Wintermärchen aus Lylekogen - Harald Zagar - E-Book

Wintermärchen aus Lylekogen E-Book

Harald Zagar

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Beschreibung

Im Alter wird die Zeit immer knapper, und besonders im Winter ist der Tag in Schweden schnell vorbei. Dazu haben wir noch - zu unseren Pferden - neue Hausbewohner dazu bekommen; unseren Hund "Amadeus" und Kater "Romeo". Da bleibt nur noch wenig Zeit übrig viele Stunden am Schreibtisch neue Bücher zu verfassen, denn die Tiere müssen ja auch zu ihrem Recht kommen. Und so schließe ich die "Serie" "Lylekogen" für immer. Ich hoffe, dass ich euch allen etwas hinterlassen habe was auch nach der Corona Katastrophe und dem Krieg in der Ukraine an Literarischem Wert bleiben wird, auch wenn die Welt danach eine andere sein wird. Ich wünsche euch allen eine Gute Zeit. Und Gottes Segen. Letztmalig; euer Rasmus.

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Seitenzahl: 180

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Dieses Buch ist den Familien

Possiel / Kunz

und

der Familie Brandes

gewidmet.

Die Turbulenzen der Welt verhallen in Schwedens ewiger Natur.

Rasmus

INHALT

Ein Weihnachtsengel zum Heiligen Abend

Die Weihnachtsgans

Das Märchen vom Schneemann, der immer bei den Kindern bleiben wollte

Die kleine Tanne, die ein Weihnachtsbaum werden wollte

Wie Ida dem Christkind begegnete

Das Märchen von dem geschenkten Tannenbaum

Wer hat das Christkind gestohlen?

Der kranke Nikolaus

Ein letzter Dank

EIN WEIHNACHTSENGEL ZUMHEILIGEN ABEND

Weihnachtszeit ist namentlich für Kinder entzückend, ganz besonders in Lylekogen. Da strahlt der Weihnachtsbaum, das heißt mehr die Kerzen, die die Stuben mit einem Frömmigkeits- und Schönheitsglanz erfüllen. Die Kinder sagen auswendig gelernte Gedichte auf und danach gibt es für jeden ein Geschenk. Es ist so Brauch bei uns, dass sich die Menschen danach alle in den Arm nehmen. Sie wissen, warum sie das tun, denn in einem kleinen Dorf müssen alle zusammenhalten. Und so strahlt die Liebe auch mitten im Winter in ihren Herzen.

Doch in diesem Jahr war alles anders. Der Sommer war verregnet gewesen und die Ernte fiel dementsprechend sehr schlecht aus. Die Kornkammern waren nur zur Hälfte gefüllt, Kartoffeln und Rüben in einem sehr schlechten Zustand. Und so stand zu befürchten, dass es auch in diesem Winter nicht für alle reichen würde. Besonders die Alten und die Kinder waren betroffen.

»Was soll nur aus uns werden, Åke? Es ist nun schon das dritte Jahr, dass es uns so schlecht geht. Unsere Vorräte werden nicht für uns alle reichen, ich weiß keinen Ausweg mehr. Die Leute erzählen im Dorf, dass in Småland schon über tausend Menschen den Hungertod erlitten haben.«

»Ich weiß, Marie, und darum mache ich dir noch einmal den Vorschlag, unser geliebtes Schwedenland für immer zu verlassen und in die neue Welt auszuwandern. Amerika soll es heißen. Das habe ich von Pastor Valfried gehört. Er hat es in der Kirche verkündet. Mein Freund Tore hat mir erzählt, dass sich schon zehn Familien entschlossen haben, das Gleiche zu tun, wie wir es überlegen. Was sagst du dazu?«

»Ich kann mich noch nicht an den Gedanken gewöhnen, Åke, dass wir nie wieder nach Schweden und in unser Dorf Lylekogen zurückkehren werden.«

Ohne auf die Zweifel von Marie einzugehen, sagte Åke: »Wir müssen uns aber schnell entschließen, bevor der erste Schnee fällt. Die Fahrt bis zum Hafen dauert über sechs Stunden. Für die Kinder ist das ein großes Risiko, denn wir reisen nicht in einer geschlossenen Kutsche, sondern auf einem offenen Pferdefuhrwerk. Für eine andere Möglichkeit haben wir kein Geld. Wir benötigen jede Öre, um die Überfahrt bezahlen zu können. Dabei werden wir die ganze Zeit unten im Schiffsbauch leben. Die Fahrgäste, die mehr Geld haben, können im oberen Teil des Schiffes wohnen. Da gibt es sogar geheizte Kabinen.«

»Das wird der Großvater aber nicht überstehen, Åke, er ist schon fast achtzig Jahre alt.«

»Was ich dir jetzt sagen werde, wird dich sehr schmerzen: Ich habe schon mit Großvater Anders gesprochen, er wird uns nicht nach Amerika begleiten.«

»Er wird uns nicht begleiten?«, wiederholte Marie ungläubig. »Nein, Marie. Wir haben für die Überfahrt genau das Geld, das wir für vier Personen benötigen. Wir beide und die Kinder.«

»Weißt du, was du da von mir verlangst, Åke? Es ist mein Vater, ich kann ihn doch in dieser schweren Zeit nicht allein lassen.«

»Und genau darum habe ich mich auch gekümmert. Nach Absprache mit der Gemeinde geht Anders im Winter in das Armenhaus. Dort erhält er Essen und Trinken und eine kleine Kammer für sich alleine. Und im Frühjahr kehrt er in unser kleines Haus zurück. Und so ist er doch gut versorgt, findest du nicht?«

»Das geht mir alles zu schnell, Åke, ich werde gleich mit Großvater reden, was er dazu sagt. Und was sagen wir den Kindern, wenn Anders hier bleiben muss?«

»Den Kindern sagen wir die Wahrheit. Dass wir eine längere Reise machen werden, und danach kommen wir wieder nach Schweden zurück.«

»Du glaubst wirklich daran, ich kann es dir ansehen. Woher hast du nur diese Zuversicht?«

»Von Gott, Marie, von Gott.«

Als Marie aus der Kammer kam, die Anders bewohnte, sah man ihr an, dass sie viel geweint hatte. Über das Gespräch mit ihrem Vater wollte sie mit niemandem reden. Und so waren auch die Kinder nicht sehr traurig, denn sie würden Großvater ja nach der Reise wiedersehen.

Großvater Anders

Als der Pferdewagen vor der Hütte der Familie Bolmgren gehalten hatte, schrieb man das Jahr des Herren 1843. Doch nun hatte Anders schon drei Jahre nichts mehr von seiner Familie gehört. Einige sagten, das Schiff sei bei schwerem Seegang im Atlantik gesunken. Auch von den anderen Auswanderern im Dorf wurde nichts bekannt.

In einem kleinen Dorf wie Lylekogen, in dem zehn Familien gleichzeitig ausgewandert waren, war es stiller als sonst. Die Dorfstraße lag fast wie ausgestorben da. Wer konnte, hatte etwas an Vorräten für den Winter zurückgelegt. Doch ob es für den langen Winter ausreichen würde? Man konnte es nur hoffen.

Zum Glück gab es in Lylekogen zwei Familien, die es sich leisten konnten, weniger Korn am Markt zu verkaufen, um einen genügend großen Vorrat für sich selbst anzulegen. Zum einen war es der geizige Bauer Arne, zum anderen der zum Baron erhobene Rasmus Rasmussen. Rasmus hatte sich vorgenommen, dass kein Mensch in Lylekogen verhungern sollte. Arne sah die Chance, noch reicher zu werden. Der Geiz von Arne hatte jetzt einen großen Vorteil, denn er hatte über viele Jahre eine Krone nach der anderen gespart. Und so wurden Fuhrleute von Rasmus angeworben, die Korn aus anderen Regionen, ja sogar aus anderen Ländern ankaufen konnten.

Arne gab das Korn natürlich nicht umsonst her. Sondern er verlangte, dass bei der nächsten Ernte zum geliehenen Korn noch ein Scheffel als Zins dazugelegt werden müsse. Und so war Rasmus wohl der Einzige im Dorf, der sein Korn an die Ärmsten der Armen kostenlos abgab. Doch bei allem Wohlwollen würde es für das ganze Dorf bis zum Frühjahr nicht reichen. Der Hunger stand somit vor jeder Haustür, und somit auch der Tod. Denn bei leerem Magen sind alle Übel doppelt so schwer zu ertragen. Wer satt ist, wird nie einen Hungernden verstehen.

Hin und wieder besuchte Pastor Valfried den alten Anders. Und wie immer saß er in seinem abgenutzten Schaukelstuhl. Meistens war er eingeschlafen, doch seine Pfeife hielt er immer noch in einem Mundwinkel. Obwohl er schon lange keinen Tabak mehr hatte, um sie anzuzünden.

»Hallo Anders«, begrüßte der Pastor den Großvater. »Ich wollte mal wieder nach dir sehen, wie geht es dir denn? Es wird bald kälter werden und dann werden wir dich für einige Zeit in das Armenhaus bringen, so wie es mit deiner Tochter abgesprochen wurde. Hast du denn schon etwas von deiner Familie gehört?«

Noch etwas verschlafen antwortete Anders: »Das weißt du doch, Valfried, sie sind mit dem Schiff untergegangen. Von denen werde ich nie mehr etwas hören. Es wäre besser gewesen, ich wäre auch mit untergegangen.«

»Aber nicht doch, Anders, wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben. In einem neuen Land gibt es viel zu tun. Sie müssen sich doch erst einmal eingewöhnen, eine Arbeit finden usw. Das braucht seine Zeit.«

»Aber doch nicht drei Jahre, Valfried!«

Pastor Valfried wollte den alten Anders nicht weiter in seiner Trauer stören. Gerade wollte er sich wieder auf den Heimweg zum Pfarrhaus machen, da fiel ihm sein Jutesack ein, den er beim Betreten der Hütte beiseitegestellt hatte.

»Das hätte ich ja fast vergessen, Anders, meine Haushälterin hat dir eine schmackhafte Grießsuppe gekocht. Da sind zwei Eier und noch ein Stück Butter extra drin. Ich sehe, dass in deinem Kamin noch genügend Glut ist. Mach sie dir warm und lass es dir gut schmecken. Möglicherweise kannst du dir auch noch etwas für morgen aufheben. Und glaube mir, Anders, du bist mit deiner Trauer nicht alleine im Dorf. Den anderen Angehörigen, deren Familien auch auf dem Schiff waren, geht es genauso wie dir. Vielleicht setzt ihr euch mal für eine Kanne Tee zusammen und sprecht euch aus. Gemeinsam lässt sich das Leid besser ertragen. Ich muss jetzt aber los. In den nächsten Tagen werde ich wieder nach dir sehen. Hej då, Anders.«

»Hej då, Valfried.«

Langsam, sehr langsam erhob sich Anders aus seinem Schaukelstuhl und machte seine Grießsuppe am Feuer warm. Köstlich war sie, er schmeckte die Butter besonders heraus. Ja, er war sehr dankbar für das Essen, und das Gute an der Suppe war auch noch, er brauchte sie nicht zu kauen, da er kaum noch eigene Zähne im Mund hatte. Dann betete er noch zu Gott, dass er ihn doch bald holen möge. Einen alten Mann, der zu nichts mehr nütze war und von den milden Gaben des Pastors lebte.

Da seine Hände schon einmal auf dem Eichentisch lagen, überkreuzte er sie und legte seinen Kopf darauf. Bedingt durch die gute Mahlzeit schlief er ein. Doch was sich dann in dieser Nacht – es war die Heilige Nacht – ereignete und was er in den nächsten Tagen erlebte, erzählte er noch viele Jahre allen, die es hören wollten – und das war immerhin das ganze Dorf.

»Guten Abend, Anders, wach auf, du hast Besuch. Es ziemt sich nicht zu schlafen, wenn man heiligen Besuch bekommt.«

Ganz benommen schaute Anders auf. »Wer bist du? Ich habe dich in unserem Dorf noch nie gesehen. Und was ist das mit dem heiligen Besuch? Der Pastor war schon vor Stunden bei mir.«

»Ich bin Johannes und ich wurde beauftragt, dir aus deiner Trauer zu helfen, und eine gute Botschaft bringe ich dir auch. Deine anderen Fragen werden sich von allein klären, wenn diese Nacht vorbei ist.«

»Also, da soll mich doch der T…«

»Sprich es nicht aus, Anders, ich kenne deinen Spruch schon, besonders, wenn dich etwas überrascht.«

»Und was soll jetzt werden, Johannes?«

»Da du dich schon lange aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen hast, will ich dir zeigen, wie es den anderen Freunden im Dorf geht. Es waren doch deine Freunde, oder?«

»Ja, es waren meine Freunde, aber die meisten sind mit einem Schiff untergegangen.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

»Natürlich bin ich mir ganz sicher, denn ich habe schon viele Jahre nichts von meiner Familie gehört.«

»Das bedeutet doch nicht, dass sie tot sind. Aber darüber reden wir, wenn diese Nacht zu Ende geht. Und nun mach deine Augen zu und komm mit mir ins Dorf.«

»Ins Dorf? Ich war schon lange nicht mehr im Dorf. Was soll ich da auch? Es kommen doch immer nur die gleichen Fragen. ›Na, Anders, hast du schon etwas von deiner Familie gehört?‹ Das ertrage ich nicht mehr, und besonders nicht in meinem Alter. Da blutet mir mein Herz, und ich sterbe nach jeder Frage ein wenig schneller.«

Der Weihnachtsengel

»Niemand wird dich fragen, denn man wird uns überhaupt nicht sehen können. Vertrau mir, Anders.«

»Also … wie heißt du noch? Ach ja, Johannes. Also, Johannes, jetzt wird es mir aber langsam unheimlich zumute. Bist du etwa ein Geist oder etwas Schlimmeres? Doch wenn du der Tod bist, dann will ich dir gerne folgen, denn mein Leben hat keinen Sinn mehr.«

»Ich bin weder das eine noch das andere, ich bin dein Engel.«

»Du machst mir Angst, und ich dachte, ich hätte in meinem Leben schon alles gesehen, doch ein Engel war noch nicht dabei gewesen.«

»Nun hast du aber genug Fragen gestellt, Anders. Die Nacht dauert nicht ewig, und wir haben doch noch einige Besuche zu machen.«

Gemeinsam traten sie in die Heilige Nacht hinaus. Schon lange war Anders nicht mehr so leicht zu Fuß. Fast hatte er den Eindruck, er berühre den Erdboden gar nicht. Ja, als schwebe er durch die Nacht. Er hatte ein Gefühl der Zufriedenheit und Johannes als Freund an seiner Seite. Und Augenblicke später standen sie vor dem Haus der Familie Lövkist. Gerade wollte Anders an die Tür klopfen, da berührte Johannes seine Hand und die Tür öffnete sich von selbst.

Als sie beide im Haus waren, flüsterte Anders Johannes zu: »Und wie soll es jetzt weitergehen?«

»Du musst nicht flüstern, Anders, niemand kann uns sehen oder hören.«

Als sie die Stube betraten, saßen mehrere Personen um einen Tisch, der nur von einer kleinen Kerze beleuchtet wurde.

»Schau genau hin, Anders, erkennst du sie?«

»Ja, es sind Kerstin und ihr Mann. Gott, sind die Kinder Ingrid und Javar groß geworden. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, gingen sie mir gerade bis zum Knie.«

»Schau genauer hin Anders, siehst du, was sie in ihren Holzschalen zum Heiligen Abend essen?«

»Was ist das, Johannes?«

»Es ist eine Brotsuppe. Altes Brot, das sie im Sommer aufgehoben und getrocknet haben, damit sie es im Winter mit etwas warmem Wasser essen können. Als Geschenke haben die Kinder je ein Paar Handschuhe und zwei Paar Socken vor ihren Holzschüsseln liegen.«

»Kerstin sieht krank aus, Johannes.«

»Ja, das ist richtig, und sie wird im nächsten Jahr in den Himmel gerufen werden, weil sie das Wenige noch mit den Kindern teilt.«

»Kann man denn da gar nichts tun, Johannes? Du hast doch gesagt, du bist ein Engel, dann kannst du ihr doch sicher auch helfen, oder nicht?«

»Nein, das kann ich nicht, denn für sie ist ein anderer Engel zuständig.«

»Dem scheint es aber ziemlich gleichgültig zu sein, dass sie krank ist.«

»So denken eben nur Menschen, Anders, wir Engel bekommen unsere Anweisungen von einer höheren Macht und der müssen wir folgen.«

»Also, das sage ich dir, Johannes, wenn wir wieder zu Hause sind, müssen wir noch einmal darüber reden. Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, dass auf meinem Tisch noch ein Topf mit einem leckeren Grießbrei steht. Gleich morgen werde ich ihr davon abgeben.«

»Dann tu, was du für richtig hältst. Doch jetzt müssen wir weiter, es ist schon fast Mitternacht.«

Und schon waren sie mitten im Dorf bei der Familie Johansson. »Familie« war wohl etwas übertrieben, denn sowohl die Kinder als auch die Enkel waren auch ausgewandert und auf demselben Schiff nach Amerika unterwegs gewesen. Auch hier brannte nur ein kleiner Holzspan, der nur wenig Licht in die dunkle Stube brachte.

»Hier riecht es aber richtig gut, Johannes, und in den Holzschalen ist auch ein richtiges Stück Fleisch.«

»Schon wieder irrst du, Anders, schau genauer hin, was sie wirklich essen.«

»Es ist Fleisch, ganz ohne Zweifel.«

»Fleisch ist es, doch von welchem Tier?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Nun, dann will ich es dir sagen: Es ist Rattenfleisch, Anders, sie haben nichts anderes mehr.«

»Sie essen wirklich Ratten?«

»Ja, Anders, sie essen Ratten, um zu überleben, denn sie hoffen, dass sie bald von ihren Kindern aus Amerika hören. Das ist ihr einziger Wunsch.«

»Also, die Grießsuppe wird wohl nicht für alle reichen. Ich habe Angst, Johannes, ich möchte nach Hause in meinen Schaukelstuhl. Ich wusste nicht, dass es meinen Nachbarn und Freunden so schlecht geht. Was habe ich denn getan, dass du mir all das zeigst? Ich kann die Hungersnot doch auch nicht beenden.«

»Sicher, das kannst du nicht, aber du kannst deine Freunde unterstützen. Und ich werde dir zum Schluss auch zeigen wie. Doch nach dem Tod rufen, Anders, ist noch nicht dein Weg. Und nun lass uns zu einer anderen Familie gehen.«

Am Rande des Dorfes stand die Hütte der Familie Granlund. Auch hier waren einige Familienmitglieder ausgewandert. Nur der alte Knecht Gustav Granlund und seine Frau Anna waren zurückgeblieben. In der Hütte war es still. Zu still, fand Anders. »Lass uns gehen, Johannes, hier ist niemand, die Hütte ist leer.«

»Nein, Anders, sie ist nicht leer. Schau hier herüber, da liegen die beiden zwischen ihren drei Schafen, um sich zu wärmen, denn sie haben kein Feuerholz, um die Hütte zu heizen. Sie haben auch schon lange nichts mehr gegessen, ich kann es sehen.«

»Nun, sie hätten doch ein Schaf schlachten können, dann wäre die Not behoben gewesen, Johannes.«

»Kannst du dich wirklich nicht mehr erinnern, dass Gustav immer wieder seine Arbeit als Knecht verloren hat, weil er keinem Tier etwas zuleide tun konnte und schon gar nicht seinen eigenen Schafen?«

Das war für Anders zu viel auf einmal, und die Tränen liefen in seinen grauen Bart. Verschämt versuchte er, diese mit seiner alten Wolljacke abzuwischen.

»Sei nicht traurig, Anders, wir werden für alle eine Lösung finden. Und deinen Grießbrei musst du auch nicht mit all den Hungernden teilen. Ich wollte dir nur zeigen, dass es anderen noch viel schlechter geht als dir. Zum Schluss möchte ich dir noch sagen, dass du deine Familie bald wiedersehen wirst. Doch auch du könntest mir einen Gefallen tun. Ich würde gerne deine alte Scheune oben am Hang für einige Zeit in Anspruch nehmen. Führe alle Familien, die ich dir heute Nacht gezeigt habe, dort hin. Dazu alle die, die ich dir nicht zeigen wollte, weil sie dich völlig erschüttert hätten. Danach wird euer aller Los und Hunger ein Ende haben. Und verliere deinen Glauben nicht, Anders, tu, wie ich dir gesagt habe.«

Dann war Johannes verschwunden. Als Anders aufwachte, lag sein Kopf noch immer auf seinen überkreuzten Armen. Das Feuer im Kamin war immer noch da. Und der Topf mit dem Brei war bis zum Rand neu gefüllt. »Es ist wahr, was ich heute Nacht erlebt habe, es ist wirklich war!«, rief er. Dann rief er noch einmal nach Johannes. Doch der war zur Ewigkeit zurückgekehrt. Er hatte seine Aufgabe erfüllt.

Anders schaute auf seine alte Wanduhr. Schon zehn, dachte er. Um elf Uhr begann die Heilige Messe und Pastor Valfried rechnete mit ihm. Das war auch eine gute Gelegenheit, die Menschen nach dem Gottesdienst zur alten Scheune zu führen. Doch was wäre, wenn das Ganze nur ein Traum gewesen war? Er wollte das Risiko nicht eingehen, die Menschen in die Irre geführt zu haben. Und so machte er sich auf, die Scheune zu besichtigen. Der Weg war für ihn früher sehr beschwerlich gewesen. Doch heute verspürte er keine Schmerzen in seinen Beinen und seinem Rücken. Vielleicht lag das an Weihnachten, dachte er. Oder Johannes hatte seine geistlichen Finger im Spiel. Wie auch immer, er kam gut voran.

Als er vor der Scheune stand, kam sie ihm viel größer vor, als er sie vor Jahren in Erinnerung hatte. Auch sah sie recht gut erhalten aus. Vorsichtig versuchte er, durch einen kleinen Spalt zwischen den Brettern zu schauen. Doch er konnte nichts sehen, es war innen einfach zu dunkel. An der hinteren Seitenwand war eine kleine Tür gewesen, da wollte er mal einen Blick in die Scheune werfen. Doch auch hier konnte er nichts sehen. Es muss doch möglich sein, dachte er, durch einen winzigen Spalt hineinsehen zu können.

»Ich versuche es an der großen Flügeltür. Einen kleinen Spalt werde ich sie schon aufbekommen«, sagte er zu sich. Und schon hob er die schweren Riegel von der Tür. Das war geschafft. Jetzt musste er nur noch eine Seite öffnen, dann wäre der Blick frei in das Innere der Scheune. Doch dadurch, dass die Tür schon lange nicht mehr geöffnet worden war, waren die Scharniere an der Tür ganz verrostet. »Hätte ich bloß mal früher die Scharniere mit Schweinefett eingeschmiert, dann müsste ich mich jetzt nicht so quälen«, gab er jammernd von sich.

Ganz verzweifelt rüttelte Anders an der Tür. »Ich muss sie einfach aufbekommen«, grummelte er. »Was soll ich den Menschen in der Kirche erzählen, wenn ich nicht weiß, was wirklich dahinter ist?« Doch seine Kräfte erlahmten zunehmend. Und so ließ er sich an der Tür heruntergleiten. In seiner Verzweiflung rief er laut nach Johannes. »Wie soll ich denn den Menschen helfen, wenn ich die Tür nicht aufbekomme?« Dann fiel ihm ein, was Johannes zu ihm in der Heiligen Nacht gesagt hatte. »Sieh genau hin, Anders.«

Noch einmal stand Anders auf und besichtigte die große Tür genau. Dann sah er es. Nur ein winziger Stein hatte sich unter die Tür geschoben und blockierte sie dadurch. Mit seinen alten, zittrigen Fingern versuchte er, den Stein zu beseitigen. Und fast hätte ihn die Tür umgestoßen. Denn sie flog mit einem Knall auf.

Jetzt sah er es und konnte es nicht fassen: Die gesamte Halle war gefüllt mit Korn und Kartoffeln. Um sicher zu sein, dass es auch kein Traum war, nahm er einige Hände voll von dem Korn und ließ es durch seine Finger rieseln.

Ja, es war wirklich Korn. Auch die Kartoffeln waren da. Genauso, wie es Johannes vorhergesagt hatte. Sicher, er hatte die Wörter nicht ausdrücklich benutzt, doch er hatte gesagt: »Sei nicht traurig, Anders, wir werden für alle eine Lösung finden.« Das da war die Lösung für alle.

Bevor sich Anders wieder auf den Weg ins Dorf und die kleine Anhöhe zur Kirche machte, schaute er noch einmal in die Lagerhalle und wusste, in Lylekogen war wieder ein Wunder geschehen.

Fast außer Atem kam er endlich zu der kleinen Dorfkirche. Mit einem Schwung – den ihm keiner mehr zugetraut hätte – öffnete er die schwere Eichentür der Kirche. Und mit einem lauten Knall schlug sie an der Außenmauer auf. Ohne auf die Kirchenbesucher zu achten, die brav in ihren Bänken saßen, rannte er weiter bis zum Altar. Endlich war es geschafft, er stand vor seinem Freund Pastor Valfried. Um sprechen zu können, setzte er sich auf die erste Stufe vor dem Altar. Im Stehen hätte er kein Wort herausgebracht, so aufgeregt war er.

»Valfried, Valfried, du wirst es nicht glauben, unser Elend im Dorf hat ein Ende! In meiner alten Scheune gibt es genug Essen für uns alle im Dorf. Sie ist voll, sie ist wirklich voll mit Korn und Kartoffeln.«