Wildnis - Hinrich von Haaren - E-Book

Wildnis E-Book

Hinrich von Haaren

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Beschreibung

Dürfen die Überlebenden nach einer Katastrophe einfach schweigen? Und ist dieses Schweigen ihre und unsere einzige Chance auf ein zukünftiges Glück? Gottfried Schult lehrt Geschichte in Cambridge. An seinem 60. Geburtstag lernt er den um 30 Jahre jüngeren Ely kennen. Die Beziehung setzt nach und nach ein lang verborgenes Trauma in Schult frei. Erinnerungen an den Hamburger Feuersturm von 1943 kehren zurück und an seine Schwester Toni, die während des Bombardements umgekommen ist. Je mehr Schult die verschlossene Vergangenheit öffnet, desto größer wird der damit verbundene Schrecken. Ist Toni durch seine Schuld umgekommen? Kann ein sechsjähriger Junge für ein solches Ereignis verantwortlich gemacht werden? Doch Gottfried Schult will keine schweigende Existenz mehr führen. Nur in der Sprache und in der Aussprache kann er eine Chance zum Glück und Weiterleben finden. Souverän zwischen Campus-, Liebes und historischem Roman wechselnd, erzählt »Wildnis« vom Ringen mit dem Verdrängten und dem Versuch eines Menschen, sich eine neue Vergangenheit zu schaffen.

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hinrich von Haaren

Wildnis

Roman

Inhalt

Umschlag

Titel

Hinrich von Haaren: Wildnis

Impressum

Had I not seen the Sun

I could have borne the shade

But Light a newer Wilderness

My Wilderness has made —

Emily Dickinson

Stein

1

Ich bin tot, dachte Schult. Zum zweiten Mal in meinem Leben bin ich tot. Er versuchte sich zu erinnern: eine Straße, Scheinwerfer, ein Auto, ein Aufprall, Sirenen, das Blaulicht, der Rettungswagen, der warme Asphalt, das warme Blut. Alles schmerzlos.

Schult liegt auf der Intensivstation des Royal London Hospital in Whitechapel, reimt sich aus den Gesprächsfetzen der Ärzte, Schwestern und Pfleger zusammen, was passiert ist. Er liegt in einem Koma, das ihn auf nachsichtige, ja versöhnliche Weise trennt von der Welt, mit der er nur noch durch Kabel und Schläuche verbunden ist. Man versucht ihn zu retten. Der diensttuende Arzt hat bereits im Downing College in Cambridge angerufen. Schult stellt sich vor, wie bei Tom Accordeon oder Jonas Wilks um vier Uhr morgens das Telefon klingelt, wie der Doktor die Botschaft vom Unfall übermittelt, mit einer nachsichtigen Stimme, ganz so, als sei Schult bereits nicht mehr unter den Lebenden. Der Arzt fasst sich kurz, er hat schon zu viel Zeit mit Schults Fall verbracht, ein, seiner Meinung nach, aussichtsloser Fall, für den man ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hat. Gegen fünf Uhr morgens setzt irgendetwas aus in Schults Innerem. Eine der mit ihm verbundenen Maschinen piept wild, auf dem Bildschirm jagen sich zackige Strömungen. Dann geht das Piepen in einen lang anhaltenden Ton über, die Zacken verflachen, werden zum Strich. Sofort stürzen der Doktor und sein Team herbei. Der Arzt spritzt Schult etwas ins Herz, das seinen Körper durchstrahlt wie ein Lichtschock. Dann schreit jemand Step away!, und durch seine Brust fahren tausend silberne Volt. Schult kann nicht sagen, wie viele Hände sich an ihm zu schaffen machen, aber nach Momenten hektischer Aktivität herrscht plötzlich Ruhe. Dann hört er, wie Apparate weggerollt werden und Schritte sich entfernen. Schult denkt, ich habe niemanden gebeten, mein Leben zu retten, ich habe niemandem diese Befugnis erteilt.

2

Bei seinem ersten Tod 1943 war Schult mit dem Leben davongekommen. Und doch hatte dieser Tod ihn begleitet, über fünfzig Jahre lang, war immer nah bei ihm gewesen, hatte neben ihm gestanden und auf die nächste Gelegenheit gewartet. Nun schlich der Tod ums Bett, beäugte den Flüchtigen. Oder ist es das Morphium? Halluziniere ich?, denkt Schult. Hinter den geschlossenen Lidern schleudert sein Hirn ihm Bilder zu: der Grüne Deich, der George and Dragon Pub, die Kirche St. Leonard, ein Wiener Hotel, die Wohnung am Arnold Circus, dort ist Sommer, die Fenster stehen offen, es geht ein Wind, von draußen wehen die Lindenblüten herein, alles ist so klar, dass Schult jetzt den Wind wieder zu spüren meint, diesen leichten Augustwind, der durchs Zimmer geht, über ihn hinweg und über Ely, im Bett, zwischen Kissen und Laken liegend, im ungemachten Bett. Ely trägt ein fleckiges T-Shirt und Shorts, er spreizt seine rosa Zehen im Halbschlaf, und Schult sitzt dabei, betrachtet ihn, und nichts stört diesen Augenblick, nichts steht zwischen ihnen, und auf dem Boden flattern die Zettel mit Schults Aufzeichnungen.

War es so gewesen?

Ely, Elijah, Elia, Elias, In-diesen-Jahren-sollen-weder-Tau-noch-Regen-fallen-Elija. Schöner Ely, der in jeder Stimmung schön blieb. Schult hatte keine Kosenamen gehabt für ihn. Nicht darling oder gorgeous oder handsome. Nicht mein Junge, mein Leben, mein EinundAlles. Ein Name, so kam es Schult vor, wäre zu direkt, zu zwingend gewesen für das, was er empfand. Voller arroganten Selbstvertrauens war Ely gewesen, so wie es nur die Jungen, die Naiven, die Anfänger sind. I know you adore me. Und so war es auch. Schult hatte kaum an sich halten können, hatte jede Minute bis zum Letzten ausschöpfen wollen. Niemandem hatte er Ely vorgestellt. Aus Liebe, sagte er sich, all-consuming love, kopfverdrehender, irrer Liebe, wusste aber sehr wohl, dass auch Feigheit mit im Spiel war. Er hatte Angst, in Cambridge, diesem verhärmten akademischen Mikrokosmos, einem Kollegen über den Weg zu laufen und sich bloßzustellen angesichts des Altersunterschieds von über dreißig Jahren zwischen Ely und ihm. Er sah die eisigen Mienen vor sich und fühlte die steifen Handschläge, die Außenseitern vorbehalten waren. Oder, schlimmer noch, er wäre der Gattin eines Kollegen begegnet, die dann zu Hause das Zusammentreffen verzerrt und verstümmelt wiedergegeben hätte: Ein Mann, na das haben wir ja schon immer geahnt, aber dazu noch ein ganz junger, ein Toyboy, most likely under age, vielleicht muss er zahlen, der alte Bock, pass nur auf, dass der sich nicht an den Studenten vergreift … Und so weiter und so weiter.

Aber es hatte noch einen anderen, wichtigeren Grund gegeben, die Treffen mit Ely fernzuhalten von Cambridge, einen Grund, den Schult zwar dunkel ahnte, aber nicht hätte benennen mögen: Er fürchtete nichts mehr als seine wahre Person oder das, was er für wahr hielt, seine betäubte und nun noch einmal verzückte Person also, die er ein Leben lang vor allen verborgen gehalten hatte und mittlerweile kaum selbst noch erkannte, er fürchtete nichts mehr, als diese Person enthüllt zu sehen. Denn eine solche Enthüllung, das fühlte Schult, hätte die Entblößung seiner Seele, ja hätte, er wusste nicht warum, den Tod bedeutet.

3

Im Dunkel der Intensivstation fliegen Bilder auf Schult zu: der Grüne Deich, wo er im April 37 zur Welt gekommen war und seine ersten sechs Jahre verbracht hatte. Der kleine Gottfried im Stadtteil Hammerbrook. Mächtige Gründerzeithäuser säumten damals dort die Straßen, bis in den vierten Stock ging es nach oben, und je höher die Etage, desto ärmer die Leute. Arbeiterviertel, aber nach 33 stramm nationalsozialistisch. Zackig wurde da herummarschiert, Fahnen flogen, die neue Gesinnung bei jeder von der Partei erfundenen Gelegenheit herausgeschrien. Wie laut seine Kindheit gewesen war! Erst die Hetzer, dann der Krieg. Hinterher, als alles im Eimer war, rundherum kaputt, wurde es stiller, da wusste keiner mehr etwas von Fahnen und Marschieren und Transporten und Geschrei, schon gar nichts vom Parteikrach, davon wollte man auch nichts mehr wissen, machte allein den Krieg verantwortlich für den Untergang. Plötzlich waren die Bomben an allem schuld.

Mit seiner Mutter bewohnte Schult am Grünen Deich eine Wohnung im vierten Stock. Wenn er an diese Zeit dachte, sah er sich immer allein. Ein streunender Hund warst du damals, sagte seine Mutter einmal, ging ja gar nicht anders in den verrückten Zeiten. Am liebsten aber wollte sie überhaupt nicht sprechen von diesen Jahren. Auf Fragen nach dem Vater, der gleich 39 nach Polen geschickt worden und 41 in Russland gefallen war, zuckte sie nur mit den Schultern. Was willst du das wieder ausgraben? Schult wusste nichts von diesem Mann, nichts von Vaterhänden, die ihn kitzelten oder ohrfeigten, nichts von frisch rasierten Wangen oder rauchigem Männeratem. An das Winseln der Mutter dagegen, als sie die per Hand übermittelte Todesnachricht in Empfang genommen hatte, ein hakenkreuz-gekröntes Schreiben voller sprachlichen Brimboriums, erinnerte er sich genau. Und so war der Tod schwarz auf weiß in Schults vierjähriges Leben gekommen, ohne dass er jemals eine Träne vergossen hätte um diesen gefallenen Fremden.

4

Nach dem sogenannten Heldentod des Vaters war Schult mit seiner Mutter aus dem geräumigeren ersten Stock in die ärmlichere Enge der vierten Etage gezogen, da sie nun mit einer mageren Kriegswitwenrente auskommen mussten. Er sah sich auch jetzt noch einmal mit der Mutter und der Nachbarin Frau Wendland die Möbel hochschleppen. Der mit diesem Umzug nach oben verbundene soziale Abstieg war seine Mutter hart angekommen, ein Abstieg, dachte Schult, von dem sie sich nie wieder erholt hatte. Hitler und die Seinen blickten trotz aller großspurigen Mütterreden ungnädig auf noch gebärfähige Witwen wie Frau Schult, die dem Reich auf der Tasche lagen, statt neue Soldatensöhne zu gebären. Doch immerhin hatte Schult ein winziges Zimmerchen für sich, in dem aus einem ihm lange unerfindlichen Grund ein metallenes Etagenbett stand. Das ist deine Koje, sagte seine Mutter, und abends sagte sie, nun aber ab in die Koje. Mit seiner Puppe Madame lag Schult dann in der unteren Etage und versuchte zu schlafen. Jahre später war es ihm noch seltsam vorgekommen, dass er eine solche, von seiner Mutter genähte Puppe gehabt haben sollte, und doch sah er sich im Dunkeln liegen und mit Madame, da die Müdigkeit sich zur vorgeschriebenen Zeit nie recht einstellen wollte, lange Gespräche führen. Zwei rote Flicken waren ihre Wangen, schwarze Knöpfe die Augen, und ein geblümtes Sommerkleid bedeckte den wegen Materialnot ausgemergelten Puppenkörper. Madame gab eine lächerliche Figur ab und war vom vielen Herumschleppen abgenutzt und plattgedrückt. Aber Schult liebte sie über alles, vertraute ihr Nacht für Nacht seine Geheimnisse an oder blätterte, im Schein einer aus der Küche geklauten Kerze, im Brockhaus seines Vaters, betrachtete im flackernden Licht die Bilder fremder Städte. Er hörte noch genau seine Stimme, wie er Madame alles beschrieb und erklärte, doch klang sie wie eine andere Stimme, war ein Singsang mit verwischten Worten.

Immer wieder wurden die Nächte unterbrochen vom Fliegeralarm, der mit seinem Dauerton in die Dunkelheit schnitt. Dann kam seine Mutter hereingelaufen, und mit zwei stets fertig gepackten Koffern hasteten sie hinunter in den Keller, wo gleich zu Beginn des Krieges, wie in so vielen Häusern in der Gegend, ein provisorischer Luftschutzraum eingerichtet worden war. Hier führte Herr Behrens, der Luftschutzwart am Grünen Deich, eine Art Alleinherrschaft. Er entschied, wer hereindurfte, wo man sitzen musste – auf dem hier heruntergebrachten alten Sofa, auf einem ausrangierten Küchenstuhl – oder ob man zu stehen hatte. Er kontrollierte, ob die zwei Eimer, einer mit Sand, der andere voll Wasser, die aus für Schult damals unerfindlichen Gründen am Eingang standen, ordnungsgemäß gefüllt waren. Er entschied, worüber hier unten gesprochen werden durfte und worüber zu schweigen war. Vom Krieg zum Beispiel, der sich über ihren Köpfen abspielte, durfte niemand ein Wort verlieren. Unter dieser Aufsicht hockte die Hausgemeinschaft mit Koffern und Bündeln im Keller, bis der Angriff vorüber war. Manche versuchten, mehr als die allernotwendigsten Habseligkeiten mit herunterzubringen, eine Stehlampe etwa oder eine Kiste mit dem guten Porzellan, aber Herr Behrens blieb eisern. Zwei Koffer, nicht mehr. Die Angriffe spielten sich großenteils weit weg von Hammerbrook ab. Manchmal war ein dünnes Pfeifen, ein fernes Krachen zu hören, aber das ganze nächtliche Hin und Her, das Hoch und Runter nahm eigentlich, außer Herrn Behrens, niemand richtig ernst. Schult meinte sich zu erinnern, dass es, wenn sie in den Keller wollten, aus irgendeinem Grund immer einen Streit gegeben hatte zwischen seiner Mutter und Behrens, doch wusste er nicht mehr warum. Genau wusste er dagegen, dass sie nie auf dem Sofa sitzen durften, sondern immer an einem engen, etwas feindseligen Platz unter dem abgedunkelten Fenster hatten stehen müssen.

Am Morgen nach dem Angriff wurde auf der Straße erzählt, wo es eingeschlagen hatte, was kaputtgegangen war, Gespräche, von denen seine Mutter sich fernhielt. Stattdessen redete sie lieber von den Filmen, die im Kino liefen: Venus vor Gericht, Illusion, Das Mädchen von Fanö, Der Fall Reiner, Wen die Götter lieben. Die Titel hatten sich in Schults Gedächtnis gebrannt. Er wusste nicht, ob seine Mutter, die unter fast krankhafter Sparsamkeit litt, diese Filme wirklich gesehen hatte, meinte sich aber dennoch zu erinnern, wie sie eines Abends vom Ufa-Palast am Gänsemarkt nach Hause gekommen war, beschwingt und in bester Laune, als wäre kein Krieg, als zählten nur die neusten Nazi-Streifen, und wie sie Frau Wendland, die auf Schult aufgepasst hatte, in den Arm genommen hatte und mit ihr zur Melodie von Mein Herz hat heut’ Premiere durch die Küche getanzt war. Wir haben’s doch noch schön, hatte seine Mutter gerufen, trotz allem haben wir’s doch immer noch schön.

5

Der letzte Tag in Hamburg, bevor er 1963 mit sechsundzwanzig nach England ging, war ihm, anders als die Bombennächte, ganz genau in Erinnerung geblieben. Seine Mutter hatte sich nicht verabschieden wollen, war sitzen geblieben in ihrem Sessel in der kleinen Stube in St. Georg, den Blick stur auf das vor ihr liegende Hamburger Abendblatt geheftet, ohne natürlich, das sah Schult genau, auch nur ein Wort zu lesen von dem, was dort stand. So war er stehen geblieben vor ihr in dieser Stube, wo sie die letzten neun Jahre zusammen gesessen, gegessen, gelesen, geschwiegen hatten.

Nach dem Krieg, als überall das neue Leben begann, waren sie von Behausung zu Behausung gezogen und schließlich, Mitte der Fünfziger, in der Rostocker Straße, St. Georg, hängengeblieben, zwei winzige Schlafzimmer, Stube, Küche, Bad. Ein unglaublicher Luxus, angesichts des mageren Verkäuferinnengehalts seiner Mutter. Sie waren nicht vollgepumpt gewesen mit dem vergesslichen Optimismus des Aufbaus, nicht drall, sondern, im Gegenteil, zumal die Mutter, immer kränkelnd und leidend, einer begrabenen Vergangenheit nachhängend, immer voller unklarer Klage über den im Sommer 43 verlorenen Hausstand, immer, so fühlte Schult, auch voller heimlicher Anklage gegen ihn.

Nach der verhassten Schule hatte Schult sich an der Universität eingeschrieben für Geschichte, heimlich, hinter dem Rücken der Mutter, die eine Banklehre ins Auge gefasst hatte für ihn. Als Bankangestellter, sagte sie, hast du einen Rahmen im Leben, und ein fester Rahmen ist genau das, was dir fehlt. Doch Schult blieb lieber rahmenlos, wollte kein Bankangestellter sein, ja wusste nicht einmal, was genau das sein sollte, ein Bankangestellter. Allein der Gedanke jagte ihm Grausen ein. Als sie vom Geschichtsstudium erfuhr, sprach seine Mutter zehn Tage lang kein Wort mit ihm. Dabei war seine Entscheidung schon längst, schon vor Jahren gefallen, als in der Schule das Dritte Reich im Geschichtsunterricht übergangen worden war und stattdessen der Studienrat Kehl in einem unnatürlich kernigen Ton, den er sich während seiner Zeit als Obersturmbannführer angewöhnt hatte, fortwährend von der sogenannten Kapitulation gesprochen hatte, um daraufhin durch eine Reihe sinnloser Zahlen und konturloser Ereignisse zu hasten, die den Zustand des neuen Deutschlands erklären sollten, ohne auch nur den geringsten historischen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Wüten in Polen und Russland und dem zerbombten Hamburg. Damals, in dem blitzsauberen, frischgekalkten Klassenzimmer, beim Geruch von Schwamm und Kreide, ist meine Entscheidung gefallen, dachte Schult jetzt im Krankenhaus von Whitechapel, teils aus Sentimentalität, teils aus Empörung, vor allem aber aus Hunger. Mit dem Anflug eines Lächelns erinnerte er sich daran, wie fasziniert er gewesen war von dem Gedanken, unter verbotene Steine, hinter angeblich zuverlässige Zahlen, durch Reden voller Lügen zu blicken, die Rückseite der Ereignisse zu studieren, um sich auf diese Weise Schnipsel für Schnipsel ein Bild zu machen von dem, was wirklich passiert war. Ja, wenn er nun darüber nachdachte, war der erste Ansporn dieser Hunger nach dem Wirklichen gewesen, auch wenn er nicht wusste, was das sein sollte, dieses Wirkliche, vielleicht aber, weil er das Gefühl gehabt hatte, man enthalte es ihm vor. Der Alt-Nazi Kehl hatte also in ihm den Keim gesät, hatte jeden Zweifel getilgt, was die Zukunft anbelangte. Mit derselben Entschlossenheit hatte er sich dann nach dem Studium auf die Assistentenstelle am Downing College in Cambridge beworben, ein Weg in die von Schult so sehr begehrte Freiheit, weg aus dem ihm mehr und mehr widerstrebenden Deutschland.

Das Downing College war zwar nicht die allererste Adresse in Cambridge, aber Schult hatte schon damals gewusst, dass er nie zur vordersten akademischen Garde gehören würde. Zu seinem Erstaunen hatte man ihn auf seine Bewerbung hin zu einem Gespräch nach England eingeladen. Mit der Fähre war er nach einer stürmischen Überfahrt in Felixstowe gelandet und von dort aus per Zug weitergereist. Diese Fahrt war ihm damals unendlich lang vorgekommen, sagenhaft, in eine ihm völlig fremde Welt, wo alles anders war: die Kleidung, die Brillen, die Autos, die Häuser, das Essen, der Himmel. Am Ende hatte er in einem muffigen Collegezimmer mit abgewetzten Möbeln gesessen und in holprigem Englisch über Clausewitz’ Theorie des Krieges gesprochen, bis Tom Accordeon ihn unterbrach und fragte, so how it is over there now after … you know, after what you’ve been through. Durchgemacht. Ja, was hatten sie nicht alles durchgemacht. Das gleiche Wort benutzte auch seine Mutter, wenn sie von den verbrannten Möbeln, dem verschollenen Porzellan, den verkohlten Familienbildern sprach. Und was habt ihr alles durchgemacht?, wollte Schult fragen, hier in England, aber er hatte nicht sprechen können, denn es waren ihm, ohne jede Vorwarnung, die Tränen in die Augen geschossen, was noch nie, nicht einmal in den allerschlimmsten Zeiten, passiert war und was Tom veranlasste, ihm freundschaftlich die Hand auf den Arm zu legen und ihm nach einem kurzen Blickwechsel mit dem Director of Studies Bernard Blow die Stelle anzubieten, so dass Schult hinterher eigentlich nie wirklich wusste, ob man ihn aus Mitleid oder aus Überzeugung am Downing angestellt hatte.

6

Tom Accordeon war von Anfang an Schults größter Befürworter in Cambridge gewesen. Schult hatte in dem um ein paar Jahre älteren Professor sofort einen Gleichgesinnten erkannt, dem, wie ihm selbst, der ganz große Ehrgeiz fehlte, der vor sich hin lebte, vermutlich vor sich hin gedriftet wäre, hätte nicht das reglementierte Leben am College ihn in der Bahn gehalten. Gleichzeitig aber war die akademische Kontrolle wiederum so lax, dass Tom mit minimalem Aufwand durch die Semester segeln konnte. In Schult hatte er jemanden gefunden, der ihm nicht mit unerwünschten Ambitionen im Nacken sitzen oder ihn gar aus seiner Position verdrängen würde.

So passen wir beide ins Schema von Cambridge, sagte Tom.

Ins Schema von Cambridge?

Ja, so nenne ich das. Es ist eine Art Geistesverfassung, in die man sich einfinden muss, um hier zu überleben. Sie verbindet wissenschaftlichen Weltrang mit völliger Stumpfheit. Aber ich habe gelernt, den korrekten Anschein zu bewahren. Wenn ich es mir recht überlege, ist der Anschein eigentlich das Allerwichtigste. And you must come over for supper, old chap, and meet the wife.

Toms völlige Offenheit über seine laxe Haltung verblüffte Schult, war ihm aber auch sofort sympathisch, ein Gefühl, das sich ebenfalls auf Toms Frau Liz erstreckte, als Schult eine Woche später zum supper bei ihnen vor der Tür stand. Die Accordeons hatten ein völlig ungenießbares Mahl aus Rinderbraten, Kartoffeln und Wirsingkohl gekocht. Schult aß mit vor Höflichkeit steifer Miene, spülte dann die zähen Bissen mit reichlich Wein hinunter. You don’t have to be polite, rief Liz, we know it’s bloody awful. Sie hätten sich Mühe geben wollen für den Gast vom Kontinent, aber die Küche sei schon immer ihr Feind gewesen. Resigniert legten die Accordeons ihre Bestecke nieder, und Tom machte sich auf den Weg zum lokalen Inder. Von dort kehrte er eine halbe Stunde später mit sechs Plastikbehältern voller duftender Speisen zurück. So führten die Accordeons Schult an diesem Abend nicht nur in die köstliche Küche des Subkontinents ein, sondern ebenfalls in das ihm geradezu wundervoll erscheinende Phänomen des takeaway, der zu jeder Stunde alle erdenklichen kulinarischen Bedürfnisse erfüllen konnte.

Von Anfang an fühlte sich Schult wohl in dem chaotischen, mit Büchern, drittrangigen Gemälden, zusammengewürfelten Möbeln und löcherigen Teppichen vollgestopften Haus der Accordeons. Nirgends wurde hier aufgeräumt, eine Aktivität, die Tom und Liz als Zeitverschwendung betrachteten. Noch am Abend stand das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch und wurde einfach beiseitegeschoben, um Platz zu machen für die nächste Mahlzeit. In der Badewanne türmten sich die Teller, Tassen und Gläser einer ganzen Woche, und in einem der vielen Zimmer, die keinen anderen Zweck erfüllten, als die Erinnerungsstücke des Accordeon’schen Lebens aufzubewahren, stand ein Bügelbrett, auf dem sich Bildbände mit italienischen Kirchen stapelten. Diese Weltleichtigkeit erstreckte sich auch auf die Freunde der Accordeons. Im Royal London Hospital in Whitechapel liegend, erinnerte sich Schult jetzt daran, wie warm und herzlich sie ihn vom ersten Tag an aufgenommen hatten, ohne jedes Vorurteil, ohne Fragen, frei von jeder Vergangenheit, allein im Hier und Jetzt, so dass er nach dem ersten supper kaum hatte schlafen können vor Glück.

An diesem Abend wurde er auch eingeweiht in die intime Geschichte der historischen Fakultät, die, laut Tom, eher einer sadistischen Farce als einer ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Einrichtung glich. Gegen zwei Uhr morgens wusste Schult genau, wer mit wem gegen wen konspirierte, um eine Beförderung, eine Publikation, einen Vortrag vor irgendeiner Royal Society zu verhindern, wer mit wem wie lange geschlafen, wer von wem in welchem Buch abgeschrieben hatte, wer wen schnitt und was über wen hinter wessen Rücken verbreitet wurde. Tom genoss es, diese pseudomachiavellistische Welt auszubreiten vor seinem jungen ausländischen Kollegen, dem das Englische toing and froing noch gänzlich unvertraut war, doch an Liz’ Kopfschütteln erkannte Schult, dass es sich größtenteils um Accordeon’sche Übertreibungen handelte.

In jeder Übertreibung steckt auch ein wahrer Kern, sagte Tom, sonst wären sie nicht interessant. Aber ihr habt natürlich recht, ein bisschen Theater ist immer dabei, oder wir würden hier schier eingehen vor Langeweile.

In all seinen von Andeutungen berstenden Geschichten erwähnte Tom jedoch keinen einzigen Namen, sondern beschränkte sich auf die von ihm erfundenen und allein ihm selbst und Liz bekannten Spitznamen für die Belegschaft des College – Princess, The General, Big Betty, Dulcinea und so weiter. Gegen vier stolperte Schult betrunken und mit schwirrendem Kopf nach Hause. Den Rest dieser Woche verbrachte er mit der Entschlüsselung der Codenamen, um die wahren Protagonisten auszumachen, doch natürlich war Tom viel zu schlau und diskret, als dass sein System sich so einfach hätte knacken lassen. Sein Klatsch blieb vollkommen wasserdicht.

Du kannst nichts, was er sagt, ernst nehmen, warnte Liz, manchmal verdreht er nur eine winzige Kleinigkeit, aber so geschickt, dass die ganze Geschichte ins Fantastische rutscht.

Mit dem Fantastischen, sagte Schult, kennen wir uns doch aus. Und es kann ja gar nicht fantastischer kommen als unter Historikern.

7

Liz Accordeon wurde schnell die bessere Freundin. Sie illustrierte Jugendbücher, die sich in den Zehntausenden verkauften, in einem Zimmer unterm Dach des wackeligen Hauses. Schult nannte dieses Zimmer die Wunderkammer wegen seiner angenehmen und beruhigenden Atmosphäre. Rundum waren die Wände auch hier voller Bücherregale, und auf dem Boden stapelten sich Skizzen von Liz’ Arbeit. Dazwischen Artefakte der Accordeon’schen Reisen: eine balinesische Maske, ein venezianischer Kerzenhalter, eine Ganesha-Statue aus Rajasthan. Liz hatte ihren Schreibtisch vor dem kleinen Fenster, das über die umliegenden Gärten und in der Ferne auf die Gipfel des Emmanuel College blickte. Gleich rechts neben der Tür stand ein kleiner Intarsientisch aus Marokko und eine zerschrammte samtgrüne Chaiselongue. Dies war Schults Platz. Hier lag er manchmal ganze Nachmittage lang, während Liz am Schreibtisch über ihre Zeichnungen gebeugt saß. Ihr wichtigster Auftrag war eine Reihe von Jugendkrimis, die Schult alle, auf dem Sofa hinter Liz liegend, gelesen hatte. Besonders beeindruckt war er vom Detail der Illustrationen gewesen, die einen Detektiv mit wüstem Haar und einer Narbe auf der linken Wange zeigten.

Für Schult wurde die Wunderkammer eine Art Fluchtort aus dem College. Bist du wieder weggelaufen?, fragte Liz, wenn er durch die Hintertür ins Haus geschlüpft, die Treppen bis unters Dach hochgestiegen kam. Er nickte, sagte, weggelaufen sei genau der richtige Ausdruck. Ich will aber nicht stören, tu so, als sei ich nicht hier, und arbeite einfach weiter. Liz lächelte, drehte sich wieder dem Schreibtisch mit Stiften, Blättern und Farben zu und saß tief, mit rundem Rücken über einem neuen Detail: einer Warze auf der Stirn, einem Loch im Trenchcoat, einem offenen Schnürsenkel. Du weißt, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken, dass du irgendwann Frieden schließen musst mit deiner Entscheidung, nach Cambridge gekommen zu sein. Entweder schließt du Frieden, oder du gehst zurück nach Hamburg. Schult wusste, dass sie ihm den Rücken zugewandt hielt, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.

Nach Hamburg zurück?, sagte er, bloß das nicht.

Dann also Frieden schließen, sagte Liz.

Das hört sich ja an, als stände ich auf Kriegsfuß mit Cambridge.

Nicht mit Cambridge, sondern mit Hamburg. Mit Hamburg musst du Frieden schließen.

Du meinst, mit meiner Mutter.

Auch mit deiner Mutter.

Wir haben eine Kriegsbeziehung.

Darling, der Krieg ist seit zwanzig Jahren vorbei.

Der Krieg ist nie vorbei.

Tatsächlich war Schult in den ersten Monaten in England klar geworden, dass er nicht wegen der Arbeit oder irgendeiner hochfliegenden Karriere nach Cambridge gekommen war, sondern allein, weil er hatte fliehen wollen aus Hamburg, vor seiner Mutter, mit der er sein Leben lang alles geteilt hatte und sein weiteres Leben nicht mehr teilen wollte. Vor allem aber hatte er, ihm selbst völlig unergründlich, als käme dieses Gefühl aus einer inneren Finsternis heraus, Hamburg, sein geliebtes Hamburg, nicht mehr ertragen können.

8

Schults erste Aufgabe am Downing College bestand darin, das Tutorium Julian of Norwich and the Concept of the Divine zu unterrichten. Tom hatte, wie sich herausstellte, nur mäßigen Einfluss auf Schults Tätigkeiten, dessen direkter Vorgesetzter Bernhard Boopy Blow war, ein wohlmeinender, wenn auch inkompetenter Akademiker, der diese Position seinem schieren Durchhaltevermögen am College zu verdanken hatte. Boopy zeigte nur geringes Interesse am Personal seiner Fakultät und folgte einer please-don’t- bother-me-with-your-questions-Philosophie. Schult konnte es kaum fassen. Nach Jahren unter dem Joch intellektuell autoritärer Lehrer in Hamburg war er nun akademisch völlig frei, konnte machen, was er wollte, wenn auch das Risiko dieser Freiheit gänzlich bei ihm lag. Auf seine Frage hin, ob es sich bei dem Kurs um die Ergründung des Mystischen oder eher um das Prinzip des Göttlichen handle und ob nicht überhaupt ein Experte des Mittelalters oder wenigstens der Religionsgeschichte besser geeignet sei für einen derartigen Unterricht, winkte Boopy nur ungeduldig ab. Was weiß ich, denken Sie sich irgendetwas aus. Sie haben fünf Teilnehmer.

So machte sich Schult an die Arbeit. Notizen von seinen Vorgängern gab es keine, obwohl das Tutorium schon seit Jahren gehalten wurde und als öde Feuerprobe für neue Fakultätsmitglieder galt. Er las das Gottestraktat des Julian von Norwich zehnmal hintereinander, machte Hunderte von Aufzeichnungen, forschte nach Juliana, der wahren Verfasserin, die sich hinter Julian verbarg, untersuchte den Stil des Traktats auf feministische Gedanken hin, strukturierte und plante in allen Einzelheiten das Tutorium fürs kommende Wintersemester. Im königlichen Krankenhaus liegend, dachte Schult nun zurück an diese ersten Wochen in Cambridge und mit wie viel Ernst er sich damals in die Arbeit geworfen, welche Freude Juliana von Norwich ihm bereitet hatte, obwohl ihr Traktat ein ihm gänzlich fremdes Thema behandelte, fern seiner eigentlichen Interessen, die Jahrhunderte weit weg lagen vom Mittelalter, nämlich bei der Bombardierung Hamburgs im letzten Krieg, ein Thema, mit dem sich Schult seit seinem Studium immer wieder und immer eindringlicher beschäftigte, Forschungen, die er allerdings heimlich betrieben hatte, da sie, das ahnte Schult, von seinen Kollegen nicht gern gesehen worden wären. Nun aber, ausgerechnet bei der Vorbereitung auf das Tutorium und verleitet von der neuen Freiheit, mischten sich immer wieder die Gedanken an die Bomben unter jene von Julianas Mystizismus. Eine überaus prekäre Verbindung, die ihn nicht losließ oder die er nicht loslassen wollte, und schließlich dachte er sich einen sowohl gewagten als auch etwas verqueren Lehrplan aus für das mystische Semester, in dem göttliche Macht, Feuer und fallende Bomben zu einer historischen Suppe zusammengequirlt waren.

Als er den Accordeons von dieser unkonventionellen historischen Brücke erzählte, weiteten sich Liz’ Augen sichtlich. Wenn du Boopy bei Laune halten willst, sagte sie, lass die Finger von den Bomben.

Aber Tom protestierte. Unsinn! Wir müssen den alten Reaktionären endlich einmal Kontra bieten. Die Revolution beginnt hier.

Ausgerechnet little Geoff hier willst du mit der Revolution betrauen?, fragte Liz, eine Revolution, die du selbst in fünfzehn Jahren nicht hast anzetteln können?

Die Bombardierung Deutschlands, sagte Tom, der bei dem Thema sofort hitzig wurde, war ein Kriegsverbrechen, für das Harris und sein Chef Churchill zur Verantwortung gezogen werden müssen. Stattdessen hat man Harris zum Baronet erhoben, und der Alte segelt auf Onassis’ Yacht im Mittelmeer herum. Da ist es doch wirklich höchste Zeit, dass endlich einmal jemand den Mund aufmacht und das klar und deutlich sagt.

Schult wurde etwas mulmig zumute bei solch wuchtigen Worten. An Kriegsverbrechen und zur Verantwortung ziehen hatte er bei der Planung seines kleinen Tutoriums gar nicht gedacht, auch vermutete er, dass solche Emotionen den Rahmen einer Erstsemesterveranstaltung aller Voraussicht nach sprengen würden. Dennoch wollte er nicht einfach nachgeben, ließ seinen Plan stehen, wie er war, und legte ihn in der folgenden Woche Boopy zur Begutachtung vor. Mit aschfahlem Gesicht sah Professor Blow nach der flüchtigen Lektüre der zehn Seiten hoch zu seinem Assistenten. Schult hatte es nicht für möglich gehalten, diesen ohnehin blutleeren Mann noch bleicher zu sehen. Nicht viel hätte gefehlt, und Blow hätte Schult die Blätter samt dem neben ihm auf dem Schreibtisch liegenden dreihundert Seiten dicken Kursverzeichnis von Cambridge an den Kopf geschmissen. Was Schult sich habe einfallen lassen, fragte Blow mit bebender Stimme, ein solches Thema in einen derart harmlosen Kurs einzuschmuggeln, auf eine, wie es ihm, Blow, vorkomme, höchst perfide Weise, wenn Schult doch genau wisse, dass Tausende tapferer Soldaten der Royal Air Force umgekommen seien im Kampf über Deutschland, und wie er, Schult, ein Kriegskind, ein Deutscher, ein Befreiter, sich erdreisten könne, Fragen zu stellen nach der moralischen Begründung eines solchen Kampfes, Fragen, die er in hanebüchener Weise zu verknoten suche, mit einer englischen Mystikerin des 14. Jahrhunderts. Do you think we are here to point fingers at our heroes?, flüsterte Blow, um nicht zu schreien, und nebst der Erregung stand ihm nun auch eine seltsame Angst in den Augen. Schult versuchte zu erklären, dass weder das Fingerzeigen noch irgendwelche Ausreden oder Entschuldigungen Deutschland betreffend auch nur im Entferntesten seine Absicht gewesen seien, dass er vielmehr nur den Diskurs suche mit seinen Studenten und sie gleich vom ersten Tag an gewöhnen wolle an ein freies, kritisches Denken. Freiheit? Kritisches Denken?, zischte Blow, was wissen Sie davon? Sie wissen nichts! Sie kommen aus dem Land der Zerstörung, und an Zerstörung sind wir hier nicht interessiert. Ich schlage vor, Sie beschränken sich auf den Lehrplan und lernen fix, wo Ihre Grenzen liegen. Und damit scheuchte ihn Boopy scharf aus dem Zimmer, and that was that, schloss Schult am selben Abend seinen Bericht bei den Accordeons. Nun darf ich wohl meine Sachen packen, denn eine derartige Strafpredigt kommt doch sicher einer Entlassung gleich.

Aber Liz lachte. Glaube doch bitte nicht, dass er dich persönlich heruntergeputzt hat. Die Attacke galt Tom. Boopy und Tom bekriegen sich schon seit Jahren, seitdem Boopy befördert wurde und Toms Chef ist. Boopy weiß ganz genau, dass die Idee mit den Bomben nicht von dir stammt.

Aber sie stammt von mir.

Nicht in Boopys Vorstellung. Dort ist Tom der Schuldige, und mit seinem kleinen, hierarchischen talk hat er Tom eine klare Abfuhr erteilt. So verständigen die beiden sich miteinander, über Dritte. Anfangs haben sie versucht, mich mit hineinzuziehen in ihre Spielereien, aber ich habe dem schnell einen Riegel vorgeschoben. Und ich würde dir raten, das Gleiche zu tun.

Spielereien?

Nichts anderes. Akademische Scharmützel. Du glaubst doch nicht, dass die beiden direkt miteinander verhandeln würden. Sie können kaum das Wort aneinander richten, wenn sie sich auf dem Gang begegnen.

Wie immer hatte Liz recht. Als Schult eine Woche später seinen revidierten Kursplan vorlegte, war Boopy bester Laune und benahm sich, als sei nichts vorgefallen. Ja, er legte Schult sogar kameradschaftlich bei der Verabschiedung die Hand auf die Schulter, zog sie dann aber, als sei er sich mit einem Mal selbst seiner Geste bewusst geworden, schnell wieder zurück.

9

Die fünf Teilnehmer des Tutoriums waren Reynold Fielding, der Mathematik studierte und sich hier, laut eigenem Bekunden, mental ausruhen wollte, Claire Dibbins, die in Reynold verliebt war, Paula Anjou, die in gestochener Schrift jedes von Schults Worten mitschrieb, der schöne und sehr bleiche Oswald Tree und Ursula Billstock, in deren Augen Schult sogleich jenen scharfen Verstand erkannte, auf den sich Cambridge so viel zugutehielt, der hier aber nur selten anzutreffen war. Wie Oswald Tree, mit seinem somnambulen Geist, es dagegen in die Hallen von Downing geschafft hatte, war schwieriger zu erklären. Allerdings besaßen die Trees eine Möbelfabrik bei Manchester und hatten in den letzten Jahren großzügig ans College gestiftet, was vermutlich Oswalds Anwesenheit im Tutorium über Juliana von Norwich erklärte. Er verpasste keine einzige Sitzung und saß auch regelmäßig in Schults Sprechstunden, die in dem kleinen, ihm von Boopy zugeteilten Zimmer stattfanden, wo seit über siebzig Jahren nicht renoviert worden war. An der Wand thronten auf zerkratzten Regalen die vierzehn Bände von Firearms of the Crimean War, dem Spezialgebiet seines Vorgängers. Ansonsten hingen hier schlechte Bilder von Trevelyan und David Hume, und auf dem Boden lag der obligatorische ausgetretene Perserteppich. Dort saß auch Oswald Tree, der eigentlich keine Fragen hatte zu Juliana von Norwich und dessen Hausarbeiten voller orthographischer Fehler waren, der aber Schult mit seinen wasserblauen Augen und einem ganz ungehemmten und von jeder Eitelkeit freien Lächeln derart bezauberte, dass dieser all seine Kraft aufbringen musste, um sich nicht auf den Jungen zu stürzen und ihm zwischen Hume, Trevelyan und dem Krimkrieg eine Unschuld zu rauben, die Oswald mit Sicherheit schon längst nicht mehr besaß. Und was war Ihre Frage genau?, sagte Schult, sobald er seine Gedanken wieder zurückriss.

Oswald lächelte sein Zauberlächeln und entblößte dabei ein auffallend schönes Gebiss. Ich kann mich selbst an meine Frage jetzt gar nicht mehr erinnern, sagte er, und aus seinen Augen schien entweder vollkommene Leere oder vollkommene Verführung, Schult konnte es nicht genau sagen.

Tom hatte ihn gewarnt vor Studenten wie Oswald Tree. Privatschulhuren, nannte er sie, die sich austoben wollten in Cambridge. All fine and dandy, until they fall in love with you or worse you with them. Dann geht alles den Bach runter, und ihr reißt euch gegenseitig mit. Kannst du dir vorstellen, was los wäre, wenn der Möbel-Papa hier bei Boopy aufkreuzt und wissen will, ob man seine generösen Spenden statt in die Bildung seines Sprösslings in die sexuelle Revolution investiert?

Schult, anfangs überrumpelt und geschmeichelt von Oswalds Aufmerksamkeiten, fühlte nun seinen Überlebensinstinkt erwachen. Auf diesen Instinkt hatte er sich immer verlassen können, und gleichzeitig hasste er ihn. Mein elender Instinkt, dachte er auch jetzt, auf der Intensivstation in Whitechapel, und erinnerte sich, wie seine Mutter immer herumgeritten war auf dem Instinkt. Aus Schult damals unersichtlichen Gründen hatte sie ihm geradezu eingetrichtert, dass er sich unter allen Umständen den Überlebensinstinkt bewahren müsse, denn nur du bist deine Rettung. Und tatsächlich hatte Schult von klein auf und tief in sich einen solchen Drang zur Selbstrettung gespürt, der ihn schützte vor jeder ernstlichen Gefahr. Bis jetzt. Bis ein dummer Zufall ihn zu Fall und hier ins Krankenhaus gebracht hatte. Dabei hatte er die Gefahr durchaus nicht gescheut im Leben, war auf dem schmalen Rand eines Kraters gelaufen, hatte sich hingezogen gefühlt zum speienden Feuer, zur rollenden Lava, jener Hitze, wo der Tod wartete, ja hatte sich oft so weit vorgewagt, dass nur noch ein winziger Sprung nötig gewesen wäre, um allem ein Ende zu machen oder wenigstens sein Leben zu ruinieren. Im letzten Moment aber, kurz vor dem letzten Schritt, packte ihn immer eine kühle, prosaische Vernunft, riss ihn zurück, weckte ihn auf, eine Vernunft, die nicht Teil seiner alltäglichen Persönlichkeit war, sondern zu jenem unbesiegbaren Überlebensinstinkt gehörte. Schult hatte sich immer besonders zum Feuer und zu allem, was er mit dem Feuer verband, hingezogen gefühlt. Nicht aus Abenteuerlust oder Mut, sondern als wolle er etwas wiedererleben oder neu erleben, als müsse er eine Feuerprobe bestehen. So war auch Oswald Tree dem Feuer entsprungen. Eine Gefahr ging aus von ihm, von der Schult nicht die Finger lassen konnte. Oswald Tree lief nicht in die Zukunft, sondern, das fühlte Schult genau, auf ein katastrophales Ende zu. Und Schult wollte wissen, wie dieses Ende aussah. Es kam ihm vor, als würde ihm etwas Essentielles vorenthalten, wenn er nicht wenigstens kosten durfte von diesem Ende. In letzter Minute aber schritt auch hier wieder der vernünftige Instinkt ein und verdarb alles. Schult zog sich zurück, limitierte seine Sprechstunden, beschränkte den Kontakt mit Oswald aufs Allernötigste. Er erfand Ausreden, wenn Tree unangemeldet bei ihm im Zimmer erschien, zwang sich, das herrliche Lachen und die schönen Zähne zu ignorieren.

Sein Instinkt sicherte Schult zwar das Weiterleben, aber auch die Einsamkeit. Was blieb, war die Arbeit, die er oft mechanisch, ohne die Überzeugung des eigenen Talents, ausübte. Manchmal hielt er in seinem Zimmer in Downing mitten im Schreiben inne und sah sich verwundert um. Wie war er hier gelandet? Wie war das alles möglich gewesen? Wie war er der Schutt-und-Asche-Stadt seiner Kindheit entkommen, um hier in akademischer Idylle, in den neoklassizistischen Bauten seiner Forschung nachzugehen? Und manchmal fühlte Schult ein großes Unbehagen über seine Anwesenheit in Cambridge, als habe er dieses Leben nicht verdient, als habe er sich feige aus der Affäre gezogen, die kaputtgeschlagene Vergangenheit hinter sich gelassen, ein Fahnenflüchtiger an den grünverhangenen Ufern des Flusses Cam. Ständig fühlte er, eine Art Verrat begangen zu haben, ohne genau sagen zu können, worin genau dieser Verrat bestehen sollte. Manchmal glaubte er, diese deprimierende Verwirrung habe mit seiner Mutter zu tun, an die Schult wie an eine Zurückgelassene dachte, vielleicht aber lag der Verrat auch einfach darin, dass er seine neue Heimat gleich vom ersten Tag an geliebt hatte, wie er die alte nicht mehr hatte lieben können. Seiner Mutter sagte er von diesen Gefühlen nichts. Alle zwei Wochen schrieb er nach Hamburg, alle sechs Wochen kam eine Antwort, die Schult immer mit einer Art masochistischer Neugier aufriss. Dreimal im Jahr telefonierten sie miteinander, und nie erwähnte seine Mutter den Umstand seines Fortgehens oder erkundigte sich nach seinem Leben in Cambridge. Er wusste sehr wohl, dass derartige Fragen einem Bekenntnis ihrer Zuneigung gleichgekommen wären, und ein derartiges Bekenntnis hätte die harte Balance zwischen ihnen aufs Spiel gesetzt.

In diesen ersten Jahren wohnte Schult in einem sogenannten bedsit unweit des College, einer heruntergekommenen Bude – Tisch, Bett und Waschbecken, Klo auf dem Gang – im Queen-Anne-Stil, schenkte man dem Vermieter Glauben, lachhaft natürlich und nur in dem Sinne korrekt, als die Räume seit vermutlich zweihundert Jahren nicht mehr renoviert worden waren. Doch Schult, der nicht auf dem eingeengten Campus hatte wohnen wollen, machten die etwas primitiven Zustände nichts aus, zumal er ja im Krieg viel schlimmer gehaust hatte. Abends lag er auf dem schmalen Bett und masturbierte, leise, damit die Nachbarn nichts mitbekamen, obwohl diese ihm nur von gelegentlichen Treffen auf der Treppe am Morgen oder beim spätnächtlichen Toilettengang bekannten Männer ungeachtet der dünnen Wände weniger Diskretion walten ließen. In seinem Zimmer hing über dem Tisch eine Fotografie, das einzige Andenken. Auf dem Bild stand in einer Hamburger Vorkriegsstraße eine Frau um die dreißig mit einem fünf- oder sechsjährigen Jungen an der Hand. Beide blickten wie von weit her in die Kamera, auf dem Gesicht einen halb amüsierten, halb ungeduldigen Ausdruck. Der rechte Arm des Jungen, der erhoben war, um die Hand der Frau zu halten, sah steif aus, wie nach einer Verletzung. Schult fragte sich beim Betrachten des Fotos, um was für eine Verletzung es sich handeln könnte, oder vielleicht war es eine Behinderung, vielleicht Polio, oder vielleicht war es auch gar nichts, vielleicht vermittelte das Bild einen völlig falschen Eindruck. Auch spekulierte er über die Verbindung zwischen den beiden. Waren sie Mutter und Sohn? Tante und Neffe? Oder gab es gar keine Verwandtschaft zwischen ihnen, war dies vielmehr ein amtliches Verhältnis, aufgrund dessen die Frau den Jungen irgendwohin fortbringen wollte, was Schult bei genauerer Betrachtung wahrscheinlicher schien und das seltsame Festhalten erklären würde. Jahrelang hatte die Fotografie in seinem Zimmer in St. Georg gehangen, und nun hing sie hier in Cambridge. Im August 1943 hatte seine Mutter sie ihm nach den Bomben auf Hamburg gegeben. Er erinnerte sich gut daran, wie sie das Bild aus dem Schutt des Kellers gefischt hatte, in dem sie untergekrochen waren, nachdem die Feuerwehr und die Polizei ihr altes Viertel abgesperrt und Hammerbrook zur Sperrzone erklärt hatten, so komplett war die Zerstörung dort gewesen. Wochen später war eine Mauer um das tote Areal gezogen worden.

Vielleicht hatte der Keller, ihr neues Zuhause, den Toten auf dem Foto gehört. Schult wusste noch genau, wie sie das erste Mal hier heruntergestiegen waren, auch Tage nach dem Angriff noch halb tot vor Erschöpfung, und wie seine Mutter gesagte hatte, Dank dem Herrn im Himmel für unseren Überlebensinstinkt. Vielleicht hatte sie auch nichts dergleichen gesagt – Herr im Himmel klang eigentlich nicht nach seiner Mutter – aber so war Schult die Szene im Kopf geblieben. Vorsichtig hatten sie sich durch Scherben, Schutt und Knochen am Boden vorangetastet, hatten einen Fuß vor den anderen geschoben, seine Mutter sich immer wieder bückend, um Sachen aufzusammeln, die noch irgendwie zu gebrauchen waren: ein halb geschmolzener Esslöffel, eine Blechbüchse ohne Deckel, eine Art Lederriemen und die Fotografie. In den folgenden Tagen hatte sie irgendwo einen kleinen Küchentisch und einen angekohlten Besen aufgetrieben, und gemeinsam richteten sie das Kellerloch her. Schult selbst fand einen Stuhl, dann einen zweiten sowie ein paar Decken. Eines Abends, vielleicht zwei, drei Tage nach den Angriffen, saßen sie an dem Tisch, und seine Mutter zog die Fotografie aus ihrer Schürze – woher hatte sie die Schürze? sie hatten doch nur Mäntel über Nachthemden getragen –, schob sie ihm über den Tisch hin und sagte, das sind jetzt wir, du und ich, alles andere ist verbrannt. Schult hatte das Bild an sich genommen und tagelang unter seinem Hemd – woher war das Hemd gekommen? – mit sich herumgetragen. Dann hatte er es mit einer Heftzwecke an die Wand des Kellers gepinnt, und zwar dort, wo sie am Boden auf einem Deckenlager schliefen, direkt über seinem Kopf. Seitdem hatte ihn das Bild überallhin begleitet und war auch mit nach England gekommen. Selbst hier, in meinem neuen Leben, hatte er damals gedacht, lassen die Toten mich nicht aus den Augen. Erst in seinem bedsit, dann in einer Wohnung am Lavender Crescent und schließlich in einem kleinen Haus in der St. Eligius Street, wo es an der Wand im Wohnzimmer über dem Telefon hing, schwarz-weiß und stumm.

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