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Christina McKay

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Beschreibung

Jannick hat seine große Liebe verloren und zerbricht fast daran. Wünsche und Forderungen, die sein toter Geliebter hinterlassen hat, holen ihn ein Jahr nach Mikes Tod langsam wieder ins aktive Leben zurück. Aber sich nochmal verlieben? Nein, das kann er sich nicht vorstellen. Während er langsam seine Trauer verarbeitet, begegnet er Nils, der ebenfalls seinen Mann verloren hat. Die Männer freunden sich an und landen miteinander im Bett. Aber kann das mehr als Freundschaft und Sex werden? Bitte beachten: Es ist eine Geschichte aus dem wahren Leben, und wie im wahren Leben kommt auch Sex vor. Das Buch ist nur für volljährige Leser geeignet, die sich nicht an Sex und Erotik zwischen zwei Männern stören.

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Seitenzahl: 242

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Christina McKay

Winterhimmel

Gewidmet: Euch beiden und Euren verstorbenen Männern. Ohne Euch würde es diese Geschichte nicht geben. Danke, dass ich sie erzählen durfte.BookRix GmbH & Co. KG80331 München

366 Tage

Es war eisig kalt. In der letzten Nacht hatte es wieder geschneit. Aber jetzt waren die Wolken verschwunden, der Himmel war klar und strahlend blau. So ein schönes Blau…

 

Jannick schloss für einen Moment die Lider. In seiner Vorstellung sah er nun Augen, die genau dieses Blau hatten. Mit einer ganz feinen Maserung, die in der Nähe der Pupille graublau war, am Rand der Iris hingegen dunkelblau. Wunderschöne Augen, die ihn nie wieder ansehen würden.

 

Ganz tief atmete er durch. Die eisige Luft stach in seinen Lungen, und er begrüßte dieses Gefühl. Denn für einen Moment lenkte ihn das kalte Stechen von dem anderen Schmerz in seiner Brust ab. Nochmal ganz tief Luft holen. Dann öffnete er langsam die Augen und blinzelte die Tränen weg.

 

Er drehte sich um, in Richtung Eingang. Jetzt hatte er die Sonne direkt vor sich und das Blau des Himmels erschien sehr viel heller. Das strahlende Sonnenlicht ließ die dichte Schneedecke hell glitzern. Es tat in den Augen weh. Okay, er hatte keine Lust, schneeblind zu werden. Jannick entriegelte den Wagen nochmal, beugte sich ins Innere und setzte seine Sonnenbrille auf.

 

Niemand begegnete ihm, es war alles ruhig und sehr friedlich. Dick und schwer lag der Schnee auf den Sträuchern und Bäumen. Sah irgendwie aus wie ein Postkartenmotiv. Na ja, jedenfalls fast. Denn wer wollte schon eine Postkarte, auf der Grabsteine abgebildet waren?

 

Nur der Hauptweg des kleinen Friedhofs war geräumt. Die schmalen Seitenwege waren tief verschneit, bei den meisten war die Schneedecke unberührt. Nicht so auf dem Weg, den er nun selbst einschlug. Zwar hatte der Schnee, der letzte Nacht gefallen war, die Spuren teilweise schon wieder verdeckt, aber sie waren noch deutlich sichtbar. Es waren ziemlich viele. Offenbar waren gestern zum ersten Todestag nicht nur seine Eltern und Schwiegereltern hier gewesen.

 

Seine Vermutung bestätigte sich, als er gleich darauf neben dem Grab stehen blieb. Auf der silbergrauen Grabplatte lagen einige frische, schöne Gestecke. Alle aus Tannenzweigen und anderen winterharten Pflanzen. Normale Blumen überstanden bei den frostigen Temperaturen kaum mehr als einen Tag.

 

„Hallo, mein Schatz.“ Ganz sanft strichen seine Finger über die Inschrift im Stein.

 

Michael Forster, geb. Kessler

23.09.1981 – 16.02.2010

Für immer geliebt

 

„Ich hab‘s gestern nicht geschafft, tut mir leid. Es ging einfach nicht, Mike.“ Zittrig holte Jannick Luft und versuchte, den dicken Kloß in seinem Hals zu schlucken. „Bin nicht mal aus dem Bett gekommen vor lauter Heulen. Du verstehst das bestimmt.“ Mike hätte es wirklich verstanden, das wusste Jannick. Er hatte ihn immer verstanden. Das war eins der tausend Dinge, die er so sehr vermisste.

 

Vorsichtig schob er die Gestecke zur Seite, wischte mit den Händen den Schnee von der Platte und ließ sich auf dem Rand nieder. Er lehnte den Kopf gegen die Seite des Steins und gab dem Schmerz nach. Heute waren es stille Tränen, die er weinte. Im Gegensatz zu gestern. Da hatte er stundenlang laut schluchzend auf dem Bett gelegen, bis er schließlich völlig erschöpft eingeschlafen war. Aber auch dieses stille Weinen jetzt tat ihm irgendwie gut. So ein bisschen hatte es eine heilende Wirkung. Nicht viel, aber immerhin.

 

Wenigstens konnte er jetzt weinen. Dazu war er nach Mikes Tod lange nicht in der Lage gewesen. Nicht einmal am Tag der Beerdigung. Monatelang war er wie erstarrt gewesen. Der Schmerz war tief in ihm drin, innerlich weinte und schrie er Tag für Tag, aber er konnte es nicht raus lassen. Er hatte es auch lange nicht geschafft, zum Grab zu gehen. Erst im Juni war er zum ersten Mal nach der Beerdigung hier gewesen, und war dann prompt ins andere Extrem verfallen. Tag für Tag hatte er von da an stundenlang an Mikes Grab gesessen. Manchmal still und schweigend, manchmal hatte er lange mit seinem toten Geliebten geredet, auch wenn der ihm nicht antworten konnte. Er hatte sich Mikes Antworten einfach vorgestellt. Geweint hatte er auch da nie.

 

Bis Mitte August war das so gegangen. Bis seine Familie etwas unternommen hatte. Sie hatten lange mit Geduld und Liebe versucht, ihm zu helfen. Keine Chance. Nach Mikes Tod hatte Jannick sich völlig zurückgezogen. Niemand schaffte es, an ihn heranzukommen. Nicht die Familie, nicht seine Freunde.

 

Meistens ging er einfach allen aus dem Weg. Damit sie nicht irgendwann bei ihm auftauchten, rief er einmal in der Woche seine Eltern und Schwiegereltern an. Ab und zu auch seine Freunde. Aber Gespräche über Mike oder sich selbst blockte er einfach ab. Hielt die Telefonate kurz und unverbindlich, und ging einfach nicht an die Tür, wenn es klingelte. In dem halben Jahr seit dem Tod seines Mannes hatte Jannick die Familie nur viermal besucht, obwohl sie keine fünfzehn Minuten voneinander entfernt wohnten. Und diese wenigen Besuche waren jedes Mal sehr kurz gewesen. Er hatte einfach niemanden in seiner Nähe ertragen. Es gab nur einen Menschen, den er in seiner Nähe haben wollte. Mike.

 

Damals im August war Markus, seinem Schwiegervater, dann schließlich der Kragen geplatzt. Sozusagen. Markus hatte am 14. August Geburtstag, und Jannick fiel keine passende Ausrede ein, um die Einladung seiner Schwiegereltern abzulehnen.

 

„Wir feiern nicht richtig. Nur Kaffee trinken und abends Grillen im Familienkreis,“ hatte Ina am Telefon gesagt. Natürlich hatte Jannick zuerst versucht, sich herauszureden. Aber schließlich hatte er doch zugesagt, einfach damit sie ihm seine Ruhe ließen. Er war fest entschlossen, direkt nach Kaffee und Kuchen wieder aufzubrechen. Die eine Stunde würde er eben über sich ergehen lassen. Aber da hatte er die Rechnung ohne seine Familie gemacht.

 

Außer seinen Eltern und Schwiegereltern war tatsächlich niemand da. Jannick war heilfroh, dass sich das Gespräch beim Kaffeetrinken nicht um Mike oder ihn drehte. Vielleicht hatten sie es ja endlich kapiert. Hoffte er zumindest. Jedenfalls so lange, bis er sich direkt nach dem Kaffeetrinken erhob.

 

„Danke für den tollen Kuchen, Ina. Ich muss jetzt los.“

 

Sein Schwiegervater sah ihn ernst an. „Nein, das musst du nicht. Bitte setz dich wieder. Wir wollen mit dir reden.“

 

Alles in Jannick spannte sich an. „Ich wüsste nicht, was es zu reden gibt. Außerdem habe ich noch was vor.“

 

Markus schüttelte den Kopf. „Es gibt so einiges zu bereden, und was du vorhast, wissen wir. Mikes Grab ist morgen noch an der gleichen Stelle. Heute wirst du nicht stundenlang dort sitzen.“

 

Einen Moment lang war Jannick sprachlos. Dann war plötzlich die Wut da. Er war ausgerastet. Hatte seine Familie angeschrien, ihnen vorgeworfen, dass sie keine Ahnung hatten. Ihn nicht verstehen konnten. Und Markus, der sonst immer so ruhig blieb und nie die Stimme erhob, schrie zurück.

 

„Das denkst du? Dann hast du keine Ahnung! Ja, er war dein Mann. Ihr habt euch sehr geliebt. Ihr wart acht Jahre lang ein Paar. Aber du vergisst dabei, dass er so viel länger unser Sohn war. Wir haben ihn genauso geliebt wie du! Wir vermissen ihn auch, wir trauern um ihn. Deine Eltern tun das ebenso. Nicht nur du hast ihn verloren. Und jetzt haben wir Angst, auch dich zu verlieren. Das hätten wir schon längst, wenn er dich nicht dazu gebracht hätte, ihm dieses Versprechen zu geben. Dachtest du, wir wüssten nichts davon? Er hat es uns erzählt, schon allein deswegen, damit wir uns um dich keine so großen Sorgen machen müssen. Aber das müssen wir eben doch, denn du hältst dein Versprechen nicht. Nicht so, wie er es gewollt hat. Du bist nicht tot, aber du lebst auch nicht. Mike würde dir deswegen in den Arsch treten, wenn er könnte!“

 

Jedes einzelne Wort traf Jannick, brachte die Mauer, die er um sich herum aufgebaut hatte, mehr zum Bröckeln. Aber es war dieser letzte Satz, der sie zum Einsturz brachte. Denn Markus hatte recht. Mike würde ihm wirklich in den Arsch treten, wenn er es noch könnte. Das war es, was Jannick in die Knie zwang. Wortwörtlich. Seine Beine trugen ihn nicht mehr, er fiel auf die Knie, vergrub den Kopf in den Händen und fing an zu weinen.

 

Und er konnte stundenlang nicht mehr aufhören zu weinen. Aber seine Familie war für ihn da, sie hielten ihn abwechselnd fest in den Armen. Irgendwann hatte Markus einen alten Freund angerufen, der Arzt war. Der hatte Jannick ein leichtes Beruhigungsmittel gespritzt, und schließlich war er auf der Couch in der festen Umarmung seines Vaters eingeschlafen.

 

Zum ersten Mal seit Mikes Tod hatte er eine ganze Nacht durchgeschlafen. Fast den ganzen Sonntag war er bei Ina und Markus geblieben, zusammen mit seinen Eltern. Sie redeten über Mike, teilten ihre Erinnerungen und weinten miteinander. Gleich am nächsten Morgen hatte Jannick einen Termin bei einem Therapeuten vereinbart, und seitdem ging es in ganz kleinen Schritten wieder bergauf. Es war ein sehr schmerzlicher Prozess, der noch längst nicht beendet war. Aber jetzt, 366 Tage nach Mikes Tod, hatte Jannick einen Teil des Wegs geschafft.

 

Er wusste, dass er noch weit davon entfernt war, wieder ein normales Leben zu führen. Aber wenigstens versuchte er jetzt, wirklich zu leben. Das war es, was er seinem Mann damals versprochen hatte. Leben. Auch wenn dieses Leben, das nun vor ihm lag, ganz anders sein würde, als das, was sie gemeinsam geführt hatten. Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, dass sein über alles geliebter Mike nie wieder an seiner Seite sein würde. Der Schmerz war noch genauso tief, aber nicht mehr ganz so scharf.

 

Es gab immer noch viele Tage, an denen Jannick das Gefühl hatte, dass dieser schreckliche Schmerz sein Herz zerquetschte und niemals aufhören würde. Sein Therapeut hatte ihm erklärt, dass das völlig normal war. Es würde noch eine ganze Weile mal gute und mal schlechte Tage geben. Irgendwann würden die guten Tage überwiegen und Jannick musste sich an den schlechten Tagen vor Augen halten, dass es eben auch wieder bessere Zeiten geben würde.

 

Als Jannick mit der Therapie angefangen hatte, konnte er sich nicht vorstellen, jemals wieder lächeln zu können. Aber das konnte er. Als er sich das erste Mal dabei ertappte, hatte er sofort ein schlechtes Gewissen gehabt. Hatte er denn überhaupt das Recht, zu lächeln, wenn Mike es nicht mehr konnte?

 

„Würde Mike denn von Ihnen erwarten, dass Sie nie wieder lächeln? Würde er das wirklich wollen?“ hatte Dr. Hartmann ihn gefragt.

 

Nein, zu beidem. Ganz im Gegenteil. Das wusste Jannick ganz sicher, und er hätte es auch gewusst, wenn Mike es ihm nicht gesagt hätte. Aber das hatte er. Ziemlich deutlich sogar. An dem Tag hatten sie sich zum ersten Mal gestritten. Sie waren acht Jahre ein Paar gewesen, aber zwischen ihnen passte einfach alles. Es hatte kaum jemals Grund für Unstimmigkeiten gegeben. Das konnte man echt an den Fingern abzählen. Siebenmal? Oder achtmal? Jannick wusste es nicht mehr genau, und das waren wirklich nur harmlose Meinungsverschiedenheiten gewesen. Richtig gestritten hatten sie sich nie.

 

Bis zu jenem Morgen, als Mike ihm gesagt hatte, wie er sich Jannicks Zukunft vorstellte. Nach seinem eigenen Tod. An dem Tag hatten sie sich zum ersten und einzigen Mal so richtig gefetzt. Ein paar Stunden später hatten sie sich beieinander entschuldigt und den Streit aus dem Weg geräumt. Sie hatten echt tollen Versöhnungssex gehabt, den ganzen Nachmittag und Abend. Stundenlang, mal leidenschaftlich, mal unglaublich zärtlich. So lange, bis sie beide völlig erschöpft gewesen waren. Kurz vor dem Einschlafen hatte Mike ihn ganz intensiv angesehen. In seinen wunderschönen blauen Augen lag all die Liebe, die er für seinen Mann empfand. Seine tiefe Stimme war weich und sanft.

 

„Jan? Wenn es umgekehrt wäre… Wenn du gehen müsstest… Würdest du wollen, dass ich weiterlebe?“

 

Jannick hatte ihn fassungslos angesehen. „Natürlich, Mike! Natürlich würde wollen, dass du lebst!“

 

„Das will ich auch für dich. Du sollst leben, und ich meine wirklich leben. Versprich mir das.“

 

„Mike, ich…“ Jannick wollte protestieren, aber er versank in diesen unglaublichen blauen Augen, die so viel ausdrückten. So viel Liebe. So viel Vertrauen. Aber auch Angst, und Jannick wusste, dass es keine Angst vor dem Sterben war. Mike hatte Angst um ihn. Diese Angst wollte und konnte er seinem Mann nehmen. „Ja, ich verspreche es dir. Ich werde leben.“

 

Jannick dachte oft daran zurück. Es war eine bittersüße Erinnerung, schmerzlich schön. Er dachte auch jetzt daran, während er weinend auf dem Grab saß. Mike war seit einem Jahr nicht mehr bei ihm, aber durch die Therapie war Jannick nun wenigstens in der Lage, sein Versprechen wirklich zu halten.

 

Irgendwann versiegten die Tränen, und langsam spürte Jannick auch die Kälte. Er stand auf, küsste seine Fingerspitzen und drückte sie sanft auf die Inschrift des Grabsteins. „Ich fahr jetzt mal besser, mein Schatz. Bis nächste Woche. Ich liebe dich.“

 

Fröstelnd ging er zu seinem Wagen, startete den Motor und drehte die Heizung auf. Dann zog er sein Handy hervor, schaltete es wieder ein und sah, dass seine Schwiegereltern angerufen hatten. Mittlerweile redete er wieder gerne mit seiner Familie und seinen Freunden. Sein Glück, dass seine Freunde ihm den monatelangen Rückzug genauso leicht verziehen hatten wie seine Familie.

 

Jannick drückte die Rückruftaste und musste lächeln, als er nach dem dritten Klingeln mit den Worten „Hallo, mein Junge, schön dass du anrufst,“ begrüßt wurde. Anruferkennung war echt eine tolle Erfindung.

 

„Hallo, Markus. Bei euch alles okay?“

 

„Ja, aber wir haben dich gestern vermisst.“ Kein Vorwurf lag in der Stimme seines Schwiegervaters, nur liebevolle Wärme. „Bist du in Ordnung?“

 

„Jetzt ja. Aber gestern – ich hab das echt nicht gepackt. Sorry.“

 

„Kein Grund, sich zu entschuldigen. Wir verstehen das, das weißt du. Für uns war das gestern auch sehr schwer.“ Markus räusperte sich. „Ina sagte, dass du gestern Morgen kurz angerufen hast, um Bescheid zu sagen, dass du zuhause bleibst. Wir können gut verstehen, dass du allein sein wolltest. Auch wenn wir dich gerne getröstet hätten.“

 

Jannick schluckte. „Glaub mir, dieses heulende Elend wolltet ihr euch ohnehin nicht antun“, versuchte er zu scherzen. Er atmete tief durch. „War echt ein beschissener Tag gestern. Ich hab den ganzen Tag im Bett gelegen und geheult. Aber so richtig.“ Er atmete nochmal tief durch. „Ich war eben bei Mike. Gestern waren wohl einige Leute da.“

 

„Wir haben deine Eltern getroffen, und ein paar eurer Freunde. Wir sollen dir von allen liebe Grüße ausrichten. – Hör mal, Jan… Wir haben da noch was für dich. Das würden wir dir gerne heute noch geben. Kannst du vorbeikommen?“

 

„Ja, klar. Was ist es denn?“

 

Markus zögerte einen Moment mit der Antwort. „Das ist eine Überraschung. Kannst du gleich kommen? Oder ist dir heute Abend lieber?“

 

„Nein, ich komm lieber jetzt vorbei. Liegt ja auf dem Weg. Dann bis gleich.“

 

„Ja, bis gleich.“

 

Jannick unterbrach die Verbindung und sah einen Moment grübelnd aus dem Fenster. Eine Überraschung? Jetzt war er aber wirklich gespannt. Keine zehn Minuten später parkte er vor dem Haus der Kesslers. Ina öffnete ihm die Tür und zog ihn in eine liebevolle Umarmung. Sie drückte ihn fest, und strich dabei über seine Wange. „Geht es dir gut?“

 

Er lächelte schmerzlich. „Den Umständen entsprechend ja, ganz gut. Euch hoffentlich auch.“

 

Sie seufzte. „Ja, schon. Aber gestern war echt ein schlimmer Tag.“

 

Jannick nickte. „Hm, ein ganz schlimmer Tag.“ Die warme Umarmung seiner Schwiegermutter tat ihm gut, dennoch löste er sich daraus und schloss endlich die Haustür. Er folgte Ina in die Küche und wurde auch von Markus mit einer Umarmung begrüßt. Gleich darauf saßen sie jeder mit einer Tasse Kaffee vor sich in der gemütlichen Essecke. So neugierig Jannick auch war, er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. So unterhielten sie sich zuerst einmal über ganz alltägliche Dinge. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und sah seinen Schwiegervater neugierig an. „Was ist denn nun diese Überraschung, von der du gesprochen hast?“

 

Seine Schwiegereltern tauschten einen seltsamen Blick, dann griff Markus neben sich auf die Eckbank und legte gleich darauf einen dicken Umschlag auf den Tisch, mit der Rückseite nach oben. Es war eine dieser großen, weißen Versandtaschen, wie sie für Kataloge benutzt wurden. Jannick runzelte verwirrt die Stirn, und sah seinen Schwiegervater an. „Was ist das?“

 

„Dreh ihn mal um“, sagte Ina sehr leise. Er zögerte einen Moment, dann griff er nach dem Umschlag. Er war nicht gerade leicht, und offenbar befand sich eine flache Schachtel darin. Jannick drehte ihn um. Sein Herz fing an zu rasen und er zog scharf die Luft ein. Die drei Worte sprangen ihn geradezu an.

 

Für meine Sonne stand da in der schwungvollen Handschrift, die ihm so vertraut war. Fassungslos starrte Jannick auf den Umschlag. „Was… Wann…“ Er brachte keinen vernünftigen Satz zustande und hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.

 

Sanft schlossen sich Inas Finger um seine linke Hand. „Wir hätten dir das so gerne schon früher gegeben. Aber Mike hat darauf bestanden, dass wir bis zu seinem ersten Todestag warten und dir vorher nichts davon sagen.“

 

„Was ist da drin?“ brachte Jannick rau hervor.

 

„Das wissen wir nicht, mein Junge“, sagte Markus ruhig. „Mike lässt dir ausrichten, dass du den Umschlag zuhause in eurer Ecke aufmachen sollst. Er sagte auch, wir sollen dich nicht danach fragen. Es ist nur für dich allein bestimmt. – Komm, ich fahre dich nachhause. Ina kommt mit unserem Wagen hinterher.“

 

Jannick war dankbar für das Angebot. Er wusste selbst, dass er völlig durch den Wind war und jetzt besser nicht fahren sollte. Seinen Schwiegereltern war das offenbar genauso klar. Während der Fahrt nachhause schossen ihm unzählige Gedanken und Fragen durch den Kopf. Den Umschlag hielt er mit beiden Händen fest umklammert.

Forderungen

Ihre Ecke. Damit meinte Mike die große Kuschelecke im Wintergarten. Dort hatten sie fast jeden Abend eng aneinander geschmiegt gelegen, jeder in ein Buch vertieft, hatten Musik gehört oder sie hatten einfach nur miteinander geredet. Oft genug hatten sie auch geschmust, und ja, so manches Mal hatten sie es dann nicht mehr bis in ihr Bett geschafft und dort draußen miteinander geschlafen. Diese Ecke war ihr absoluter Lieblingsplatz in diesem Haus gewesen, dort hatten sie die meiste Zeit miteinander verbracht.

Oh Mann, Mike! Konnte der sich nicht denken, wie schwer das für Jannick war? Er war nie wieder da draußen gewesen. In den letzten Wochen hatte er zwar ein paarmal mit dem Gedanken gespielt, aber das schaffte er einfach nicht. Er konnte ja kaum den Anblick des Wintergartens ertragen. Das Wohnzimmer, von dem aus man hinaus gelangte, benutzte er zwar ab und zu wieder, aber er hielt die langen, blickdichten Vorhänge normalerweise immer geschlossen. Ihre Kuschelecke zu sehen, das tat noch zu weh.

Und jetzt sollte er da draußen diesen Umschlag aufmachen? Jan schüttelte den Kopf. „Sorry, mein Schatz. Das bringe ich nicht. Die Küche muss es auch tun.“ Er ging den hellen Flur hinunter und betrat die große, moderne Küche. Seine Hände zitterten, als er den dicken Umschlag auf dem Frühstückstresen ablegte und die Kaffeemaschine einschaltete.

Während das Gerät aufheizte, zwang sich Jannick, nicht ständig auf den Umschlag zu sehen. Er holte eine Cappuccino-Tasse aus dem Schrank, überlegte es sich dann aber anders und griff nach einem der hohen Kaffeebecher. Er ließ einen doppelten Espresso in den Becher laufen und zusätzlich einen Milchkaffee.

Nachdem er sich auf einen der Hocker gesetzt hatte, starrte er den Umschlag einen Moment lang einfach nur an. Einerseits konnte er es kaum erwarten, ihn zu öffnen, andererseits hatte er auch Angst davor. Er hatte so eine Ahnung, dass ihm der Inhalt nicht unbedingt gefallen würde. Jan schloss für einen Moment die Augen, seufzte und griff entschlossen nach dem Umschlag. Vorsichtig öffnete er den Klebeverschluss und zog den Inhalt heraus. Am Rande registrierte er, dass er eine der flachen Schachteln in den Händen hielt, in denen normalerweise das von ihm bevorzugte Fotopapier verpackt war.

Aber sein Blick hing wie gebannt an dem mit kleiner Schrift dicht beschriebenen Blatt Papier, das mit Tesafilm auf dem Deckel der Schachtel festgeklebt war. Tränen traten ihm in die Augen und er wischte sie hastig weg, um zu lesen, was Mike geschrieben hatte.

Geliebter Jan,

du bist die Sonne meines Lebens, das Zentrum, um das sich meine Welt dreht, mein ein und alles… Ja, das bist du wirklich. Und deshalb: Verfluchte Scheiße! Da du das hier liest, ist die ganze Sache nicht so gelaufen, wie wir beide gehofft hatten. Du weißt, dass ich nie gehen wollte. Ich wäre so gern bei dir geblieben und mit dir alt geworden. Jan… Schon der Gedanke, was du im letzten Jahr durchgemacht haben musst, ist kaum zu ertragen.

Und jetzt komme ich auch noch mit meinen Forderungen. Findest du bestimmt unfair, und ich könnte verstehen, wenn du deswegen anfangs sauer bist. Aber Liebling, du hättest es umgekehrt genauso gemacht. Hast du jedenfalls gesagt. Erinnerst du dich? Als wir damals zum ersten Mal ‚P.S.: Ich liebe dich‘ gelesen haben? Da hast du gemeint, du würdest es genauso machen, wenn du wüsstest, dass du sterben musst. Jetzt nickst du, oder?

An dieser Stelle lachte Jannick kurz auf und schluchzte gleich darauf. Ja genau das hatte er gerade eben getan. Zustimmend genickt. Mike hatte ihn genauso gut gekannt wie umgekehrt. Jan putzte sich die Nase, wischte die Tränen ab und las weiter.

Ich hab eine Weile überlegt, ob ich das wirklich machen soll. Ich will dir nicht weh tun, will nicht, dass du noch mehr leidest. Aber dennoch glaube ich, dass das hier sein muss. Damit du wirklich leben kannst. Mein Liebster… Betrachte es als meinen letzten Willen, mein ganz persönliches Testament, das nur für dich bestimmt ist. Wenn du mich liebst, dann erfüllst du meinen letzten Willen. Ja, dieser Spruch ist wirklich unfair, weil ich genau weiß, wie sehr du mich liebst.

Du weißt aber auch, wie sehr ich dich liebe, und ich tue das hier nur, eben weil ich dich so sehr liebe. Einige der Dinge, die ich von dir fordere, werden ganz bestimmt hart für dich sein. Dir vielleicht sogar wehtun, obwohl ich das wirklich nicht möchte. Aber auch wenn es so ist… Dann verfluche mich, schrei deine Wut heraus, und weine, wenn es zu sehr weh tut. Aber tu diese Dinge. Bitte.

Bevor du diese Schachtel öffnest: Ich gehe mal davon aus, dass mein Vater dir gesagt hat, dass du den Umschlag in unserer Ecke öffnen sollst. Ansonsten weißt du es jetzt. Und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass du da gerade bist. Du warst nicht mehr dort, seitdem ich nicht mehr bei dir bin, oder irre ich mich? Das wäre schön, denn dann geht es dir inzwischen nicht mehr ganz so beschissen, wie ich befürchte. Wirklich toll wäre es, wenn du die Ecke gar nicht mehr nutzen könntest, weil du inzwischen woanders lebst. Aber so ist es nicht, oder?

Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass du immer noch in unserem Haus wohnst. Wo bist du gerade? In deinem Arbeitszimmer? Vielleicht doch eher in der Küche. Das dürfte wohl der Raum sein, der am wenigsten mit Erinnerungen an mich verbunden ist. Der häusliche Typ war ich ja nie. In unserer Küche habe ich mich nicht oft aufgehalten. Aber egal, wo in unserem Haus du gerade bist: wenn es nicht in unserer Ecke ist, dann geh jetzt dorthin. Das ist Forderung Nummer eins. Ja, ich weiß mein Schatz, das ist wirklich schwer. Für mich auch, ich muss gerade ziemlich heulen. Na los, steh auf, verkrieche dich in unserer Ecke, und weine dich erst mal aus. Und dann öffne die Schachtel.

Ich werde dich immer lieben.

Dein Augenstern

P.S.: Ich trete dir in den Hintern… wenn du jetzt nicht endlich in die Gänge kommst. (Seufz. Dein kleiner, knackiger Hintern, der mich immer so sehr antörnt. Hast du hier ‚P.S.: Ich liebe dich‘ erwartet? Tue ich wirklich, aber das weißt du doch schon.)

Immer wieder hatte sich Jannick zwischendurch die heißen Tränen abgewischt, um die kleine Schrift lesen zu können. Doch jetzt verschwamm endgültig alles vor seinen Augen. Er krampfte die Finger um die flache Schachtel und rutschte von dem Hocker. Mike kannte ihn wirklich viel zu gut. Seinen letzten Willen nicht erfüllen? Das kam nicht infrage, und es hatte keinen Sinn, es auf die lange Bank zu schieben, ganz egal, wie schwer es ihm auch fiel. Deshalb lief Jannick nun fast blind vor Tränen den Flur hinunter, und durch das große Wohnzimmer genau auf die Schiebetür zu.

Gleich darauf stand er in dem Wintergarten, nur wenige Schritte von der großen Polsterecke entfernt. Schluchzend ließ er sich auf die breite Liegefläche fallen, rollte sich zusammen, und presste die Schachtel fest an sich. Und er weinte sich wirklich aus. Was hatte er zu Markus gesagt? Dass er sich gestern so richtig ausgeweint hatte? Das war nichts im Vergleich zu jetzt. Sein Therapeut wäre mit Sicherheit stolz auf ihn. Er weinte nicht nur laut und hemmungslos, er ließ dabei auch endlich die ganze Wut heraus. Das war etwas, was er bisher nur bedingt gekonnt hatte.

Irgendwann schlief er völlig erschöpft ein, die Schachtel noch immer fest an sich gepresst. Als er Stunden später fröstelnd aufwachte, war es längst dunkel. Im ersten Moment war er völlig desorientiert und fragte sich, was er hier draußen machte. Doch schon im nächsten Augenblick war die Erinnerung wieder da. Ja, dieses Mal hatte er sich echt total gehen lassen. Kein Wunder, das sich nach diesem Weinkrampf seine Nase verstopft anfühlte und sein Schädel brummte. Aber ansonsten fühlte er sich wirklich besser. Jan seufzte, richtete sich auf und schaltete die Stehlampe hinter der Polsterecke ein.

Die Schachtel fand er zwischen der Polsterecke und dem niedrigen Glastisch. Irgendwann im Schlaf hatte er sie wohl losgelassen und sie war heruntergefallen. Zum Glück hatte Mike seinen Brief an allen Kanten gut fest geklebt. Sowohl die Schachtel als auch das Papier hatten die ganze Sache offenbar unbeschadet überstanden. Na ja, wenn man mal von den fast unsichtbaren Flecken auf dem Brief absah, die wohl von Jannicks Tränen stammten. Gott sei Dank hatte Mike zum Schreiben immer wasserfeste, schwarze Stifte benutzt; der Schrift hatten die Tränen daher nichts anhaben können.

Jan legte die Schachtel auf den Tisch und ließ einen Moment sanft seine Hand auf dem Brief ruhen. Er würde die Schachtel öffnen, aber nicht gleich. Mal abgesehen davon, dass seine Blase kurz vor dem Platzen zu sein schien: ihm war kalt, er brauchte einen Kaffee und zwei Aspirin, und er hatte Hunger. Nach dem dringend nötigen Abstecher auf die Gästetoilette neben dem Wohnzimmer ging Jan zurück in den Wintergarten. Der Anblick der Kuschelecke versetzte ihm erneut einen quälenden Stich ins Herz. Er atmete tief durch und drehte die Heizung voll auf. Er wusste aus Erfahrung, dass es schon bald kuschelig warm sein würde.

Der nächste Gang führte ihn in die Küche. Er hatte wirklich Hunger. Außer dem sehr späten Frühstück hatte er heute noch nichts gegessen, und gestern hatte er keinen Bissen hinunter gebracht. Aber im Kühlschrank warteten die Reste der Lasagne von vorgestern. Nach Mikes Tod hatte er monatelang gar nicht gekocht. Er hatte ohnehin nie Appetit gehabt.

Erst im Rahmen der Therapie hatte er wieder mit dem Kochen angefangen. Es war nur einer von vielen Schritten zurück in einen normalen Alltag. Doch er schaffte es immer noch nicht, nur die Hälfte der früheren Mengen zu kochen. So lange Zeit hatte er immer für sie zwei gekocht. Jetzt aß Jannick eben ziemlich oft die zweite Portion – Mikes Portion – am folgenden oder übernächsten Tag.

Der Kaffee vom Mittag stand immer noch unberührt auf dem Tresen. Nachdem Jan die Lasagne zum Aufwärmen in den Ofen geschoben hatte, kippte er den Kaffee weg und schaltete die Kaffeemaschine wieder ein. Dann lief er nach oben ins Gästezimmer und zog die oberste Nachttischschublade auf, um sich zwei Aspirin zu nehmen. Noch während er die Hand nach der Packung ausstreckte, hielt er inne und starrte den Inhalt der Schublade an. Direkt neben den Aspirin lag eine Schachtel Baldrian. Er nahm das leichte, rein pflanzliche Beruhigungsmittel manchmal, wenn es ihm wirklich schlecht ging.

Aspirin und Baldrian – zwei recht harmlose Medikamente. Das konnte man vom restlichen Inhalt der Schublade aber nicht behaupten. Scheiße. Verfluchte Scheiße. Er setzte sich völlig geschockt auf den Rand des Bettes. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte es Mike versprochen, und seine Versprechen hatte er immer gehalten. Wieso also… Die Erkenntnis erschütterte ihn.

Doch so ungern er es sich auch eingestand, er war wirklich drauf und dran gewesen, sein Versprechen zu brechen. Die Wochen im vergangenen Sommer. Diese zwei Monate, in denen er Tag für Tag endlos lange Stunden an Mikes Grab verbracht hatte, ganz egal ob es in Strömen goss oder ob ihm die Sommersonne die Haut verbrannte… Anfangs hatte er gedacht, es würde wenigstens etwas leichter werden, nachdem er endlich in der Lage war, das Grab zu besuchen. Er hatte gehofft, dass dieser schreckliche Schmerz, der ihn innerlich zerriss, dadurch ein Ventil fand. Dass er ihn wenigstens teilweise heraus lassen konnte.

Aber so war es nicht gewesen. Stattdessen war es schlimmer geworden, mit jedem Tag mehr. Der ohnehin schon unerträgliche Schmerz und auch die Sehnsucht nach seinem Mann waren immer größer geworden. Er wollte nur noch eines: endlich wieder mit Mike zusammen sein. Oder wenigstens nicht mehr ohne ihn sein. Da nichts und niemand ihm seinen Mann zurückbringen konnte, gab es nur den einen Weg.

Jannick atmete ganz tief durch und stand langsam auf. Fast überraschte es ihn, dass seine Beine ihn wirklich problemlos trugen. Er ging ins angrenzende Badezimmer und holte sich aus dem Schrank unter dem Waschbecken einen der Müllbeutel, die er für den kleinen Abfalleimer benutzte. Zurück im Schlafzimmer blieb er neben dem Bett stehen und nahm die Packungen mit Schlaftabletten aus der Schublade. Während er sie in den Müllbeutel warf, zählte er mit. Vierzehn Packungen. Scheiße! Aber so was von! Das war doch wohl nicht wahr.

„Oh Mann, Mike. Ich hätte echt einen Tritt in meinen Hintern verdient,“ murmelte er, nahm sich zwei Aspirin und ging zurück in die Küche. Er spülte die Tabletten mit einem großen Glas Wasser hinunter und machte sich eine Tasse Cappuccino. Offenbar hatte er länger geschockt auf seinem Bett gesessen, als ihm bewusst gewesen war. Die eingestellte Zeit am Ofen war abgelaufen, das Gerät hatte sich automatisch abgeschaltet. Zum Glück war die Lasagne noch richtig heiß.

Eigentlich war ihm der Appetit durch die erschreckende Selbsterkenntnis vergangen. Aber seit er in Therapie war, hatte er auch gelernt, wieder sorgsamer mit sich selbst umzugehen. Er war schon immer schlank gewesen, hatte nie ein überflüssiges Gramm Fett am Leib gehabt. Er hatte gut trainierte, flache Muskeln, aber er war weiß Gott nie ein Muskelprotz gewesen. Er war eher der schmale Läufertyp.

Zumindest war er das früher gewesen. Doch in den sechs Monaten nach Mikes Tod hatte Jannick fast vierzehn Kilo Gewicht verloren. Er war einfach nur noch viel zu dünn, und das Gewicht hatte er noch nicht wieder ganz aufgeholt. Also würde er jetzt essen, Appetit hin oder her.

Nachdem er schließlich das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, ging er hinüber in den Wintergarten. Diesmal zögerte er nicht, auch wenn der Anblick immer noch sehr weh tat. Jannick drehte die Heizung herunter und schaltete die Stehleuchte aus. Am Tisch blieb er kurz stehen und ließ erneut sanft seine Hand auf Mikes Brief ruhen.

„Heute nicht, mein Augenstern. Das muss leider warten. Zuerst muss ich noch etwas klären. Ich liebe dich. Aber du solltest mir echt in den Arsch treten.“