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Eine paradiesische Insel mitten im Pazifik: Lux begleitet ihren Freund Nico. Er segelt zwei Freundinnen nach Meroe Island, die auf einer Weltreise sind. Dort angekommen treffen sie auf das wohlhabende Paar Jake und Eliza, die bereits vor der Insel ankern. Die sechs freunden sich an und genießen mehrere Tage fernab der Zivilisation. Als Robbie, ein weiterer Segler, auftaucht, kippt die Stimmung. Er raubt die Boote aus, zerstört die Funkgeräte und verschwindet. Zwischen Lux und Nico gibt es zunehmend Spannungen, die Gruppe driftet immer weiter auseinander. Bis eine Leiche im Dickicht der Insel entdeckt wird. War es Mord? Immer mehr Geheimnisse dringen ans Licht. War es vielleicht gar kein Zufall, dass sie sich alle hier auf der Insel getroffen haben?
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Seitenzahl: 377
Veröffentlichungsjahr: 2023
DASBUCH
Sie würden alles dafür tun, von hier wegzukommen
Eine atemberaubende Insel mitten im Pazifik: Lux begleitet ihren Freund Nico. Mit seinem Segelboot bringt er zwei Freundinnen auf Weltreise auf die kleine Insel Meroe Island. Dort angekommen, treffen sie auf das wohlhabende Paar Jake und Eliza, die bereits vor der Insel ankern. Die sechs freunden sich an und genießen traumhafte Tage fernab der Zivilisation. Als Robbie, ein weiterer Segler, auftaucht, kippt die Stimmung. Stück für Stück fällt die Idylle in sich zusammen. Robbie raubt die Boote aus, zerstört die Funkgeräte und verschwindet spurlos. Zwischen Nico und Lux gibt es zunehmend Spannungen, die ganze Gruppe driftet immer mehr auseinander. Bis eine Leiche im Dickicht der Insel entdeckt wird. War es Mord? Und ist es vielleicht gar kein Zufall, dass sich alle in diesem Paradies getroffen haben?
DIEAUTORIN
Rachel Hawkins wurde in Virginia geboren und wuchs in Alabama auf. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Englischlehrerin. Seit 2007 ist sie freischaffende Autorin und hat mit ihren Büchern die New-York-Times-Bestsellerliste erklommen. Nach »Die Verschwundene« ist »Windnacht« ihr zweites Buch bei Heyne.
RACHEL HAWKINS
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Elvira Willems
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe Reckless Girls erschien erstmals 2021 bei St. Martin’s Press, New York.
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Den Textauszug aus Der alte Seefahrer von Samuel Taylor Coleridge, übertragen und herausgegeben von Heinz Politzer, drucken wir mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1968. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Insel Verlag Berlin.
Deutsche Erstausgabe 08/2023
Copyright © 2021 by Rachel Hawkins,
published in agreement with the author,
c/o BARORNTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, USA
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Anita Hirtreiter
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
unter Verwendung von mauritius images / jannishagels; www.buerosued.de
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-29550-9V001
www.heyne.de
Für Daddy und die Rachel K
Salzwasser schmeckt genau wie Blut.
Darüber hat sie bis jetzt noch nie nachgedacht, bis sie in beidem ertrinkt, dem Blut, das aus der Wunde an ihrer Schläfe quillt, und dem Meer, das ihr in den Mund strömt.
Beides ist warm, herb.
Beides droht, sie zu vernichten.
Es ist dunkel, doch sie kann die Wellen hören, die seitlich ans Boot schlagen, und sie bekommt den heftigen Streit mit, der irgendwo über ihr tobt. Eben noch war dieser Streit für sie von Bedeutung, aber jetzt schert sie sich nur um das wilde Pochen in ihrem Kopf, das Brennen des Salzwassers, den Schmerz tief in ihrer Brust.
In gewisser Hinsicht ist es leichter loszulassen. Es einfach geschehen zu lassen.
Hat sie das nicht schon die ganze Zeit so gemacht? War es nicht das, was sie hierhergeführt hat, an diesen einsamen Ort im Pazifik, wo sie nun mutterseelenallein ist, benommen und kurz vor dem Ertrinken?
Sie atmet tief ein.
Es tut weh, denn wo Luft sein sollte, strömt Wasser herein.
Doch nach dem Schmerz überkommt sie so etwas wie Friede. Gleich ist es vorbei. Alles.
Sie taucht unter.
Und kommt nicht mehr hoch.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war Meroe Island vor allem für das Wrack bekannt, dem die Insel ihren Namen verdankt. Über fünf Monate waren die Matrosen der HMS Meroe auf der Insel gestrandet, und die Handvoll Überlebenden mussten sich am Ende vor Gericht für den Mord an ihren Schiffskameraden verantworten. Düstere Gerüchte über Kannibalismus kreisten um den Prozess, dessen Einzelheiten so grausig waren, dass sie nicht einmal in den Zeitungen erwähnt wurden. Nur einer der acht Überlebenden, ein gewisser Lieutenant Thornton, wurde verurteilt. Seine Hinrichtung durch den Strang zog Tausende von Schaulustigen an, darunter auch solche Größen der damaligen Zeit wie Lord Byron und William Turner. Danach wurde Meroe Island zu einem dunklen Kapitel in der Geschichte der Seefahrt, bis sich die Alliierten im Pazifik in den Vierzigerjahren die strategisch günstige Lage der Insel zunutze machten. Seither war sie mehr oder weniger verlassen, doch in den letzten Jahren ist sie zu einem beliebten Ziel für eine abenteuerliche Sorte von Reisenden geworden.
Hidden Histories, Traveler’s Press, 2010
Manchmal frage ich mich, ob die Leute, wenn sie im Urlaub sind, wirklich glauben, sie könnten sich alles erlauben, weil sie sowieso niemand kennt.
Eine andere Erklärung habe ich nämlich nicht für all das, was ich in dem halben Jahr, das ich bisher im Haleakala Resort auf Maui gearbeitet habe, erlebt habe. Zu den harmlosen Dingen gehörten noch sonnenverbrannte Paare, die mich fragten, ob ich Interesse hätte, »mich später am Abend mit ihnen zu treffen«, Gruppen von Frauen, die aufeinander abgestimmte Tanktops mit der Aufschrift DRAUFGÄNGERINNEN! trugen, während sie Unsummen für Tequila Shots ausgaben und irgendwann an der Lobby-Bar in einen weinerlichen Streit gerieten, oder widerliche Wall-Street-Typen, die auf der Ablage im Bad Koks-Lines hinterließen und hinterher das Zimmermädchen beschuldigten, sie hätte sie sich reingezogen.
Mit diesen Situationen konnte ich noch souverän umgehen, aber richtig schräg war zum Beispiel der Typ, der mir 200 Dollar anbot, wenn ich vor seinen Augen eine ganze Ananas verspeisen würde (habe ich nicht), oder die ältere Dame, die während ihres einwöchigen Urlaubs ihre Suite kein einziges Mal verließ und im Pay-TV Sexfilme orderte und beim Zimmerservice Pommes frites (schön für sie, ehrlich!). Einmal bin ich auch zum Saubermachen in ein Zimmer gegangen, in dem ein paar Verbindungsstudenten gewohnt hatten, und fand überall auf dem Teppich konzentrische Urinkreise (der Dad von einem musste seine Kreditkarte zücken, um den Teppich zu ersetzen, nachdem ich für die Hotelleitung Beweisfotos von dem Schaden gemacht hatte).
Tja, und auch jetzt denke ich gerade, wie abartig dieses Szenarium doch ist, als ich mitten in der Makai-Suite stehe und auf die auf dem Bett ausgebreitete Sammlung von Sexspielzeug blicke.
»Das ist ja total abgefuckt«, murmelt Maia neben mir, in den Armen die feuchten Handtücher. »Wie Stonehenge, bloß mit Dildos.«
Ich schnaube, während ich mir schon Handschuhe überziehe. »Fairerweise muss ich sagen, dass ich nur zwei, okay, nein, drei Dildos sehe. Das da«, ich zeige auf die pinkfarbene Scheibe auf der rechten Seite, »ist ein Vibrator, und das lilafarbene Ding ist … tja, ich weiß nicht, was das ist, aber egal, schön für die Leute, sie haben eine tolle Zeit hier auf der Insel.«
Maia schüttelt den Kopf und wendet sich wieder dem Wäschewagen zu. Sie ist kleiner als ich, und der Rock ihrer Arbeitskleidung reicht ihr über die Knie. Jede normale Frau würde darin total plump und altmodisch aussehen, aber Maia natürlich nicht. Sie sieht aus wie eine Hollywood-Schauspielerin, die sich nur dazu herablässt, in einer TV-Serie ein Zimmermädchen zu spielen.
»Ich habe ja nichts dagegen, dass die Leute sich amüsieren, wenn ihnen das gefällt, Lux. Ich denke nur manchmal, sie vergessen dabei, dass andere es mitbekommen.«
»Oder sie wollen, dass wir es mitkriegen«, versetze ich und ziehe einen Plastikbeutel mit dem Logo des Hotels von meinem Servicewagen. »Vielleicht gehört das für sie dazu.«
»Eklig«, erwidert sie schaudernd.
Ich nehme den pinkfarbenen Vibrator und werfe ihn in den Beutel. »Zimperliese.«
»Spinnerin«, kontert sie und verschwindet im Bad. Ich grinse ihr hinterher und wende mich wieder meiner Arbeit zu.
Maia ist neu hier im Haleakala, sie hat erst letzten Monat angefangen, und ich mag sie zwar sehr, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass sie uns in den nächsten zwei Wochen wieder verlassen wird. Inzwischen bin ich lange genug hier, um klar sagen zu können, dass das Zimmerpersonal sich in drei Gruppen aufteilen lässt: der harte Kern, der seit zehn Jahren hier ist und auch bis zur Rente bleiben wird; diejenigen, die das nur für den Übergang machen wollen, bis sie was Besseres finden; und schließlich Mädchen wie Maia, die denken, ein Job in einem Fünfsterneresort wäre lustig, weil sie sich dort nicht totarbeiten müssten, aber trotzdem ganz gut verdienen würden.
Ich zähle mich eigentlich zur dritten Kategorie, doch nach sechs Monaten mache ich mir allmählich Sorgen, dass ich in die zweite rutsche.
Ich bin wegen eines Typs nach Hawaii gekommen – und mir ist völlig klar, wie bescheuert das klingt –, aber ich bin überzeugt, dass sich jede Frau, die von Nico Johannsen gebeten würde, mit ihm auf Maui zu treffen, sich auf der Stelle ein Flugticket kaufen würde.
Abgesehen davon war es mir nicht bloß um den Kerl gegangen – es war mir um das gegangen, was er mir bot: die Gelegenheit zu reisen, um die Welt zu segeln und am Ende um ein paar Erfahrungen reicher zu sein.
Ein Abenteuer.
»Ich lebe den Traum«, murmele ich und lasse den Blick über das Bett schweifen, unsicher, wie ich weitermachen soll. Soll ich das ganze Spielzeug wie Make-up-Pinsel auf einem Handtuch auf der Ablage im Bad auslegen?
Plötzlich will ich nur noch weg. Mir die Dienstkleidung vom Leib reißen, meinen Putzwagen stehen lassen, aus dem Resort spazieren und heimgehen.
Aber wo bin ich überhaupt zu Hause?
Genau genommen leben Nico und ich in einem winzigen einstöckigen Haus an der Südküste der Insel bei zwei Typen, mit denen er in der Marina zusammenarbeitet, und ihren Freundinnen. Allerdings haben wir da nicht mal ein Zimmer: Wir schlafen auf einer Matratze, die wir abends im Wohnzimmer auf den Boden legen. Die Bude riecht dauernd nach Salzwasser und Sonnencreme, und die Laken fühlen sich immer ein bisschen klamm an und nach Sand. Wir teilen uns zu sechst zwei Bäder, in denen nasse Badesachen an der Duschstange hängen und Handtücher kleine Schimmelflecken bekommen, weil in dieser Hütte einfach nichts je richtig trocknet.
Unser Zuhause hätte eigentlich Nicos Boot sein sollen, die Susannah.
Allein der Gedanke, wie sie da mit einem großen verdammten Loch im Rumpf im Trockendock steht, tut mir weh. Nachdem Nico und ich uns kennengelernt hatten, war er mit ihr von San Diego runtergesegelt, und ich war mit einem One-Way-Ticket hergeflogen, um mich hier mit ihm zu treffen. Mein ganzes Leben hatte ich in einen Trolley und einen Rucksack gepackt.
Doch als ich nach Wailuku kam, erfuhr ich, dass nicht nur der Motor der Susannah auf der Reise hierher kaputtgegangen war, sondern dass das Boot, als Nico es zur Reparatur in die Marina gebracht hatte, beim Abladen vom Trailer gerutscht war und der Rumpf jetzt ein Loch hatte. Und das Geld für die Reparatur hatte Nico nicht.
Er hätte es schon auftreiben können, denn seine Familie ist steinreich, aber er war zu stolz, sie darum zu bitten. Niko könnte in der großen Anwaltskanzlei seines Vaters Karriere machen, aber er will seinen eigenen Weg gehen und unabhängig sein.
Das ist wirklich eine bewundernswerte Einstellung, aber es durchkreuzt auch unseren Plan, und ich stecke hier fest und muss das Sexspielzeug von fremden Leuten aufräumen.
Vielleicht ist das Boot verflucht, habe ich neulich abends zu ihm gesagt, habe es an der warmen, salzigen Haut seines Halses geflüstert, als wir uns auf unserer Matratze aneinanderkuschelten und dem Regen lauschten, der auf das Blechdach prasselte.
Vielleicht bist du verflucht, hat er gemurmelt. Früher hieß es, man würde das Schicksal herausfordern, wenn man eine Frau an Bord eines Schiffes ließe.
Vielleicht bist du ein Arschloch, hatte ich darauf erwidert, aber er hatte nur gelacht und mich geküsst, und dann war mir unsere kleine, sandige Matratze gar nicht mehr so schlecht erschienen. Das konnte Nico echt gut, mich ablenken, mich mit seinem unermüdlichen Optimismus aus meiner Endlosschleife aus Sorgen, Zweifeln und Gedanken darüber, wie es bloß weitergehen sollte, reißen. Nico sorgte sich nicht um die Zukunft – und wenn eine lieblose Stimme in meinem Hinterkopf ab und zu zischte, Nico bräuchte sich um so einen Mist auch nicht zu sorgen, weil ich es dauernd für ihn tat, dann ignorierte ich sie.
Jedenfalls versuchte ich es.
Egal, vor der Susannah und Hawaii hatte ich in Kalifornien gelebt, aber dort hatte ich mich eigentlich nie zu Hause gefühlt. Mit zwölf war ich mit meiner Mutter von Nebraska dort hingezogen, und als sie elf Jahre später gestorben war, war ich einfach in San Diego geblieben, weil ich keine Ahnung gehabt hatte, wo ich sonst hinsollte.
Jetzt, mit fünfundzwanzig, kommt mir mein Leben allmählich vor wie eine Aneinanderreihung von falschen Abzweigungen und verpassten Chancen. Ich war nach links gegangen, wenn ich nach rechts hätte gehen sollen. Hatte immer den verkehrten Weg eingeschlagen.
Ich ziehe das Bett ab, und als ich die Laken unten in meinen Putzwagen stopfe, höre ich, wie die Tür zur Suite geöffnet wird. Maia geht wohl in den Flur, um Handtücher oder Shampoo zu holen, das nach Bananen und Hibiskus duftet.
»Was meinst du, soll ich den Arschlöchern die Handtücher festlich zu Schwänzen falten?«, rufe ich hinter ihr her. »Ich weiß, dass man normalerweise Schwäne faltet, aber angesichts dessen, was die für einen Geschmack haben …«
Hinter mir räuspert sich jemand, und als ich mich aufrichte, stehen zwei Leute im Flur, ein Mann in einem Hawaiihemd in wilden Rot- und Grünschattierungen und eine Frau in einem dazu passenden Kleid. Sie halten Mai Tais in den Händen, ihre Gesichter glühen vor Verlegenheit oder Sonnenbrand oder beidem, und ich schenke ihnen ein mattes Lächeln.
»Aloha?«
Eine Stunde später stehe ich in meinen abgeschnittenen Shorts und meinem T-Shirt auf dem Parkplatz des Haleakala, und meine Dienstkleidung und mein Namensschild sind wieder in den Händen meines Chefs – also, jetzt meines Ex-Chefs – Mr. Chen. Eigentlich müsste ich total ausrasten, doch ich hebe das Gesicht der Sonne entgegen und lächele.
Keine Laken mehr. Keine Handtücher mehr. Keine Finger mehr, die »versehentlich« meinen Po streifen. Ich wollte schon seit über einem Monat kündigen, aber es hat etwas Befreiendes, dass mir die Entscheidung jetzt abgenommen wurde. Es ist nicht meine Schuld, dass die Sandersons ausgerechnet in diesem Moment reingekommen sind. Und es ist erst recht nicht meine Schuld, dass sie das ganze Zeug auf dem Bett liegen gelassen haben.
Ich kann nichts dafür, dass ich keinen Job mehr habe.
Jetzt muss ich es bloß noch Nico sagen.
»Also, ich muss schon sagen, dass jemand wegen eines Dildos seinen Job verliert, höre ich heute auch zum ersten Mal.«
Seit ich offiziell arbeitslos bin, kann ich mich mit Nico zum Mittagessen in seinem Lieblingslokal auf der Insel treffen. Er sitzt mir gegenüber und riecht nach Salzwasser und Motoröl, aber er sieht trotzdem so gut aus, dass ich ganz hin und weg bin. Seine dunkelblonden Haare hat er sich mit einem roten Bandana aus dem Gesicht gebunden, seine sonnengebräunte Haut ist ganz glatt, und um seinen linken Bizeps schlängelt sich eine Tätowierung.
Wenn ich ehrlich bin, finde ich es irgendwie blöd, wenn sich ein weißer Typ ein Tribal Tattoo stechen lässt, das für ihn gar keine Bedeutung hat. Doch drei Tage nachdem wir uns kennengelernt hatten, hatte er sich für mich an den Rand seiner Tätowierung ein geschwungenes L setzen lassen. Das war dann doch ziemlich süß.
Er war süß.
Das ist er natürlich immer noch, aber anders als in unserer Anfangsphase. Als wir zusammenkamen, war die Ruhe, die er ausstrahlte, genau das, was ich brauchte. Jahrelang hatte ich mich um meine krebskranke Mutter gekümmert und mit allem klarkommen müssen: den Krankenhausaufenthalten, den Nebenwirkungen der Chemo, dem Geschrei und den Streitereien mit meinem Vater am Telefon.
Nico gehört zu den Menschen, die einem ständig sagen, man solle einfach loslassen, und man glaubt es wirklich – dass er dahintergekommen ist, wie man ein besseres Leben führt – und hat nicht mal Lust, ihn zu knuffen.
Na ja, zumindest nicht jedes Mal.
Jetzt trinkt er nur sein Mineralwasser und nickt mir zu. »Der Job war eh blöd.«
»Aber echt.«
»Und du kriegst jederzeit einen neuen«, fährt er fort und zeigt mit seinem Becher auf mich.
Ich spieße eine Nudel auf und zucke mit den Achseln. »Warum schauen wir nicht mal, wie viel wir schon zusammengespart haben? Vielleicht können wir die Susannah endlich reparieren lassen?«
Darauf antwortet er nicht, sondern rollt bloß den Kopf von einer Seite zur anderen – eine Geste, die ich ihn tausendmal habe machen sehen. Sie bedeutet im Grunde eine Mischung aus »Ähm« und »Können wir das später besprechen?«, und plötzlich steigt Frust in mir auf.
Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass Nico hier glücklich ist. Er sagt, dass er gern weiterreisen möchte, so wie wir es geplant hatten, aber je mehr Zeit verstreicht, desto länger sehe ich zu, wie er sich einlebt und Wurzeln schlägt. Er liebt seinen Job auf der Marina und die Arbeit mit den Booten. Er schließt überall schnell Freundschaften – er ist so einer, deswegen lieben ihn seine Kollegen (und wir haben einen Ort, wo wir umsonst wohnen können). Wenn es jemanden gibt, der »da blüht, wo er hingepflanzt wurde«, dann ist es Nico.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich je schon mal irgendwo geblüht habe. Manchmal frage ich mich, ob ich das überhaupt kann. Vielleicht finde ich deswegen die Vorstellung so verlockend, nie irgendwo eingepflanzt zu werden.
Vielleicht bin ich es auch satt, den Scheiß anderer Leute wegzuputzen, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich stochere in meinem Essen herum und schaue zum Tresen, wo die Schlange endlich kürzer geworden ist. Es ist gleich zwei, was bedeutet, dass sie bald schließen und Nico zurück zur Marina muss, während ich … zum Haus gehe, oder? Wo ich mich auf die Couch setze und darauf warte, dass Nico heimkommt?
Das ist fast so deprimierend, wie Hotelzimmer sauber zu machen, und auf einmal überkommt mich leises Bedauern wegen dem, was heute passiert ist. Vielleicht hätte ich mich bei den Sandersons entschuldigen oder um Gnade winseln oder Mr. Chen sogar um eine zweite Chance anflehen sollen. Doch solche Gedanken bringen nichts, denn wenn ich anfange, eine Sache zu bereuen, dann fallen mir noch tausend andere Entscheidungen ein, die ich infrage stellen muss: vom College abzugehen, wie sich das Verhältnis zu meinem Dad immer mehr verschlechterte, verlorene Jahre, in denen ich mit Leuten Party machte, die nicht mal meine Freunde waren. Die Ziellosigkeit, mit der ich durchs Leben trieb, bevor ich mit Nico zusammenkam.
»Ich habe heute zwei Mädchen kennengelernt«, sagt er und reißt mich aus meinen Gedanken.
Ich sehe ihn an und ziehe die Augenbrauen hoch. »Und das erzählst du mir, weil …?«
»Also, die sind im Urlaub, um sich einen Typ zu angeln, und ich fand, dass das bestimmt viel mehr Spaß macht, als Bootsmotoren zu reparieren. Sieht so aus, als hätte ich auch bald einen neuen Job.«
Ich zeige ihm den Stinkefinger und esse noch ein paar Nudeln. »Jetzt mal im Ernst, Nico.«
Er zwinkert mir zu und schiebt grinsend seinen leeren Teller von sich. »Im Ernst, Lux, ich habe da zwei College-Mädchen getroffen. Amerikanerinnen. Von der Ostküste.«
Er sagt das mit so viel Geringschätzung, dass ich die Augenbrauen hochziehe. »Nicht jeder kann aus Südkalifornien sein, Nicholas.«
Ich erwarte, dass er lacht, doch er wirkt leicht gereizt. Keine Ahnung, ob es die etwas flapsige Anspielung auf seine Herkunft war oder die Tatsache, dass ich seinen richtigen Namen verwendet habe, aber ich fahre, so oder so, mit der Hand durch die Luft, denn ich will keinen Streit. »Tut mir leid, sprich weiter.«
Er belässt es dabei. »Also, die suchen ein Boot, das sie für ein paar Tage chartern können, aber der Typ, mit dem sie reden wollten, war nicht da, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Ich glaube, sie wollen mich anheuern.«
Normalerweise bin ich nicht besonders eifersüchtig – bei einem Freund, der so gut aussieht wie Nico, lernt man das schnell, wenn man nicht den Verstand verlieren will –, trotzdem steigen in mir seltsame Befürchtungen auf. »Dich anheuern, damit du ihr Boot segelst? Mit ihnen um die Insel schipperst?«
Er zuckt mit den Achseln und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Draußen hat es angefangen zu regnen, ein leichtes Nieseln, das in ein paar Minuten wieder vorbei ist und in der Luft einen schweren, süßen Duft zurücklassen wird. »Ich denke schon. Sie haben mich gefragt, ob ich heute Abend mit ihnen was trinken will, um alles zu besprechen, und ich habe gesagt, ich bringe meine Freundin mit.«
»Sieh einer an, wie treu du bist«, foppe ich ihn.
Er grinst mich wieder an, langt über den Tisch und nimmt meine Hand, um einen Kuss auf das Gelenk zu drücken. »Ich lebe in Angst und Schrecken, du könntest mir im Schlaf den Schwanz abschneiden, wenn ich mich ohne dich mit zwei Mädchen in einer Bar treffe.«
»Treu und klug.«
Der Regen nimmt zu und klatscht jetzt schwer auf das Dach. Nico schaut nach draußen, bevor er sich mir wieder zuwendet. Er hat schöne braune Augen, und als er lächelt, bilden sich in seinen Augenwinkeln kleine Fältchen.
»Also, wenn sie mich am Ende doch nicht anheuern, können sie uns wenigstens ein paar Bier spendieren. Außerdem habe ich heute Abend noch nichts vor.«
»Ich auch nicht.« Ich lache. »Ich meine, Mist, das war’s. Ich bin langweilig.«
Ich hasse es, dass es überhaupt nicht nach einem Witz klingt.
Die Mädchen haben eine Touristenbar ausgesucht, was auch sonst.
Das Pineapple Pete’s ist viel zu voll, und mir steigt die besonders widerliche Mischung aus Sonnenmilch, Bier und Parfüm aus dem Duty-Free-Laden in die Nase, der immer über solchen Lokalen schwebt. Bei meinem Glück laufe ich hier noch den Gästen aus dem Haleakala über den Weg, wegen denen ich heute gefeuert wurde.
Nico ist nach dem Mittagessen zurück zur Arbeit gegangen und hat sich dort umgezogen und fertig gemacht, während ich das im Haus erledigt habe. Doch unsere Mitbewohner wollten heute Abend auch ausgehen, und ich musste um Duschzeit und Platz vor dem Spiegel kämpfen. Deswegen komme ich jetzt zu spät, und meine Haare sind am Hinterkopf noch ein bisschen nass. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe gemacht habe, hübsch auszusehen – Nico trägt wahrscheinlich nur die Shorts und das T-Shirt, Sachen, die er in seiner Tasche mit zur Arbeit genommen hat. Mir liegt nichts daran, Eindruck auf ein paar reiche College-Mädchen im Urlaub zu machen. Trotzdem habe ich mich dabei erwischt, wie ich mein Lieblingskleid aus dem Schrank holte, das gelbe mit dem Neckholder und den winzigen gestickten Vögeln am Saum, das Kleid, das um meine Knie flattert und immer dafür sorgt, dass Nicos Blick ein wenig länger auf meiner Hüfte und der Mulde an meinem Schlüsselbein verweilt.
Ich mag es einfach, wenn er mich so ansieht. Es gefiel mir vom ersten Abend an, als ich ihm in einem Lokal begegnete, das sich, was schwache Beleuchtung und beschissenes Bier angeht, gar nicht so sehr von diesem hier unterschied, in anderer Hinsicht aber doch ganz anders war. In San Diego hatte ich in einem Restaurant unweit vom Strand gekellnert, und eines Abends war Nico reingekommen. Er hatte gerade die Susannah gekauft und war dabei, sie auf Vordermann zu bringen, bevor er damit nach Baja California segeln wollte, dann die mexikanische Küste runter und weiter in den Pazifik nach wer weiß wohin. Hawaii, Tahiti, vielleicht sogar bis nach Australien.
Wir kommen da noch hin, sage ich mir, während ich mich auf der Suche nach Nico durch die Menschenmenge schiebe. Die Sache hier hält uns nur ein bisschen auf, und dann segeln wir los, wie er es mir versprochen hat.
Ich sehe ihn ganz hinten an einem Stehtisch. Er entdeckt mich und hebt eine Hand, in der er bereits ein Bier hält, und die zwei jungen Frauen, die ihm gegenüberstehen, drehen sich zu mir um.
Sie werfen mir keine bösen Blicke zu, was hoffentlich ein gutes Zeichen ist. Ja, ihr Lächeln kommt sogar ganz echt rüber, weder aufgesetzt noch falsch. Sie sehen auch nicht aus wie die meisten reichen College-Mädchen, die hier sonst so auftauchen. Keine Klamotten mit floralen Prints, kein glänzendes Lipgloss. Die, die rechts steht, hat ihre dunklen Haare zu einem wuscheligen Chignon hochgesteckt, und die links, deren Haare mehrere Schattierungen heller sind, trägt Jeans und ein Tanktop und ist ungeschminkt.
Nico kommt um den Tisch herum und zieht mich an sich, um mir einen Kuss zu geben. Sein Atem ist warm und riecht nach Bier. »Da ist ja mein Schatz«, sagt er, und seine Hand gleitet kurz zu meiner Hüfte, um sie zu drücken.
»Bitte, sag, dass du mir schon was zu trinken bestellt hast«, antworte ich und stelle mich auf die Zehenspitzen, um an seiner Unterlippe zu knabbern.
Er grinst und stupst mit seiner Nase an meine. »Ich kann dir sofort was holen.«
Ich schaue zu den Mädchen, die sich von uns abgewandt haben und sich unterhalten. »Ich komme mit«, sage ich, doch Nico schüttelt den Kopf und zieht mich an den Tisch.
»Kein Problem, Babe«, sagt er, und diesen Spruch habe ich schon so oft gehört, dass ich ihn beinahe stumm mitspreche.
Die Mädchen am Tisch beobachten mich, und Nico nickt ihnen zu. »Brittany«, sagt er zu der mit dem Chignon, und »Amma« zu dem Mädchen in der Jeans, »das ist Lux. Brittany und Amma.« Wieder grinst er, diesmal ein bisschen trottelig. »Ich hole noch ein paar Bier.«
Dann verschwindet er im Gewühl und lässt mich am Tisch stehen. Ich sehe Brittany und Amma an.
»Lux«, ergreift Brittany das Wort. »Wie in The Virgin Suicides.«
Ich bin überrascht, und ich freue mich. Noch nie hat jemand, wenn ich meinen Namen nannte, diese Verbindung hergestellt. Normalerweise werde ich nur gefragt, ob es ein Spitzname ist oder eine Abkürzung. »Ja«, sage ich. »Meine Mutter hat das Buch wirklich geliebt.«
»Ist es nicht schräg, nach so einer Horrorfigur benannt worden zu sein?«, fragt Brittany, aber sie lächelt, als sie die Flasche an die Lippen hebt.
»Ja, irgendwie schon«, erwidere ich. »Nachdem ich den Roman mit dreizehn endlich gelesen habe, bin ich total ausgeflippt.«
Brittany und Amma fangen schallend an zu lachen, und plötzlich geht mir auf, wie lange es her ist, seit ich mich das letzte Mal mit Leuten unterhalten habe, die weder meine noch Nicos Arbeitskollegen waren. Schon in San Diego hatte ich den Kontakt zu meinen Freunden verloren, als meine Mutter krank geworden war.
Erstaunlich, wie schnell so was ging, wie leicht Leute, die ich jeden Tag gesehen hatte, aus meinem Leben verschwanden, mir nicht mehr wichtig waren, sondern nur noch alte Bekannte, denen ich auf Instagram folgte. Plötzlich musste ich mit so einer traurigen, deprimierenden Situation fertigwerden, und keiner wusste, was er zu dem Mädchen sagen sollte, das sich auf einmal um seine kranke Mutter kümmerte, statt im Hörsaal neben einem zu sitzen.
Nachdem Mom gestorben war, hatte ich überlegt, mich wieder einzuschreiben, aber die Leute, mit denen ich mehr zu tun gehabt hatte, waren inzwischen alle mindestens zwei Semester weiter. Es war mir vorgekommen, als müsste ich noch mal ganz von vorn anfangen, und es war leichter gewesen, mir einen Job zu suchen und mich ganz darauf zu konzentrieren, einen Schritt nach dem anderen zu tun – und das Geld für die Miete zu verdienen.
»Nico sagt, ihr seid schon fast ein ganzes Jahr auf Hawaii?«, fragt Amma. Von Nahem sehe ich, dass sie nicht ganz so hübsch ist wie Brittany, doch sie hat volle Lippen und hohe Wangenknochen. Im trüben Licht der Bar sind ihre dunklen Augen hypnotisierend.
»Sechs Monate«, antworte ich. Hatte Nico übertrieben, um den Eindruck zu erwecken, er wäre mit den Gewässern um die Inseln bestens vertraut? »Aber Nico war schon oft auf Hawaii, bevor wir hergezogen sind«, füge ich rasch hinzu, »und er ist schon viel in der Gegend gesegelt.«
Im Urlaub mit der Familie, heißt das, und da haben sie dann in den schönsten Resorts auf den Inseln gewohnt, Orte, wo ich nicht mal einen Job als Klofrau kriegen würde. Doch das lasse ich unerwähnt. Ich gehe davon aus, dass sie Nico als Strandgammler betrachten, als netten Typ mit einem tollen Lächeln und einem noch tolleren Körper, der mit Booten arbeitet und mit den Gepflogenheiten der Upper Class nicht vertraut ist.
»Und was ist mit dir?«, fragt Brittany. Als sie die Hand hebt, um sich eine Locke hinters Ohr zu streichen, die sich aus dem Chignon gelöst hat, fällt mir an ihrem Handgelenk eine Tätowierung auf. »Wo warst du, bevor du hergekommen bist?«
Im Danach.
Ich frage mich, was das bedeutet, falls es überhaupt etwas bedeutet. Vielleicht ist es bloß eine Zeile aus einem Lied von Taylor Swift, das mir nicht einfallen will.
»Ich bin in Nebraska aufgewachsen«, antworte ich. »Aber meine Mutter und ich sind, als ich noch klein war, nach San Diego gezogen. Da habe ich Nico letztes Jahr kennengelernt. Er hat mir von seinem Plan erzählt, im Südpazifik zu segeln. Da gibt es Hunderte von Inseln, die nicht mal Namen haben, Orte, die auf kaum einer Karte zu finden sind.« Der Teil hatte mir, wenn ich ehrlich war, am besten gefallen. Die Vorstellung, an einen Ort zu gehen, den so gut wie niemand kennt.
»Und du bist ihm gefolgt?«, fragt Amma und legt den Kopf schief.
Mir gefällt nicht, wie sie das sagt, aber sie hat ja recht. Ich habe mich an Nicos Traum drangehängt, weil es mir damals unmöglich erschien, einen eigenen Traum zu träumen. Träume waren etwas für Menschen mit Geld und Zeit, für Menschen, die nicht vollkommen leer waren, weil sie zusehen mussten, wie der einzige Mensch, der sie liebte, qualvoll starb. Träume waren etwas für Menschen, die sich aussuchen konnten, wie sie ihr Leben gestalten wollten. Ich glaubte nicht, dass das auf mich zutraf.
Aber das werde ich auf keinen Fall Brittany und Amma gestehen. Stattdessen zucke ich mit den Achseln und lächele. »Ich meine, ihr habt ihn doch gesehen. Könnt ihr mir einen Vorwurf daraus machen?«
Brittany lacht und schüttelt den Kopf, aber Amma mustert mich. Ich habe das Gefühl, sie würde gern noch mal nachhaken, aber dann ist Nico zurück, und zwischen seinen Fingern baumeln vier Bierflaschen.
»Und«, fragt er und stellt sie auf den Tisch, »habt ihr Lux erzählt, worüber wir gerade gesprochen haben?«
»Wir wollten sie zuerst mal kennenlernen«, sagt Brittany und zwinkert mir verschwörerisch zu, als wären wir schon beste Freundinnen.
Nico zwängt sich dicht neben mich und hebt grinsend sein Bier an die Lippen. »Babe«, sagt er, »das wird dir gefallen.« Er nickt Brittany zu. »Zeig’s ihr.«
Brittany greift in ihre Gesäßtasche und zieht ihr Handy heraus. »Amma und ich haben uns im ersten Jahr am College kennengelernt«, setzt sie an, und Amma nickt.
»Einführung in die abendländische Kultur. Verdammt langweilig.« Brittany lächelt. »Aber wir haben vom ersten Tag an darüber gesprochen, dass wir, sobald wir den Abschluss haben, eine ganz große Reise machen. Dies ist unsere letzte Station, und da hätten wir gern was ganz Besonderes. Etwas anderes als das, was sämtliche Verbindungsstudentinnen aus dem Urlaub auf Hawaii auf Instagram posten. Etwas … abseits ausgetretener Pfade.«
Sie reicht mir ihr Handy, und ich begreife, dass ich auf eine Landkarte blicke. Doch sie ist komplett hellblau, das ganze Display zeigt nichts als Meer. Ich brauche ein paar Sekunden, um den winzigen sandfarbenen Punkt inmitten des endlosen Ozeans zu entdecken.
»Das ist eine Insel«, erklärt Amma mir.
»Ein Atoll«, verbessert Brittany sie.
»Ein Atoll ist eine Insel«, sagt Nico und beugt sich über meine Schulter, um die Karte zu betrachten. »Eine Insel aus Korallen. In diesem Teil der Welt gibt es die überall. Während des Zweiten Weltkriegs …«
Ich hebe eine Hand. »Nico, ich liebe dich, aber wenn Männer anfangen, vom Zweiten Weltkrieg zu erzählen, kriege ich die Krätze.«
Brittany lacht laut und wirft den Kopf in den Nacken, und dabei strahlen ihre Zähne sehr weiß im Glühen der Bud-Light-Leuchtreklame über unserem Tisch. »Okay, wegen deines coolen Namens warst du mir gleich sympathisch, aber jetzt mag ich dich wirklich.«
Amma lächelt, aber ich sehe, dass ihre Haltung ein bisschen steifer wird und ihr Blick für einen Moment abschweift.
»Egal, ich kenne den Ort«, erklärt Nico mir. »Meroe Island. Benannt nach einem Schiff, der HMS Meroe, die dort im 19. Jahrhundert zerschellte. Wegen der Korallen sind in dieser Gegend viele Schiffe auf Grund gelaufen. Aber die HMS Meroe war das erste große Schiff, deswegen gebührte ihr wohl das Recht der Namensgebung.«
»Hat jemand überlebt?«, fragt Amma und stützt einen Ellbogen auf den Tisch.
Nico zuckt mit den Achseln. »Das Unglück? Ja, so ziemlich alle. Aber die Insel hat sie am Ende drangekriegt. Ursprünglich waren über dreißig Mann an Bord, von denen zu dem Zeitpunkt, als sie endlich gerettet wurden, nur noch acht am Leben waren. Da draußen gibt es nicht viel, wovon man sich ernähren kann. Man kann angeln, allerdings ist der Dschungel ziemlich unwegsam, soweit man hört. Und es gibt kein Frischwasser.«
»Und warum wollt ihr da hin?«, frage ich und gebe Brittany ihr Handy zurück.
Sie steckt es wieder ein. »Ich habe vor zwei Jahren auf einem Reiseblog etwas darüber gelesen. Nico hat recht, die Insel ist hardcore und alles, aber sie ist auch …« Ihr Blick wird ein wenig verträumt, leicht unscharf. »Ich weiß nicht. Sie sah so wunderschön aus. Und abgelegen. Ein echter Sehnsuchtsort, weißt du?« Sie lacht verlegen. »Außerdem fand ich es cool, mir mal eine richtige Auszeit zu nehmen und für niemanden erreichbar zu sein.« Sie lächelt und verdreht die Augen. »Ich weiß, du denkst jetzt bestimmt, ich hätte mir einmal zu oft The Beach angesehen.«
»Nein«, sage ich, nehme einen Schluck Bier und grinse. »Ich habe gedacht, du hättest Der Strand zu oft gelesen. Du kommst mir eher vor wie eine, die das Buch dem Film vorzieht.«
Sie stößt mit ihrer Bierflasche an. »Mist, ja.«
»Der Typ, der mit uns hinfahren sollte, war nicht in der Marina«, fügt Amma hinzu. Inzwischen hat sie das ganze Etikett von der Flasche gepult und reißt es jetzt in kleine Fetzen. »Aber Nico war da, und Brittany meinte, das wäre Schicksal.«
»Ist es auch«, beharrt Brittany. »Denn es hat uns nicht nur zu Nico geführt, sondern auch zu Lux.«
Ich starre sie verständnislos an und richte den Blick auf Nico, der mich total aufgeregt angrinst.
»Was meinst du damit?«
Ihre Augen strahlen, als sie sich noch weiter vorbeugt. »Du kommst mit.«
»Das willst du doch nicht wirklich ausschlagen, oder?«, fragt Nico im Dunkeln.
Wir liegen in Gregs und Joshs Wohnzimmer auf unserer Matratze, und ich habe den Kopf auf Nicos Schulter gelegt, während ich Muster auf seine nackte Brust zeichne. Wir hatten noch ein paar Bier mit Brittany und Amma getrunken und uns dann eine andere, bessere Bar gesucht, und dort hatte ich mehr Wodka Shots getrunken, als mir gutgetan hatte. Doch Brittany und Amma hatten uns eingeladen, und es war leichter gewesen, zu trinken und zu tanzen, als eine ernst gemeinte Antwort auf die Frage zu geben, ob ich mit auf ihren kleinen Robinson-Crusoe-Trip kommen würde.
»Ich kapier das nicht«, fährt er fort und schiebt sich eine Hand unter den Kopf. »Die ganze Zeit wolltest du nichts anderes als raus aufs Wasser, und jetzt musst du erst mal darüber nachdenken?«
Ich drücke mich auf einen Ellbogen hoch und sehe ihn an. »Ich will mit dir aufs Wasser«, erkläre ich ihm. »Ich will nicht zwei Wochen lang auf einen Segeltörn mit zwei College-Mädchen, die sich amüsieren wollen. Abgesehen davon, findest du es nicht schräg, dass sie mir anbieten mitzukommen, obwohl sie mich gerade erst kennengelernt haben? Dass sie dich dabeihaben wollen, ist ja klar. Schließlich brauchen sie jemanden, der ein Boot steuern kann. Aber mich?« Ich schüttele den Kopf.
Er runzelt die Stirn, und ich streiche mit dem Daumen die Falten über seiner Nase glatt.
Ich weiß, warum er das nicht versteht. Ich meine, er hat ja recht: Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als von der Insel wegzukommen, und jetzt habe ich nicht mal mehr einen Job, der mich davon abhält. Doch irgendetwas an diesem ganzen Vorschlag lässt mich zögern, etwas, was ich nicht in Worte fassen möchte.
»Sagst du denn auch dann Ja, wenn ich Nein sage?«, frage ich stattdessen.
Nico seufzt. Ich streiche mit der Hand bis runter zu seiner Tätowierung und kratze mit dem Fingernagel leicht über das elegante kursive L, das nur für mich dort hineingewoben wurde.
»Babe«, setzt Nico an, und da ist mir klar, dass er auf jeden Fall Ja sagen wird, selbst wenn ich Nein sage.
Ich setze mich auf und ziehe trotz der Hitze das Laken mit. Auf dem Boden taste ich nach dem Joint, den ich mir vorhin gedreht habe. Eigentlich wollte ich ihn gleich rauchen, aber mir war schon schwindlig, und dann hat Nico mir eine Hand auf die Hüfte gelegt, und ich habe den Joint fallen lassen.
Das Feuerzeug flammt auf und beleuchtet kurz das fast leere Wohnzimmer, und der Rauch, den ich ausatme, schimmert blau im trüben Licht.
Eine ganze Weile sitze ich so da, die Arme auf meine hochgezogenen Knie gestützt, bis die Stille Nico zu viel wird.
»Ich dachte, du magst sie«, sagt er schließlich, nimmt mir den Joint aus den Fingern und zieht daran, bevor er ihn mir zurückgibt.
»Das tue ich ja auch«, erwidere ich, aber ich sehe ihn immer noch nicht an.
»Also, dann komm mit.«
»Was soll ich denn da?«, frage ich. »Drinks servieren?«
Mit einem Schnauben legt er sich wieder hin. »So kamen die mir aber nicht vor.«
»So könnten sie aber sein«, versetze ich und stelle mir vor, wie sehr mir das stinken würde. Es hat mir heute Abend richtig Spaß gemacht, wieder die Alte zu sein, Witze zu reißen und zu trinken – die coole Freundin, nicht das Mädchen, das Bier oder Handtücher bringt.
Ich würde gern an dieser Version von mir festhalten, an dieser unbeschwerten Mittzwanzigerin. An dem Ich, das ich zu sein vorgab, als ich Nico kennenlernte, und das ich in dem Moment, in dem ich auf Maui landete und unser Plan auf Eis gelegt wurde, aus den Augen verloren habe.
Manchmal nervt es mich, dass ich die Einzige bin, die über unsere Zukunft nachdenkt – darüber, was wir brauchen, um über die Runden zu kommen –, während Nico vollkommen zufrieden damit zu sein scheint, Boote zu reparieren und gelegentlich für fremde Leute als Skipper zu arbeiten. Es ist, als wären wir auf Hawaii zu ganz anderen Menschen geworden.
Ich schüttele den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Es ist ewig her, seit ich das letzte Mal gekifft habe, und offensichtlich werde ich davon ganz wirr im Kopf.
»Wir sollten uns darauf konzentrieren, die Susannah zu reparieren und aufzubrechen«, erinnere ich ihn. »Unser eigenes Abenteuer zu haben, statt uns an das Abenteuer von anderen dranzuhängen.«
Er nimmt mir noch einmal den Joint ab und zieht kräftig daran, und ich sehe, dass er das Kinn vorgeschoben hat. Dieser Dickkopf!
»Die Bezahlung ist zu gut, um darauf zu verzichten, Lux«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Bei dem, was die mir für zwei Wochen Arbeit zahlen wollen, können wir an dem Tag, an dem ich zurückkomme, sofort aufbrechen.«
Ich blinzele ihn an. »Ehrlich?«
Nico nickt. »Ernsthaft. Fünfzigtausend, Lux, um mit ihnen zu irgendeinem Atoll zu segeln, ihnen ihr The Beach-Abenteuer zu geben und zurückzukommen.«
Mist.
Ich krieche wieder unter das Laken, mein Fuß streift sein Schienbein.
Er hat recht, das kann er unmöglich ausschlagen. Wir können das unmöglich ausschlagen. Wir brauchen einen neuen Motor, und das Loch im Rumpf muss repariert werden. Außerdem haben wir, seit Nico von Kalifornien hergesegelt ist, die Vorräte nicht aufgestockt. Mit dem Geld werden wir sehr weit kommen.
Das Geld hätte er mit einem einzigen Anruf bei seinem Vater schon vor Monaten haben können, flüstert eine Stimme in meinem Kopf.
Nico hat sich nie konkret dazu geäußert, wie reich seine Familie ist, aber ich habe, kurz nachdem wir uns kennenlernten, ein bisschen recherchiert – mich auf der Webseite der Kanzlei umgeschaut und mir ein paar Facebook-Profile von seinen Cousins angesehen, ja, sogar den Instagram-Account seiner Schwester.
Seine Verwandten sind stinkreich. Sie besitzen Häuser in Kalifornien und Florida und schicke Apartments in New York. Und wahrscheinlich haben sie auch noch Millionen in Aktien.
Nico hat mir mal erzählt, er hätte sich von seiner Familie abgewandt, weil sie zu große Erwartungen an ihn stellte, nämlich dass er Jura studiert und dass er irgendwann Partner in der Kanzlei seines Vaters wird. Er hasste die Vorstellung, bloß ein, wie er es nannte, »Rädchen im Getriebe« zu sein. Irgendwie kann ich das sogar verstehen – ein Teil von mir findet es sogar nobel, dass er der Versuchung widersteht, sich ins gemachte Nest zu setzen –, aber es gibt auch Momente, da nervt es mich ohne Ende.
In den letzten Monaten hat es viele solcher Augenblicke gegeben.
Und dann kommt mir noch etwas anderes in den Sinn. Was ist, wenn Nico mit dem ganzen Geld zurückkommt und sich fragt: Hey, wenn ich noch ein paar solcher Jobs kriegen könnte, wieso sollte ich Hawaii dann überhaupt verlassen? Was würde dann aus mir werden?
»Lass dir erst das Geld für die Susannah geben«, sage ich schließlich.
Er sieht mich überrascht an. »Was?«
»Setz es ihnen mit auf die Rechnung. Sag ihnen, auf deinem eigenen Boot bekommen sie ein viel besseres, authentischeres Erlebnis, aber es muss vorher repariert werden. Ich meine, wie lange wird das dauern?«
Nico legt den Kopf in den Nacken und blickt an die Decke. »Höchstens ein, zwei Tage. Herrgott, es ist immer nur um Geld gegangen, nie um Zeit. Dom hat einen neuen Motor, den er mir verkaufen kann, und die Fiberglasreparaturen kann ich selbst machen …«
Seine Stimme verliert sich, dann lässt er den Joint in ein kleines Marmeladenglas mit Wasser neben der Matratze fallen. »Kommst du mit, wenn wir die Susannah nehmen?«
Als ich nicht sofort antworte, zieht er mich an sich, bis meine Brüste an seine Rippen gedrückt werden und sein Atem warm über mein Gesicht streicht. »Ich will dich dabeihaben, Schatz. Sie wünschen es sich auch. Wieso zögerst du?«
»Glaubst du, es endet in irgendeiner schrägen Sex-Kiste?«, frage ich.
Er grinst. »Na, das hoffe ich doch.«
Als ich ihn an der Schulter knuffe, lacht er nur und rollt sich auf mich.
»Du willst doch bloß, dass ich dich in Aktion sehe«, witzele ich. »Ganz piratenmäßig. Wie du sie zwingst, dich Captain Nick zu nennen oder so.«
»Ooooh, sag das noch mal«, foppt er mich und schiebt mit dem Knie meine Beine auseinander, während ich ihn küsse und dabei lächele.
Die Susannah repariert und genug Geld übrig, um die Vorräte aufzustocken. Ein Job noch, dann konnte das Abenteuer, für das ich hergekommen war, endlich – endlich – beginnen.
Wurde verdammt noch mal auch Zeit.
»Der Goldjunge ist wieder da.«
Cam, eine der anderen Kellnerinnen im Cove, lächelt Lux vielsagend an, als sie sich im engen Flur neben der Küche begegnen, beide ein mit Gläsern, ketchupverschmierten Tellern und zusammengeknüllten Servietten schwer beladenes Tablett in den Händen.
Obwohl Lux müde ist, obwohl ihre Füße pochen und ihre Haare nach Fritten stinken, spürt sie, wie in ihrem Innern ein kleiner Funke aufblitzt.
Sie hat es jedes Mal gespürt, wenn sie ihn in den vergangenen zwei Wochen gesehen hat, und manchmal kommt es ihr so vor, als freute sie sich auf dieses Gefühl – auf diesen Ruck, der sie daran erinnert, dass sie noch etwas anderes empfinden kann als Müdigkeit und Trauer – mehr als darauf, den Typ tatsächlich zu sehen.
Doch als sie jetzt kurz einen Blick an der Bar vorbei in den Raum wirft, erinnert sie sich daran, dass es auch echt toll ist, ihn zu sehen.
Dabei ist er nicht mal überdurchschnittlich attraktiv. Gut aussehende junge Männer gibt es wie Sand am Meer, und mit seiner gebräunten Haut, den dunkelblonden Haaren und weißen Zähnen fällt er unter all den Kaliforniern nicht besonders auf. Mit solchen Kerlen ist sie aufs College gegangen, solche Typen sieht sie hier im Cove fast jeden Abend.
Doch der Goldjunge ist anders.
Lux weiß nicht so genau, warum. Vielleicht liegt es daran, dass er die Bar normalerweise allein betritt, dass er nicht zu einer lärmenden, drängelnden Gruppe von Typen gehört, die literweise Bier bestellen und als Trinkgeld nur ein paar Münzen auf den Tisch werfen.
Er hat auch fast immer ein Notizbuch dabei, und als Lux ihn jetzt beobachtet, zieht er es aus einem Stoffbeutel, der über seiner Stuhllehne hängt, und streicht sich die Haare hinters Ohr, während er es aufschlägt, einen Bleistiftstummel in einer Hand, neben der anderen Hand ein dunkles Bier.
»Er hat heute Abend nach dir gefragt«, sagt Cam hinter ihr.
Lux dreht sich stirnrunzelnd um. »Quatsch.«
Cam lacht und schüttelt den Kopf. »Nein, im Ernst. Okay, er hat nicht gesagt: ›Wo ist Lux McAllister, meine zukünftige Frau?‹, aber er hat gefragt, ob ›die rothaarige Kellnerin‹ heute Abend arbeitet.«
Es ist wahrscheinlich dumm, sich wegen einer harmlosen Bemerkung dermaßen zu freuen, aber Lux läuft rot an, und ihr Puls hüpft auf dem ganzen Weg zur Küche wie verrückt, wo sie ihr Tablett auf die Arbeitsplatte neben dem Spülbecken stellt.
Cam ist direkt hinter ihr und stupst Lux’ Fuß mit ihrem Turnschuh an. »Los, geh zu ihm!«
Lux macht eine wegwerfende Handbewegung. »Und was soll ich sagen?«
»Sag, du hast gehört, dass er nach dir gefragt hat.«
»Ja, Typen lieben es, wenn man wie in einem Western von 1956 redet.«
Cam lacht wieder. »Gut«, sagt sie. »Weißt du was? Er sitzt in meinem Bereich. Ich übernehme Tisch acht auf deiner Seite, und du kannst ihn haben. Abgemacht?«