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Lu Kranich gehört seit einigen Jahren in die Kalte Welt. „Ich stehe nicht mehr an der Schwelle des Kommens und Verschwindens. Eine unglaubliche Last ist von mir genommen, und meine Neugier gilt nicht mehr den Rätseln des Bösen, sondern Beobachtungen, die entgrenzend sind.“ Doch es gibt Begebenheiten, die eine andere Sprache sprechen. Sie sagen, dass etwas geschehen wird. Etwas Ernstes. Etwas, das schwer zu lösen ist. So begegnet einem Mann, Ottokar von Benningsen, auf einer stürmischen und damit lebensbedrohlichen Überfahrt nach Helgoland ein seltsam altertümlich ausstaffierter Fahrgast, dem offenbar das Sterben nicht gelingt. Der Fluch sucht auch bald von Benningson heim. Dass seine Auflösung mit der Kalten Welt in Verbindung steht, eröffnet sich Lu und den Bewohnern des geheimen Dorfs auf drastische Weise. Lus genialer Freund Sander setzt alles daran, die Koordinaten der Kalten Welt zu berechnen, um eine Katastrophe zu verhindern.
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Seitenzahl: 506
Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhaltsverzeichnis
PROLOG
VOR ZEHN JAHREN
25. DEZEMBER – 10 JAHRE SPÄTER
LU UND ICH
26. DEZEMBER
27. DEZEMBER
28. DEZEMBER
29. DEZEMBER
30. DEZEMBER
31. DEZEMBER
1. JANUAR
2. JANUAR
3. JANUAR
4. JANUAR
5. JANUAR
6. JANUAR
Impressum
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Die Autorin wuchs im Ruhrgebiet in der Metropole Essen auf, studierte in Köln Musik und in Aachen Germanistik und Pädagogik. Sie unterrichtete am Gymnasium, entschied sich aber vor vier Jahren endgültig für die Schriftstellerei.
Borßdorff steht bei der renommierten Leseagentur Rothwinkler – http://www.cr-leseagentur.de/ – unter Vertrag. Dort kann sie unter anderem für Schul-Lesungen gebucht werden. Sie ist auch bei „Autoren und literarische Einrichtungen Nordrhein-Westfalen“ gelistet.
Auch wird sie von der Boedecker-Stiftung vertreten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Lesen in der Schule zu unterstützen. Die Autorin liebt es, aus der Winterjunge-Saga vorzulesen und wird gerne für Lesungen gebucht.
Impressum:
Copyright © 2023 HenniLiz Borßdorff
D.May-S. Nekesstraße 2, 52074Aachen
Erschienen Oktober 2023
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Hannah Sternjakob
Lektorat S.Wagner Satz Divina Michaelis
Wenn alleine das Hiersein dein Leben bestimmt, spielt die Zeit keine Rolle. Sie vergeht, weil sie nicht anders kann. Sie begleitet dich, aber in den Nächten herrscht keine Finsternis, die ihren schwarzen Schatten über dich wirft, um dich hinunterzudrücken. Ihre Geheimnisse säen kein Misstrauen, und es wird nicht duster, sodass man sich wegducken mag. Die Zeit spielt nur am Rande mit, weil du älter wirst und der Baum vor deinem Fenster einen immer dickeren Stamm bekommt und eine Krone, in der die Vögel zwitschern und das Eichhörnchen umhertollt.
Ganz anders ist es mit der Jahreszeit.
Sie diktiert, was zu tun ist. Ständig erinnert sie daran, welche Verrichtungen nicht länger aufschiebbar sind, wenn du in der kalten Zeit nicht hungern willst. Sie macht, dass ich ausgelassen den großen Festen entgegenfiebere, wenn das Essen im Überfluss die Tische biegt.
Seit fünf Jahren gehöre ich dazu, stehe nicht mehr an der Schwelle des Kommens und Verschwindens, muss mich nicht mehr entscheiden, das Ende der mitternächtlichen Stunde im Nacken. Eine unglaubliche Last ist von mir genommen, und meine Neugier gilt nicht den Rätseln des Bösen, sondern Beobachtungen, die entgrenzend sind.
Doch meine Träume sprechen eine andere Sprache.
Sie sagen, dass etwas geschehen wird.
Etwas Ernstes.
Etwas, das ich schwer lösen konnte.
Noch schiebe ich es über meinen Gedankenrand.
Jetzt war August. Der Himmel war grau und wurde immer dunkler. Auf der Fähre von Cuxhaven nach Helgoland erlebte Ottokar von Benningsen das angekündigte Wetter:
Böen bei Windstärke 6.
Gewitter.
Temperatursturz.
Dass der Sturm schon kurz nach der Abfahrt die See zum Kochen brachte, entsprach nicht den Meldungen der Tagesschau.
Der Blanke Hans holte mächtig aus. Von Benningsen stürzte, rutschte an die Reling, das Schiff krängte.
Blitz und Donner. Eine Darbietung auf der Freilichtbühne der Nordsee.
Da packten zwei Hände wie Klauen zu, rissen ihn zurück auf die Planken. Von Benningsen zog die Schultern hoch.
„Sie haben mir das Leben gerettet“, sagte er hustend.
„Alles in Ordnung?“, keuchte der Retter nahe an seinem Ohr.
Von Benningsen rappelte sich hoch.
„Ich danke Ihnen“, brüllte er gegen den Sturm.
Es donnerte.
Der Retter schloss knochige Greisenfinger um das obere Rohr der Reling. Von Benningsen schauderte.
Wenn der Schiffsbug quer zur schäumenden Gischt eintauchte, knallten die Wellen wie Kanonenschüsse an den Rumpf, als wollten sie mit dem Gewitter um die Wette lärmen. Die grauschwarzen Wolkenberge hatte der Sturm herbestellt. Gleich würde die Fähre hineinschlingern.
Nur die beiden Passagiere hatten sich aus dem Bauch des Schiffes ins Freie getraut, wie um dem Sturmtief zu beweisen, dass sie sich ihm gewachsen fühlten. Von Benningsen mit beiden Händen an der Reling, der andere mit nur einer Hand, weil er mit der anderen seinen Hut auf den Kopf drückte. Dass die Möwen sie auslachten, stachelte ihren vorgeblichen Mut weiter an.
Ottokar von Benningsen, ein dunkelhaariger, hochgewachsener Mann, zog die ebenso dunklen buschigen Augenbrauen zusammen. Wie die See war sein Blut in Aufruhr. Ihm war klar, dass er ihr nicht entkommen konnte, sollte es Wind und Wasser gefallen, das Schiff für sich zu behalten. Der Gedanke, in ein Rettungsboot umzusteigen, war einfach nur lächerlich. Mit jedem Herzschlag nahm er diese besondere Situation wahr: Es würde keine fremde Hilfe zum Überleben geben. Da war er Realist.
Mit einem Mal genoss er diesen an sich beängstigenden Umstand, denn ihm kam in den Sinn, dass er mit seinen siebenundsechzig Jahren möglicherweise sein Leben bereits ausreichend lange gelebt hatte.
Jetzt näherte sich der andere Mann erneut von Benningsen, dem trotz des heulenden Windes das metallene Klackern der merkwürdigen Schuhe auffiel. Automatisch starrte von Benningsen sie an. Dann blickte er zwischen zwei Wellenkämpfen des Passagierschiffs an dem anderen hoch und kam, Wetter hin oder her, nicht aus dem Staunen heraus. Dem anderen entgingen die Blicke nicht. Doch der schien sich eher zu amüsieren als erstaunt zu sein. Er registrierte die Schmisse an Braue und Wange seines Gegenübers, die er als aus einer Schlagenden Verbindung einstufte. Der Mann, den er vorhin gerettet hatte, als das Meer ihn über die Reling zu werfen drohte, war also ein Studierter. Er strich sich eine lange graubraune Strähne aus dem Gesicht und bemühte sich vergeblich, sie unter seinem Hut unterzubringen, den er immer wieder auf dem großen Kopf festdrückte. Dieses außergewöhnliche Teil, das mit Sicherheit aus einem Theaterfundus stammte, wie Ottokar von Benningsen glaubte, saß so tief, dass man von dem Gesicht im Wesentlichen die ausgeprägte Hakennase wahrnahm. Die gebräunten, mit Altersflecken übersäten knochigen Hände waren ein weiteres Indiz dafür, dass auch dieser Mann nicht mehr der Jüngste war.
„Sie beweisen Mut!“, brüllte Hakennase gegen die Elemente in von Benningsens Richtung.
„Mut wohl nicht!“, räumte von Benningsen lauthals nach einem Donner ein. „Unter Deck wird mir übel.“
„Verstehe!“ Jetzt hob der andere das Gesicht.
Von Benningsen erschrak. Sein Gegenüber sah auf seltsame Weise verschlagen aus. Tiefliegende Augen in undefinierbarer Farbe, das Gebiss lückenhaft, die Hakennase ein wenig schief. Da bäumte sich das Meer ungut auf. Ohne nachzudenken, rief von Benningsen laut in Richtung der Gischt: „Blanker Hans – du kriegst mich nicht.“
„Aaah“, machte der andere. „Sie wollen Ihr Leben konservieren?“
„Ewig nicht. Aber ich gäb was drum, wenn es noch sehr, sehr lange so weiterginge.“
„Na dann bieten Sie dem Blanken Hans doch was an“, überbrüllte der andere den Lärm der wildgewordenen See und sah seinem Gegenüber auf ironische Weise höflich interessiert ins Gesicht.
„Meine Seele etwa?“ Von Benningsens Ton war spöttisch.
„Tun Sie es! Bieten Sie Ihre Seele.“
Teuflisches Lachen folgte.
Erneut verzog von Benningsen spöttisch die Mundwinkel und schüttelte über sein Gegenüber den Kopf. Die aufgedrehten Elemente und der Kerl neben ihm sorgten für eine angespannte, auf seltsame Weise interessante Stimmung, irgendwo zwischen unwirklich und Weltunter-gang. So ein Spinner war ihm noch nie begegnet. Reiste mit Dreispitz und Kapitänsuniform aus einem vergan-genen Jahrhundert. Diese merkwürdige Kleidung und das heruntergekommene Aussehen provozierten ihn geradezu. Und das, obwohl er in seinem Bekannten- und Ver-wandtenkreis als friedliebend und humorvoll galt. Vor allem schätzte Henriette seinen Witz. Er mochte es, wenn Henriette lachte. Sie war seine erste Liebe gewesen. Jetzt waren sie immer noch gut befreundet.
Ob sie um ihn trauern würde?
Blitze und das Getöse der Donner.
Plötzlich gab es einen kräftigen Ruck, als bräche das Schiff jeden Moment auseinander.
„Ich geb dir meine Seele, Blanker Hans, wenn du mich verschonst. Einverstanden?“, schrie er.
Da gab die graue See noch einmal alles, und der Mann wäre beinahe über Bord gespült worden, als eine Bö heranfegte, wie um das Meer in seinen tödlichen Absichten zu unterstützen. Erschrocken blickte Ottokar von Benningsen in den Abgrund des tiefsten Wellentals, was man sich nur vorstellen kann.
Was er erblickte, raubte ihm den Verstand.
Da packte ihn der seltsame Fahrgast zum zweiten Mal wie der Leibhaftige mit seinen Krallen am Kragen, mit der anderen am Arm und riss ihn von der Reling zurück. Er angelte seinen Hut aus der Rinne gleich neben dem Geländer, drückte das klatschnasse Teil aus und setzte es wieder auf sein grauschwarzes Haar, das in einem dicken Zopf endete.
„Nochmals: Dank!!!“, schrie von Benningsen mit tiefdröhnender Stimme.
Nach einer Pause brüllte der andere: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie Ihren Dank nicht schon bald bereuen werden.“
Von Benningsen schüttelte nur den Kopf.
Der Schock war verflogen. Das sich entfernende Gewitter war nur noch Wetterleuchten mit davonrollendem Donnergrummeln.
Was man nicht so alles zu sehen glaubt, dachte von Benningsen, verscheuchte das unheimliche Bild von vorhin im Abgrund der schäumenden See: ein Frauengesicht, das ihn anstarrte aus stechendgrünen Augen.
„Was wollen Sie eigentlich in Helgoland?“, riss ihn der fremdartige Kerl aus seinen Gedanken, die eine Hand auf den Hut aus einem vorigen Jahrhundert gepresst, damit der Sturm ihn nicht doch noch davonwehte.
„Einer meiner Vorfahren wurde ungefähr HIER bestattet.“ Von Benningsen zeigte mit dem Finger in die aufgewühlte See. Unwillkürlich suchte er die Wellentäler nach der Erscheinung ab in der bangen Hoffnung, dass sich das Schauspiel nicht wiederholen möge.
Der andere stierte in von Benningsens grünbraune Augen, sagte aber nichts.
Mit einem Mal fühlte sich von Benningsen lebendig wie schon lange nicht mehr. In einem Anflug von Euphorie drückte er das Kreuz durch, und gänzlich gegen seine Gewohnheit überkam ihn die Lust, den schrägen Vogel zu zeichnen. Wie in Trance bewegte sich seine rechte Hand und malte das kantige Gesicht mit der schrägen Hakennase in die Luft, über der ein Jahrhunderte alter Dreispitz zum Halten gezwungen wurde. Über dem Kragen der Kapitänsjacke trat der Adamsapfel schroff hervor, als wolle er mit der Hakennase konkurrieren. Die schwarze Jacke saß wie maßgeschneidert, die Reversknöpfe funkelten selbst in dem schwärzlichen Licht des wolkenumtosten Firmaments. Auch die Hose saß, wie sie sollte, der Streifen an den Außenrändern war tadellos weiß.
Eine Stunde später waren sie nahe an der Insel. Wie zur Entschuldigung für ihr ungebührendes Ausrasten nahmen sich die Elemente zurück, sodass die beiden Börteboote ihre Chance bekamen und auf die Fähre zusteuerten.
„Ausbooten!“ schrie einer der vier Matrosen des Boots, was als erstes an die Fähre andockte.
Zwei kräftige Börtebooter schnappten einen Passagier nach dem anderen und drückten jeden auf einen Sitz. Von Benningsen kam als letzter dran, während sein abstruser Retter darauf warten musste, dass ihn das zweite Boot aufnahm.
„Für Ihr und mein Problem gibt es möglicherweise eine Lösung“, rief er von Benningsen hinterher. „Pinto hat sie.“
„Wovon sprechen Sie?“, rief der Angesprochene, die linke Schulter fast bis ans Ohr hochgezogen.
„Ha!“, machte der Fremde, jetzt mit beiden Händen den Dreispitz fixierend. „Es ist eine Totenstadt.“
Kopfschüttelnd blickten die Passagiere den fremdartigen Mann an.
„Pinto hat für Leute wie Sie und mich vorgesorgt.“
Ein Matrose schrie: „Klappe halten!“
„Damit auch WIR unser Grab finden werden.“
„Jetzt reicht es, verdammt nochmal!“, fluchte der Matrose.
„Das Problem ist nur“, rief der seltsame Kerl, „wie kommt unsereins dahin?“
Ein Mann aus dem vorderen Börteboot brüllte: „Wir legen jetzt ab.“
Ein anderer schrie: „Stopft dem Kerl endlich das Maul!“
Da stand der Kerl auf, torkelte wie betrunken an den Schiffsrand und ließ sich über Bord fallen.
„Hör auf zu nerven!“, fauche ich Lu an, als sie schon wieder hinter mir steht, um sich immer bohrender in Erinnerung zu bringen. „Was machst du überhaupt hier?“
„Nur weil du steif und fest behauptet hast, die Winterjunge-Saga wäre zu Ende erzählt, willst du nicht loslegen“, sagt sie streng wie eine Lehrerin zu ihrem Problemschüler. „Dabei hast du bloß Angst, dass dich einer als inkonsequent beschimpft.“
Darauf sage ich nichts. Leider hat sie verdammt nochmal recht.
„Dabei weißt du ganz gut, dass sich so viel Neues ereignet hat“, nervt sie weiter. „Willst du das mit ins Grab nehmen?“
„Na hör mal!“, sage ich angebrannt, obwohl sie mir sehr nahesteht. „Sagtest du: Grab? So weit ist es ja wohl noch nicht.“
„HenniLiz! Verdammt nochmal! Du hast mich in die Kalte Welt geschickt. Da bin ich nun.“ Geräuschvoll holt sie Luft. „Du liebst doch die Kalte Welt.“
Jetzt hat sie mich erwischt.
„Okay, Lu! Ich geb’s ja zu“, sage ich etwas lahm.
Lu grinst mich siegessicher an. Und dann zählt sie auf, was sich alles ereignet hat in den sieben Jahren, die sie nun an Kais Seite ist.
„Stopp!“ Ich fass mir an den Kopf. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“
„Ach!“, brüllt Lu zurück. „Deshalb legst du nicht los?“
Wie von selber sack ich zusammen, die Schultern fallen nach vorne, und ich sitz nun da wie ein Häuflein Elend.
„Das wird es sein“, sage ich matt.
Sinnfrei glotze ich aus dem Fenster einen Ast an. Der Wind wiegt ihn, und es sieht aus, als würde er mir zuwinken.
„Es ist so unglaublich viel geschehen.“
„Dann hast du gut zu tun“, sagt Lu wenig sanft.
Nach einer Pause gebe ich zu bedenken, dass es allerdings bequem ist, dass sich die weiteren Ereignisse in meinem Kopf abspielen, ohne dass ich in die Tasten greifen muss. Das mache ich ohnehin oft. Allerdings auf meinem Klavier.
„Leg los, HenniLiz! Du schaffst das.“
Ich winde mich.
Mir schwirrt der Kopf.
„Bist du noch da?“, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.
Sie lacht mich aus. „Bin in deinem Fantasieareal, Hirnhälfte links. Als ob du das nicht wüsstest!“
Ich nicke.
„Es wird viel Zeit brauchen“, sage ich.
Unglaublich viel ist passiert.
„Los geht’s!“, sagt Lu freudig erregt.
Und damit geht es los!
Herzliche Grüße
Eure
HenniLiz
Ich war ein Teil der Nacht.
Mit den anderen raste ich über den zugefrorenen Kanal, der die Landschaft zerschnitt. Den Blick bohrte ich starr in die Dunkelheit. Das Tempo war halsbrecherisch. Keiner berührte den anderen, niemand gab einen Laut von sich. Durch die anderen konnte ich wie durch ein altes Dia hindurchsehen, wenn die Mondsichel hinter den Wolken hervorlugte. Das Eis, unter dem sich das Wasser tief ins Erdreich hineingefressen hatte, schillerte schwarzglitzernd unter den Kufen, die es geräuschlos berührten. Das Gelände rechts und links von dem eisigen Einschnitt war flach, im nächsten Moment hügelig und mit Gebüsch bewachsen, dann wieder flach und von wenigen Bäumen durchbrochen. Ein Schauder nach dem anderen lief mir über den Rücken, wusste ich doch ganz genau, was mir in der nächsten Sekunde blühte. Ich war die Einzige, die noch unversehrt war. Alle anderen hatten ihre Körper eingebüßt. Sie existierten nur noch als schwarze Schatten.
Du verlierst einen Teil deiner Seele, schallte Kais Warnung durch den Kosmos. Wenn du die falsche Entscheidung triffst, verbleibt der Teil von dir HIER, niemals mehr wirst du wie VORHER in deiner Welt leben können. Und es gibt keine zweite Chance – es sei denn, dass du zu den Glücklichen zählst, bei denen die Magie nach sieben Jahren noch einmal zündet …
Ich stöhnte auf, wälzte mich auf die andere Seite. Die kosmische Vorhersage war alles andere als konfuses Zeug. Sie galt als Warnung an den Besucher der Kalten Welt.
Da!
Die leichenblasse Gestalt.
Wie gefangen war sie an einen Baumstamm gelehnt. Spinnenfinger bohrten sich durch ein engmaschiges Netz genau zu mir. Die farblosen Lippen formten Hilfe – da war ich auch schon an ihr vorbei.
Ein Grauen durchflutete meinen Körper. Das Herz wurde mir bleischwer.
Wer war die bleiche Frau?
Was peinigte sie so sehr?
Da legte sich eine Hand, warm und groß, auf meine Wange. „Lu! Wach auf!“
Doch es gelang mir nicht, obwohl ich aus großer Entfernung wahrnahm, dass jemand redete. War es etwa Pinto, der sich in meine Sphäre hineinwaberte, um eine seiner nebulösen Anordnungen zu treffen? NEIN, schrie ich – wollte ich schreien. Doch kein Ton brach sich durch meine Lippen. Niemals mehr wollte ich diesem Geistwesen begegnen, welches mich magisch an den Polarkreis genötigt hatte, ohne dass ich etwas dagegen hätte unternehmen können.
Mit einem Mal fühlte ich eine Hand auf meinem Arm, deren knochige, lange Finger meinen Ellbogen umspannte. Gleich würde das grausame Finale über mich hereinbrechen. Gleich, ich spürte schon den Einstieg: Ein unsichtbares Etwas drang mir in die Eingeweide, dass das Blut gefror. In mir wurde es eiskalt, während ein schmerzhaftes Kribbeln meine Innereien perforierte. Jetzt drang es weiter vor und breitete sich in meinem Bauch aus, streckte die Tentakel in Richtung Herz wie ein gierig sadistischer Oktopus, der langsam seine Beute okkupiert, um sie in Zeitlupe zu seinem Schlund zu ziehen. Entsetzt gab mein Herz eine Hälfte preis, während sich mein Körper in zwei Hälften teilte. Die eine bestand aus Fleisch und Knochen, sah irgendwie schlaff und zerbeult aus. Die andere war ein vollständiges Abbild meines Ichs. Sie spaltete sich ab, als hätte es jemand mit einem vehementen Beilschlag von dem manifesten Körper getrennt.
Ich schrie auf.
Jetzt griffen zwei Hände nach meiner Schulter und rüttelten energisch meinen Körper durch.
„Lu – verdammt! Wach sofort auf!“
„Ich bin doch wach“, nuschelte ich. „Die ganze Zeit über. Ich fühl mich nur so – so elektrisch an.“
„Was immer du damit sagen willst“, zischte Kai jedes einzelne Wort betont raus, „du musst aufwachen.“
„Es tut so weh. Und meine Finger sind ganz steif.“
„Ich tu dir gleich weh“, drohte es neben mir.
„So steif wie die von der leblos aussehenden Frau.“
„Von wem sprichst du?“
Ich blickte in mein Inneres. In der Dunkelheit funktionierte das meist besonders gut.
„Sicher erinnerst du dich daran, als ich mit dir zum ersten Mal über den Kanal nach Klein-Köln unterwegs war“, brachte ich stockend heraus. „Und wie auf der Rückkehr …“
Natürlich erinnerte er sich.
Die Traumschatten hatten mich völlig unvorbereitet erwischt. Wegen der vorgebeugten Köpfe sah es aus, als rase ein Zug schemenhafter Rächer auf mich zu, um mich gleich niederzumähen. Ich knallte aufs Eis. Wenige Stunden später sah ich wie zusammengeschlagen aus. Mein Gesicht hatte Blessuren, ein Auge war blau, und mein Körper fühlte sich an wie unter eine Lawine gekommen. Das Entsetzen saß so tief, dass es für Alpträume reichte.
Was mir damals erst im Nachhinein bewusst geworden ist: Einige dieser Traumschatten waren deutlicher zu erkennen gewesen als andere. Wieder musste ich einige Zeit rekapitulieren, was mir so besonders im Gedächtnis haften geblieben war.
„Es war eine leichenhafte Spinnenfrau dabei, der man ein Netz übergestülpt hatte“, sagte ich und bekam Gänsehaut. „Die Szenerie erinnert an ein Fischernetz mit einer Meerjungfrau drin, die gleich sterben muss, weil sie über Wasser nicht atmen kann.“
„Hast du nie von erzählt“, sagte Kai.
Ich gähnte, drehte mich um und machte Anstalten, wieder in den Schlaf zu versinken.
„Warum träumst du so schlimm? Ausgerechnet nach einer so lustigen Nacht?“
„Keine Ahnung!“
Die Frage war berechtigt. Die zweite Weihnachtsmitternacht war besonders ausgelassen gewesen. Das ganze Dorf hatte Dachrutschen gespielt. An jeweils einer Seite jeden Hauses wurde ein dicker Schneeberg aufgetürmt. In die meterhohe Schneedecke des Dachs schippte der Haus-herr Stufen und klopfte sie so fest wie möglich. Die Kinder setzten Pechfackeln, die die Rutschbahn markierten, über die man das Dach hinunterrutschte. Dieser schmale Schneestreifen musste ganz besonders festgeklopft werden, damit die Dachrutsche möglichst lange hielt. Um Punkt null Uhr ging der Spaß los: Jeder begann mit der Rutschpartie auf dem eigenen Haus, wechselte dann zu dem Dach vom Nachbarn, danach turnte man weiter aufs nächste Dach. So erklomm man ein Dach nach dem anderen und sauste hinab. Die Familie, deren Dachrutsche und Schneetreppe am längsten hielt, hatte gewonnen.
„Unser Sieger ist LENNI!“, rief Ole, Kais älterer Bruder.
Mit seiner Band spielte er einen Tusch.
Lenn war unser Maroni-Mann. Er hatte Esskastanienbäume und versorgte alle mit den begehrten heißen Maronen.
„Ich will nie mehr träumen“, flüsterte ich kaum hörbar.
„Dann muss ich dir jetzt wehtun. Sonst träumst du gleich schon wieder von der gespenstischen Frau.“
Normalerweise hätte mich eine solche Androhung aufgeschreckt. Doch ich steckte immer noch zu einem erheblichen Teil in dem verfluchten Alptraum fest, sah die im Netz gefangene Frau, an der alles bleich war, die trotz Netz mit den dunklen Schatten durch die Kalte Welt raste. Ich begriff nicht, wie das sein konnte: Ein bleichgesichtiger Schatten mit leichenhaften Händen und einem tieftraurigen Gesichtsausdruck. Waren Schatten nicht ohnehin farblos?
Ich schüttelte den Kopf, sah in Gedanken das Mondlicht und die Gestalt im Netz dahingleiten.
Der Mensch an meiner Seite drehte mich mit Schwung auf den Bauch, zog mir die Decke weg und ein Griff wie von einer Teufelsklaue grub sich in eine meiner Pobacken. Dann wurde ich erneut hin und her gerüttelt.
„Aua!“, rief ich, diesmal richtig laut.
„Schscht!“, machte Kai. Er beugte sich über mein Ohr. „Schscht, kleine Weihnachtselfe. Du bist in Sicherheit. Bei mir!“
Ich schnappte nach Luft, hechelte wie nach einem 100-Meter-Sprint, brachte aber kaum ein brauchbares Wort heraus.
„Ich hab es …“, stammelte ich endlich.
„… wieder geträumt“, vollendete Kai den Satz und strich mir diesmal sanft über den Hintern, fuhr mit zwei Fingern die Wirbelsäule entlang, wanderte den Rücken hinauf und wieder hinunter. „Du hast dich hin- und hergeworfen und schrecklich gekeucht, als wär‘ der Teufel hinter dir her.“
„Warum nur träume ich immer noch davon, als Traumschatten zu enden?“
Eine Pause trat ein, während der die Nacht allmählich ihre Beklemmung verlor.
„Ich habe mich doch entschieden.“
„Das hast du“, sagte Kai spröde. „Bereits vor mehr als fünf Jahren. Sonst würdest du mich jetzt nicht am Schlafen hindern.“
„Hab alles drangesetzt, um in letzter Sekunde in die Kalte Welt …, alles hab‘ ich riskiert – um nie wieder … – und trotzdem halbiert die Nacht mein Herz und alles in mir gefriert und …“
Erneut brach ich ab und drehte mich auf die Seite. Kai schob einen Arm unter mich und drückte mich an sich. Sein Kinn grub sich sanft in meine Wange, sodass die über Nacht gewachsenen Bartstoppeln piekten.
„Ich weiß ja mit Bestimmtheit, dass dir der Weltenwechsel nicht leidtut.“ Er biss nicht allzu sanft in mein Ohrläppchen. „Es ist aber so grundsätzlich, Liebes. Und da kann es passieren, dass ein Alptraum immer mal wieder daran erinnert, WAS du wirklich riskiert hast.“ Er drückte einen Kuss auf meine Wange. „Für mich!“ Neuer Kuss. Diesmal auf die andere Wange. „Für MEINE Welt!“ Noch ein Kuss. „Für UNS! Und UNSERE Welt!“
Ja, das stimmte.
In erster Linie war ER es, weshalb ich mich von meinem Leben in der Problemwelt, wie man sie HIER nannte, verabschiedet hatte. Es bestand kein Zweifel, dass ich als Traumschatten geendet wäre, wenn ich die falsche Entscheidung getroffen hätte – gegen die Kalte Welt und gegen die Liebe. In der Problemwelt würde das Ganze melodramatisch klingen, dachte ich. Da gilt das als Soap, wenn sich zwei gegen alle Widerstände im letzten Moment kriegen. Aber Pinto hat dafür gesorgt, dass man schmerzhaft endete, indem der Körper mit einem sehnsuchtsvollen Teil der Seele DORT bleiben musste, wo er ursprünglich auch herstammte, während der andere Teil auf magische Weise an dem Ort existierte, wo der gesamte Komplex der Kreatur im Grunde seiner Seele hingehörte.
Ich gehörte hierhin.
Nur in den Alpträumen wurde mir immer mal wieder vorgeführt, wie ich andernfalls geendet wäre: Mit den anderen abgespaltenen Seelen wäre ich dazu verurteilt worden, in den Nächten wie in einer Zwischenwelt umherzuirren, unfähig, da anzukommen, wohin mein Dasein als Ganzes definitiv gehört hätte …
„Danke, dass du mich geweckt hast“, sagte ich mit rauer Stimme, bemüht, nicht in Tränen auszubrechen.
„Der Alp hat dich so fest im Griff, dass ich dich ohne Gegengewalt nicht befreien kann.“ Kai streichelte mein Gesicht. „Tut mir leid, kleine Weihnachtselfe. Aber anders krieg ich dich nicht wach.“
Obwohl es stockfinster war, erkannte ich, dass er lächelte.
„Weihnachtselfe war ich im Sommer vor fünf Jahren“, sagte ich mit glücklichem Unterton, wie er sich bei einer schönen Erinnerung automatisch einstellt.
„Keine allzu lange Zeit.“ Auch Kais Stimme klang befreit. „Es war damals so lustig, als du bei Sonnenschein und Wärme in Rovaniemi-Weihnachtsstadt aufgetaucht bist, um an der Seite vom Weihnachtsmann die Urlauber zu unterhalten.“ Er lachte leise auf in der typischen Weise, wie man unbemerkt lacht, um niemanden zu stören – in unserem Fall die beiden schlafenden Kinder, die seit einiger Zeit nicht mehr jede Nacht unser Bett bevölkerten. Nebenan lagen sie in einer Doppelkoje, die Kai mit Emil, der die Hilfsbereitschaft in Person war, gebaut hatte.
Jetzt lachte auch ich auf die verhaltene Weise, verlagerte meinen Körper in eine entspannte Position und knetete meine vor Angst steif gewordenen Finger, damit sie wieder durchblutet wurden.
„Diese transparenten Flügel und dein elfenmäßiges Kleidchen haben mich damals verrückt gemacht“, flüsterte Kai in mein Ohr.
„Und mich der winterliche Joulupuk, den du damals gespielt hast.“
Wie unfassbar aufgeregt ich damals gewesen bin, als ich in einer winzigen Kammer übernachtete, ständig in sehnsuchtsvoller Erwartung des geliebten Joulupuks in meinem Bett. Doch Kai hatte mich warten lassen aus Sorge vor Konsequenzen, die damals noch zu früh für mich, die erst Fünfzehnjährige, gewesen wären. Eine weise Entscheidung, weil ich mich in der Tat nicht um Verhütung gekümmert hatte. Eine dumme Unterlassung, wie ich damals fand. Allzu gerne hätte ich meinen unstillbaren Gelüsten nachgegeben und mit meinem Liebsten geschlafen. Das waberte durch mein Hirn, während ich fest an ihn geschmiegt mit aller Kraft die Augen geöffnet ließ, um nicht erneut in den Alptraum abzudriften.
„Noch wach?“, fragte Kai in anzüglichem Ton und setzte hinzu: „Ich hätte ansonsten eine Idee, wie ich deinen Schlaf noch ein wenig länger hinauszögern könnte.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er mit der Umsetzung dieser Idee, die mich in der Tat äußerst wach machte, mich meine entspannte Lage aufgeben ließ, mich außer Atem brachte und darüber hinaus dafür sorgte, dass ich den Alptraum restlos vergaß. Zumindest für einen entscheidenden Glücksmoment.
„Heute ist der 19. Tag nach deinem letzten Bluten“, sagte er hinterher. „Da ist wach machen auf diese Weise wohl kein Problem, oder?“
„Gut, dass wenigstens einer von uns mitzählt“, sagte ich leise glucksend. „Und zumindest hinterher genauer nachrechnet.“
„Im Gegensatz zu deiner ist meine Vernunft grenzenlos“, sagte Kai in selbstsicherem Ton.
„Angeber!“, zischte ich und lachte.
Ich fand, dass zwei Kinder erst einmal genug waren. Seit nunmehr drei Jahren gab es vier Menschen in unserem kleinen Haus. Die Zwillinge Toms und Justina mit ihren Eltern: Kai und mich. Wir lebten in einem der vierundzwanzig Fachwerkhäuser hier, die miteinander ein wehr-haftes Dorf bildeten. Gemütlich und eng.
Ein tiefer Atemzug machte mir bewusst, wie kühl die Luft in unserem ungeheizten Schlafzimmer war. Immerhin ließen wir während der Winternächte die Zimmertüren geöffnet, damit wenigstens etwas Wärme von dem mit dicken Holzscheiten gefütterten Ofen aus der Küche nach oben steigen konnte. Der Nachteil war, dass Kai und ich innige Nachtstunden nur leise verbringen konnten, wenn die Kinder nicht aufwachen sollten.
„Du isst zu wenig“, stellte Kai fest, als wir nun still aneinandergeschmiegt lagen, während seine Finger an meinem Rücken hinabwanderten. „Ich weiß – es ist nicht mehr besonders viel vorhanden. Die Vorratskammer ist verdammt leer. Dabei haben wir erst Dezember. Jedenfalls fehlt es in letzter Zeit an Futter-Abwechslung.“
„Du bist mindestens so dünn wie ich“, bemerkte ich und griff an seinen hageren Oberkörper, aus dem die Rippen allzu deutlich hervorstanden.
„Noch ein paar Monate, dann blüht alles, und wir können anpflanzen“, sagte ich versöhnlich.
„Essen wir uns beim Fest satt“, sagte Kai.
Ich nickte. „Und ab Sommer wieder rund.“
Für ein paar Sekunden schloss ich die Augen. Erschöpft und glücklich brachte ich mich erneut in eine bequeme Liegeposition. Kai und ich gähnten gleichzeitig herzhaft und brachen erneut in dieses typische unterdrückte Elternlachen aus, das auf keinen Fall Kinder wecken sollte.
„Schlaf gut und traumlos. Die nächsten Nächte werden lang“, nuschelte Kai, wobei das letzte Wort schon kaum noch zu verstehen war.
Wie gewohnt schlief er im Nu ein, was mir nicht vergönnt war. So blinzelte ich noch eine Zeit lang in die Dunkelheit, sog die Duftmischung aus dem gepressten Stroh unter dem Laken und dem Mann an meiner Seite ein, spürte seinen entspannten Körper neben dem meinen und genoss das großartige Gefühl von Wärme, Sicherheit und Zuhause – und die Vorfreude auf die Silvesternacht.
Doch zwischen Tag und Traum zwängten sich Bilder vor das innere Auge. Und bevor ich endgültig einschlief, zeigte sich wieder die ungewöhnlich bleiche Person aus meinem Traum. Ihre Wimpern erinnerten an geweißte Spinnenbeine, die Augen durchbohrten ihr Gegenüber wie in hellstem Wasserblau, ihre Lippen waren kaum zu erkennen. Du musst ihr helfen, sagte die kleine innere Stimme. Sie ist in Not …
Es kam gut, jemanden aus der Problemwelt zu kennen, der in das Geheimnis der Kalten Welt eingeweiht war und gerne dort eine Zeit lang abtauchen wollte. So war es den Bewohnern der Kalten Welt möglich, diese im Austausch mit einer Person aus der Problemwelt zu verlassen. In so einem Fall reichte ihr Radius bis zum Polarkreis am Rande von Rovaniemi Weihnachtsstadt.
Trotz der Schlemihl’schen Stiefel, die einen sieben-mal rascher an ein Ziel brachten, fand Jalmari, der Geschichtenerzähler aus der Kalten Welt, es mühsam, den zugefrorenen Kanal bis nahe Rovaniemi Weihnachtsstadt entlangzugehen. Aus Unwillen schnaufte er lauter durch die Nase als gewöhnlich, wenn er etwas beenden oder einen Argwohn ankündigen wollte. In Sichtweite von Rovaniemi tauschte er für zwei Stunden mit dem über die Angelegenheit informierten Postboten die Welten. Sein Name war Olavi. Er liebte es, bis ins geheime Dorf zu wandern oder nach Klein-Köln, wo er Leute treffen würde, deren Bekanntschaft er gemacht hatte. Mit Olavi hatte sich Jalmari brieflich an der Stelle des Weltenwechsels verabredet, damit er sich zum Polarkreis begeben konnte.
Olavi war pünktlich.
Aus seinem archaisch anmutenden Rucksack zog Jalmari seine Alltagsgaloschen, um sie gegen die Spezialstiefel zu tauschen. Er hatte nicht vor, die Touristen aus der Problemwelt mit Riesenschritten zu schocken. Jetzt stieg Olavi in die besonderen Stiefel und machte sich fröhlich auf in Richtung der kleinen Stadt.
Jalmari, gekleidet wie ein aus der Zeit gefallener Wanderer, erreichte von der Weihnachtsstadt losgehend sein Ziel, um dort das eigene Bewusstsein, und viel anstrengender, das Unterbewusstsein preiszugeben. Er kannte das, denn es geschah nicht zum ersten Mal, dass sich Pinto, der geniale Geist, in sein Denken mischte, was er als überzeugter Individualist mehr als verabscheute. Außerdem galt Jalmaris Leidenschaft dem Erzählen von Geschichten und nicht den Offerten, die Pinto für ihn bereithielt. Mit derselben Leidenschaft hörte er anderen zu, die ihm ihrerseits Geschichten anvertrauten. Lu Kranich, Kais Frau, gehörte dazu. Ihre Geschichten waren es wert, sie anzuhören. Doch daran zu denken, fehlte jetzt die Zeit. Pinto auszuweichen, war nicht möglich.
Verdammt!
Er hatte sich das mit dem Zweiten Gesicht nicht ausgesucht. Die Gabe lag aber nun einmal in seiner Natur, und Pinto drang darauf, sie zu nutzen. Überhaupt war Pinto jemand, der sich alles und jeden zunutze machte, wenn es seiner Passion diente, Ränke zum Erhalt der Kalten Welt zu schmieden oder mit seinem kongenialen Freund weitere Besonderheiten zu kreieren. Auch Pinto besaß eine Gabe, wie er Jalmari einmal anvertraut hatte. Sie war ihm vererbt vom Ur-Onkel, der die besondere Fähigkeit, Dinge zu konzentrieren und ihnen Leben einzuhauchen, nicht hatte ausleben können, weil ihm die Pest vorzeitig ein Ende bereitet hatte. Ohne durchschlagende Gegenmittel hatte die Seuche leichtes Spiel gehabt, als sie sich damals durch die Dörfer und Städte wälzte. Aus Jalmari unbekannten Gründen war die Begabung des Ur-Onkels auf den Mann übergegangen, der sich als Pinto einen Namen gemacht hatte.
Heute war es also wieder einmal so weit. Jalmari wusste um die Unmöglichkeit, Pintos Anordnungen zu widerstehen. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich zu fügen, denn der geniale Geist, der die Kalte Welt ersann, würde nicht eher lockerlassen, als bis er, der Geschichten-Erzähler mit dem Zweiten Gesicht, folgsam den Polarkreis aufgesucht hätte. Dabei säße Jalmari jetzt lieber in seiner Klause vor dem Herd, in der Hand einen Becher mit Glühpunsch, im Feuer Kartoffeln und Maroni.
Noch war die Luft klar, und er konnte in die Ferne blicken. Ohne jede Vorwarnung, ohne das geringste Anzeichen änderte sich dieser Zustand abrupt.
Mein lieber Einsiedler, hauchte es in seinem Kopf, wie sinnvoll, dich an diesem Ort zu treffen.
Wie jedes Mal, wenn Pinto ihn zu sich her zitiert hatte, suchte Jalmari den Blickkontakt zu dem ruhelosen Geist, stierte in den Nebel, um wenigstens den Schemen wahrzunehmen, der in dem milchigen Dunst um ihn herschwebte.
Ich alter Narr, ich sah mich als Künstler … voller Leidenschaft … doch ich war es nicht alleine … der Architekt und Statiker setzte meine Ideen um … es gab Verein-barungen … nicht umsonst konnten wir die Zeit anhalten … konnten unsere Dörfer und das Leben so festhalten, wie wir es sahen.
Weil der Geist ihn einhüllte wie eine Spirale, begann nun auch Jalmari, sich wie in Zeitlupe um die eigene Achse zu drehen.
Wir maßten uns an, den Dörfern eine unnachahmliche Stimmung einzuhauchen … und wir schafften es, dass man die Orte nicht finden kann … nicht auf normalem Weg. Doch ich musste bezahlen … mit einem Leben, das sich nicht beenden lässt … für alles muss man bezahlen … und für eine Welt sogar ganz grundsätzlich …
Der Geist lachte und stöhnte in einem. Jalmari bestand im Moment nur aus Ohren zum Auffangen der wie hingehauchten Gedanken.
Ich dachte damals, wie fantastisch es doch ist, unbegrenzt zu leben … egal, auf welche Weise … Zeit zu haben für all die Ideen, die man als junger Mann entwarf … und dann dieses überhebliche Gefühl der Alleinvertretungsmacht … Haha! ... geradezu absurd, wenn du mich fragst …
„Ich habe aber nicht gefragt“, raunte Jalmari mürrisch. Gleichzeitig erkannte er, dass Pinto ihm gar nicht zuhörte, sondern unbeirrt in dem eigenartigen Singsang fortfuhr. Mühsam beherrscht unterdrückte er einen unwilligen Schnaufer.
Doch es geht vielen so … sie werden dazu verdammt, Unvollendetes zu vollenden … und sie dürfen nicht unter die Erde … mein begnadeter Freund, der Architekt und Statiker, hat diesen eigenen Weg eingeschlagen … sein Ahn gehörte zu denjenigen, deren Fähigkeiten nur im Verborgenen zum Vorschein kommen konnten.
Dort, wo man den Mund vermuten konnte, verzog sich das Gesicht in mattem Beige zu einem nebulösen Lächeln.
Nun muss und darf er das ausleben, so wie ich … aber wir haben unsere Probleme … große Probleme … das wissen die Toten natürlich … all die verkannten Genies, die unentdeckt vor der Zeit starben …
„Von wem sprichst du?“, wollte Jalmari in die wolkenhafte Umgebung hinausdonnern, aber der Schall seiner Stimme wurde geschluckt.
Jalmari sog deutlich hörbar die Luft durch die Nase ein. „Wer sind SIE?“
Er hasste Pintos Art, sich nicht klar auszudrücken. Noch mehr verabscheute er es, wenn jemand ganz offenkundig in Plauderstimmung war. Wie sollte er sich einen Reim auf dessen Gefasel machen?
Bin ich etwa Gott?, säuselte es ihm diesmal ins andere Ohr, natürlich bin ich das nicht … bin kein Gott … nur ein Prokurist und eingebildeter Künstler – ein wenig zumindest … Hihi! ... aber in erster Linie ein erfinderischer Buchhalter, der seinem eigenen Geniestreich zufolge Verträge schließen muss …
„Mit wem?“, fragte Jalmari leise, obwohl er seinen Peiniger eigentlich anbrüllen mochte. Aber ihm wollte einfach kein wirklich lautes Wort gelingen. Der Nebel verschlang die Worte wie ein Mikrophon, das verkehrt herum gepolt war. Man brüllte hinein und heraus kam ein Wispern. Dieses wie gedankenverloren dahingesäuselte Gefasel brachte ihn in Rage.
Geduld, mein bester Freund, immer mit der Ruhe … auch der Kosmos arbeitet mit der ihm eigenen kosmischen Ruhe … Hihihi … dafür allerdings unerbittlich … der Architekt hat das Problem gelöst … aber nicht vollkommen … die Totenstadt existiert … jedoch nur in der Kalten Welt … in MEINEM gedachten Element, wie du es kennst … aber es gibt kein magisches Objekt, an das sich die Untoten halten können … es fehlt an Orientierung … dummerweise hat dieser verflixte Kosmos ein Ohr für verkannte Genies … und das sind die, die nun solche Probleme machen … sie haben genug vom Leben und können nicht sterben …
„Was habe ich damit zu tun?“, zischte Jalmari heraus. „Dass es Leute gibt, die sterben wollen, ist ja wohl nicht das, was du mir mitteilen willst. Und dass es verkannte Genies gibt, ist nun einmal so.“
Wie liegst du doch richtig mit deiner Annahme, mein lieber Freund … es sind Luft, Feuer, Wasser, Erde, die manchmal so in Einklang sind, dass sie kooperieren, damit die zum Leben Verdammten in ihr Grab schlüpfen können … doch vorher müssen sie die Totenstadt finden …
„WER findet WAS?“, fragte Jalmari mit allem Nachdruck, den er aufbringen konnte. „Sprich bitte klarer!“
Die Perchte könnte helfen … sie schafft Leben, wenn sie nicht im Gegenzug den Tod bringt … das muss ja jemand erledigen … sonst haben wir irgendwann nur noch solche wie mich … Hihihi … Jalmari, mein Bester, die Perchte ist auf der Seite derjenigen, um die es in nächster Zeit geht … sie müssen den Tod finden …
Jetzt schnurrte Pinto ähnlich einem Kater hinter dem Ofen.
wenn du auch nur ahntest, dass ich keinesfalls eine Singularität bin … denk an den Architekten, der meine Ideen umgesetzt und die Totenstadt entwickelt hat … du sollst mit deinem zweiten Gesicht das Heil von Unheil unterscheiden … du musst eingreifen, wenn die zum ewigen Leben Verdammten nicht mehr können und auch nicht mehr wollen … gib Sander Bescheid … meinem klugen Nachfahren … Jalmari … du schaffst das … und achte auf Lu … sie hat so viel erleiden müssen … aber sie hat noch Kontakte … man muss sie nutzen … doch sie darf nicht unglücklich werden … hast du gehört … nicht unglücklich werden … sie wird den Mann mit der ersten Uhr und die junge Frau mit der Glasharmonika nutzen … sie bringen das Frühere in die Gegenwart und was allzu fern ist, kommt nah … das soll ihr zum Vorteil gereichen … ihre Kinder … das kleine wilde Mädchen … vor allem auf das Mädchen musst du achtgeben … es wäre möglich, dass sie schlechte Dinge tut, wenn sie eines Tages Zusam-menhänge sieht, die sie noch nicht begreifen kann ... natürlich nicht, weil sie schlecht ist … vielleicht will sie etwas verbessern, etwas herausfinden … sie kann nicht die Zusammenhänge erkennen … später erst …in einigen Jahren … und suche hoch im Norden die Stadt mit den offenen Gräbern … die Totenstadt …
„Totenstadt“, wiederholte Jalmari wie ein Automat und nahm gleichzeitig wahr, dass sich der Nebel lichtete.
Eine geraume Zeit stand er alleine am Polarkreis, stieß heftig die Luft durch die Nase aus, was nach Pferdeschnauben klang.
Pinto war verschwunden.
Ich räkelte mich und genoss das Wärmegefühl unter der Daunendecke dicht neben Kai, der immer wie ein menschliches Heizkissen unser Bett und damit auch mich auf Temperatur hielt. Wohlig kostete ich aus, noch nicht aufstehen zu müssen. Auch heute würde es wieder eine endlos lange Nacht werden wie an jedem Weihnachtsfest. Draußen rüttelte ein eisiger Wind an den Fensterläden, als wolle er das Haus und seine Bewohner auf Trab bringen. In der Ferne krächzte eine der vielen Schnee-Dohlen, die hier heimisch waren.
Sonst war es völlig still.
Ich schickte ein kleines Glückslächeln an die Holzbalken der Zimmerdecke.
Wie im Dezember üblich gingen alle Dorfbewohner erst frühestens eine Stunde nach Mitternacht ins Bett. Das war schon immer so gewesen, weil die Gäste aus der Problemwelt gegen Ende der Geisterstunde wieder verschwanden. Allerdings gab es in diesem Jahr keinen einzigen Gast. Ja, es war aufwendig, das Medium zu basteln. Die vierundzwanzig Häuschen mussten akkurat zugeschnitten und sorgfältig zusammengeklebt werden. Hatte man das geschafft, kam die eigentliche Bedingung zum Tragen: Um Mitternacht sich über das gebastelte Werk beugen und den Kosmos machen lassen. Der wirbelte einen dann zu uns in die Kalte Welt, in das Haus, über das man sich gebeugt hatte. So hatte ich es vor nunmehr sieben Jahren zum ersten Mal erlebt.
In Haus Nummer 12, in dem Ilmar mit seiner Frau und den Kindern Arvid und Jona wohnte, standen geheimnisvolle Eiskugeln. Ab Dezember behielt Ilmar sie stets im Blick. In ihnen konnte man wie in einem kleinen Hohl-spiegel sehen, wer an der Miniaturausgabe unseres Dorfs arbeitete, wie die Person sie an welchem Ort aufbaute und winterlich schmückte.
In fünf Kugeln waren Miniaturhäuschen zu sehen, die genauso aussahen wie die Häuser in unserem Dorf. Aber nur drei Dörfchen waren dekoriert aufgebaut, während man in den beiden anderen Kugeln nur unordentlich abgestellte Häuschen sah, die jemand nicht nur ausgeschnitten, sondern zumindest die meisten auch zusammengeklebt hatte. Die Miniaturhäuser der arrangierten Dörfchen sahen sich natürlich sehr ähnlich, waren aber verschiedenartig bemalt und dekoriert. Eins dieser Dörfer stand auf einer breiten Kommode. Den Untergrund schmückten Moos und silberne Sternchen, doch die Kirche fehlte. In einer anderen Schneekugel erkannte man, dass die Häuschen ausschließlich mit Silber und Gold bemalt waren. Auch der Untergrund bestand aus Goldpapier. Über das Arrangement hatte man mit weißem Puder Schnee nach-empfunden. Aber dieses Dörfchen zählte nur 18 Häuser. Zum Beispiel fehlte die Schräge Acht.
In diesem Jahr gab es also nur ein einziges vollendetes Werk mit allen 24 Miniaturhäusern. Es stand auf dunkelgrüner Seide, die mit winzigen Silbersternchen übersät war, bei einer älteren Dame auf dem Sideboard. Die würde sich bestimmt nicht um null Uhr über ihre Winter-Deko beugen, um eins der Häuschen genauer in Augenschein zu nehmen. Das ersparte ihr den Sturz durch den Kosmos ebenso wie den Aufprall, wenn sie in einem der Häuser aufkommen würde.
So blieben wir in diesem Jahr unter uns.
Wir bedauerten, dass es das Medium nur noch verein-zelt zu kaufen gab. Und wenn es jemand geschenkt bekam, hatte derjenige entweder keine Zeit oder keine Lust, den Aufwand zu betreiben, um mit einem Dörfchen aus Pappe winterlich zu dekorieren. Immerhin hatten einige begonnen, strichen aber vor der Vollendung die Segel. Die Spiegelungen der Eiskugeln ließen das deutlich nachverfolgen.
Schade!
Wir bekamen gerne Gäste.
„Die Problemwelt erstickt im Zeitmangel“, hatte Eric, Kais Großvater, erst neulich gesagt, als wir ihn besuchten.
Diesem Besuch haftete eine merkwürdige Note an, worüber ich seitdem öfter nachdachte. Ylvie, Kais Großmutter, die Eric, wenn er tadelnd zu ihr redete, Elsa nannte, vermutlich, weil sich Elsa strenger als Ylvie anhörte und die beiden Namen trotzdem etwas ähnlich klangen, hatte bergeweise Äpfel eingekocht und ein Glas Kompott für einen wundervollen Kuchen verschwendet. Obwohl sie sich seit einiger Zeit nicht wohlfühlte, hatte sie aufwendig gebacken. Nach Kaffee und Apfelkuchen stand Eric am Regal und suchte sorgfältig ein Kinderbuch aus, um den Zwillingen vorzulesen. Sie verstanden zwar noch nicht allzu viel, aber Eric war der Meinung, dass Kinder immer etwas begreifen würden, vor allem, wenn Verse mit Bildern untermalt waren.
Eric deutete mit der freien Hand auf einen Schaukelstuhl. „Der wundervolle Sessel tut seine Dienste“, sagte er lächelnd.
Kai hatte im Sommer für seinen Großvater einen Schaukelstuhl gebaut. Die Sitzfläche aus Korbgeflecht hatte Überbreite, sodass sogar zwei schmale Personen darauf Platz fanden. Die Kufen waren aus stabilem Ahornholz. Der Stuhl würde aller Voraussicht nach sogar uns überdauern, falls wir ihn eines Tages erbten. Kai hatte ihn in vielen Abendstunden fertiggestellt. Es sollte ein ganz besonderes Geschenk sein, und das war es auch.
Eric nahm zwischen zwei dicken Kissen Platz. Jussi und Toms kletterten zu ihm hinauf. Mit beiden Kindern auf dem Schoß hielt er ein abgegriffenes Buch in seinen hageren, vom Wetter gegerbten Händen. In verblichenem Gelb auf blassgrünem Untergrund stand in Großbuchstaben der Titel: HOLLE. Und als Untertitel in kleinem Kursiv-Druck: Für verständige Kinder. Toms versuchte, mit seinem dünnen Zeigefinger ein paar Buchstaben nachzuzeichnen, während Jussi „Lesen!“ verlangte.
Eric klappte das Buch auf und begann:
„Wir Kinder lieben Eis und Schnee
Mit Schlitten woll‘n wir jagen
Den Berg hinab – manchmal tuts weh
Doch hört man keine Klagen.
Denn wir lieben rasche Fahrt
Sind gerne auf der Eisbahn
Das schnelle Tempo und die Jagd
Wie früher unsre Ahn.“
Die Kinder betrachteten das Gemälde, das für mich auf dem Kopf stand, da ich den dreien auf einem Küchenstuhl erhöht gegenübersaß. Jungen rodelten mit ihren Schlitten einen Abhang hinunter. Dicke Ohrenmützen saßen tief in der Stirn, ihre Wangen waren rosa, die Hände steckten in grauen Fäustlingen, die über grobgestrickte Pulloverärmel gestülpt waren. Ein Kind wirbelte durch die Luft, während sein Schlitten in Seitenlage weiterglitt. Zwei Mädchen hielten sich erschrocken eine Hand vor den Mund, ein anderes reckte beide Arme in die Luft und lachte. In einer Hand hielt es sein rotes Mützchen, die langen, hellen Haare kräuselten sich in alle Richtungen und der kleine Walkmantel stand offen, sodass man einen bunt gestreiften Pullover sah.
Eric blätterte um.
„Die Holle hat ihr Auge drauf
Denn sie beschützt das Kind.
Als Wolke ist sie stets dabei
Unfassbar wie der Wind.
Nur manchmal wird sie offenbar
Für ein recht kluges Mädchen.
Von dem sie ahnt, dass es versteht
Das Spiel der Lebensfädchen.“
Das Bild zeigte eine Wolkenfrau, deren rundes Gesicht gleichzeitig Milde und Strenge ausdrückte, indem zwischen den gebogenen Brauen eine senkrechte Linie zu sehen war. Die Lippen deuteten ein Lächeln an, doch der Zeigefinger machte eine Drohgebärde. An ihrer Seite steht ein kleines Mädchen mit weit geöffneten Augen, den Mund zu einem O geformt. Schräg neben den beiden zogen sich Fäden, ausgehend von einem Säugling über ein Kind hin zu einer erwachsenen Person bis zu einem alten Mann mit gebeugtem Rücken.
Meine kleine Tochter tippte mit dem Finger auf das Mädchen neben der Holle und sagte „Da ist Jussi“.
„Ja, Jussi, das könntest du sein“, bestätigte Eric.
Erst nach einer Weile blätterte er die Seite um.
„Das Kind erkennt noch nicht das Ziel
Ahnt nirgendwo das Ende.
Doch gibt es sie: Die Gräberstadt
Unwegsam im Gelände.
Geduldig wird auf die gewartet,
Die glücklich sind zu sterben.
Weil ihre Zeit längst abgelaufen
Suchen sie nach Särgen.“
Obwohl mich diese Strophe gruselte, griff ich nicht ein. Als ich zu Kai sah, irritierte es mich, dass er lächelte.
„Das alte Buch“, flüsterte er. „Ich kenne es auswendig.“
Auf dem Bild sah man offene Gräber mit schiefen Kreuzen, die zu fröhlichen Gesichtern geformt waren. Es schien ganz so, als freuten sich die Gräber auf ihren zukünftigen Inhalt.
Ich fand Text und Bild makaber. Doch Eric und Kai empfanden ganz offensichtlich anders. Sie schienen sich über den Tod zu amüsieren, was mich befremdete, denn es handelte sich doch um ein Kinderbuch.
Eric las weiter.
„Siehst du so einen armen Wicht
Gealtert und todmüde,
Dann leite ihn zu seinem Platz
Damit er sich ablüde.
Auf dass er sich vom Ahn befreit,
der ihm den Tod verwehrt.
Und schließlich doch sein Ende find
Seit Jahren heiß begehrt.“
Das Bild zeigte drei aneinandergereihte Szenen: In der ersten erkannte man einen rüstigen alten Wanderer. In der zweiten Szene war sein Rücken wie auf dem vorletzten Gemälde gekrümmt, und er stützte sich auf einen Stock. In der dritten hatte er den Stock weggeworfen, und er sprang mit freudigem Gesicht und offenbar leichtfüßig dem geöffneten Grab entgegen.
Jussi klatschte voller Begeisterung in die Hände, während sich Toms nachdenklich über das Bild beugte.
„Ist das wirklich ein Kinderbuch?“, fragte ich jetzt.
„Oh ja“, sagte Eric. „Ein wundervolles sogar, möchte ich meinen.“
„Eric hat so seine Ansichten“, sagte Kais Großmutter. „Und eine davon ist: Man kann nie früh genug etwas über das Ende wissen. Denn wenn man Bescheid weiß, braucht man es nicht fürchten.“
„So ist es“, bestätigte sie der Ehemann. „Man muss sich auf die wichtigen Dinge des Lebens einlassen. Das haben sie in der Problemwelt vergessen. Sonst würden sie die Magie suchen.“
Ich nickte. „Wirklich schade, dass in diesem Winter niemand herkommt.“
Dabei waren vor allem die größeren Kinder aus der Kalten Welt scharf darauf, mit jemandem von dort Freundschaft zu schließen.
Der Tag würde kommen, an dem ich den Zwillingen erzählen werde, dass ich eine von denen gewesen bin: Eine aus der Problemwelt. Bei dem Gedanken musste ich unwillkürlich lächeln. Ich war eine von ihnen GEWESEN. Und jetzt war ich eine von HIER.
Für IMMER.
In der ersten Zeit meines Hierseins faszinierte mich die nächtliche Ruhe, sobald ich im Bett lag. Viele Monate lang hatte ich regelrecht in das lautlose Nichts hineingehorcht. Jetzt gehörte es zu meinem Alltag. Doch ich genoss es jede Nacht aufs Neue. Im Moment bemühte ich mich allerdings darum, das Kinderbuch aus meinen Gedanken zu verscheuchen. Für Kai hatte es absolut nichts Bedrückendes an sich, da ihm von klein auf bekannt war, dass es außer dem kleinen Dorf-Friedhof wohl irgendwo im noch höheren Norden eine Art Totenstadt gab. Auch ihm hatte Eric genau jenes Buch vorgelesen und bestätigt, dass es sich nicht nur um eine märchenhafte Weise handele.
Es dunkelte, als wir unsere Draußensachen, wie wir sie nannten, überzogen und uns auf den Heimweg machten. Mit einem großen Rest Apfelkuchen in einer Umhängetasche, den Spezialstiefeln an den Füßen und jeder einen Zwilling im Tragetuch auf dem Rücken.
Zum Frühstück gab es in Ziegenmilch eingelegtes Brot, das schon hart geworden, aber noch nicht von Schimmel befallen war.
Unsere Vorratskammer befand sich an einer Außenwand, wo es besonders kalt und absolut trocken war. In der Milch wurden die Brotschnitten wieder weich. Mit einem Klecks Marmelade hatten wir ein ganz passables Frühstück. Bestreut mit Zucker und Zimt schmeckte das eingeweichte Brot den beiden Kleinen sogar köstlich.
„Mehr, Mama!“
Vor allem meine immer hungrige Tochter konnte nicht genug davon kriegen. Bald waren auch die letzten Brocken aufgegessen. Jetzt vernichteten wir sogar noch den Rest Apfelkuchen von gestern.
Da wir wie fast alle hier ein paar Hühner hielten, gab es jeden Tag zwei bis drei Eier. Für heute Mittag wollte ich sie mit Milch verlängert zu Rührei verarbeiten, wenn es in Salzlake eingelegten Fisch und für jeden zwei Kartoffeln gab. So kämen wir über den Tag, bis abends im Futterkasten – so die Bezeichnung für das flache Gebäude für Schulunterricht, Zusammenkünfte aller Art wie Feste und Mahlzeiten – mit allen, die wollten, gemeinsam gegessen würde. Auch dort verlängerte man die zur Neige gehenden Vorräte mit eingeweichtem Altbrot und klein geschnittenen Schinkenwürfeln von geräucherten Elchteilen oder mit in Salzlake konserviertem Fisch und einigen Kartoffeln, deren Schalen man natürlich mitaß. Irgendwie reichte es immer für alle. Zumindest hatte jeder eine Portion auf seinem Teller. Doch natürlich war klar, dass vor allem die älteren Jungs locker das Doppelte verputzen würden.
In der ersten Zeit meines endgültigen Weltenwechsels fragte ich mich oft, worin das Geheimnis lag, dass niemand hier ausgehungert, abgearbeitet oder mit sich und der Welt uneins war, obwohl die Vorräte regelmäßig gegen Ende des Winters knapp, einige Dächer durch die Schneelast undicht und manches Mal vom Wind sogar Fenster eingedrückt wurden.
Ich wusste es nicht.
Ein paarmal hatte ich das Thema Kai gegenüber angesprochen, doch er zuckte nur mit den Schultern.
„Ist halt so. Und was passiert, passiert.“
Beschwerde zwecklos, dachte ich, weil es niemanden gab, dem man hätte Vorwürfe machen können.
Märthe hingegen hatte ihre Vermutungen. Als junges Mädchen war sie oft mit Hannes zusammen gewesen. Nachdem mein Onkel mit zehn Jahren von zu Hause abgehauen war, um für immer in der Kalten Welt zu verschwinden, hatte sich die zehn Jahre ältere Märthe um den neuen Nachbarsjungen gekümmert. Christian, der sich als Fan von Hans-Christian Andersen hier Hannes nannte, erzählte ihr viel aus der Problemwelt, die er mit fliegenden Fahnen verlassen hatte. Die zerrüttete Familie, Schulerlebnisse, riesige Kaufhäuser – Märthe befremdete all das.
„Es ist wohl so, dass der Kosmos aus den ihm gegebenen Voraussetzungen die Welt ausrichtet. Die Bewohner akzeptieren das Leben, wie es ist, und machen natürlich das Beste draus. Pinto hat es so gesehen, und also stellte sich der Kosmos auf sein Konstrukt ein“, sagte Märthe schlicht. „Oder es war umgekehrt. Der Kosmos hat Pinto manipuliert.“
Jalmari sagte dazu: „Wie Pinto den Kosmos oder der Kosmos ihn hat beeinflussen können, wird ein Geheimnis bleiben.“
Die Welt, aus der ich kam, hatte dafür gesorgt, dass ich mich oft gefürchtet hatte. Genau genommen lag der Kern meiner Furcht in meiner eigenen Familie. Die überarbeiteten Eltern, die mit vollem Einsatz das große Haus abbezahlten. Als kleines Mädchen sah ich mich manchmal vereinsamt in dem riesigen Anwesen sitzen, weil meine Eltern Heide, unsere damalige Haushälterin, nicht mehr bezahlen konnten. Und ich fürchtete um den Kontakt zu Andrea, der Schwester meines Vaters und meine Patentante. Meine Eltern hatten sie verachtet, weil Andrea sie als Neureiche verachtete. Und weil sie einfach anders war: immer auf dem Sprung, jederzeit bereit, den Lebensmittelpunkt zu verlegen, ohne Kleiderschrank nur aus Koffern und Taschen lebend und mit dickem Motorrad auf Achse. Dass meine Patin zeit ihres Lebens in der Problemwelt nach ihrem Bruder suchte, hatten meine Eltern nicht auf dem Schirm gehabt.
Meine Tante hatte sich anfangs gefragt, ob ihr so ein Dasein wie in diesem Dorf nicht schon bald zu langweilig wäre.
Nein! Es war ihr nicht langweilig geworden.
Sie zupfte an ihrem Seidentuch, auf dem ein Winterdorf im Schnee aufgemalt war. Ein Weihnachtsgeschenk von mir.
„Es gibt hier etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt“, sagte sie. „Einen Zauber. Vielleicht eher eine Magie.“
Ich nickte nur.
„Weißt du, Lu, das Universum hat sich hier Mühe gegeben.“
„Ja, das wird es wohl sein“, bestätigte ich lapidar wie jemand, dem nichts Besseres einfiel. Doch nach einer Weile sagte ich, dass ich manchmal, wenn ich die Augen schließe, große Getreidefelder und Kartoffeläcker, Kühe und Erdbeerplantagen sehe wie in kräftigen Farben auf ein Plakat gemalt. Und dann würde ich mich dabei erwischen, wie ich mit einer riesigen Einkaufstasche bewaffnet wahllos all die frischen Dinge in einen überdimensionalen Einkaufswagen häufte, um anschließend mit meiner Beute nach Hause zu laufen wie ein Wilderer, der gegen das Gesetz verstieß.
„Klingt fast nach kriminellem Schlaraffenland“, lachte Andrea. Ihr schmales Gesicht wurde so breit, dass es der Mund in Ober- und Unterhälfte teilte. Dann sagte sie: „Schon, als ich zum ersten Mal in diesem Dorf gelandet war und Torge kennenlernte, habe ich völlig entgegen meiner Gewohnheit nicht spontan fest damit gerechnet, dass gleich das dicke Ende kommt, weil es gar nicht anders sein kann.“ Sie wurde ernst. „Bevor ich hierherkam, war ich fest davon überzeugt, dass so etwas wie Glück nun einmal nicht für mich gemacht wäre.“
Nach einer kleinen Pause lächelten wir beide.
„Es hat eine Weile gedauert, bis ich nicht mehr Schuldgefühle hatte, nur weil ich glücklich war.“
„Schuldgefühle wegen Glück?“
Ich fand den Gedanken verrückt.
„Das Gefühl ist angeblich gar nicht mal so selten.“ Andreas Mund verzog sich zu einem Strich. Aber nur für einen Moment. „Natürlich hätte ich manchmal gerne ein bisschen mehr Luxus“, wechselte sie das Thema. „Zum Beispiel stelle ich mir vor, dass ich ein Ding, was kaputtgegangen ist, einfach durch ein Neues ersetze. Stattdessen muss man hier so ziemlich alles reparieren, weil es ganz einfach keinen Ersatz gibt.“
Die Kalte Welt war in ihren Augen deshalb nicht unbedingt aus einer längst vergangenen Zeit, in der einen die Armut aus allen Ecken angeschaut hatte.
„Eigentlich müsste man für die Art, wie wir hier leben, ein neues Wort erfinden. Es ist ja nicht einfach nur bodenständig, gemütlich, anheimelnd. Im Gegenteil muss man hier oft schuften, weil es keine elektrischen Geräte gibt. Aber …“ Andrea dachte nach. „Es ist eine Art Luxus des Einfachen. Luxus, weil es den Alltag funktional erleichtert; Luxus des Einfachen, weil man nicht aufwendig etwas aussuchen muss aus einem unüberschaubaren Sortiment.“
Ich nickte.
„Hast du Torge eigentlich viel von deiner Familie und aus unserer früheren Welt erzählt?“, wollte ich wissen.
„Nun ja!“ Andrea lachte, aber diesmal nicht ganz so breit. „Wie du weißt, bin ich ohne einen Fetzen am Leib hier aufgetaucht, weil ich Nacktschläferin bin. Da wollte er natürlich wissen, wieso das wärmetechnisch überhaupt möglich ist: Ohne alles in einem eiskalten Schlafzimmer ins Bett zu gehen. Und da habe ich dann losgelegt. Was eine Heizung ist, warum, wenn man es will, immer warmes Wasser aus der Leitung kommt, auf welche Art von Matratzen man sich legen kann. Dass man im Urlaub verreist. Äh – dass es überhaupt sowas wie Urlaub gibt. Er kannte das Wort gar nicht.“
Ich lachte laut los. „Ihr seid vom Hölzchen auf Stöckchen gekommen.“
„Ja. Bei allem, was er oder ich tat und anpackte, standen unmittelbar darauf Fragen ins Haus. Ich staunte über die eingekochte Marmelade, und Torge wunderte sich, dass ich darüber überhaupt ein Wort verlor. Und Zack waren wir beim Thema: Riesenregale voller Marmeladen in allen Variationen und von zig verschiedenen Herstellern auf der einen und einem Glas eingekochter Marmelade auf der anderen Seite: nämlich HIER.“
Ich nickte. „Ich glaube nicht, dass man sich hier überhaupt vorstellen kann, wie es beim Discounter aussieht.“
Plötzlich wieherte Andrea auf wie ein Pferd. „Ich habe mir allerdings auch nicht vorstellen können, dass das Teil, was ich für ein Nachthemd hielt, keins war. Dabei hatte ich es aus einer Schublade gezogen, um ab sofort etwas zum Überziehen für die Nacht zu haben.“
„Was war es denn dann?“
„Ein Totenhemd!“
Jetzt wieherten wir beide.
Auch ich hatte begreifen müssen, dass man vorbereitet sein sollte. Es gab keine medizinische Versorgung, wie Andrea und ich es von früher her gewohnt waren. Märthe hatte zwar ihre Fähigkeiten, und sie hatte Kai angesteckt, sodass auch er sich immer häufiger sachkundig machte, welches Kraut wogegen wuchs und wie man etwas damit kurieren konnte. Bereits vier dicke Hefte waren mit seinen Notizen und zwecks Anschauung mit getrockneten Blättern und Blüten gefüllt. In erstaunlich akkurater Schrift (erstaunlich, weil er im Wesentlichen als Zimmermann werkelte und als Fischer hinausfuhr, wenn er nicht auf die Jagd ging) hatte er alles in Kapitel unterteilt, sodass auch ich nachschlagen konnte, wenn eine heilende Behandlung nötig war. Doch die medizinische Versorgung hatte nichts mit dem Spezialistentum zu tun, das ich von früher kannte.
„Fühlst du dich manchmal – hm – unsicher oder ärztlich unterversorgt?“, fragte ich.
Andrea schüttelte den Kopf. „Bisher noch nicht. Und mal ganz ehrlich: Eigentlich war ich noch kein Mal richtig krank, seit ich hier bin und mit Torge zusammenlebe.“
„Liegt das am HIER oder an Torge?“
Andrea dachte nach. „Spontan denke ich, an beidem. Aber so genau weiß ich das nicht.“ Ihr Gesicht verzog sich zu einem hintergründigen Lächeln. „Was ich allerdings weiß: Ich kann mir Torge nicht in meiner früheren Welt vorstellen.“
Wieder lachten wir.
„Ich mir Kai auch nicht.“
„Und weißt du was?“ Jetzt wurde Andreas Gesicht ganz milde. „Ich kann mir mich selber auch nicht mehr dort vorstellen.“
Ich nickte. „Es verblasst.“
Doch ich fühlte, dass es bei mir zumindest jetzt noch anders war.
Nach wie vor unterhielt ich Kontakt zu Heide. Erst vorletzte Woche hatte sie mir geschrieben und darüber berichtet, dass man einen jungen Mann namens Sander für tot erklärt habe. Den entsprechenden Zeitungsartikel aus der WAZ hat sie mit eingelegt. In ihm stand, dass sich der damals 17jährige vor den Augen der Polizei in Nichts aufgelöst habe und dass weder die Pflegeeltern des autistischen Jungen noch Mitglieder der Sioux-Freizeitindianer, wo sich seine Familie oft aufhielt, noch Mitschüler des schulischen Überfliegers eine Ahnung hätten, wo sich Sander befände.
Wenn die wüssten, schrieb Heide und versah ihren Kommentar mit grinsenden Smileys.
In dem beigefügten Zeitungsartikel stand auch noch, dass Aktenzeichen XY bereits in drei Sendungen die Sachlage beschrieben und Fotos von Sander ins Bild gerückt hätte. Doch alle Suche sei ins Leere gegangen. Genauso wie nach einem Jungen namens Dennis.
Umgehend hatte ich meiner Freundin zurückgeschrieben und wie üblich von unserem Leben, den Kindern, dem tiefen Schnee und natürlich von Sander erzählt, der auch Heide ans Herz gewachsen war. Voller Vorfreude schrieb ich, dass die Silvesterjause in diesem Jahr im noch höheren Norden stattfinden würde. Nebenbei berichtete ich, dass ja ein Junge mit dem Namen Emil vor vier Jahren hierher-gekommen sei.
Ich hatte dir schon von ihm erzählt, kurz nachdem er hier aufgekreuzt ist. Durch nichts konnten wir ihn dazu bewegen, in seine Welt zurückzukehren. Er wohnt bei Gustav Brahmeier – du weißt ja, dem Schuster aus dem Haus mit der Nummer 1, wo ich immer gelandet bin. Er muss Schlimmes erlebt haben. Jedenfalls meint er, alle hätten ihn gehasst. Hier ist er die Hilfsbereitschaft in Person, fühlt sich sauwohl und ist ein echt lieber Kerl. Ein Dennis ist hier allerdings nicht aufgetaucht.
Ich antwortete stets auch deshalb so schnell, damit Heide das begehrte Couvert samt Briefbogen besaß, um mir ihrerseits wieder zu schreiben. Nur unser Briefpapier konnte den Weg zurück in die Kalte Welt antreten. Pinto hatte das offenbar vorausschauend entschieden, damit wir hier nicht mit unliebsamer Korrespondenz oder Werbebroschüren überschüttet würden, hatte Sander als Erklärung angeboten.
Vielleicht würde ich bald auch wieder einmal an Mandy schreiben.