Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Selbstmitleid ist Lina fremd, denn sie hat reichlich Humor. Doch woher all die Wut kommt, die mitunter aus ihr herausbricht? Sie scheint dann ganz außer sich, völlig daneben. Weil wohl einfach zu viel zusammengekommen ist. Kein kleines Familiendrama, ein großes. Ihre Zwillingsschwester Luise ist spurlos verschwunden. Vor Jahren. Schon lange lebt Lina deshalb nicht mehr in Wildhof. Jetzt aber muss sie dorthin zurückkehren, um aufzuräumen, nachzuforschen, zu begraben und abzuschließen. Gut dreißigjährig und frisch verwaist sucht sie nun einen Käufer für das Elternhaus und findet wieder, was auf immer versunken schien. Auch endlich eine Spur. Denn Luise hat ihr einen Wegweiser hinterlassen … In einer Gegenwart, in der sie gehalten wird vom durchsonnten Wald und von alten Freundschaften, kratzt Lina beidhändig die vermooste Vergangenheit frei. Und damit ihre eigene Zukunft. Ein sinnliches Buch, voller Gefühle, Gerüche und Geräusche, angespannt und spannend bis zum Schluss.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lina reist mit leichtem Gepäck. Denn sie hat nicht vor zu bleiben. Was in ihrem Heimatort auf sie wartet, wiegt schwer. Und dabei weiß sie noch längst nicht alles. Doch weil es summt und leuchtet und duftet im Wald, geht sie nicht in die Knie, sondern weiter.
Eva Strasser
WILDHOF
Roman
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Das Haus sieht aus wie immer. Als hätte es ein Gesicht, das sich auch über Jahrzehnte nicht verändert. Drei Augen auf der Stirn, zwei Löcher in den Wangen, eine Nasentür. Abgeblättertes Holz. Verwitterte Fensterläden. Der Zaun ist morsch und der Garten verwildert. Lina rüttelt am Gartentor, nichts zu machen. Sie wirft den Koffer rüber, springt über den Zaun und sieht sich um. Mit beiden Füßen versinkt sie im dichten Moos, das über das Gras gewuchert ist wie ein Pelz, zum Schutz vor der Dunkelheit und Kälte. Einmal die Woche hat Herr Weber früher den Rasen gemäht, im Herbst die Hecke und die Bäume geschnitten. An der Hecke sieht man genau, wann er das letzte Mal hier war. Da, wo die Äste dünner und die Blätter heller werden, hat ihm die Natur ein Denkmal gesetzt.
Lina steht mit dem Koffer im Garten, und plötzlich fällt ihr ein, dass sie keinen Schlüssel hat. An den Schlüssel hat sie gar nicht gedacht. Hat sie überhaupt einen?
Unter einer dicken Tanne steckt ein Holzkreuz im Rasen: »Sherry« ist darauf geschrieben, sie kann es nur lesen, weil sie weiß, dass es da steht. Neben dem Kreuz liegt ein Fußball, zerfleddert, seit fünfzehn Jahren nicht mehr bewegt und fast komplett überwuchert.
»Die grüne Hölle« hat Henny den Garten immer genannt, was Richard nie hören wollte. Für ihn war der Garten ein Paradies, ein Wunder des Lebens. Herr Weber hat all die Jahre um den Ball und um das Kreuz herum gemäht. Lina muss den Ball nur kurz ansehen und weiß genau, wie er riecht. Sie knurrt. Tief und dunkel klingt das. Eine Warnung an die Welt.
Neben der Küchentür steht immer noch der dicke Blumentopf mit dem Hibiskus. Der Stamm ist knorrig und dünn, lila Blüten bedecken den Boden, die Blätter kringeln sich, er sieht aus, als hätte ihn seit Jahren niemand mehr gegossen. Und trotzdem lebt er noch. Ein Geisterbaum. Sie tastet um den Blumentopf herum, aber da ist kein Schlüssel. Nur tote Kellerasseln, Moos und Erde.
Mit einem großen Stein schlägt sie die Scheibe der Küchentür ein. In Filmen werden Scheiben andauernd eingeschlagen. Aber sie ist jetzt fast dreißig, und das ist ihre allererste Scheibe.
Sie greift vorsichtig durch das zerbrochene Glas, öffnet die Tür und wird sofort von einem bestialischen Gestank wieder zurückgetrieben in den Garten, stolpert über ihren Koffer und kotzt den ICE-Kaffee in ein vertrocknetes Gemüsebeet. Hier hat Richard einmal versucht, Salat anzubauen, dann den Platz aber aufgrund seines konfliktscheuen Naturells den Nacktschnecken überlassen. Jetzt wachsen hier im Schatten des Hauses Brennnesseln und Efeu. Viele Brennnesseln. Hunderte. Sie recken sich in die Höhe, die Härchen auf den gezackten Blättern zittern in ihre Richtung.
Wie ein grüner Haufen neugieriger Nachbarn beobachten sie den Neuankömmling, ein Mensch, ein neuer Mensch, der neue Mensch hat uns vollgekotzt. Lina starrt die Brennnesseln an, die starren zurück. Wieder knurrt sie. Atmet tief durch, wischt sich über den Mund, spuckt nochmal auf den Boden. Und geht wieder rein, aber hält sich die Nase zu dabei.
Auf dem Küchenfußboden liegen zwei halb verweste Ratten. Sie haben es vom Fluss in die Küche geschafft, und dort sind sie verhungert, haben den Ausgang nicht wiedergefunden. Ihre kleinen Wirbelsäulen kleben an den Kacheln, die Köpfe haben sie einander zugewandt. Es sieht aus, als hätten sie sich Geschichten erzählt, gegen den Tod angekuschelt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie versucht haben, sich gegenseitig aufzufressen.
Lina bindet sich ihr Halstuch um Mund und Nase, reißt die Küchentür und das Fenster auf, beugt sich fluchend unter das Waschbecken, findet dort eine Schaufel, kratzt die Ratten vom Fußboden, wirft sie in den Putzeimer, rennt in den Garten und kotzt nochmal.
Eine sehr nette Polizistin hatte ihr angeboten, sie zu unterstützen, bei den Behördengängen, die jetzt vor ihr liegen, die sie abarbeiten muss, nach so einem Ereignis. Zum Rathaus. Zum Bestatter. Sich die Eltern anzusehen, davon hat die Polizistin abgeraten. Sonst fällt das Abschiednehmen vielleicht schwerer, das Abschließen, und Abschließen ist doch so wichtig.
»Schauen Sie sich das Auto an und denken Sie sich den Rest.«
Dabei will sie genau das nicht, denken. Steht im Garten und fängt schon damit an. Gibt es ein Testament? Irgendeine Gebrauchsanweisung? Haben Henny und Richard sich Särge ausgesucht, irgendwo Sargvorlieben hinterlegt? Macht man das, irgendwann mal, an einem verregneten Sonntagnachmittag, Liebling, such dir einen Sarg aus. Oder wenigstens einen Song. Was, wenn die Eltern sich um nichts gekümmert haben? Wenn sie ihr Leben genauso verlottert hinterlassen wie diesen Garten und das Haus? Lina starrt auf eine durchweichte Pizzaschachtel, die neben ihrer Kotze im Gras liegt, eine Schnecke sitzt darauf. Warum sollten sie ausgerechnet das Jenseits organisieren, wenn es schon mit dem Diesseits nicht geklappt hat.
Sie hustet. Sie ist wütend. Ihre Atmung wird immer schneller, ihr Herz klopft, und sie kickt die Pizzaschachtel durch die Luft und schlägt mit ihrer Hand gegen den Stamm des Walnussbaums, mehrmals.
Der Walnussbaum. Groß ist er, eine Kathedrale, mitten im Garten. Er wurde gepflanzt zu Linas und Luises Geburt. Lina schüttelt ihre Hand. Die Haut ist abgeschürft, und trockene Rindenstückchen kleben an ihren Fingern, dunkles Holz und rotes Blut.
Und vom Baum hängt immer noch das Seil. Dass diese Dinge nicht einfach abfallen und vermodern, dass dieses Seil da jetzt seit über fünfzehn Jahren hängt und darauf wartet, dass jemand daran zieht. Sie läuft an dem Seil vorbei, sie streift es sogar mit der Schulter, und dann, kurz bevor sie die Terrasse erreicht, springt sie zurück und zieht.
Es bimmelt. Oben im Baum bimmelt eine verrostete Glocke. Tausend Splitter fallen aus den Zweigen, lauter kleine Bilder tanzen um sie herum, wie ein Hornissenschwarm. Und sie kann sich nicht wehren.
Rehe, Glockenblumensträuße, Lagerfeuer.
Hundehaare, Wasserläufer, Maracujaeis.
Farbpinsel, Baumstümpfe, Champagnergläser.
Fahrräder, Sonnenpfützen, Mühlrad.
Nusskuchen, Laubhaufen, Waldsee.
Die Erinnerungen wollen rein, in ihr Leben, in ihren Körper, irgendwo weiterleben, dem Nichts entkommen. Sie flieht vor dem Baum zum Haus, ihr war nicht klar, dass sie fliehen muss, sie wusste nicht, dass der Baum eine Falle ist und welche Macht er hat, sie muss das Seil abschneiden. Oder gleich den Baum fällen. Das ganze Haus abreißen lassen. Weg damit. Den Garten umgraben, bis nichts mehr so aussieht wie die alte Welt, die es mal gab und die jetzt plötzlich wieder anklopft und rein will. Die ganze Zeit konnte sie noch so tun, als sei niemand zu Hause, und jetzt, plötzlich, wird das schwierig. Die alte Welt hat sie entdeckt, und sie hat noch eine Rechnung offen. Vielleicht war es ein Fehler, dass sie jetzt hier ist, was weiß denn die Polizistin schon von Abschließen. Es fühlt sich an wie ein Aufschließen, und das war nicht der Deal.
Richard und Henny, die gesperrte Straße, der Straßengraben, der Wald, alles voller Zitronen, weil es ein Südfrüchtetransporter war, der Lastwagen. Das alte grüne Auto, das nach Brezel riecht und nach Banane, wo überall Papier zwischen den Sitzen steckt, Bilder, Skizzen, Ideen. Wie damit umgehen, mit so einer Nachricht, aus dem Nichts, an einem Mittwoch gegen 16 Uhr, was tun, zwei Polizisten in ihrem Büro, fünfter Stock, es tut uns sehr leid, frontal, sie waren sofort tot, haben Sie jemanden, den Sie anrufen können.
Sie spürt es tief in sich brodeln, ein Meer aus Lava, in dem sich stinkende Krokodile ineinander verbeißen, sie versucht zu lächeln und zu atmen, und außerdem tut ihre Hand weh. Herzliches Beileid. Sie muss irgendwas tun.
Hennys Putzmittelvorrat ist beeindruckend. Und das hier unter der Spüle ist erst der Anfang. Als professionelle Alkoholikerin hat sie in jedem Zimmer Kalkentferner, Scheuermilch und Essigreiniger versteckt. Vor dem Putzen bitte am Inhalt der Flasche riechen. In den meisten Flaschen ist Wodka, nur in der Scheuermilch ist tatsächlich Scheuermilch. Lina wäscht sich die Hände und das Gesicht, mit Seife, lange. Das beruhigt.
Überall stehen Teller mit angetrockneten Essensresten herum, sogar im Garten. Das normale Geschirr, das gute Geschirr, das Silberbesteck, spielt alles keine Rolle. Englische Porzellantässchen mit Kaffeeresten neben dem Geräteschuppen; eine weißblaue holländische Schüssel, in der vielleicht einmal Gemüsesuppe war, im Rhododendron; die guten Gläser, die nicht in die Spülmaschine dürfen, auf dem Klavier; es riecht nach Fertigsuppen und verschüttetem Sekt. Ungeöffnete Post, ungeputzte Fenster, keine Anzeichen dafür, dass hier irgendjemand mal einen Staubsauger benutzt hätte in der letzten Zeit.
Lina kratzt die Knochenreste mit einem Pfannenwender ab, wischt den Boden, dann schleppt sie den Koffer in die Küche und zündet sich eine Zigarette an. Der Rauch steigt zur Zimmerdecke und hüllt sie sofort in die vertraute kleine Tabakwolke, aus der heraus die Außenwelt weniger bedrohlich wirkt. In den Schränken findet sie eine große geblümte Tasse, das war Richards Teetasse, grüner Tee mit geröstetem Reis, jeden Morgen um 9 Uhr, dazu ein Stück Hefezopf mit Butter, sie zieht die Nase hoch und stellt die Tasse auf die Fensterbank, das ist jetzt ihr Aschenbecher. Sie rückt einen Stuhl ans Fenster, legt die Beine hoch, sieht auf ihr Smartphone, es ist kurz nach 14 Uhr, kein Empfang, weder Telefon noch Internet, wie schön, dass zumindest die Uhrzeit funktioniert, dann nimmt sie noch einen tiefen Zug an ihrer Zigarette und fühlt sich besser.
Über dem Herd hängt die Kuckucksuhr. Rotes Dach, braunes Haus, schiefe Tannen rechts und links, und oben das runde Dachfenster. An zwei vergoldeten Schnüren hängen zwei dicke Tannenzapfen. Irgendwann, um kurz vor fünf, ist die Uhr stehen geblieben. Kurz vor Sonnenaufgang oder kurz nach dem Kaffee am Nachmittag. Sie könnte sie aufziehen, damit es hier wieder tickt, jede Stunde ein Kuckuck, wie sie am Wochenende mittags vor dieser Uhr standen, die Sonne scheint draußen auf das Gras, das Fenster ist offen, es riecht schon nach Mittagessen, und dann geht oben das kleine Fenster auf und Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck Kuckuck. Der Kuckuck ist grün mit rotem Schnabel, Lina weiß es noch genau, sie weiß auch noch, wie das Ticken der Uhr klingt, es gehört zur Küche dazu, es ist viel zu laut hier ohne das Ticken der Uhr.
Durch das Küchenfenster sieht man auf moosdurchtränktes Gras, bis zu der kleinen buckligen Steinmauer am Ende des Gartens. Dahinter beginnt der Wald, dahinter beginnen die Berge. Hunderte Tannen drängen sich dicht an dicht und wuchern ungehindert den Hang hinauf. Henny hat sich hier immer beobachtet gefühlt. Man kann in den Wald nicht hineinschauen, die Bäume schlucken alles Licht, aber die Tannen starren Tag und Nacht direkt ins Haus. Und sie stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Deshalb hat Henny irgendwann die Vorhänge nicht mehr geöffnet.
Alles ist mehr geworden, breiter, tiefer, größer, wo es doch immer heißt, dass die Orte der Kindheit kleiner werden und schrumpfen. Aber der Garten mit dem hohen Gras, den wilden Blumen, dem dicken Baum wächst immer weiter, unaufhörlich wird hier gewachsen, jeden Tag. Lina kennt den Anblick trotzdem. So gut, als würde sie in den Spiegel sehen. In einen Spiegel, der langsam von der Wand tropft, wenn sie zu lange hineinschaut. Vielleicht sollte sie aufhören zu rauchen. Vielleicht ist es die Luft hier, die gute Luft. Sie drückt die Zigarette aus und steht auf.
Die Treppe knarzt wie früher. Holz spricht, hat Richard immer gesagt, altes Holz hat viel zu erzählen. Oben sind die Schlafzimmer: Linas Zimmer, Luises Zimmer und das Zimmer der Eltern, das dann später nur noch Hennys Zimmer war. Sie kennt das Geräusch jeder Stufe, bevor sie es hört. Die knarzende Treppe, die klappernden Fensterläden, die tschilpenden Vögel, alles für immer eingeschrieben auf der Playlist ihres Lebens, lang nicht mehr abgespielt, und trotzdem kennt sie noch alles ganz genau, jeder Ton ein Herzschlag, jeder Schritt eine Welt.
Linas Zimmer ist das mit Balkon. Henny wollte keine Fenster zum Fluss. Sie wollte sein Rauschen nicht auch noch in der Nacht hören müssen, also wählte sie für sich und Richard das einzige Zimmer zur Seite, schattig, dafür aber ohne Fluss und Wald, mit Blick auf den schmalen Kiesweg, der zum Kurpark führt, vorbei an dem Mühlrad, mit dem Lina als Kind immer gesprochen hat.
Auf dem Balkon steht der alte Schaukelstuhl. Vorsichtig setzt sie sich, er quietscht und knarzt und riecht, wie man eben riecht, wenn man aus Rattan ist und seit Jahren draußen steht. Der Baum streckt seine Äste dem Haus entgegen, ein in die Wiese gebannter Zombie, der Fluss springt unten plätschernd über die Steine, und die Wiese dahinter ist neblig und vermückt. Es ist alles wie früher. Deshalb ist sie im ersten Moment auch nicht verwundert, als sie plötzlich ein Lachen hört, ein glucksendes Kinderlachen.
Luises Lachen.
Sie hat es ganz deutlich gehört, es war keine Einbildung. Luise hat gelacht. Sofort hat Lina wieder das Kitzeln in der Nase, blonde Haarsträhnen, ein Kinderkopf, der nach Sonne riecht, nach Sommer. Bin ich immer noch deine beste Schwester. Luise lacht.
Linas Herz klopft dumpf, eingesperrt in einem gläsernen Sarg wie fucking Schneewittchen, und jetzt reichts.
Sie springt aus dem Schaukelstuhl, macht im ganzen Haus das Licht an, läuft laut singend in jedes Zimmer, raucht zwei Zigaretten gleichzeitig, rennt ins Wohnzimmer und dreht die Stereoanlage so laut auf, bis das Geschirr mit dem Rosenmuster im Schrank zu klirren beginnt.
»I’m about to lose control and I think I like it, oh yeah«, brüllen die Pointer Sisters aus dem Radio im Wohnzimmer, und sie wirft ihren Pulli über einen Stuhl, kniet sich vor die Spüle, kramt alle Putzmittel hervor, leert die falschen Flaschen aus, packt sie in zwei große Müllsäcke, stapelt die im Garten bei den Rattenresten, schnappt sich zwei gelbe Gummihandschuhe und fängt mit dem Erdgeschoss an. Luise muss verschwinden.
Den Holzboden nicht mit zu viel Wasser, sonst geht er kaputt. Die Möbel kann sie mit Schuhcreme polieren, farbloser, das haben sie früher immer gemacht, heimlich, erlaubt ist das nicht, aber es riecht interessant. Das Geschirr können die neuen Bewohner einfach gleich behalten, vorausgesetzt, es wird jemals wieder sauber. Sie weicht die schmutzigsten Teller in der Spüle ein, der Rest kommt irgendwie in die Spülmaschine, Goldrand hin oder her. Sie füllt Pulver ein, drückt den Knopf und freut sich fast, als das vertraute Brummen beginnt. Wischt über alle Oberflächen, geht mit einem Müllsack durchs Erdgeschoss, und sprüht die Gästetoilette einmal komplett voll mit nach Bergwiese riechendem Küchenreiniger, aber welche Bergwiese, jemals, riecht so.
Langsam sieht es im Haus so aus, als ob die Abschiedsparty, die hier seit vielen Jahren gefeiert wurde, zu Ende geht. Im Wohnzimmer versteckt sich hinter einer geblümten Vase aus Portugal ein kleiner Hund aus Ton. Henny hat den gemacht, für die Kinder, der Hund hebt seine Vorderpfoten und dazwischen steckt eine Kerze voll bunter Wachsflecken. Lina wischt über das geschlossene Klavier und stellt den Hund auf das glänzend schwarze Holz. Man sieht ihn kaum, denn auch der Hund ist pechschwarz. Es sieht aus, als würde die Kerze aus dem Klavier herauswachsen. Oder darin versinken. Sie streicht dem Hund vorsichtig über den Kopf. Das linke Ohr ist angeklebt, es ist vor langer Zeit einmal abgefallen, bei einer Party, Luise und Lina sind damals stundenlang durchs Wohnzimmer gekrabbelt, um es wiederzufinden, denn ein Hund mit nur einem Ohr, das ist ungerecht.
In den Nachrichten gibt es eine Sturm- und Unwetterwarnung für die nächsten Tage. Als sie das Radio leiser stellt und das Küchenfenster öffnet, hört sie das Murmeln aus den Baumwipfeln so laut, als stünden sie gleich im Zimmer. Diese Bäume schreien sich gegenseitig an, und der Wind rast zwischen ihren Stämmen und Kronen umher wie ein irrer Dirigent.
Mit Stürmen und Gewittern kennt sie sich aus. Früher hat Henny in jedem Raum des Hauses Taschenlampen und Kerzen verteilt, für den Notfall. Falls der Strom ausfällt, ein Feuer ausbricht, der Blitz einschlägt. Der hat nie eingeschlagen, doch noch immer liegen auf allen Fensterbänken zwei Ersatzbatterien, eine Taschenlampe, rote Kerzen und ein Päckchen Streichhölzer.
Um 17 Uhr sieht das Erdgeschoss aus wie aus einem Retro-Wohlfühlmagazin, 70er-Jahre-Möbel, gemusterte Tapeten, sie könnte hier ein Café eröffnen, Cupcakes ins Buffet, Gurkenscheiben in die Karaffe, wenn es nur nicht so streng nach Bergwiese riechen würde überall. Auf dem Haufen im Garten warten dafür jetzt diverse Flaschen, Kartons und Mülltüten dem Regen entgegen, eigentlich müsste sie sich vor dem Unwetter noch um den Haufen kümmern, andererseits, was kann passieren, außer dass die Kartons noch matschiger werden.
Sie dreht das Radio noch lauter, schiebt die Luftgitter am alten Kachelofenschacht im Wohnzimmer auf, damit sie die Musik auch oben besser hören kann, schleppt den kleinen tonnenförmigen Staubsauger die Treppe hoch, klopft Teppiche aus dem Fenster, muss niesen und bindet sich in genau dem Moment wieder ihr Halstuch vor Mund und Nase, als sie Luises Zimmer betritt.
Luises Zimmer ist vollkommen leer. Kein Bett, keine Kommode, helle Flecken an den Wänden, in den Ecken rollt sich der Teppich. Doch an der Wand gegenüber der Tür hängt ein Bild, ein kleines, gemalt, hinter Glas. Es zeigt den Walnussbaum, damals noch deutlich kleiner, zu dessen Füßen ein unförmiges schwarzes Etwas mit glühenden Augen sitzt. Sherry. Auf der anderen Seite des Baumes ein Reh. Ein kleines, schnupperndes Reh mit einem kleinen Geweih. Es sieht Lina direkt in die Augen.
Henny hat das Datum an den Rand des Blattes geschrieben.
Luise und Lina haben es gemalt, zusammen, zwei Wochen bevor Luise verschwunden ist. Lina geht näher ran, langsam. Jetzt erst sieht sie, dass aus dem Baum vier geringelte Beine baumeln. Luise und Lina, sie beide, sitzen da oben auf einem Ast vor dem Baumhaus, beide die gleiche bunte Strumpfhose. Die Sonne scheint rechts außen und lächelt, eine Wolke am Himmel, in jedem Bild sollte es eine Wolke geben.
Fast kann sie den Wind hören, wie er durch die dicken Blätter raschelt, sie weiß genau, wie ein Walnussbaum riecht, auf den die Sonne scheint, sie weiß, wie Walnüsse aussehen, die zu lange im Gras gelegen haben, sie weiß, wie sie beide in der Schubkarre sitzen, oben auf dem Laubhaufen, beide in einem dunkelroten Gummianzug mit Gummistiefeln, und Richard fährt sie brummend wie ein alter Bus um den Baum herum, die Schubkarre schwankt nach rechts und nach links, Lina und Luise quietschen, und von den Feldern zieht der Geruch der Kartoffelfeuer durch den Garten, und sie weiß noch genau, dass sie das Bild auch oben im Baumhaus gemalt haben, sie lagen beide nebeneinander auf den Brettern, und dass sie die blaue Jeans anhatte, ihre Lieblingshose, die ganz weich war, und dazu die weiße Strickjacke mit den rosa Druckknöpfen, und Luise trug natürlich das gleiche, weil, ist ja klar, alles andere macht doch keinen Sinn, kann ich jetzt mal das Gelb haben endlich, das hab ich aber gerade, mal du doch erst die Wolke.
Lina räuspert sich, und dicke Wolken wälzen sich vor die Sonne, verdunkeln den Baum, weg ist die Sonne, weg ist das Reh, weg sind die Kinder, und Lina zieht die Nase hoch.
Sie greift nach dem Staubsauger, die kleine Tonne hüpft, als sie so plötzlich nach oben gerissen wird, und Lina stößt mit dem Rohr wieder und wieder gegen das Bild. Das Glas splittert und fällt zu Boden, das Bild löst sich schließlich auch und segelt an der Wand entlang nach unten. Wachsmalstifte, riecht sie. Alte Wachsmalstifte. Alte, wasserfeste Wachsmalstifte, die nie mehr abgehen von den Wänden oder dem Fußboden, und deshalb haben sie an einem Regensommertag auch mal alle zusammen das Zimmer neu gestrichen.
Sie packt das Bild, greift in Scherben, egal, sie trägt gelbe Handschuhe, aber Scherben sind stärker als Gummi, und sie schneidet sich trotzdem. Sie flucht, schüttelt die Handschuhe ab und betrachtet den kleinen Blutstropfen, der langsam über ihren Finger läuft. Sie hat kein Problem mit Blut, sie schaut dem kleinen Blutstropfen nach und ist so müde plötzlich. So schrecklich müde.
Sie zerknüllt das Bild, will es zerreißen, einmal in der Mitte durch, den Baum halbieren, dem Hund den Kopf abreißen, und dann fällt ihr das Atmen wieder ein. Und das Zählen. Zehn. Neun. Acht. Sieben. Sechs. Fuck. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins. Null. Das hilft. Sie streicht das Bild wieder glatt und legt es sorgfältig auf die Fensterbank. Streicht sogar nochmal drüber und versucht, mit Blick auf den Fluss, ein Lächeln. Spiegelt sich in der Scheibe und sieht, dass das kein Lächeln ist. Das ist ein Gesichtsausdruck zum Kindererschrecken, als wäre sie beim Zahnarzt. Am liebsten würde sie die Scheibe jetzt auch noch einschlagen, aber ein kaputtes Haus verkauft sich schlecht. Und sie hat sich im Griff. Natürlich hat sie sich im Griff. Atmen.
Sie startet den Staubsauger und saugt klappernd die Scherben ein. Um ihren Finger kümmert sie sich nicht. Der Tropfen läuft langsam über ihr erstes Tattoo. Das erste Tattoo ist ein Punkt zwischen Zeigefinger und Daumen der linken Hand. Es fällt nicht auf. Es ist auch kein runder Punkt. Ausgefranst sieht er aus, unfertig, rastlos, eine Erinnerung an einen lauten Sonnenuntergang auf irgendeiner Brücke über der Stadt.
Es hätte der erste Punkt eines richtigen Tattoos sein können, wenn nicht die Nadel weitergezogen wäre, zu einem anderen Finger, an einer anderen Hand, von jemandem, der inzwischen vielleicht schon tot ist, von der Sonne verglüht oder einfach nicht mehr aufgewacht, in einer Unterführung, auf einer durchweichten Matratze.
Ihr Hintern brummt, ihr Handy, in der Hosentasche. Sie schaut aufs Display. Ihr Kalender hat dreimal versucht, sie an einen bevorstehenden Termin zu erinnern. Team-Dinner! Team-Dinner um 18 Uhr in einem Barbecue-Laden, mit selbst gemachtem Relish und Bier aus dicken amerikanischen Senfgläsern. Dass es das noch gibt. Die Außenwelt. Die andere Welt. Ein anderes Leben. Ereignis löschen, klickt sie an, und das Ereignis ist gelöscht. So einfach kann das sein.
Als die Polizisten raus sind, aus ihrem Büro, Postwendearchitektur, 5. Stock, sitzt sie erst mal da. Dann wirft sie einen vollen Mülleimer aus dem Fenster, aber achtet darauf, dass unten keiner ist. Abends joggt sie durch den Park, Kopfhörer, die Hände zu Fäusten geballt. Ein Fuchs erschreckt sie fast zu Tode, aber noch mehr erschreckt sie die Tatsache, dass sie sich schon so weit von der Natur entfernt hat. Über einen Fuchs hätte sie sich früher immer gefreut.
Drei Tage lang denkt sie nach, nicht freiwillig. Kann nicht schlafen, nicht essen, nicht arbeiten. Wie denn da irgendwas abschließen. Ganz allein, und ohne Schlüssel. Sie steht in ihrer dunklen Wohnung, die Vorhänge zu, weil sie keine Lust hat, das Haus gegenüber zu sehen oder die Pärchen, die da oben auf ihren Dachterrassen sitzen und Hugo trinken, einfach nur, weil heute Mittwoch ist und das Wetter so schön, bleib sitzen, Schatz, ich hol dir eine Decke, fickt euch doch alle.
Nach Wildhof? Wo sie nie wieder hin wollte? Wo die Tannen alles, was sie sehen, für sich behalten? Den Zaun muss man wahrscheinlich ausbessern. Ihre Eltern haben damals den kompletten Garten eingezäunt, um zu verhindern, dass eines der Mädchen im Fluss ertrinkt. Aber kein Zaun hält ewig.
Für ihre Bewährungshelferin ist das kein Problem. Also bitte nicht falsch verstehen, es ist natürlich schlimm und eine Tragödie, und erst, wenn die Eltern tot sind, wird man wirklich erwachsen, aber Lina macht sich wirklich gut und vor allen Dingen auch einen verlässlichen Eindruck, und selbstverständlich kann sie fahren. Sie soll sich nur zwischendurch mal melden.
Lina packt ihren Koffer. Zahnbürste. Zahnbürste, Zigaretten. Zahnbürste, Zigaretten, Oberteile. Zahnbürste, Zigaretten, Oberteile, Hose. Zwei Hosen. Zahnbürste, Zigaretten, Oberteile, zwei Hosen, Schuhe. Zahnbürste, Zigaretten, Oberteile, zwei Hosen, Schuhe, Bücher. Und den Hut.
Die Nachbarn gegenüber grillen schon wieder. Rosa-violette Wolkenschlieren hängen zwischen den Antennen auf den Dächern wie Zuckerwatte. Die Stadt. Lina mag die Stadt. Deswegen lebt sie hier. Und jetzt muss sie weg. Aufs Land. Beerdigung. Haus verkaufen. Sie gießt ihre Pflanze. Eine hübsche und anspruchslose Zierrose, die von der Fensterbank in den Hinterhof schaut.
Die Chefs brummen unglücklich, als sie Urlaub nimmt, das passt wirklich sehr sehr schlecht, sie launchen doch diese Woche, wie sollen sie denn die App launchen ohne sie, das geht doch nicht, sie brauchen Lina, und …
»Meine Eltern sind gestorben«, sagt sie.
Das ist wahrscheinlich der einzige Grund, aus dem man Urlaub bekommt. Das meint auch ihre Kollegin, mit der sie eine letzte Zigarette oben auf der Dachterrasse raucht.
»Ich dachte irgendwie immer, deine Eltern sind schon tot.«
»Ja, das dachte ich auch.«
Chatnachrichten ploppen jetzt auf ihrem Handy auf, diverse Messenger blinken, alles für die App. Lina schaltet alle Kanäle stumm. Sie mag die App. Niemand kennt die App so gut wie sie, wäre die App ein Reh, sie würde sich von ihr füttern lassen. Sie mag Rehe. Aber auch ihre Ruhe. Sie seufzt.
Baum und Wiese draußen vor dem Fenster leuchten vorfreudig dem Regen entgegen, das Licht könnte nicht besser sein. Sie nimmt ihr Handy und macht Fotos. Der Balkon mit Schaukelstuhl. Der Blick aus dem Fenster auf den Fluss. Die Kuckucksuhr. Die verzierten Einbauschränke aus Holz. Der Walnussbaum. Die kleine Steinmauer. Die Bäume. Das Haus im Garten, umwuchert von Grün in allen Größen und Farben.
Sie hat sich vorbereitet. Sie hat gegoogelt, wie das geht, wenn man ein Haus verkaufen will: Man stellt überall Blumen auf, man backt Brot oder Kuchen, man kocht Kaffee. Die Interessenten laufen dann selig schnuppernd durch die Räume, denken an ihre Kindheit oder irgendeinen Ort, an dem sie sich so richtig wohl fühlen, und zahlen das Doppelte. Sie setzt sich an den Küchentisch, schiebt ihn so nah ans Fenster, dass sie gerade so Internet hat, lädt die Fotos hoch und bastelt eine Verkaufsanzeige, mit Worten wie »Charmant«, »Alleinlage« und »Paradies«. Schon nach zwanzig Minuten hat sie drei Nachrichten:
Die erste Nachricht ist von einem Architekten, der für sich und seine Partnerin einen Zweitwohnsitz im Grünen sucht, zum Selbstausbauen und Entspannen, vielleicht auch was fürs Alter. Angehängte Fotos zeigen ihn beim Aus-dem-Fenster-Denken, seine Frau beim Blättern in Kunstbänden und eine Stadtwohnung voller spitzer Winkel, kleiner Fenster und viel Marmor.
Die zweite Nachricht ist von einem total euphorischen Paar aus der Gegend, deren Wohnung mit dem bald kommenden Nachwuchs zu klein wird, und die das Haus und die Lage und den großen Garten total schön finden und am liebsten sofort vorbeikommen würden!!!!!!!!! Weil, sie sind sowieso fast jeden Tag in Wildhof, weil, man muss ja die letzten verbliebenen Läden unterstützen;)!
Die dritte Nachricht ist auf Englisch von einem John, neununddreißig, Singer Songwriter aus Bristol, der Geld von seiner deutschen Großmutter geerbt hat, sorry for mein deutsch, was ich nicht gut bin, but i feel, the Schwarzwald could be a very inspirational place for me.
Sie schreibt den drei Interessenten und verabredet mit allen Termine. Erst das schwangere Paar. Dann die Architekten. Am Schluss der Sänger. Irgendwann dazwischen die Beerdigung. Dann wird sie wieder fahren, zurück in die Stadt, in ihre kleine Wohnung unter dem Dach, und darauf freut sie sich schon. Andere Nachrichten, die nun alle paar Minuten eintrudeln, liest sie gar nicht mehr. Sie hat das Haus günstig eingestellt, vielleicht zu günstig. Egal. Sie löscht die Anzeige wieder.
Es ist jetzt kurz vor sieben, draußen riecht es schon nach Regen, der Sturm hat sich erst mal wieder beruhigt, und sie hat in der kompletten oberen Etage staubgesaugt, gewischt und leere Kisten verteilt, um alle möglichen Restgegenstände einzusammeln.
Viel ist nicht mehr da. Hennys und Richards Kleider liegen zusammengeknüllt auf dem Bett, hängen schief im Schrank, stapeln sich vor der Waschmaschine. Die Bücher sind weg, die CDs auch. Der alte hellgrüne Sekretär mit den vielen Schubladen steht noch in Hennys Zimmer. Schmuck, Tücher, Unterwäsche, alte Briefe und Postkarten, sie weiß noch genau, was sie wo finden wird.
Und dann das: Alle Schubladen sind leer. Keine Briefe mehr. Kein Schmuck. Weggeschmissen? Verkauft? Und nirgends sind Bilder zu sehen. Also hat Henny auch weiterhin nicht gemalt und auch keine Bilder verkauft.
Und Richard? Lina sieht auch keine Bilder von ihm. Entweder haben sie alles verkauft, oder es gab nichts mehr zu verkaufen, weil es nichts mehr zu sehen gab und nichts mehr zu malen, und keine Geschichten mehr zu erzählen, bis auf die eine, die einzige, die übrig gebliebene Geschichte, und die wollten sie nicht immer wieder erzählen und erleben, und deshalb sind sie verstummt und deshalb liegen hier nirgends Leinwände und Farben und Pinsel rum und deshalb sieht das Haus aus wie ein normal verlottertes Haus und nicht wie das bunte Seelenwerk zweier Paradieskünstler.
Abgesehen davon sieht das Zimmer aus, als habe hier seit Jahren niemand mehr gewohnt. Wie überall muss sie auch hier erst mal die Fenster aufreißen. Wie überall hängt alte, stickige Luft unter der Decke.
Im Radio wird die Unwetterwarnung für die nächsten Tage wiederholt, den Bewohnern wird geraten, nicht in den Wald zu gehen und Abstand zu Bäumen zu halten, worüber Lina laut lachen muss: Hier ist es völlig unmöglich, sich irgendwo zu bewegen, ohne einem Baum zu begegnen. Hier gibt es mehr Bäume als Menschen. Und die Bäume gehen keinen Schritt zur Seite. Käme es zum Showdown, die Menschheit wäre verloren.
Sie lacht nicht mehr, als ihr einfällt, dass sie nichts zu essen im Haus hat. Außerdem sind die Zigaretten bald alle. Sie muss da raus, trotz Unwetterwarnung, da kann die Stimme des Radiomoderators noch so unheilvoll zittern.
Draußen sind schon Abendwolken am Himmel oder sind die Schatten der Bäume heute einfach länger. Sie setzt ihren alten Hut auf, schnappt sich den Geldbeutel, eine muffige Stofftasche aus der Kammer, und steigt über das Gartentor runter zum Fluss. In seiner wilden und verwucherten Umgebung wirkt das Haus so, als stünde es fernab jeglicher Zivilisation. Dabei muss man nur durch ein dreihundert Meter langes Waldstück am Fluss entlang, und schon steht man im Ort, mit Kino und Thermalbad, Hotel und Cafés, früher war das für sie die größte Stadt der Welt, aber jetzt lebt sie in einer richtigen Stadt, und das hier ist nur noch ein kleiner, kleiner Ort, umgeben von steilen Bergen und Hügeln, umwuchert von Tannen und Eichen und Fichten und Buchen und Haselnusssträuchern, Hecken und Kastanienbäumen.
Sie wirbelt mit ihren Stiefeln durch einige bereits abgefallene Blätter. Der Fluss funkelt schwarz und kommt ihr schmal vor, eher wie ein Bach. Er ist nicht mitgewachsen.
Doch plötzlich schießt ein heller Blitz durch das dunkle Wasser, springt in die Höhe und landet zuckend vor ihr auf dem Waldweg: Eine weiße Forelle. Sie bäumt sich auf, ihre Flossen wirbeln über das erdige Laub, sie peitscht um ihr Leben, und Lina bemüht sich nach dem ersten Schreck, ihr zu helfen. Doch die Forelle ist zu schnell und zu glitschig und rutscht ihr immer wieder aus den Händen. Verzweifelt versucht sie, den Fisch mit Blättern zu greifen, am Ende sogar ihn mit den Schuhen zurück in den Fluss zu schieben, sie will ihn ja nicht verletzen. Aber es ist zu spät.
Die Bewegungen werden langsamer, ein letztes Mal schnappt die Forelle nach Luft, dann liegt sie ruhig da, weiß glänzend mitten auf dem Weg, als würde sie von innen leuchten, und Lina glaubt in ihrem Blick so etwas wie einen Vorwurf zu sehen, weil es ihr nicht gelungen ist, sie zu retten.
Langsam geht sie in die Hocke, streicht mit der Hand über die glatte Haut, nimmt die Forelle und wirft sie zurück in den Fluss. Die Forelle liegt in dem dunklen Wasser wie ein Fremdkörper und wird von der Strömung davongetragen ins Dunkel. Lina sieht ihr so lange hinterher, bis ihre Augen brennen, blinzelt und blinzelt und hofft die ganze Zeit, dass die Forelle wie ein weißer Blitz auch wieder verschwindet. Aber sie schaukelt einfach nur davon. Linas Herz klopft, laut, es ist das lauteste Geräusch, übertönt sogar die rauschenden Bäume und das gepeitschte Wasser, es klopft doppelt für das Herz der Forelle mit.