Winston - Ein Fohlen erblickt die Welt - Antonia Katharina Tessnow - E-Book

Winston - Ein Fohlen erblickt die Welt E-Book

Antonia Katharina Tessnow

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Beschreibung

Die zwölfjährige Juna, die durch tragische Ereignisse viel zu schnell erwachsen geworden und ihrem Alter weit voraus ist, wünscht sich nichts sehnlicher, als ihrem derzeitigen Leben zu entkommen. Durch die Tragik ihrer Lebensumstände findet sie unerwartet einen Verbündeten, der ihrem Leben plötzlich eine ganz neue Perspektive gibt. Das Schicksal stellt sie vor große Herausforderungen und sie begreift schnell, dass Glück und Unglück manchmal näher beieinander liegen, als erwartet. Antonia Katharina Tessnow, ehemalige Berufsreiterin, trainierte in einem renommierten Sportstall in Schleswig-Holstein Dressurpferde aller Klassen, bevor sie ins Berliner Olympiastadion wechselte. Dort arbeitete sie 6 Jahre lang als Landesverbandstrainerin des Modernen Fünfkampfes, beritt die Verbandspferde und unterrichtete die Disziplin Springreiten. Die Autorin hat eine Pferdebuch-Trilogie geschaffen, die ergreifend, anrührend und authentisch zugleich ist. Winston ist nicht nur ein Buch für Pferdefreunde, sondern auch für all diejenigen, die nichts mit Pferden zu tun haben, sich aber gerne von packenden und herzerweichenden Geschichten zwischen Menschen und Tieren mitreißen lassen. 'Die Autorin schrieb dieses Buch mit Sachverstand, Empathie und Fantasie. Die spannende Geschichte ist nicht nur etwas für eine Pferdebegeisterte, sondern auch für mich, als ehemaliger Bereiterlehrling und Gruppenleiterin eines Kinderheims.' Marie-Louise Ludwig Webseite der Autorin: www.antonia-katharina.de Webseite der Hundezucht: www.bolonka-zucht.de

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Gewidmet

dem ehemaligen leitenden Landestrainer

des Berliner Fünfkampfes

Rudolf Trost

der menschlich immer ein Vorbild war

und mich nie enttäuscht hat.

Und

Winston.

Über die Autorin:

Antonia Katharina Tessnow begann mit 8 Jahren zu reiten und wurde früh gefördert. Mit 13 Jahren übernahm sie ihre ersten Berittpferde und mit 15 zeitweilig den Großpferdeunterricht an einem renommierten Reitstall in Berlin, ihrer Geburtsstadt. Nach einem einjährigen USA-Aufenthalt arbeitete sie mehrere Jahre in einem Privatstall außerhalb Berlins. Mit 22 wechselte sie in einen Sportstall nach Schleswig-Holstein, in dem sie sich auf die Dressur spezialisierte und Pferde aller Klassen trainierte und ausbildete.

Nach einer anschließenden 6-jährigen Tätigkeit im Berliner Olympiastadion als Landesverbandstrainerin des Modernen Fünfkampfes in der Disziplin Springreiten, verließ sie den Sport und widmete sich ihrer künstlerischen, heil-therapeutischen und schriftstellerischen Arbeit.

Sämtliche Trainerscheine erwarb sie am Brandenburgischen Haupt- und Landesgestüt Neustadt an der Dosse. An dem Aufbau dieses Gestütes orientiert sich der Ort, an dem der Hauptteil der Winston Trilogie stattfindet.

Winston war Antonias erstes Berittpferd an der Landesreitschule Berlin. Der Charakter und der Lebenslauf von Winston im Buch wurde von diesem wunderbaren Tier inspiriert.

Heute lebt sie in einem kleinen Dorf am Rande der Mecklenburgischen Schweiz, schreibt Bücher, musiziert und führt eine Hundezucht der russischen Zarenhunderasse Bolonka Zwetna aus dem Alten Jagdhaus.

Webseite der Autorin:

www.antonia-katharina.de

Webseite der Bolonka Zwetna Hundezucht:

www.bolonka-zucht.de

***

Haupthaus, Neustadt an der Dosse

An dem Aufbau dieses Gestütes orientiert sich der Ort, an dem der Hauptteil der Winston Trilogie stattfindet.

***

Inhaltsverzeichnis

Ein Fohlen erblickt die Welt

Mühlenbach

Ein Novembermorgen

Das Schloss

Das Gestüt

Pferde

Manja

Durchgefroren

Durchgeweicht

Früher

Juna

Weihnachten

Abschied

Der Anfang von Allem

Hanna

Seelenpartner

Winston

Erfüllte Träume

Offene Fragen

Silvester

Zurück im Heim

Sylvia von Barnstedt

Zukunft?

Michael von Barnstedt

Zehn Kilometer durch den Schnee

Dirk

Ruhelos

Der gute Wille zählt?

Eis und Schnee

Freundschaft

Ohne Worte

Brandenburg

Wie damals?

Visite

Schuldig

Der Tathergang

Kälte

Die Erde bebt

Frieda

Gratzki

Ein heller Stern

Draeger

Marek

Donna

Nicht schuldig?

Ohne Worte

Henrik

Neujahrsüberraschung

Unser Geheimnis

Morgendliche Routine

Das gefährliche Halfter

Erste Anzeichen

Wichtiger Besuch

Vermisst

Angekommen

Ein neues Leben

Winston

Über die Autoren

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Ein Fohlen erblickt die Welt

Es ist ein Novembermorgen. Der Nebel liegt über den Wiesen und es ist still. Die letzten Kraniche verlassen Mark. Es scheint, als würde die Welt noch schlafen, doch die Welt schläft nicht. Im Stutenstall des Gestütes Barnstedt, früh um fünf, erblickt ein Fohlen die Welt. Es ist ein kleiner Hengst. Sein Fell glänzt dunkelbraun, seine Stirn ist weiß gezeichnet, sowie alle vier Beine bis über die Fesseln. In der Morgendämmerung liegen er und seine Mutter im Stroh, als sie ihren ersten Blick wechseln. Die Mutter beschnuppert ihn vorsichtig. Es ist kein Mensch weit und breit. Die Stute steht auf und befreit ihren Schützling ganz zärtlich von den letzten Rückständen der Geburt. Das Fohlen ist noch ganz benommen, versucht sich jedoch ebenfalls gleich auf seine Beine zu stellen, was nach anfänglichen Gleichgewichtsschwankungen auch gelingt.

Da steht es nun: Seine Beine sind viel zu lang für seinen kleinen Körper. Es versucht sich mühsam in der Koordination seiner Bewegungen, die anfangs nur bedingt gelingen. Das Fohlen macht seine ersten Gehversuche und stakst dabei durch das Stroh, wie ein Storch durch den Salat.

Es ist wackelig auf den Beinen. Das Neugeborene drückt seinen Körper fest an den seiner Mutter, um stehen zu bleiben und nicht umzukippen. Die Stute bleibt ruhig und wartet, schaut ihr Fohlen an und wagt nicht, sich zu bewegen, sondern bietet mit ihrem großen, ausgewachsenen Körper dem Kleinen Stütze und Orientierung.

Sie lässt ihn nicht aus den Augen. Vorsichtig hilft sie ihm auf, wenn er fällt; abwartend beobachtet sie seine Schritte. Regungslos steht sie da, wenn er Halt braucht.

Das Gestüt Barnstedt liegt abseits der Ortschaften, mitten auf dem flachen Land. Endlose Weiden ziehen sich über die Wiesen der Uckermark, die im Sommer in sattem Grün stehen und im Winter das Bild der kargen, brandenburgischen Landschaft wiedergeben.

Die Stallungen sind noch immer in Stille getaucht, als Hanna, die Pferdepflegerin, den Stutenstall betritt und gleich nach Raja, der gestern noch hochträchtigen Stute, schaut und das neugeborene Fohlen erblickt. Keck guckt der Kleine hinter der großen Stute hervor und wirft, mit gespitzten Ohren, Hanna einen neugierigen Blick zu, als würde er sagen: "Hallo, ich bin auch schon da, und Du?"

Hanna wird sogleich ganz warm ums Herz. Der erste Blickwechsel mit dem Kleinen ist ungewöhnlich lang und intensiv.

Beide, Hanna und das Fohlen, stehen abwartend da. Nur ihre Blicke verbinden sie miteinander. Die Stute Raja reckt ihren Kopf in Hannas Richtung, denn sie weiß, wenn die Pflegerin morgens früh den Stall betritt, hat sie immer eine Kleinigkeit für sie in der Tasche. So auch an diesem Tag. Hanna holt ein Stück trockenes Brot aus ihrer Jackentasche und hält es der Stute hin. Sie schaut, schnuppert kurz daran, doch nimmt es seltsamerweise nicht an. Statt dessen zieht sie ihren Kopf zurück und bleibt einfach nur stehen.

Sie sieht erschöpft aus. Ihre Augen wirken müde. Hanna sieht das erst jetzt, wo sie ihren Blick von dem Fohlen ab-und Raja zuwendet. Sie öffnet die Boxentür und geht zu den beiden hinein. Das Fohlen hüpft aufgeregt hinter der Mutterstute auf und ab, hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, wegzulaufen und seiner Neugier, die es dazu zwingt, sich immer näher an das Geschehen heran zu wagen. Hanna fährt Raja langsam und zärtlich mit den Händen durch den Schopf und über die Augen, welche die Stute in tiefstem Vertrauen schließt, streichelt ihr über die Stirn bis hin zu den Nüstern. Die Stute atmet einmal tief ein und aus, ein Zeichen des Loslassens und der Hingabe.

Jetzt ist es das Fohlen, welches regungslos und still dasteht und das Geschehen beobachtet. Seinem Gesichtsausdruck entspringt Verwunderung und ein wenig Erstaunen darüber, wie liebevoll und einfühlsam dieser Mensch mit dem wichtigsten und bislang einzigen Wesen der Erde, der eigenen Mutter, umgeht. Fast ein wenig verträumt schaut der Kleine drein. Doch selbst wagt er es nicht, an dieses komische, zweibeinige Wesen heranzutreten. Das ist dann doch zu unsicher. Und sogleich, einmal nicht aufgepasst, verliert er auch schon wieder das Gleichgewicht, lässt sich an den großen, warmen Körper der Mutter fallen, reibt seinen Kopf an ihr, schließt die Augen und atmet ihren einmaligen, vertrauenerweckenden Körpergeruch ein. Seine Welt ist vollkommen.

Mühlenbach

Im Heim herrscht große Aufregung. Alle haben ihre besten Anziehsachen rausgesucht und sind frisch geduscht und gekämmt. Maria und Katrin, unsere beiden Erzieherinnen, sind noch dabei, das Chaos in der Küche zu beseitigen. Alle wollen einen guten Eindruck machen, denn wichtiger Besuch ist angesagt.

Robert ist gerade 15 geworden und damit der Älteste von uns. Er nimmt alles sehr ernst und ist der mit Abstand Vernünftigste. Er ist auch heute als erster aus dem Bett gesprungen. Während die anderen noch um den Spiegel im Bad kämpfen, ist er schon lange fertig und hilft der vierjährigen Sophie, ihre Haare in Ordnung zu bringen.

Ich bin wohl die einzige, die sich heute keine Sorgen um ihr Äußeres macht. Ich sitze oben auf dem Dach an den Schornstein gelehnt, und halte Ausschau nach den ungewöhnlichen Gästen. Mir ist egal, ob jemand die Flecke auf meiner Jogginghose bemerkt oder ob ich vom Dach falle. Mir ist so ziemlich alles egal.

Mein Blick wandert über die Wiesen und Felder und bleibt an ein paar Rehen hängen, die sich im hohen Gras niedergelassen haben und neugierig in die Gegend schauen. Ein schwarzer Wagen, der auf dem Hügel auftaucht, scheucht die Rehe auf und lässt sie die Flucht ergreifen. Ich springe hoch und klettere zurück zur offenen Dachluke.

„Sie kommen!“, rufe ich ins Haus hinein und steige die wackelige Leiter herab, zurück auf den Dachboden.

Die anderen drängen an die Fenster, um zu sehen, mit was für einem Wagen Frau von Barnstedt vorfahren wird. René und seine zwei Jahre jüngere Schwester Angela streiten sich schon seit Tagen deshalb. René meint, weil sie auf einem Pferdegestüt wohnt, sei sie eine Gräfin und wird in einem Rolls Royce mit Motorradeskorte kommen, doch Angela ist sich sicher, eine echte Gräfin kann nur in einer Kutsche vorfahren, die von zehn weißen Pferden gezogen wird. Ich bin auf Angelas Seite, allerdings nicht, weil ich an das Märchen mit der Gräfin oder an eine Kutsche glaube, sondern weil mich René nervt. Er muss zu jedem Mist seine Meinung hinausposaunen und ist immer so aufgedreht, als würde er jeden Morgen vor dem Aufstehen eine Kanne Kaffee trinken.

„Wo denn? Wo denn? Ich seh’ sie nicht!“, kreischt René, als ich gerade die Treppe herunterkomme.

„Sie sind gerade über den Hügel, und zwar ohne Motorradeskorte“, antworte ich.

Robert, der Sophie noch die letzte Schleife ins Haar bindet, schaut mich überrascht an:

„Willst Du Dich nicht umziehen?“

Ich lache kurz, als hätte Robert einen schlechten Witz gemacht:

„Wozu denn? Oder hast Du schon mal gehört, dass eine Zwölfjährige adoptiert wurde? Wenn überhaupt, dann kommt doch wohl nur Sophie in Frage. Die Kleine ist die Jüngste und sieht so süß aus, als wäre sie aus Marzipan.“

Ich gehe vor Sophie in die Hocke und kraule ihr das Kinn:

„Na, bist Du aus Marzipan, meine Kleine?“

Sophie kichert albern, versucht meine Hand wegzuschieben und schüttelt dabei wild den Kopf. Robert hat keine Lust, noch einmal von vorne mit Sophies Haaren anzufangen, deshalb hebt er sie schnell aus der Gefahrenzone und stellt sie in sicherer Entfernung wieder auf den Boden:

„Aber wir kommen in die Zeitung, willst Du Dich da nicht von deiner besten Seite zeigen?“

Ich gebe ihm meine Standardantwort:

„Ist mir egal.“

„Sie sind da!“, schreit René.

Jetzt drängt auch Robert an eines der Fenster und guckt über die Köpfe der anderen nach draußen.

Eine schwarze Limousine biegt um die Ecke und fährt langsam die breite Sandstraße zum Hauptportal des Heimes hinauf.

Von unten ruft Maria, unsere Heimleiterin:

„Los, los! Unsere Gäste sind da! Alle raus zur Begrüßung!“

Wir trampeln die Treppe hinunter und rennen nach draußen. Robert hat Sophie auf den Arm genommen und stellt sie vor die erste Reihe. Ich stelle mich neben unser Zwillingspaar. Die beiden achten normalerweise darauf, niemals die gleichen Sachen anzuziehen, denn sie hassen es, verwechselt zu werden. Doch heute machen sie auf unzertrennlich und gleichen sich, wie ein Ei dem anderen.

Die Limousine rollt langsam aus und bleibt schließlich stehen. Maria drückt Sophie einen Blumenstrauß in die Hand und flüstert:

„Wenn Frau Barnstedt ausgestiegen ist, dann gehst Du zu ihr, überreichst ihr den Blumenstrauß und sagst: Herzlich willkommen Frau von Barnstedt. Alles klar?“

Sophie nickt und starrt auf die Limousine. Es passiert nichts. Keine der Türen öffnet sich. Wir blicken uns fragend an. Die Fenster des Wagens sind so dunkel getönt, dass wir nicht sehen können, ob überhaupt jemand drinnen sitzt.

„Vielleicht hat der Fahrer vergessen, die Gräfin einzuladen“, kichert René.

Angela schüttelt den Kopf.

„Die wartet bestimmt, bis man ihr die Tür aufmacht.“

„Soll ich ihr die Tür aufmachen?“, fragt Robert.

„Wie kommt Ihr denn darauf, dass sie eine Gräfin ist? Sagt das bloß nicht zu laut! Ich mach das“, Maria will gerade losgehen, als die hintere Tür auf der Fahrerseite geöffnet wird und eine dickliche Frau herausspringt. Sie hat struppige, blonde Haare und einen Fotoapparat um den Hals.

„Eine Gräfin habe ich mir anders vorgestellt“, flüstert Angela.

"Pssst!", macht Maria, "die Frau heißt von Barnstedt. Und sie ist keine Gräfin!"

"Für uns schon. Guck dir doch mal diese Karre an!", blöckt René.

Sophie stolziert mit dem Begrüßungsstrauß los, doch Maria läuft ihr schnell hinterher und dirigiert sie zurück zur Gruppe:

„Das ist die Reporterin.“

Die Reporterin läuft um die Limousine herum und winkt uns zur Begrüßung kurz zu:

„Geht gleich los.“

Sie sucht sich einen Platz, von dem aus sie einen guten Überblick über die Szene hat und hebt dann den Fotoapparat ans Auge. Meine Alltagsklamotten kommen mir auf einmal ungewöhnlich dreckig vor. Neben den anderen muss ich aussehen, als wäre ich gerade aus einem Gulli geklettert. Das ist auf den Fotos bestimmt nicht zu übersehen, darum ziehe ich mich unauffällig zurück und stelle mich hinter die Gruppe. Von hier aus habe ich alles im Blick und wenn die Reporterin herumschwenkt und Fotos macht, sieht man höchstens meinen Kopf. Perfekt.

Die Fahrertür der Limousine wird geöffnet und heraus tritt ein schwarz gekleideter Mann. Er trägt eine Chauffeursmütze und einen hochgeschlossenen Anzug. Der Mann beachtet uns nicht, sondern öffnet mit gesenktem Blick die hintere Wagentür.

„Die macht’s aber spannend“, sagt René. Ein strafender Blick von Maria und er verstummt.

Der Chauffeur nimmt seine Mütze ab, woraufhin eine groß-gewachsene Frau aus der Limousine steigt. Sie ist sehr schlank und hat etwas Strenges an sich: Sie trägt einen dunklen Rock, der knapp über die Knie reicht, eine Bluse und eine passende Jacke dazu. Die ist auf Taille geschnitten, mit Knöpfen vorn verschlossen und einem Kragen am Hals, der allerdings nicht zu auffällig genäht ist. Die dunklen Haare sind zu einem Dutt festgesteckt und sie wirkt so steif, als hätte sie ein Brett verschluckt. Ich kriege eine Gänsehaut bei ihrem Anblick. Die Frau hat die Ausstrahlung einer Tiefkühltruhe.

Kaum ist sie aus dem Auto gestiegen, ist auch schon das Klicken des Fotoapparates zu hören. Für ein paar Momente bleibt die Gräfin wie angewurzelt vor dem Wagen stehen, ihren Blick direkt in die Linse gerichtet. Sie schaltet automatisch ihr schönstes Lächeln ein. Mechanisch, wie ein Roboter. Gruselig.

„Jetzt“, flüstert Maria der kleinen Sophie ins Ohr, die wiederholt losstolziert, diesmal jedoch zu der richtigen Frau.

Die Gräfin geht trotz ihres enganliegenden Rockes in die Hocke und nimmt den Blumenstrauß entgegen, den ihr die kleine Sophie überreicht. Ohne ihr übertriebenes Lächeln abzuschalten, streicht sie Sophie einmal übers Haar:

“Danke, meine Kleine“.

Sie wartet, bis die Reporterin genügend Fotos geschossen hat, steht wieder auf und geht zu unseren Heimleiterinnen. Sophie bleibt an der Limousine stehen. Bestellt und nicht abgeholt. Es folgt ein kurzes Händeschütteln mit Maria und Katrin. Die Reporterin springt herum und macht Aufnahmen aus allen möglichen Winkeln. Dann stellt sich die Gräfin zwischen die beiden und legt ihnen die Arme um die Schultern, als wären sie gute Freundinnen. Die Fotografin hat nicht für einen Augenblick den Finger vom Auslöser genommen. Der Apparat surrt und klickt ununterbrochen und macht ein Bild nach dem anderen.

Jetzt dreht sich die Gräfin um, und wirft einen Blick auf uns Kinder. Ihr Lächeln verschwindet:

„Na! Ihr seht ja aus, als würdet Ihr zur Konfirmation gehen. Ich freue mich zwar, dass Ihr Euch so herausgeputzt habt, aber das ist ja nicht der Sinn der Sache. Wir wollen hier ja keine gestellten Fotos machen und so tun, als würdet Ihr in einer heilen Welt leben, nicht wahr?“

Eine unangenehme Stille setzt ein, sogar die Reporterin hört auf zu fotografieren.

Maria löst die Spannung:

„Vielleicht gehen wir erst einmal rein. Wir haben Kaffee und Kuchen in der Küche angerichtet. Da können wir gemütlich zusammensitzen und uns näher kennenlernen.“

„KUCHEN!“, schreit René und springt sofort los, um sich das beste Stück zu sichern. Die anderen rennen hinterher, nur ich bleibe mit den Erwachsenen zurück.

Katrin stöhnt genervt und folgt der Meute ins Haus. Frau von Barnstedt guckt Maria etwas pikiert an:

„Nun ja, mit der Disziplin ist es hier wohl nicht so weit her.“

„Sie müssen die Kinder entschuldigen. Sie sind aufgeregt. Wir haben selten so hohen Besuch. Und Kuchen gibt es hier auch nicht alle Tage.“

Die Gräfin lächelt. Wahrscheinlich fühlt sie sich geschmeichelt. Sie nickt der Reporterin zu:

„Haben Sie das gehört? Ein hervorragender Anfang für den Artikel, finden Sie nicht auch?“

Die Reporterin holt einen Notizblock aus der Tasche und fängt an zu schreiben.

Maria zeigt zur Eingangstür:

„Wollen wir nicht reingehen?“

Als die beiden auf das Haus zukommen, schaut mich Frau von Barnstedt überrascht an:

„Davon habe ich geredet. So muss ein Heimkind aussehen. Los, Frau Warnow, machen sie ein Foto.“

Die Banstedt stellt sich neben mich und legt ihren Arm um meine Schulter. Ich erstarre und stehe da wie ein Baum. Ich kann es nicht leiden, wenn mich fremde Menschen anfassen. Die Reporterin macht ein paar Aufnahmen und die Gräfin geht wieder auf Abstand.

„Wie heißt Du denn, meine Kleine?“

Die falsche Freundlichkeit dieser Frau ist schrecklich. Ich will ihr sagen, dass ich nicht ihre Kleine bin und dass sie sich ihr künstliches Lächeln sonst wohin stecken kann, doch ich verkneife es mir:

„Juna.“

„Juna, was für ein schöner Name. Juna, zeig doch bitte der Frau Warnow mal das Haus. Wir brauchen noch ein paar gute Motive, die deutlich machen, dass das Heim meine großzügige Spende wirklich nötig hat.“

Maria nickt zustimmend. Also gehe ich mit der Reporterin Warnow ins Haus. Maria will gleich mitkommen, aber Frau von Barnstedt legt ihr eine Hand auf den Arm und hält sie zurück. Geheimnisvoll, als hätte sie etwas Wichtiges zu bereden. Na ja, soll mir egal sein! Im Kopf bin ich schon dabei zu überlegen, was ich der Warnow zeigen kann. Seit ich im Heim angekommen bin, jammern Maria und Katrin rum, wie wenig Geld sie zur Verfügung haben und wie wichtig Spenden sind. Ich habe das Gefühl, es liegt jetzt an mir, dass die Banstedt ihr Scheckbuch zückt. Als würde es nicht reichen, dass sich hier alle wie die Zirkusaffen aufführen. Ich hätte auf dem Dach bleiben sollen, da hatte ich wenigstens meine Ruhe.

Frau Warnow reißt mich aus meinen Gedanken:

„Bevor wir hier weitermachen, muss ich unbedingt auf die Toilette. Ich bin so aufgeregt.“

„Warum sind Sie denn aufgeregt? Sie machen doch nur ein paar Fotos.“

„Frau von Barnstedt hat mir eine Festanstellung als Journalistin versprochen, wenn sie mit meinem Artikel zufrieden ist. Du glaubst nicht, wie schwer es ist, an so einen Job zu kommen, gerade hier auf dem Land.“

„Gehört der Barnstedt denn die Zeitung?“

„Nein, aber sie kennt die einflussreichsten Leute aus der Gegend. Die Frau hat Macht, das sag ich dir. Die willst Du nicht zum Feind haben. Aber jetzt sag mir schnell, wo die Toilette ist, sonst hast Du mich gleich zum Feind.“

Sie macht ein gespielt böses Gesicht. Ich zeige ihr die richtige Tür und sie verschwindet. Aus der Küche höre ich Katrin schimpfen. Sie hat anscheinend alle Hände voll zu tun, die anderen vom Kuchen fernzuhalten, bis die Gräfin endlich reinkommt.

Wo bleibt die eigentlich? Ich schleiche mich zur offenen Haustür und werfe einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Maria und die Barnstedt haben es immerhin schon bis zur Treppe geschafft. Ich zucke zurück, denn die beiden klingen, als wären sie kurz davor, sich zu streiten. Maria hat einen ziemlich gepressten Ton in der Stimme; so klingt sie immer kurz bevor sie explodiert. Keine Ahnung, was die Gräfin gemacht hat, um sie so auf die Palme zu bringen, aber Maria sagt gerade:

„Vielleicht sollten Sie sich noch einmal überlegen, ob Sie wirklich ein Kind adoptieren wollen. Bei Ihnen klingt das ja, als ob Sie im Supermarkt einkaufen gehen. Ein Kind ist doch kein Statusobjekt, das man sich zulegt, um es herumzuzeigen.“

Die Gräfin dagegen scheint die Ruhe selbst zu sein. Ihre Stimme ist kalt und schneidend. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, während ich ihr zuhöre:

"Jetzt übertreiben Sie mal nicht. Ich wollte nur klarstellen, dass ich keinen Pflegefall mit zu mir auf das Gestüt nehmen will. Wir sind ein ordentlicher Betrieb; einer der einflussreichsten in ganz Deutschland! Und Sie wissen ja, was das in der Reit- und Zuchtszene bedeutet? Es bedeutet, dass wir nicht nur in Deutschland, sondern weltweit einen guten Ruf haben und die volle Anerkennung der bedeutendsten Ställe genießen. Ich will kein Kind, das nicht repräsentativ ist. Ich will keinen Störenfried oder Querschläger. Das Kind muss gute Noten in der Schule haben, fleißig sein und salonfähige Manieren mitbringen. Auch sonst muss es eine entsprechende Erscheinung vorweisen können. Ich denke, das ist nicht zu viel verlangt. Aber wenn Sie lieber auf meine finanzielle Hilfe verzichten wollen, dann sagen Sie es besser sofort."

Ich höre Maria seufzen:

„Tut mir leid, ich bin etwas gestresst. Zwei Erzieherinnen für 24 Kinder sind einfach zu wenig, aber wir haben mal wieder keine Mittel bewilligt gekriegt, um eine dritte Kraft einzustellen. Wir sind eben nur eine unbedeutende Zweigstelle.“

Mehr höre ich nicht, denn Frau Warnow ist zurück von der Toilette. Ich tue, als wäre nichts gewesen und zeige ihr die Küche.

Alle sitzen am Tisch, nur Katrin kniet vor der weinenden Sophie und versucht, sie zu beruhigen:

"Hab keine Angst, die Frau ist nur etwas fremd hier und bestimmt ganz nett, wenn Du sie näher kennen lernst. Du wirst sehen."

Arme Sophie. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Barnstedt sie mitnehmen. So ist das immer. Die Kleinen werden adoptiert und die älteren bleiben im Heim, bis sie volljährig sind. Normalerweise sind die anderen neidisch, wenn sie nicht ausgewählt werden, aber hier ist wohl eher das Gegenteil der Fall. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass einer von uns freiwillig mit der Barnstedt zusammen wohnen will.

Frau Warnow macht ein paar Fotos von der Kaffeetafel. René und Peer schneiden Grimassen und klauen ab und zu einen Krümel vom Kuchen, der noch immer unangeschnitten in der Mitte steht.

„Wollt Ihr nicht warten, bis ich im Bild bin?“, fragt die Gräfin, die plötzlich hinter uns auftaucht.

„RENE! Finger weg vom Kuchen“, ruft Maria während sie das Zimmer betritt.

Frau Warnow entschuldigt sich für ihr vorschnelles Handeln und wartet, bis Frau von Barnstedt sich dazu gesetzt hat. Sophie hat vor Schreck aufgehört zu heulen und rennt ans andere Ende des Tisches, weit weg von der fremden Frau. Frau von Barnstedt sieht mich an und klopft auf den leeren Stuhl neben sich. Na klar, sie will das Lumpenkind an ihrer Seite haben.

Während Frau Warnow Fotos macht, fragt die Gräfin, ob wir schon ein gutes Motiv gefunden haben, wo wir die Scheckübergabe aufnehmen können. Frau Warnow lässt die Kamera sinken und guckt sich um, als ob sie auf die Schnelle noch eine Superstelle entdecken könnte. Da kommt mir eine Idee:

„Wir dachten uns, der Kohleofen im Keller wäre genau das Richtige. Im Winter kann es hier ganz schön kalt werden. Vielleicht reicht das Geld ja für eine neue Heizung.“

„Juna“, sagt Maria und guckt mich warnend an, „ich glaube nicht, dass Frau von Barnstedt in unseren Keller möchte.“

„Warum denn nicht?“, fragt die Gräfin, „ich halte das sogar für eine hervorragende Idee. Frau Warnow, sagen sie dem Chauffeur Bescheid. Er soll den Scheck in den Keller bringen.“

„Wollen Sie nicht erst einmal ein Stück Kuchen mit uns essen. Vielleicht fällt uns ja noch etwas Besseres ein“, gibt Maria zu bedenken.

„JA! Wir wollen endlich Kuchen“, blökt René dazwischen.

„Nein!“, sagt die Gräfin so scharf, dass sogar René stramm steht. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Ich würde Euch bitten, jetzt alle mal in den Keller zu gehen und mir den Ofen zu zeigen. Danach bleibt immer noch genug Zeit für den gemütlichen Teil. Haben wir uns verstanden?“

Alle nicken. Keiner traut sich zu widersprechen.

Frau Warnow kommt mit dem Chauffeur zurück. Der Mann hat einen riesigen Scheck aus dicker Pappe unter dem Arm, groß genug, um sich dahinter zu verstecken.

Unser Keller ist ein richtiges Dreckloch. Überall hängen Spinnenweben von der Decke und alles ist mit einer Rußschicht überzogen. Alle zwei Schritte warnt Maria die Barnstedt vor dem unebenen Boden und dem Kohlenstaub, der so hässliche Flecke in der Kleidung hinterlässt.

„Fassen Sie lieber nichts an“, sagt Maria zum zehnten Mal, als wir beim Ofen ankommen.

„Nun hören Sie aber mal auf. Ich bin doch nicht aus Zucker“, die Gräfin weist uns unsere Plätze zu. Wir Kinder müssen mit Katrin auf der einen Seite des Ofens stehen, während Frau von Barnstedt mit Maria auf der anderen Seite den Riesenscheck hochhält. Der Chauffeur muss abseits stehen. Er darf nicht mit ins Bild.

Die Summe, die das Heim bekommt, steht extra groß auf dem Scheck. 1.000 Euro. Die Gräfin muss ganz schön reich sein, wenn sie mal eben so viel Geld verschenken kann.

„Alle lächeln!“, ordnet die Gräfin im Kommandoton an. Alle gehorchen.

Die Frau weiß, wie man Befehle gibt, das muss man ihr lassen. Und von einem bisschen Dreck lässt sie sich auch nicht einschüchtern. Ich hatte gedacht, dass sie schreiend wegrennt, wenn sie unseren Keller sieht, aber sie bewegt sich hier unten so selbstverständlich, als hätte sie ihr ganzes Leben lang Kohlen geschaufelt.

Frau Warnow macht Fotos, bis mir die Gesichtsmuskeln vom falschen Lächeln schmerzen. Endlich nickt sie zufrieden und wir können uns entspannen.

Plötzlich kreischt Angela los und zeigt auf eine fette Ratte, die neugierig in unsere Richtung schnuppert.

„Iiih, eine Ratte“, schreien jetzt auch die Zwillinge und zappeln rum, als hätten sie in eine Steckdose gefasst.

Die Ratte stört der Lärm nicht im Geringsten. Sie läuft sogar noch ein Stück weiter auf Maria und die Gräfin zu.

Jetzt bin ich ja gespannt. Würde mich nicht wundern, wenn die Barnstedt ihrem Chauffeur in die Arme springt und sich von ihm im Eiltempo aus dem Keller tragen lässt.

Doch die Barnstedt macht einen schnellen Schritt nach vorne und knallt ihren Fuß nur wenige Zentimeter vor der Ratte auf den Boden.

Die Ratte springt erschrocken zurück und flüchtet ins Dunkel des Kellergewölbes. Wie es aussieht, haben nicht nur Menschen Angst vor dieser Frau.

„Na, nach dieser Aufregung haben wir uns aber alle ein Stück Kuchen verdient“, sagt Maria und gibt den Riesenscheck an den Chauffeur zurück. Dieses Mal rennt niemand los. Wir sind erschöpft. Die ganze Zeit herumkommandiert zu werden, ist ganz schön anstrengend.

Zurück im Esszimmer, setzen wir uns an den Tisch. Nur die Gräfin bleibt stehen und schaut auf ihre Uhr:

„Tut mir leid, aber die Zeit rennt. Ich habe heute noch andere Termine. Ich muss los.“

„Aber wollen Sie denn nicht die Kinder richtig kennen lernen? Ich meine, das war doch der eigentlich der Grund Ihres Besuches“, wundert sich Maria, „oder etwa nicht?“

Die Gräfin nimmt einen Umschlag aus ihrer Handtasche und drückt ihn Maria in die Hand.

„Hier ist Ihr Scheck“, sagt sie kühl. Es ist offensichtlich, dass sie es nicht mag, wenn man sie in Frage stellt. Maria ist sprachlos.

Die Gräfin beachtet sie nicht weiter, sondern wendet sich an uns:

„Ihr wisst ja alle, dass ich ein Kind adoptieren will. So eine wichtige Entscheidung kann ich natürlich nicht ohne meinen Mann treffen. Ihr seid deshalb alle einen Nachmittag lang auf mein Gestüt eingeladen. Meine Pfleger werden Euch durch die Ställe führen und es wird Kuchen und heiße Schokolade geben. Ihr könnt Euch jetzt schon darauf freuen!"

Die Gräfin schaltet ihr automatisches Lächeln ein, bedankt sich bei Maria für die Gastfreundschaft, verlässt erst das Esszimmer und dann das Haus. Frau Warnow winkt uns zum Abschied und läuft der Barnstedt nach.

Maria steht wie eingefroren auf der Stelle. Sogar ihr Lächeln ist starr.

Erst, als die Limousine startet, taut Maria wieder auf. Sie setzt sich an den Tisch:

„Tut mir leid, Kinder. Ich habe nicht gewusst, was für eine schreckliche Person diese Frau von Barnstedt ist. Aber Ihr braucht keine Angst zu haben. Niemand kann Euch zwingen, adoptiert zu werden.“

Es ist, als hätten alle bis eben den Atem angehalten. Wie auf Kommando atmen alle erleichtert auf. Maria grinst uns an:

„Oder will etwa einer von Euch freiwillig mit dieser Hexe zusammenleben?“

Keiner meldet sich.

„Da schlaf ich lieber unter der Brücke“, sagt René.

Die Spannung fällt von uns ab. Wir lachen und machen Witze über die Gräfin. Maria hält den Umschlag hoch und sagt:

„Den Scheck bringe ich morgen zur Bank. Danach kann uns die Barnstedt gar nichts mehr.“

Alle brechen in lautes Jubeln aus. Nur ich sitze ganz ruhig da. Maria stößt mich an und fragt, ob was los ist.

„Na ja“, sage ich „ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, mir das Gestüt anzugucken.“

Maria lacht:

„Aber das können wir doch trotzdem machen. Und wenn wir alle unseren Spaß hatten, sage ich der Barnstedt, dass niemand daran interessiert ist, bei ihr zu wohnen. Ich freue mich jetzt schon auf das Gesicht, das die Alte machen wird.“

Wieder jubeln alle. Ich freue mich zwar, lächle aber nur. Innerlich zerreißt es mich vor Glück, denn der Besuch auf dem Gestüt heißt nur eines für mich:

Ich werde endlich Pferde sehen.

Ein Novembermorgen

Hanna versucht gar nicht erst, an das kleine Fohlen heran zu kommen, sondern verlässt die Box, nachdem sie die Stute Raja noch ein wenig gestreichelt hat und geht ihrer morgendlichen Routine nach. Als erstes wird gefüttert. Die anderen Pferde sind schon ganz unruhig. Sobald es ans Fressen geht wissen sie, was jetzt kommt. Dann gehen Geräusche von leisem Wiehern und scharrenden Hufen durch den Stall.

Hanna betreut den Stutenstall weitgehend allein. Sie übernimmt die Fütterungen und die Pflege der Pferde. Außerdem koordiniert sie sich mit dem Tierarzt, der immer mal wieder kommt, um nach den trächtigen Stuten zu schauen.

Sie liebt ihren Job, denn sie liebt Pferde. Hier kann sie ihnen ganz nah sein. Vor allem den neugeborenen Fohlen. Es ist so lustig, zuzuschauen, wie sie ihre ersten Schritte tun; wie erstaunt sie sind, wenn sie das erste Mal auf die Weide dürfen, das erste Mal Laub rascheln hören oder Menschen sehen. In der Regel ist Hanna die erste, die zu den Neugeborenen Kontakt hat. Sie ist ein sehr feinfühliger Mensch. Sie spürt immer sofort, wie sich ihre Schützlinge fühlen, ob es ihnen gut geht oder ob irgend etwas nicht stimmt.

Nachdem der morgendliche Hafer verteilt ist, wendet sie ihre Aufmerksamkeit ganz dem Fohlen und seiner Mutter zu. Zuerst macht sich Hanna daran, die Box der beiden zu säubern. Natürlich gehört auch das Misten der Boxen zu ihren Aufgaben, und für gewöhnlich beginnt sie nie mit Rajas Box, doch heute hat sie natürlich absoluten Vorrang.

Hanna entfernt das nasse Stroh und die Rückstände der Nacht. Das kleine Fohlen hüpft aufgeregt in der Box hin und her, immer in sicherem Abstand zu Hanna. Unbeholfen wie es ist, hält es sich so nahe wie möglich bei der Mutter. Natürlich lässt der Kleine die Pflegerin keinen Moment unbeobachtet. Sie könnte ja gefährlich sein, da muss man schon mal schnell weglaufen. Und sogleich verliert das Fohlen wieder das Gleichgewicht und plumpst ins Stroh.

Die Stute guckt seelenruhig nach dem Fohlen, das sich wieder aufrappelt und mit seiner Hüpferei fortfährt.

Hanna hat sich schon zwei frische Strohballen neben der Tür zurechtgelegt, die sie jetzt aufschneidet und in der Box verteilt. Das ist natürlich extrem aufregend für das Fohlen. Die Strohhalme fliegen nur so durch die Luft, da weiß der Kleine gar nicht, wohin er als erstes fliehen soll. Am besten hinter die Mutter, ganz klar, da ist es sicher. Die kennt schließlich alles und rennt seltsamerweise gar nicht vor den fliegenden Strohhalmen davon. Die muss ganz schön mutig sein.

Vorsichtig lugt das Fohlen unter dem Kopf der Stute hervor, um zu schauen, ob sich die Gefahr verzogen hat. Doch das zweibeinige Wesen kommt schon wieder näher - schnell weg!

Das Stroh ist verteilt und als Hanna die Tränke kontrollieren will, wirft sie einen Blick in den Trog und bemerkt, dass die Stute den Hafer nicht angerührt hat. Sie fährt ein wenig besorgt durch das Futter. Dann schaut sie die Stute an.

„Was ist los mit Dir?“, flüstert sie. Raja guckt sie an. Ihre Augen sind immer noch müde und leer. Hanna greift ihr zärtlich an die Ohren, ins Genick und zwischen die Ganaschen. Das Fell ist schweißnass.

„Du bist ganz heiß“, Hanna sieht, dass die Stute leicht zittert.

„Fieber!“

Sie dreht sich um, deckt die Stute so schnell es geht ein und ruft den Tierarzt an.

"Henrik Menthel", meldet sich die vertraute Stimme am anderen Ende des Telefons.

"Henrik, hier ist Hanna. Kannst Du kommen? Wir haben ein neues Fohlen, doch der Stute geht's nicht gut. Raja. Sie schwitzt und frisst nicht."

"Wann war die Geburt?"

"Ich weiß es nicht genau. Der Geburtsmelder hat nicht angeschlagen. Gestern Abend um 11h war ich das letzte Mal im Stall. Da gab es noch keine Anzeichen. Heute Morgen um 7 war das Fohlen da und stand schon."

"Ok, also muss die Geburt drei bis vier Stunden her sein. Deck sie ein und warte, ich bin auf dem Weg."

"Beeil' Dich", sagt Hanna, doch Henrik hat schon aufgelegt.

Hanna steht hinter der Stalltür und wartet. So hat sie die Stute und die Zufahrtsstraße im Auge. Es dauert eine halbe Stunde, bis der Tierarzt auf den Hof fährt. Er kommt von der Nordseite auf das Gestüt gefahren und hält direkt vor dem Stutenstall. Als sie das Auto sieht, geht sie gleich hinaus. Henrik steigt aus und nimmt seinen Arztkoffer.

"Die Stute fängt immer stärker an zu zittern. Sie schwitzt jetzt nicht nur hinter den Ohren und unter den Vorderbeinen, sondern auch an den Flanken."

Die beiden erreichen die Box.

"Nimm die Decke ab."

Hanna folgt der Anweisung. Die Stute ist schweißgebadet.

"Ist in der letzten Zeit ein Infekt durch den Stall gegangen?"

"Nichts."

"Husten?"

"Auch nicht."

"Vor der Geburt irgendwelche Anzeichen?"

Hanna schüttelt den Kopf: "Nein."

Der Tierarzt untersucht Raja eingehend, horcht und tastet sie ab, schaut ihr in die Augen, nimmt Blut ab und lässt fiebersenkende Mittel da.

"Ich werde ins Labor fahren und untersuchen, ob es sich um eine bakterielle oder virale Infektion handelt, vielleicht sind es sogar Parasiten? Ich werde mich melden, sobald die Ergebnisse da sind."

"Wie lange wird das dauern?"

"Nicht lange. Heute Nachmittag. Behalte sie im Auge.

Sobald sich etwas tut, ruf mich an."

Henrik steigt in seinen Wagen, der Motor startet und er fährt so schnell er kann vom Gestüt.

Hanna bleibt zurück. Sie weiß, was zu tun ist. Sie leert den Trog, reibt die Stute mit Stroh ab und deckt sie wieder ein. Dann stopft sie eine volle Ladung Stroh unter die Decke. Das hält noch einmal extra warm und der Schweiß durchnässt die Decke nicht.

Sie geht in die Sattelkammer und holt einen Apfel aus der großen Tonne hinter der Tür, schneidet ihn auf und tropft die Medizin auf eines der Stücke.

"Hoffentlich frisst sie das wenigstens." Einem kranken Tier Medizin zu verabreichen erfordert oftmals übermenschliche Überredungskünste.

Raja nimmt den Apfel nicht an. Sie beachtet auch das Fohlen nicht mehr. Dafür beginnt sie, nervös in der Box herum zu laufen. Dann tritt sie sich gegen den Bauch. "Kolik! Oh nein! Aber erst Fieber und dann Schmerzen?"

Hanna rennt zurück in die Futterkammer, schnappt sich ihr Handy und ruft erneut den Tierarzt an.

"Hanna, was gibt's?"

"Komm zurück! Es ist eine Kolik! Sie läuft jetzt herum und schlägt sich gegen den Bauch."

"Auf dem Weg. Nimm sie raus und lass nicht zu, dass sie sich hinschmeißt."

Der Hörer ist aufgelegt. Hanna schmeißt das Telefon neben sich ins Stroh. Raja liegt bereits und wälzt sich auf dem Boden herum.

"Nein, nein, NEIN!" Hanna versucht, die Stute zum Aufstehen zu bewegen. Sie erhebt ihre Stimme. Raja reagiert nicht. Dann schreit sie sie an. Die Stute drückt sich zitternd hoch.

"BLEIB STEHEN!" Sie hat einen Strick an ihrem Halfter befestigt und versucht, Raja aus der Box zu ziehen. "KOMM! RAUS AUS DER BOX!"