Wilhelmsburg - Wolfgang Zarnack - E-Book

Wilhelmsburg E-Book

Wolfgang Zarnack

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Beschreibung

Als das Musicaltheater im ersten Lockdown schließt, steht der junge Schauspieler Hannes ohne Beschäftigung und sozialem Umfeld da. Finanziell zwar eine Weile abgesichert, sucht er nach Sinn und Zeitvertreib und flüchtet sich vermehrt in Alkohol. Als im Sommer das Leben wieder hochfährt, trifft er Rieke, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Ihre Unbändigkeit, Stärke und Unangepasstheit faszinieren ihn. Sie verbringen den Sommer in Wilhelmsburg, vor den Toren Hamburgs. Viele ihrer Unternehmungen sind von Riekes Sicht auf die Welt geprägt. Sie hat unübliche Meinungen zu den großen aktuellen politischen Fragen, Machtverhältnissen und Demokratie und fordert damit Hannes immer wieder heraus. Auch ihre Liebe muss die Tests bestehen, die ihnen das Leben stellt.

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Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Kapitel:
0 Vorspiel
1 Theater
2 Warten auf Godot
3 Auftritt Friederike
4 Stübenplatz
5 Leiden - schafft
6 Wrack
7 Rikes Philosophie
8 Die Wohnung
10 Die Ex
11 Deichbude
12 Auf Abwegen
13 Faust
14 Brötchen
15 Gib mir die Welt
16 Abmachung
17 Forbes
18 Antrag
19 Maddin
20 Die große Weltverschwörung
21 Träume
22 Muster und System
23 Berlin
24 Banksy was here
25 Schwarzes Loch
26 Schweiz 1
27 Insel
28 Schweiz 2
29 Rike beginnt
30 Komm nach Hause
31 Nebel
32 Der Brief

Wilhelmsburg

Geschrieben: September 2021

Buchbeschreibung:

Wir halten uns alle für tolerant, doch wie sehr sind wir es wirklich gegenüber anderen Meinungen? Was braucht eine Gesellschaft, um zu heilen?

In 'Wilhelmsburg' wird die Geschichte einer Liebe in Zeiten von Corona erzählt.

Ein außergewöhnlicher Sommer auf einer Insel vor den Toren Hamburgs. Abgeschottet und doch so nah dran am Leben. Kantig und wahr.

Über den Autor:

Wolfgang Zarnack ist Schauspieler und schreibt über eine Welt, in der er sich bestens auskennt: Er spielte von 2015 bis 2017 beim großen Hamburger Musical „Das Wunder von Bern“ eine der Hauptrolle und lebte selbst in Wilhelmsburg.

Davor war er 10 Jahre festangestellt an Stadt- und Staatstheatern, drehte viel und stand auch sonst auf so ziemlich jeder Art von Bühne.

Ab Herbst 2018 engagierte er sich ehrenamtlich für die Sammlungsbewegung „Aufstehen“, die bundesweit großes Aufsehen erregte und bei der er von 2019 bis 2020 Vorstand des Trägervereins wurde. Durch den intensiven Kontakt zu Bundestagsabgeordneten, ehemaligen Bundesministern, Staatssekretären und vielen vielen mehr, gewann er tiefere Einblicke in die Politik.

Im Spätsommer 2021 schrieb er die Geschichte, ehe es ihn 2022 überraschend wieder bis Spätsommer 2023 zum Musical nach Stuttgart zu „Tanz der Vampire“ zog.

Nun lebt er wieder in Leipzig.

'Wilhelmsburg' ist sein Debütroman.

1. Auflage, 2023

© 2023 Wolfgang Zarnack – alle Rechte vorbehalten.

Wolfgang Zarnack

c/o Black Mary Films GmbH

Weißenfelser Str. 12

04229 Leipzig

[email protected]

www.wolfgangzarnack.de

Für Monika, Verena, Wolfram, Anni,

Maria, Charlotte, Sophie

und für Dich

Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden

Banksy

Kapitel:

0 Vorspiel 7

1 Theater 8

2 Warten auf Godot 14

3 Auftritt Friederike 20

4 Stübenplatz 26

5 Leiden - schafft 30

6 Wrack 33

7 Rikes Philosophie 41

8 Die Wohnung 45

9 Frosch 49

10 Die Ex 54

11 Deichbude 60

12 Auf Abwegen 66

13 Faust 74

14 Brötchen 84

15 Gib mir die Welt 86

16 Abmachung 95

17 Forbes 98

18 Antrag 102

19 Maddin 104

20 Die große Weltverschwörung 108

21 Träume 114

22 Muster und System 122

23 Berlin 127

24 Banksy was here 136

25 Schwarzes Loch 145

26 Schweiz 1 149

27 Insel 154

28 Schweiz 2 156

29 Rike beginnt 160

30 Komm nach Hause 170

31 Nebel 175

32 Der Brief 178

0 Vorspiel

Kümmel ruft an. Die Show fällt aus. Heute und bis auf Weiteres. Erst einmal zwei Wochen, dann sehen wir weiter. „Ja klar. Krass. Aber war abzusehen. Trotzdem danke fürs Bescheidgeben. Alles Gute und bleib gesund“, sage ich noch.

Okay, die Abendzuschläge fallen weg, aber ansonsten freue ich mich, denn ich hab jetzt frei!

1 Theater

Ich glaube ich werde depressiv. Seit ner halben Stunde versuche ich aufzustehen, aber ich kann mich nicht aufraffen. Es würde theoretisch schon gehen, aber ich kriege meinen Arsch nicht hoch. Ich überlege kurz, ob ich einfach auf dem Bauch aus dem Bett gleite und in die Küche robbe und mich dann an der Arbeitsplatte hochziehe. Aber das wäre noch anstrengender und somit gebe ich mir einen Ruck und trotte in die Küche.

Auf dem Balkon checke ich die Mails. Nichts Neues. Ich überlege, ob ich kurz beim KBB anrufe und nachfrage, aber die Antwort kann ich mir auch selber geben: „Wir wissen auch noch nichts. Erst mal warten wir bis zum 18. ab und dann sehen wir weiter. Wenn es was Neues gibt, dann melden wir uns. Und ja, lieber Hannes, auch dich würden wir anrufen und wir hätten uns selbstverständlich auch bei dir gemeldet, wenn wir was neues wüssten.“

Ich gehe zu Edeka und besorge wieder mehr und haltbarer, als früher. Klopapier gibt es immer noch keines, aber noch hab ich was. Auch glaube ich, dass notfalls im Theater was rumliegt.

Es ist früher Nachmittag, ich sitze mit meinem Bier am Deich und genieße die Sonne. Überall sitzen kleinere Gruppen zusammen und ich würde mich gerne zu einer dazu setzen, aber ich käme mir wie ein Perverser vor, der kleine Kinder anspricht. Obwohl ich raus und mich überall hin bewegen kann, komme ich mir wie in einem Gefängnis vor.

Maddin schickt ein Bild aus Dortmund. Bis auf Alex sind die Jungs alle in ihrer Heimat und Alex möchte sich nicht treffen. Es ist ihm zu riskant. So ganz wohl wäre mir auch nicht dabei, wobei es draußen mit Abstand eigentlich gehen müsste. Auf jeden Fall besser als zoomen.

Ich überlege kurz, ob ich Bea schreibe, aber merk selber schnell, wie ich auf die ganzen Umstände schon gar keinen Bock habe. Vorab zu klären: Was brauchst Du? Womit fühlst Du Dich wohl und sicher? Ist es okay, wenn wir uns rein setzen? Und wenn ich ehrlich bin, will ich eh nur Sex. In Zeiten der Pandemie ist es als Single so richtig scheiße.

Zweimal laufe ich noch zum Kiosk um nachzulegen und wanke dann, in der Dämmerung, nach Hause. Bea hab ich nicht mehr geschrieben, dafür Vicky. Die hätte zwar Bock gehabt, war aber nicht da.

Zu Hause installiere ich mir wieder Tinder und suche nach einem Match. Irgendwann schlafe ich auf dem Sofa ein.

Die Zahlen sinken. Es wird immer mehr über Öffnungen gesprochen und endlich scheint sich auch im Theater was zu regen. Wir haben alle für Donnerstag eine Einladung zum Zoomcall.

Ich freue mich sehr die alten Kollegen wieder zu sehen und es kommt mir wie eine Ewigkeit her vor. Im Call sind alle, nicht nur die Cast, sondern auch die Technik, Maske, Kostüm und Verwaltung etc. also wirklich alle. Ich hätte nie gedacht, dass man so viele in eine einzige Session bringen kann und dass die Leitung dann auch noch stabil ist. Völlig skurril ist es, die Kollegen in ihrem privaten Umfeld zu sehen. Witze werden gerissen und die Stimmung ist größtenteils ausgelassen.

Nach einer Weile merke ich jedoch, dass die ganzen Externen nicht dabei sind: Also die Dresser, Kantine und Pforte. Auch vom Vorderhaus ist keiner da.

Kümmel fängt an und erklärt die Situation. Sie hätten noch gehofft, dass wir im Sommer auch mit öffnen dürften. Und tatsächlich dürften wir das auch, aber nur mit Abstandsregeln, auch auf der Bühne und nur mit einer deutlich geringeren Auslastung. Das kommt finanziell nicht infrage und somit würden wir alle bis auf Weiteres in Kurzarbeit gehen. Das Unternehmen würde auf 80 % aufstocken und wir würden spätestens drei bis vier Wochen vor einem Neustart Bescheid bekommen. Ganz sicher nicht vor August. Die Wiedereröffnung wird wahrscheinlich erst im September oder Oktober sein, da im Sommer eh keiner kommt.

Die Reaktionen sind unterschiedlich. Manche freuen sich, einige machen Witze über Kussszenen mit Abstand, andere wirken sehr besorgt. Rechtliche Fragen kommen auf. Was ist mit meinem Urlaub? Kann das Unternehmen es stemmen? Machen wir im Herbst wieder auf? Unser Ensemblesprecher Konrad meldet sich: Wie wahrscheinlich ist denn eine Öffnung im Herbst? Die Zahlen werden doch dann wieder hochgehen. Könnte es auch sein, dass wir erst im nächsten Jahr wieder öffnen, oder dann gar nicht mehr, weil es das Unternehmen nicht überlebt hat? Was ist mit den zum 07.01. auslaufenden Verträgen?

Kümmel versucht zu beruhigen, auch wenn er noch keine klaren Antworten hat und wir das alles im Herbst sehen müssen. Vorher ist alles reine Spekulation. Und mit den Wünschen für einen schönen Sommer beendet er die Sitzung.

Kurz danach brummt mein Handy. Konrad hat eine Whatsappgruppe aufgemacht und will dort die offenen und vor allem rechtlichen Fragen klären. Nach ca. 10 Nachrichten bin ich davon überzeugt, dass ich die Gruppe stumm schalte. Mir ist da zu viel Panik drin. Überhaupt tue ich mich schwer mit dem Wust an unterschiedlichen Meinungen und Interessen. Wie will man das unter einen Hut bringen?

Manchmal beneide ich Politiker nicht, die aus dem ganzen Gewirr einen Konsens finden müssen. Aber eigentlich fängt es ja schon im Kleinen bei jedem von uns an. Ich bin teilweise echt schlecht darin, andere Meinungen gelten zu lassen. Wenn ich glaube, im Recht zu sein, dann halte ich die anderen für Idioten. Und selbst wenn irgendwann auch bei mir ankommt, dass ich falsch lag, dann spiele ich das für mich herunter: 'Naja, war nicht so wichtig und meinte ich eigentlich auch so'. Aber wehe, das passiert jemand anderem, da bin ich aber nicht so gnädig.

Ich wünschte, wir wären deutlich toleranter mit den Meinungen anderer und würden uns selber immer wieder mal ehrlich hinterfragen. Ich nehme mir vor, in Zukunft offener Zuzuhören. Man kann eigentlich Scheiße auch einfach mal stehen lassen, ohne gleich in Schnappatmung zu verfallen, oder dagegen 'Haltung' zu zeigen.

Die Whatsapppanikgruppe lasse ich trotzdem stumm. Man sollte beim Üben vielleicht nicht gerade mit einer Herkulesaufgabe beginnen.

Ich schreibe Lena von der Technik, ob wir die Tage was trinken gehen wollen, aber sie kann nicht, ihr Freund nervt.

Danach ist wieder Ruhe. Mir ist nicht nach Feiern zumute, auch nicht nach Heulen. Es fühlt sich alles so leer und unwirklich an. Finanziell werde ich super klarkommen, zumal ich ja gerade auch kaum Ausgaben habe. Mein Hauptproblem ist: Ich bin allein. Davor hatten die oberflächlichen Kontakte mit den Kollegen dieses Gefühl übertüncht, aber nun spüre ich es, wie selten zuvor: Ich bin allein.

Ich widerstehe der Versuchung zum Kiosk zu gehen und spaziere lieber über den Deich. Wilhelmsburg ist echt ne Insel. Ich meine das nicht formal, sondern es fühlt sich auch so an. Wie eine kleine Insel vor Hamburg. In ner Stunde ist man mitten in der Innenstadt. Zu Fuß. Aber hier ticken die Uhren echt noch deutlich bedächtiger. Auch schon vor dem Lockdown. Meine Situation ist folgende: Ich hab jetzt mindestens 3 Monate frei und kann machen, was ich will. Wenn ich etwas sparsam bin, dann kann ich noch so viel Geld zur Seite legen, dass ich nach dem AG1 noch ca. ein Jahr okay durch komme. Das heißt, selbst wenn mein Vertrag im Winter nicht mehr verlängert wird, dann bin ich von heute an ca. 2,5 Jahre safe. Ich kann aber nicht für diese Zeit frei planen, weil ich ja vielleicht im Herbst wieder hier sein muss. Klar könnte ich jetzt wegfahren, aber wohin? In Frankreich und Italien ist es deutlich schlimmer als bei uns. Auch in Spanien.

Ich könnte einen Kurzfilm drehen: Ein Typ sitzt im Lockdown fest und erzählt täglich von dieser wahrscheinlich später historischen Zeit. Irgendwann wird er irre und bringt sich um.

Ich überlege, ob ich nach Celle fahre. Aber ich will die beiden nicht gefährden. Das ist ja jetzt die beste Ausrede, wenn man keinen Bock hat, die Eltern zu besuchen. Ich vermisse sie schon, aber auch das ist mir zu kompliziert, wobei Mama eigentlich entspannt ist. 'Und Papa?' Na für den waren es eh bestimmt die Freimaurer, das muss ich mir nicht unbedingt geben. Ich rufe trotzdem an. Papa geht dran und schimpft über die unwissenschaftlichen Idioten in der Regierung. Mama nimmt ihm aber bald den Hörer weg und wir reden kurz. Bei denen ist alles in Ordnung, ich sollte doch wieder mal vorbeikommen. Ich sage ihr, dass ich es gerade noch für zu gefährlich halte. Wenn ich ehrlich bin, dann ist das aber nur ein Teil der Wahrheit. Ich hab vor allem keine Lust mir darüber Gedanken zu machen, wie gefährlich es ist und wie wir am besten damit umgehen sollen. Müssen wir zu Hause Abstand halten, Maske tragen? Will ich so meine Eltern sehen oder dann lieber gar nicht. Diese Fragen lähmen mich und ich fühle mich immer noch ausgebremst von der Unsicherheit. 'Welche Unsicherheit? Ich weiß doch jetzt, dass die nächsten drei Monate frei sind.' Ja, aber danach…

Ich könnte ein Buch schreiben. Eine Sprache lernen. Aber am wichtigsten: Wieder Sport machen. Ich bin echt fett geworden. Also bestimmt 3 Kilo drauf. Am Bauch sehe ich auf einen deutlichen kleinen Ring.

2 Warten auf Godot

Zu meiner Schulzeit hat sich unsere Deutschlehrerin, die ich eigentlich mochte und für ziemlich fit in der Birne gehalten habe, einmal über 'Warten auf Godot' lustig gemacht. Dadurch habe ich zum ersten Mal von dem Stück gehört und es dann später auf der Schauspielschule auch gelesen. Sie lästerte in etwas so: „Das ganze Stück handelt davon, dass zwei auf Godot warten und der nicht kommt. Den ganzen Abend lang. Mehr passiert nicht, ein ganz tolles Stück.“ Formal gesehen hat sie natürlich recht und diese Langeweile des Stückes ist auch kaum zum Aushalten. Man wird schlicht wahnsinnig beim Lesen oder Zuschauen. Man möchte die beiden packen und schütteln und sie anschreien, dass sie endlich aus diesem Teufelskreis ausbrechen müssen. Und jetzt bin ich selber darin gefangen und kann die beiden Wartenden immer besser verstehen. Ich lese stundenlang bei Twitter und suche nach einer Meldung, die den ganzen Spuk beendet. Morgens hab ich schon Lust zu saufen und denke mir: 'den Tag kannst Du ruhig verschwenden, morgen kannst Du dann wieder durchstarten'. Ich sehne mich nach der Ekstase, Freiheit und Leichtigkeit meiner Jugend zurück. Und das verbinde ich mit lachen, trinken, in der Sonne liegen, mit Freunden Quatsch reden, mit dem Glitzern auf dem Wasser, dem Rascheln der Blätter im Mai, die im vollen Saft stehen. Das sind für mich Bilder voller purem Glück. Und auch die etwas peinlichen Aktionen, die im Suff passieren, sind im Nachhinein okay und möchte ich nicht aus meinem Leben streichen. Danach sehne ich mich und ich finde den Gedanken großartig jetzt raus zu gehen und mich volllaufen zu lassen. Ein paar Dinge gibt es zwar immer zu tun, aber das mache ich morgen.

So bin ich in meinem ganz persönlichen Warten auf Godot gefangen. Jetzt ist Saufen bestimmt sinnvoller, als auf Twitter abzuhängen. Wenn ich früh anfange, bin ich früh müde und kann morgen früher wieder starten. Ich weiß, dass diese Haltung mich umbringen wird und ich weiß auch, was eigentlich richtig wäre: Stehen bleiben, in mich hineinhören und lauschen. Sich den Ängsten stellen und nicht weglaufen. Aber ich kann es nicht aushalten. Die Angst ist zwar sehr unkonkret, aber ich will einfach nur weglaufen. Ich will es nicht hören. Da hat der Verstand einfach mal gar nichts mehr zu melden. Der kann seine Yogaübung mal schön alleine machen. Ich überlege, ob ich nach Hamburg rüber fahre, durch die Stadt spaziere, aber was soll ich da? Wenn eine Stadt geschlossen ist, dann bringt sie keine Vorteile, sondern nur Nachteile. Auf dem Land wird man gerade wenig Unterschied feststellen, aber hier ist er enorm.

Die Sonne scheint und ich gehe raus. Dann kann ich immer noch entscheiden, ob ich den Tag schon früh wegwerfen will. Beim gehen kommt mir eine Idee: Ich könnte doch einmal um die ganze Insel laufen. Ein Blick auf google maps belehrt mich jedoch eines Besseren: zu weit. Ich könnte mir das Goldhaus an der Veddel anschauen, das hab ich immer noch nicht gesehen. Alle haben sich drüber aufgeregt, aber ich will mir lieber ein eigenes Bild von machen. Auf den ersten Blick finde ich die Aktion ziemlich bescheuert: Da wird ein typisches rotes Hamburger Ziegelsteinhaus vergoldet. Der „Clou“ an der ganzen Sache ist: Es ist ein armes Viertel und so soll provoziert werden. Was ich bei Kunstaktionen immer mehr mag: Sie entlarven zielsicher die ganzen Spießer und da gibt es gerade in der jungen und vermeintlich aufgeklärten und ach so wachen Generation ganz schön viele. Der Künstler hält ihnen ein Stöckchen hin und sie springen drüber. Herrlich. Wobei Twitter natürlich auch permanent so funktioniert. Da kann auch keine These zu schrill sein, um Aufmerksamkeit zu provozieren.

Auf dem Weg mache ich am Deich Pause und öffne nun doch das erste Bier. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, das Gras ist grün und es ist unendlich schön. Ich sollte häufiger rausgehen und auch früher am Tag.

Ich überlege, ob ich mir eine Drohne kaufen soll. Dann kann man über den Hafen fliegen und die Welt von oben betrachten.

Das zweite Bier mache ich auf dem Weg auf. Das Schöne ist ja: Hier fällt es gar nicht auf, dass ich schon mittags trinke. Das sind die hier gewohnt. 'Klingt arrogant?' Nö, ist einfach nur realistisch und für mich gibt es aktuell auch nicht den Hauch eines Grundes arrogant zu sein. Mein Verstand sagt mir zwar, dass es den generell nie gibt, aber so weit bin ich noch nicht. Da muss ich das Ego noch mehr zähmen, oder streicheln, ganz wie man es betrachten möchte.

An der S-Bahnhaltestelle Veddel vorbei, komme ich ins Viertel rein. Schon früher, wenn ich mit dem Zug nach Hamburg gefahren bin, sind mir die Häuser aufgefallen. Etwas zerlebter Hamburger Klinker. Ich mochte das damals schon.

Wir sind hier zwei Stationen vom Hauptbahnhof entfernt, die Mieten sind günstig, Du hast hier Wasser direkt vor der Haustür. Den kleinen Grasbrook gegenüber wollen sie schick machen, die Hafencity ist gleich um die Ecke: Ich geb dem Viertel noch maximal 10 Jahre, dann sieht man hier an jeder Ecke die Hipster rumhängen. Dann wird man wahrscheinlich sagen, dass das Goldhaus ein wichtiger Schritt dahin war und es wird ne richtige Touristenattraktion. Die Leute werden vom Hamburger Williamsburg sprechen. Das tun sie zwar jetzt schon, aber nur übers Reiherstiegviertel und das ist und bleibt verschlafen, es sei denn, die U-Bahn fährt irgendwann direkt zum Stübenplatz, dann ist es dort vorbei mit der Ruhe.

Ich biege um die Ecke und erkenne es sofort. Tja, sieht so aus, wie auf den Bildern. In der Sonne glänzt es ganz schön. Ich mache nen Foto und erwarte von irgendwo eine Flasche an den Kopf zu bekommen. Zwei Typen gehen auf der anderen Straßenseite entlang und … beachten mich gar nicht.

Ich hab jetzt nicht die genaue Intention des Künstlers im Kopf, aber es ging, glaube ich darum, ein Spotlight auf das Viertel zu richten, dass die Leute mal über die Elbe kommen. Natürlich soll die Goldfassade provozieren. Tut sie ja auch, in dieser Ecke von Hamburg. Ich finde nicht, dass die Bewohner dadurch verhöhnt werden, aber vielleicht ist das auch nur eine typische Aussage der Generation Beleidigt. Bei denen kommt es mir so vor, dass es entweder nur ein 'für uns' oder ein 'gegen uns' gibt. Für Zwischentöne, Kontroversen, Widersprüche ist da wenig Platz. Aber wahrscheinlich ist das auch nur eine meiner Schubladen.

Ich finde übrigens Schubladendenken überhaupt nicht schlimm. Natürlich will keiner in einer Schublade landen. Wir wollen alle als komplexe Wesen gesehen werden. Aber so tickt der Mensch nun einmal nicht. Der braucht Struktur und Klarheit und Richtig und Falsch und Gut und Böse (ich merke gerade: wie die Generation Beleidigt) und da werden Menschen eben schnell in Schubladen eingeordnet. Wichtig dabei finde ich allerdings, dass ich jederzeit bereit bin, Menschen aus ihrer Schublade wieder raus zu lassen. Um sie dann in eine andere, passendere Schublade zu stecken.

Wenn diese Kunst am Bau hilft, etwas mehr über die sozialen Probleme der Menschen hier nachzudenken, dann finde ich das gut. Aber wahrscheinlich wird es nichts ändern. Die Aufwertung des Viertels wird durch Künstler und Studenten erfolgen, die die Arbeiter verdrängen, um dann von den coolen jungen Mittelständlern verdrängt zu werden. Das ist dann natürlich total böse und nennt sich Gentrifizierung. Es ist der ewige Lauf der Dinge, schon zigmal passiert und auch hier sehe ich diesen Weg voraus.

Mein Bier ist alle und ich suche einen Supermarkt. Bei google maps finde einen. Einen! Okay, vielleicht dauert es doch noch etwas länger mit der Gentrifizierung.

Am Nachmittag ist meine gute Laune verflogen. Ich sitze gegenüber der Honigfabrik am Kanal und trinke immer noch Bier. Eigentlich ist es schön hier, aber ich bin müde und frustriert. Ich hab mal gehört, dass Alkohol die Stimmung gar nicht aufheitert, sondern nur die bestehende Stimmung verstärkt. Dann wäre das Trinken allerdings ziemlich sinnlos, denn es zeigt dann nur deutlicher, was eh in einem drin ist und das würde man auch besser hören, wenn man nicht durch Alkohol davor weglaufen würde. Wobei das ja auch nicht stimmen kann, denn beim ersten Bier hellt sich meine Stimmung wirklich immer auf. Das Problem ist, dass man dann weiter machen muss, sonst fällt sie wieder. Aber wenn man zu lange weiter macht, dann fällt sie ja auch. Es ist verzwickt, vielleicht hätte ich besser zwischendurch mehr Wasser trinken sollen. Ich suche bei Instagram über #wilhelmsburg nach schönen spannenden Frauen. Like ein paar Bilder und gehe wieder zu Tinder. Hey, ich hab ein neues Match. Ich schreib sie an und warte. Dann schreibe ich einer anderen und schaue mir ihre Bilder noch einmal an. Die Vorstellung, dass die jetzt neben mir auf dem Steg hockt und wir zusammen Bier trinken, finde ich nicht schön und lösche das Match wieder. Es ist doch alles so sinnlos. Wenn ich jetzt nach Hause gehe, angeduselt im Bad ausrutsche und meinen Schädel an der Badewanne zertrümmere, dann wird es ne ganze Weile nicht auffallen. Könnte schon passieren, dass ich da nen Monat liege und sich die Nachbarn irgendwann über den Geruch beschweren. Vor etlichen Jahren wurde einer in Hamburg in seiner Wohnung gefunden, der dort 10 oder 15 Jahre lag. Durch die warme Heizungsluft ist er mumifiziert, weswegen er nicht gerochen hat. Die Mutter hat die ganze Zeit die Miete überwiesen. Als sie das nicht mehr konnte, haben sie die Wohnung aufgebrochen. Im Fenster blinkte die ganzen Jahre über ein Weihnachtsbaum und das Todesdatum haben sie anhand der aufgeschlagenen Fernsehzeitung bestimmt. So lange würde das bei mir nicht dauern, ich zahle meine Miete ja selber.

Als es langsam dunkel wird, trotte ich nach Hause und gehe schlafen. Zum Einschlafen schaue ich noch bei youtube eine Doku über Pyramiden. Morgen trinke ich nichts und räume mal die Bude auf, ansonsten werde ich einfach verrückt. Die Doku ist toll und nach nicht einmal drei Minuten bin ich weg.

3 Auftritt Friederike

Mein Alltag hat sich ein wenig gebessert. Ich koche jetzt wieder, mache täglich eine Einheit Sport, also Joggen oder Yoga per App oder mindestens Liegestütze. Der Rest ist allerdings weitestgehend gleich geblieben. Ich treffe keine Freunde, hänge zu viel vorm Computer und wichse. Abends hole ich mir Bier beim Kiosk und spiele dann Computer, bis ich müde bin und mich ins Bett schleppe. Das kann zwar nicht ewig so weiter gehen, aber heute habe ich noch keine Kraft, etwas zu ändern. Morgen, wenn ich wieder nüchtern bin, dann starte ich neu. Und am nächsten Morgen starte ich dann tatsächlich neu. Jogge fast ne Stunde, gehe duschen, frühstücke ordentlich und freue mich auf den neuen Tag, der vor mir liegt und schaue dann nur kurz in meine Mails, ob etwas ansteht, und schon ist es wieder Mittag. Da ich Hunger habe, will ich nicht warten, bis ich gekocht habe, sondern schiebe mir einfach ein Schlemmerfilet in den Ofen und lege mich wieder aufs Sofa. Nach dem Essen bin ich müde und da mir langweilig ist, schreibe ich ner Bekannten und stelle mir vor, wie wir miteinander schlafen. Da ich aber keinen Bock auf das ganze drum herum habe, die Fragen nach den Ansteckungschancen etc. finde ich es einfacher, es mir nur vorzustellen und dabei zu wichsen. Inzwischen ist auch wieder Nachmittag und ich öffne das erste Bier. Ja, ich werde schon weniger trinken, aber nicht heute und nicht, wenn die ganze Welt auf dem Kopf steht. Außerdem trinke ich keine harten Sachen. Und ich war heute morgen joggen. Morgen werde ich die Struktur für den Kurzfilm schreiben.

Zu Facebook schaue ich nicht mehr und hab die App inzwischen auch gelöscht. Die eine Hälfte der Freunde dreht völlig durch und gibt Parolen raus wie: „Bleibt zu Hause“, die anderen faseln von der nächsten Diktatur und dann gehen sich Menschen, die ich eigentlich mag, gegenseitig an die Gurgeln. Mich hat das zu sehr deprimiert und ich musste abschalten. Instagram ist dagegen schön oberflächlich: nur nette Bildchen, keine Politik. Herrlich.

Frag mich nicht, wie lange das so ging, aber nach einer Ewigkeit sitze ich abends nicht mehr bei mir vorm Rechner und trinke Bier, sondern ich sitze in der Deichbude und trinke Bier. Hier scheint es unverändert. Von Abständen ist wenig zu sehen, auch wenn ein paar Tische weniger drin stehen. Der Laden ist voll und ich fühle mich etwas unwohl. Vor der Kneipe ist es entspannter. Einige rauchen und ich stelle mich dazu. Einen Typen spreche ich an, ob ich ihm für 50 Cent eine Kippe abkaufen kann. „Ne, die kannste auch so haben.“ Wir kommen ins lockere Gespräch. „Eigentlich hab ich aufgehört zu rauchen. Rauchen ist nicht die beste Idee während einer Lungenpandemie, aber heute hatte ich mal wieder richtig Bock. Und wenn ich die letzten Wochen auch noch geraucht hätte, dann wäre ich, glaub ich, richtig versackt“, sage ich.

„Ich wäre auch gerne die letzten Wochen versackt. Bei uns war aber richtig Action auf der Arbeit, wir mussten viel umstellen und einige Kollegen waren krank“, sagt er.

„Wegen Corona?“

„Ja, auch, aber vor allem wegen Quarantäne.“

Ich gehe wieder rein. Ich glaube, wenn ich nicht schon ein wenig angetrunken wäre, dann fände ich es deutlich zu eng. Die Leute sind ausgelassen und stehen ziemlich dicht zusammen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Gesundheitsamt durchgehen lassen würde, aber es tut mir extrem gut wieder unter Menschen zu sein. Hier fällt es mir auch nicht schwer fremde Menschen einfach anzusprechen und Blödsinn zu quatschen.