Flüsse konnten nicht ausweichen. Sie konnten nur über ihre Ufer treten.

Jedes Frühjahr gab es diese Überschwemmungen. Aber dieses Mal war es offensichtlich anders.

Gamache hatte Höhenangst und richtete den Blick lieber starr geradeaus, wenn er über die beeindruckende Brücke fuhr. Doch jetzt zwang er sich, nach unten zu sehen. Sofort erfasste ihn ein leichter Schwindel, und er umklammerte den Türgriff, als er über den Rand der Brücke auf die hohen zerklüfteten Eistürme blickte, die ihm aus dem Fluss entgegenragten.

Eis, so weit das Auge reichte. Geborsten und übereinandergeschoben. Und sich einen Weg bahnend.

Er drehte sich nach vorne und begann wieder zu atmen, und mit jedem Atemzug betete er zu Gott, dass das warme Wetter anhielt und die Eisstaus schmelzen ließ. Die Dämme aus Eis. Die Flüsse entlastete, bevor sie sich Bahn brachen.

Allerdings sah es nicht danach aus, dachte er, während die Scheibenwischer schweren nassen Schnee von der Windschutzscheibe schoben. Der Himmel vor ihnen war wolkenverhangen.

»Erzählen Sie mir, was Sie wissen«, sagte er zu Agent Cloutier.

»Vivienne Godin und Carl Tracey wohnen auf einer abgelegenen Farm in der Nähe von Cowansville. Bevor wir losgefahren sind, habe ich ein bisschen recherchiert. Nach Homers Anruf hat die örtliche Dienststelle der Sûreté gestern jemanden hingeschickt. Sie haben sich umgesehen, aber nichts entdeckt. Kein Anzeichen von Gewalt.«

»Und keine Madame Godin.«

»Nein. In der Vergangenheit wurden sie schon dreimal zu dem Haus gerufen, jedes Mal wegen häuslicher Gewalt. Aber kaum waren sie dort, hat Madame Godin ihre Anschuldigung zurückgenommen und sie nicht reingelassen.«

Ihr Vater hatte also recht gehabt, dachte Gamache. Es passierte irgendetwas Schlimmes.

»Aber es ist doch keine offizielle Anzeige mehr nötig«, sagte er. »Sobald Polizeibeamte Hinweise auf eine Misshandlung entdecken, können sie eine Verhaftung vornehmen.«

»Ja, aber ich vermute, es gab keine ausreichenden Hinweise.«

»Also auch keine Verhaftung?«

»Nein.«

Schweigend fuhren sie weiter, blickten in den feucht-grauen Tag hinaus. Dachten nach.

Gamache über diese junge Frau, Vivienne Godin.

Cloutier über Viviennes Vater Homer.

Als sie vom Highway abfahren wollte, wies Gamache sie an, geradeaus weiterzufahren.

»Wir brauchen so viele Informationen wie möglich, bevor wir zu ihr nach Hause fahren und mit ihrem Mann sprechen. Wir haben nur diese eine Gelegenheit, bevor er uns von seinem Grundstück jagt. Jede einzelne Frage zählt. Nehmen Sie bitte die nächste Abzweigung und fahren Sie zur örtlichen Dienststelle. Dort wurden die Anrufe entgegengenommen, richtig?«

»Ja, aber ich habe bereits mit ihnen gesprochen.«

»Ob man am Telefon mit jemandem spricht oder persönlich, sind zwei Paar Stiefel. Außerdem hat es auch etwas mit Respekt zu tun. Das ist nicht unser Zuständigkeitsbereich. Wir sollten da nicht einfach herummarschieren und anfangen, Leute zu befragen. Außerdem brauchen wir wahrscheinlich ihre Hilfe.«

Wenige Minuten später erreichten sie die Stadt.

»Da lang, bitte«, sagte Gamache und deutete auf eine Seitenstraße und gleich darauf auf ein flaches Gebäude mit dem Emblem der Sûreté am Eingang.

5

»Bonjour. Ich bin Chief Inspector Gamache, das ist Agent Cloutier.« Er schob seinen Sûreté-Ausweis unter der Trennscheibe am Empfang durch. »Wir würden gerne mit Commander Flaubert sprechen, s’il vous plaît.«

Der Mann hinter der Scheibe musterte zuerst den Ausweis, anschließend Gamache und Cloutier und deutete dann auf eine harte Bank, auf der zusammengesunken ein Betrunkener saß.

»Warten Sie da drüben.«

»Merci«, sagte Gamache und nahm Platz unter einem Foto des Premierministers von Québec, des Mannes, der für seine Degradierung verantwortlich war.

Er schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück und wartete. Scheinbar ins Leere starrend.

Cloutier ging auf und ab, sah auf ihr Handy, ob sie neue Nachrichten bekommen hatte, betrachtete die an den Wänden aufgehängten Poster, Bilder, Warnmeldungen, Belobigungsschreiben. Fotos des Hockeyteams der Sûreté. Schaute noch mal aufs Handy. Und noch einmal.

Schließlich trat eine Polizeibeamtin aus einer Tür und eilte mit ausgestreckter Hand durch den Vorraum. »Chief Superintendent …«

»Inspector«, berichtigte Gamache und fragte sich, wie oft er das noch würde tun müssen. »Chief Inspector.« Er stand auf.

»Brigitte Flaubert«, sagte sie und schüttelte ihm die Hand.

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Gamache.

Als Chief Superintendent hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, jedem Polizeirevier in der Provinz einen Besuch abzustatten. Um sich mit den Revierleitern zusammenzusetzen und vor allem mit den Untergebenen. Um zu hören, was ihrer Meinung nach verbessert werden sollte.

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Commander Flaubert betrachtete Gamache mit einem prüfenden Blick, den er allmählich schon kannte. Er vermutete, dass er sich daran gewöhnen musste.

Er unterschied sich von den neugierigen Blicken, die sich normalerweise auf der Straße auf ihn richteten, wenn Passanten versuchten, das bekannte Gesicht einzuordnen. Jetzt ging es weniger darum, ihn einzuordnen, als über ihn zu richten.

Flaubert warf kurz einen verärgerten Blick zu dem Beamten am Empfang, der davon ungerührt schien, dann wandte sie sich Agent Cloutier zu, um sie sich von Gamache vorstellen zu lassen.

»Wenn Sie bitte mitkommen würden«, sagte Flaubert.

Sie folgten ihr in ihr Büro auf der Rückseite des Gebäudes, vorbei an den Schreibtischen arbeitsamer Sûreté-Beamter, die kurz aufsahen und den Kopf gleich wieder senkten.

Ihn erneut hoben. Als ihnen klar wurde, dass der groß gewachsene Mann im Anorak kein Fremder war, sondern der ehemalige Leiter des gesamten Ladens.

Gamache ließ den Blick durch den Raum schweifen, sah in Augen, die rasch abgewandt wurden.

Einer der Agents zog allerdings seine Aufmerksamkeit auf sich. Kräftig gebaut, aber nicht dick. Er saß an seinem Schreibtisch, und im Gegensatz zu den anderen sah er nicht weg.

Gamaches Blick wanderte weiter, aber er hatte das Gefühl, dass er den Mann kannte. Dass er ihn schon einmal irgendwo gesehen hatte.

Er war um die dreißig. Kurze dunkle Haare. Breite Schultern. Eins achtzig, vielleicht auch größer, schätzte Gamache, wobei das im Sitzen schwer zu sagen war.

Wo war er diesem Agent schon einmal begegnet? An der Akademie? Hatte er ihn unterrichtet? Hatte er ihm eine Auszeichnung verliehen? Für seine Leistung? Tapferkeit? Besondere Verdienste?

Das glaubte Gamache nicht. Daran würde er sich erinnern. Und trotzdem kannte er den Mann.

Außerdem war da noch der Ausdruck in seinen Augen. Während seine Kollegen neugierig wirkten, schien er eher auf der Hut zu sein.

Commander Flaubert deutete auf die Stühle vor ihrem Schreibtisch und schloss die Tür.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

Gamache zog seinen Anorak aus und nickte Agent Cloutier zu, damit sie begann.

»Ähm. Also.« Sie versuchte, sich zu sammeln. »Wir interessieren uns für eine Frau aus der Gegend hier. Vivienne Godin. Nach unseren Informationen wird sie vermisst.«

Sie legte ein Foto von Vivienne auf den Schreibtisch.

Flaubert sah eine junge Frau. Glatte braune Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Die Augen von einem klaren, beinahe stechenden Blau. Sie wirkte nicht besonders glücklich, aber auch nicht zornig oder traurig. Vivienne Godins Gesicht war nahezu ausdruckslos.

In natura mochte sie attraktiv sein, aber dieses Foto sog alles Leben aus ihr und verlieh ihren hübschen Gesichtszügen etwas Abgestumpftes.

Commander Flaubert hob den Kopf, sah von Cloutier zu Gamache und wandte sich schließlich Cloutier zu.

»Tut mir leid, ich kenne sie nicht. Sie wohnt hier in der Gegend, sagen Sie?«

»Ja. Sie ist mit Carl Tracey verheiratet.«

»Ah. Tracey kenne ich.« Flaubert ging zur Tür und rief einen der Agents zu sich. Denjenigen, der gerade Gamaches Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

»Das ist Agent Cameron.«

Gamache erhob sich und stellte fest, dass er sich getäuscht hatte. Dieser Mann war nicht eins achtzig oder etwas darüber. Er war knapp eins neunzig. Und er hatte eine Respekt einflößende Statur.

Aus der Entfernung war an seinem Gesicht nichts Auffälliges.

Das änderte sich jedoch, wenn man ihn von Nahem sah. Das Auffällige waren die Narben. Seine Lippe war gespalten und auch seine linke Augenbraue. Sein linker Wangenknochen war leicht abgeflacht, ebenso seine Nase.

Außerdem stach Gamache der Ring an Camerons Finger ins Auge, wobei der zugegebenermaßen kaum zu übersehen war.

Daher kannte er ihn.

»Patron«, sagte Cameron.

Gamache deutete auf den Ring. »Ein großartiges Spiel. Ich war da. Die Alouettes lagen zurück. Ihnen sind ein paar beeindruckende Blocks gelungen. Einer gegen Ende des dritten Viertels, stimmt’s? Das hat dem Quarterback einen Touchdown ermöglicht.«

»Stimmt.« Cameron lächelte, während seine Pranke Gamaches Hand wieder losließ. Er blieb stehen, wie hineingequetscht in das kleine Zimmer. »Das ist lange her.«

»So lange auch nicht. Sie sind Robert Cameron, n’est-ce pas?«

»Bob. Ja.«

Der Mann hatte als Tackle bei den Alouettes de Montréal gespielt. Hatte ihnen vor ein paar Jahren zum Sieg beim Grey Cup der Canadian Football League verholfen.

Und jetzt war er bei der Sûreté.