Winterwarnung - Jerome Charyn - E-Book

Winterwarnung E-Book

Jerome Charyn

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Beschreibung

Todfeinde hatte Isaac Sidel schon immer, aber diesmal ist alles anders. Jetzt ist er da, wo er nie hinwollte: im Weißen Haus, als Präsident der Vereinigten Staaten. Den Law-and-Order-Mann von der Lower East Side hatte keiner auf der Rechnung, und als Neuling verfängt er sich prompt im Netz der Macht. Er kann keinen Schritt mehr ohne den Secret Service und seinen Adjutanten mit dem Atomkoffer tun. Seine Glock ist nur noch Requisit – und seine Partei würde ihn lieber heute als morgen absägen.

Bald zeigt sich, Isaacs Leben ist in höchster Gefahr. Doch wer betreibt seinen Tod und warum? Die Washingtoner Elite, ­Gangstersyndikate, Spätkommunisten, die Finanzwelt? Unaufhaltsam dreht sich die Spirale einer weltumspannenden Verschwörung. Und Präsident Sidel ist die Spielfigur einer aberwitzigen Lotterie um Leben und Tod.

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Seitenzahl: 407

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Jerome Charyn Winterwarnung

Aus dem amerikanischen Englisch von

Inhalt

Teil Eins

Teil Zwei

Teil Drei

Teil Vier

Teil Eins

1

Die Schonzeit war vorbei, ehe sie begonnen hatte. Seine ersten hundert Tage, jene Zeitspanne der Unantastbarkeit, die heutzutage allen Präsidenten zustand, den guten, den schlechten, den mittelmäßigen, bekam er nicht gewährt. In einem rauschenden Wahlsieg, der bald als ’88er-Massaker bekannt wurde, hatte er seine Partei wieder an die Macht gebracht: Mit seinen Referenzen als Cop im Rücken hatte er zweiundsechzig Prozent des Stimmenanteils eingesackt. Die Leute dachten, sie hätten einen Bürgermeister-Sheriff mit Glock in der Hose gewählt, keinen Spinoza mit Haarausfall am Hinterkopf. Anscheinend hatten sie vergessen, dass er ebenso ein politischer Philosoph wie ein Schnüffler war und einstmals der Pink Commish genannt wurde.

Isaac Sidel wollte als erste Amtshandlung die Armut abschaffen; gleich am ersten Tag verkündete er finanzielle Hilfen für die Armen und Unterdrückten. Seine Berater hüstelten vernehmlich. Schließlich hatten sie sich zu Ende geräuspert und gaben Isaac zu verstehen, dass es nicht die Armen und Unterdrückten gewesen waren, die ihn ins Amt befördert und den Demokraten ihren Erdrutschsieg verschafft hatten. Sie hatten keine einzige Stimme abgegeben.

»Und wenn schon«, sagte Sidel. »Es ist und bleibt eine himmelschreiende Schande.«

Er hatte bereits seine handverlesene Stabschefin eingebüßt, Brenda Brown, die noch unorthodoxer agierte als Sidel. Sie wollte, dass Big Guy den Kongress umging und per Erlass regierte. Und sie bereitete Dekrete vor, durch die die Entscheidungen der letzten drei republikanischen Präsidenten gekippt worden wären. Aber nach einem Monat hatte Brenda einen Zusammenbruch, als sie merkte, dass das Weiße Haus ein Hornissennest aus Kompromissen war, und sie brannte mit einer Praktikantin durch, einer üppigen Magna-cum-laude-Absolventin des Mount Holyoke College – was den ersten Skandal der Sidel-Administration ergab.

Das Democratic National Committee nutzte Isaacs Schwäche und zwang ihm Ramona Dazzle auf, eine Rhodes-Stipendiatin, die im Weißen Haus nicht in unbekannten Gewässern navigieren würde. Und bald beschlich Isaac das dumpfe Gefühl, dass seine eigene Partei ihm eine Spionin in den West Wing eingeschleust hatte; dort, wo er einmal einen Bandwurm gehabt hatte, saß nun ein Dibbuk, der an seinen Eingeweiden fraß. Ramona übernahm es, sämtliche Details seines Alltags zu organisieren; sie stellte Leute ein und feuerte Personal, bis er keine Menschenseele mehr erkannte. Das Weiße Haus war zum Domizil für Fremdlinge geworden. Ramona bestimmte über den Speiseplan – Isaac musste sich von Brotkrumen ernähren – und ließ das Mobiliar umräumen, bis es ihren Vorstellungen entsprach. Verglichen mit Ramonas Suite war das Oval Office eine armselige Hütte. Isaac hatte kein Gespür für Einrichtung. Ramona hingegen hatte sich aus einem Geheimlager in Maryland, in dem die Hinterlassenschaften früherer First Ladies aufbewahrt wurden, Dolley Madisons Spieluhr und ihren Sekretär herausgepickt, und ihr eigenes Erkerbüro war das Schmuckstück des West Wing geworden, halb Museum, halb Besprechungsraum, wo sie Kriegsrat mit ihren Schranzen hielt.

Isaac hätte sich dem DNC widersetzen und Ramona hochkant hinausbefördern können, aber das hätte eine weitere Krise verursacht. Doch er merkte, wie er selbst unsichtbar wurde, der schrumpfende Mann der Pennsylvania Avenue. Er war Ramonas Schatten, der Präsident als Erfüllungsgehilfe, dem seine Hosen zu groß waren. Er hatte große Schwierigkeiten, seine Glock unter dem Gürtel zu tragen. Sie hätte ja herunterfallen und den Secret Service alarmieren können. Big Guy konnte sich in den antiken Spiegeln des Weißen Hauses kaum noch ansehen; er war hohlwangig geworden, und die Haartolle, die einmal seine Hinterkopfglatze bedeckt hatte, war weg. Und so marschierte er über den Korridor zu Ramonas Enklave.

Es war die Residenz einer Königin, mit Vorzimmern für ihre Schranzen, komplett ausgestattet mit Möbeln aus dem Geheimlager. Ihre Mitarbeiter behandelten Isaac wie einen Eindringling, einen unerwünschten Desperado. »Ihr Arschlöcher«, schnauzte er, »ihr arbeitet für mich.« Doch sie boten dem Präsidenten die Stirn, ließen ihn nicht durch. Er war ein Waisenjunge in seinem eigenen Palast, ein Ausgestoßener wie König Lear, mit einer Schlangenbrut an giftigen Töchtern und Söhnen. Er wollte sich vor diesen Lakaien nicht lächerlich machen. Er klemmte sich die Glock vor den Bauch, damit sie nicht auf Ramonas cremefarbenem Teppichboden landete, machte einen unerwarteten Ausfallschritt und fand sich im Erkerbüro der Königin wieder. Es war geräumiger als Isaacs Büro, und in der Mitte stand ein großer Mahagoni-Konferenztisch, ein Überbleibsel aus FDRs Zeiten. Dieser gelähmte Präsident verfolgte Isaac immer noch. 1944 hatte er Roosevelt den Grand Concourse herunterfahren sehen, da war er selbst noch ein jugendlicher Krimineller und Hehler. Er hatte seine gesamte Beute den Wahlkämpfern für Roosevelts zweite Amtszeit gegeben. Er war exakt zu Beginn von Roosevelts Herrschaft geboren worden, und es erschien ihm logisch, dass FDR auf immer und ewig regieren würde – zumindest eine fünfte und sechste Amtszeit. Er war wie ein großes Baby, das sich nie so recht von FDRs plötzlichem Tod im Jahr 1945 erholt hatte.

Er missgönnte Ramona ihren Konferenztisch nicht, aber das Möbelstück beschwor in ihm eine ganz bestimmte Verhangenheit herauf und machte ihn zum ewigen Klagesänger in zerrissener Trauerkluft. Seine Stabschefin ignorierte ihn und tat, als sei er gar nicht im Raum. Sie hatte ihren eigenen, aufreizenden Charme, wie sie da saß, die Beine hochgelegt und in schwarzen Strumpfhosen. Isaac versuchte, seinen Blick von den knittrigen Furchen in Ramonas Schritt abzuwenden. Sie hatte große, braune Rehaugen und sehr schmale Nasenlöcher.

»Ja«, sagte sie gerade, »POTUS reist nicht gern. Ich kann ihn nicht dazu bringen, etwas zu unterschreiben. Wir bekriegen uns seit dem ersten Tag.«

»Ramona«, flüsterte Isaac, »legen Sie das Scheißtelefon weg.«

Ihr Stuhl drehte sich ein wenig. »POTUS will nicht, dass Wahlkampfspender im Lincoln Bedroom übernachten. Er sagt, es sei geheiligter Boden. Du liebe Scheiße, Lincoln hat nie dort geschlafen.«

»Aber er hat die Emanzipationserklärung dadrin unterzeichnet!«, brüllte Isaac in den Hörer und drückte auf die Stummtaste ihres Tischtelefons.

»Sie Idiot«, sagte sie, mit den großen braunen Augen rollend. »Das war einer unserer wichtigsten Geldgeber. Seit dem Tag Ihrer Vereidigung rinnt uns das Geld durch die Finger. Unser erster Jidd im Weißen Haus, und ich kann Sie nicht mal dazu bewegen, das Heilige Land zu besuchen. K Street nennt Sie einen Antisemiten. Ich kann nicht gegen die gesamte jüdische Lobby angehen, nicht solange wir Hamlets Geist in der zweiten Etage wohnen haben.«

Er war ein Geist, der im Wohnbereich des Weißen Hauses umherwanderte und in verschiedenen Schlafzimmern einschlief, wenn er überhaupt einmal schlafen konnte. Die meiste Zeit verbrachte er halb träumend, halb wachend. Harry Truman hatte den Präsidentenpalast einmal das »große weiße Gefängnis« genannt. Und Harry hatte nicht unrecht. Isaac hatte Heimweh nach der Wildnis Manhattans. Seine Zweitwohnung in der Rivington Street gab es nicht mehr; das Gebäude war bis auf die Grundmauern niedergebrannt, während er auf Wahlkampftour war. Und er konnte nicht mehr mit einer Glock durch die Lower East Side ziehen, als sei er unsichtbar. Er würde mit seiner Secret-Service-Karawane den Verkehr für einen ganzen Tag zum Erliegen bringen, selbst wenn er auf irgendeinem entlegenen Hubschrauberlandeplatz am East River landete; seine bloße Anwesenheit verursachte Chaos und Verwirrung. Und wenn er dann auch noch bei irgendeinem kleinen Italiener auf der Ninth Avenue zu Abend essen wollte – um Gottes willen! Er musste mit dem Secret Service auf dem Schoß dasitzen, während die anderen Gäste als potentielle Terroristen und Saboteure unter die Lupe genommen wurden. Also lief es darauf hinaus, dass er Backe-backe-Kuchen mit seinem eigenen Gefolge an Secret-Service-Agenten spielte, und dann war noch ein Arzt vom Bethesda dabei, ein oder zwei Redenschreiber, ein Zahlenhuber, ein paar Mitglieder des Pressekorps des Weißen Hauses und Isaacs Adjutant, der den »Nuclear Football« trug (den schwarzen Aktenkoffer mit den Doomsday-Codes, welche es dem Präsidenten erlaubten, den nuklearen Gegenschlag zu starten). Dieser Koffer begleitete Isaac überallhin. Und er fragte sich, ob der Präsident der Vereinigten Staaten – POTUS – ein Scharlatan war, der nur mit einem Doomsday-Tornister in der Nähe leben konnte, wie eine Figur aus einer von Gogols surrealen Geschichten.

»Sie sollten netter zu mir sein«, sagte Isaac. »Ich habe alle Codes für den Football.«

Ramona entließ ihre Mitarbeiter mit einem schwanengleichen Wedeln ihrer Hand, dann grub sie ihre braunen Augen in Isaac. »Kommen Sie mir ja nicht mit ihrem arroganten Getue, Mr. President. Ihre Glock macht mir mehr Sorgen als der Football. Am Ende schießen Sie sich noch einen Zeh ab. Sie sind ein wandelndes Pulverfass. Und wir könnten in die Situation geraten, dass wir Sie uns nicht länger leisten können.«

Isaac wusste, dass sie mit seinem eigenen Vizepräsidenten gegen ihn konspirierte, Bull Latham, dem früheren FBI-Chef, der beim Bureau immer noch alle Strippen zog. Ramona und Bull heckten irgendeinen Coup aus und mussten nur abwarten, bis Isaacs Stern sank. Seine Popularität konnte im Handumdrehen verflogen sein. Er hatte die Mittelklasse im Stich gelassen, von Lebensmittelmarken und Wohngeld geredet. Aber Ramona musste vorsichtig sein. Er konnte an Bord von Marine One jederzeit losfliegen, auf dem Dach einer ländlichen Highschool landen, wo irgendein bewaffneter Irrer eine Klasse Zehntklässler festhielt, und so lange auf den Geiselnehmer einreden, bis er aufgab – das war Isaacs Mysterium. Er hatte die Fähigkeit, auf ganz ursprüngliche Art mit Menschen Kontakt aufzunehmen. Ramona musste ihn scheibchenweise zermürben, bis nur noch wenig von Big Guy übrig war. Sie bremste ihn bei jeder Gelegenheit aus. Demokraten wollten nicht, dass er in ihren Wahlkreisen auftauchte. Er war ein Präsident, in dessen Partei es zunehmend rumorte.

»Sir, Sie können keine Teenager durch Federal Marshalls festnehmen lassen, weil sie rauchen. Sie ziehen uns da in eine Million Gerichtsverfahren hinein. Sie machen Ihre eigene Regierung bankrott.«

»Aber ich will die Tabakriesen beerdigen.«

Ramona musste keine Show vor abwesendem Publikum abziehen. Alle Unschuld war aus ihren Rehaugen gewichen. Sie ging mit Isaac um, als sei er ein ungeschicktes Kind und nicht der Präsident, sah durch ihn hindurch und malte sich bereits Bull Latham im Oval Office aus.

»Sie sitzen da, wo Sie sitzen, Bürschchen, weil es der Tabakindustrie so gefällt. Ohne die drei Riesen hätte es für Sie keinen nennenswerten Wahlkampf gegeben. Sie haben die Republikaner sitzen lassen und uns nach Kräften unterstützt.«

Isaac war kurz davor, Ramona aus ihrem Neorenaissance-Sessel zu reißen. »Ich habe nie ein freundliches Wort über die Tabakfirmen verloren.«

Ramona machte sich gnadenlos über ihn lustig. »Die brauchen Ihr Wohlwollen nicht, Darling. Sie wachsen und gedeihen auch ohne Sie.«

»Was haben Sie ihnen versprochen?«, musste Isaac fragen, wie ein Bettler in seinem eigenen Palast.

»Nichts. Sie mögen es, auf der Gewinnerseite zu stehen.«

»Na super«, sagte Isaac. »Und ich soll hier sitzen und zuschauen, wie die Leute sich die Lungen aus dem Leib husten?«

»Halten Sie Ihre Reden – ich helfe Ihnen beim Schreiben. Aber Sie werden nie auch nur das kleinste Gesetz gegen die Tabakriesen durchbringen. Wir haben in jedem Tabakstaat gesiegt, Herrgott. Glauben Sie wirklich, die Senatoren aus diesen Staaten werden über Lorillard und die anderen herziehen?«

Big Guy hätte die Gracie Mansion nie verlassen sollen. Er wusste, wie man den Irrsinnsstrudel von Manhattan regierte. Er hatte sich über seinen Police Commissioner hinweggesetzt; hatte Schule um Schule erbaut, hatte Merlin ins Leben gerufen, ein Programm, das Kids aus ausgebombten Vierteln mit den Genies von der Bronx High School of Science und der Brooklyn Technical High School zusammenführte. Immobilienbarone zitterten in seiner Gegenwart. Ohne Isaacs Billigung kamen sie nicht mal in die Nähe von städtischem Bauland. Er war der oberste Bauunternehmer, nicht die Barone. Er schwamm stets obenauf, trotz Chaos und Kriminalität. Er konnte in die City Hall marschieren und den Willen aufrührerischer Ratsmitglieder brechen. Das Weiße Haus dagegen war eine Villa am Ende der Welt. Von hier hatte er keine Verbindung zum Puls der Bevölkerung. Er lebte in einem präsidialen Park, an den ringsum die Armut heranschwappte. Doch Isaac konnte kein zweites Merlin im District of Columbia begründen lassen. Der Kongress herrschte über Washington, verfügte über seinen Haushalt, dachte nicht daran, die Slums der Stadt abzubauen.

»Wachen Sie auf«, sagte Ramona. »Sie sind nicht der Weihnachtsmann. Sie können nicht eine ganze Population an Nichtstuern beschenken. Sie haben gewisse Verantwortungen. Wenn Sie Ihre Krieger im Stich lassen, Mr. President, lassen die Sie im Stich.«

Wer waren diese Phantomkrieger? Ach ja, ihre Lakaien und Freiwilligen beim DNC. Isaac war nie ein Parteipolitiker gewesen – er war ein Roosevelt-Demokrat, und das zu einer Zeit, als Berechtigungs- und Fürsorgeprogramme ein Tabu geworden waren. Eigentlich hatte Isaac Vizepräsident werden sollen, aber die Dems sahen sich gezwungen, sich ihres eigenen gewählten Präsidenten zu entledigen, J. Michael Storm, ein notorischer Schürzenjäger und Dieb. Es war Isaac, der Bull Latham, einen Republikaner, zu seinem Vizepräsidenten erkor. Ihm gefiel die Vorstellung, mit Bull einen echten Haudegen an seiner Seite zu haben, einen ehemaligen Linebacker der Dallas Cowboys, der während seiner Zeit im Bureau das Recht gebeugt hatte. Isaac hatte ebenfalls das Recht gebeugt und hatte auf die Hilfe der Mafia zurückgegriffen, um die tausend Rätsel des unorganisierten Verbrechens zu lösen. Aber Bull war ein größerer Gangster, als Isaac es jemals gewesen war. Bull hatte Beute gemacht, um seine eigene Brieftasche zu füllen, während POTUS ein geplündertes Bankkonto sowie fünf Dollar in seiner Hosentasche sein Eigen nannte. Mit jedem Bösewicht, den er tötete, stieg Isaac höher und höher, wie ein gewaltiger Feuerball. Er hatte sich mit seiner Glock den Weg ins Weiße Haus freigeschossen.

»Sie haben ja keine Ahnung«, rief sie. »Ich hab mich nie darum gerissen, Ihr Babysitter zu werden, aber das bin ich jetzt. POTUS ist jedermanns persönliche Zielscheibe. Und ich bin das Mädel, das Sie am Leben halten muss.«

Isaac ließ sich nicht von diesem großartigen Bild ihrer selbst täuschen. Ramona war da, um dafür zu sorgen, dass er im Hinterzimmer versteckt blieb, während sie von ihrem Erkerbüro aus das Land regierte. Es war ihm schnurz, ob sie damit ihren Status als Killeranwältin in einer Killerkanzlei in den Wind geschossen hatte. Nach Isaacs Leichenschmaus würde man sie dort wieder mit offenen Armen willkommen heißen. Aber er missgönnte ihr ihre anderen Qualifikationen. Sie hatte Literatur und Philosophie in Oxford studiert und ein Buch über Saul Bellow geschrieben, während Isaac ein einziges stinkendes Semester am Columbia College vorzuweisen hatte. Er hatte Augie March verschlungen und in den Erzählungen über jüdische Schwindler und Chicagoer Unterweltler geschwelgt, aber sie war diejenige, die mit Bellow diniert hatte.

Big Guy hatte einen jähen Einfall. »Warum laden wir ihn nicht ins Weiße Haus ein? Wir geben ihm zu Ehren ein Bankett. Sie werden doch bestimmt irgendeine Art Medaille auftreiben können.«

Ramona grinste Isaac spöttisch an, in der Hoffnung, dass Isaac sich schwarzärgern würde. »Wenn Sie Saul meinen«, zwitscherte sie, »kommt das ein wenig spät. Die National Medal of Arts wurde ihm letztes Jahr verliehen. Ich habe sie ihm selbst angesteckt. In Anwesenheit von Präsident Cottonwood.«

Isaac stöhnte. Er verabscheute Calder Cottonwood, der sein eigenes Killerkommando im Weißen Haus unterhalten und Sidel zum Abschuss freigegeben hatte. Aber das war es nicht, was Isaac fuchste. »Sie haben einen Sohn Chicagos gezwungen, mit Republikanern zu verkehren?«

»Aber ja doch. Er saß mit den besten konservativen Philosophen des Landes an einem Tisch … Eine Einladung von Ihnen hätte Saul gar nicht angenommen, Mr. President. Er nennt Sie einen Stalinisten. Er hat kaum je einen Fuß nach Manhattan gesetzt, solange Sie Bürgermeister waren. Die U-Bahnen waren voller Penner, und er sagt, Sie hätten Kleinkriminelle frei herumlaufen lassen.«

Isaac verspürte einen Anflug von Schwindel, während er sich bemüßigt sah, gegenüber dem Vater von Augie March seine Taktik zu verteidigen. »Ja, ich habe alle sechs Monate einige der Massenzellen auf Rikers Island leeren lassen. Ich konnte einfach nicht zulassen, dass junge Männer und Frauen – die Hälfte davon halbe Kinder – auf Rikers versauern, weil sie wegen aufgebauschter Vorwürfe, die sich ohne Gericht in fünf Minuten regeln lassen, auf ihr Verfahren warten müssen. So eine Sorte Bürgermeister war ich nicht.«

»Und was für eine Sorte Präsident sind Sie?«, fragte Ramona mit feinem Lächeln. »Sie haben den Respekt vor Ihren eigenen Wählern verloren. Sie sind ein Clown mit einer Glock. Ich musste eine ausgewachsene Meuterei in unseren Reihen niederschlagen, und das war kein Vergnügen. Ich bin nicht Ihr privater Hammer …«

Sie hielt einen Moment inne, und Isaac wusste, wo der Hammer als nächstes niedergehen würde. Sie hatte von diesem Augenblick geträumt, ihn schon die ganze Zeit gehegt und gepflegt.

»Sie können Ariel Moss nicht nach Camp David einladen«, sagte sie. »Schluss, aus. Die Partei wird das nicht mittragen.«

»Hat er nicht den Nobelpreis bekommen? Er war sechs Jahre lang Premierminister.«

»Aber jetzt ist er ein Outlaw – und ein Einsiedler.«

»Er war schon immer ein Outlaw«, sagte Isaac. Ariel Moss war der Alias eines Alias. Ariels richtigen Namen kannte keiner. Er war in einem entlegenen Gebiet des sogenannten Ansiedlungsraums geboren worden, einer ehemals polnischen Enklave unter russischer Zarenherrschaft. Sein Vater war ein Holzhändler, dem ein ganzer Wald gehörte, während seine Mutter von einer königlichen Linie rabbinischer Gelehrter abstammte – das jedenfalls war die Geschichte, die Ariel über seine Familie erzählte. Er behauptete, an der Universität Lodz Jura studiert zu haben, doch keiner der Studenten erinnerte sich an einen Ariel Moss. Zum ersten Mal tauchte dieser Name 1942 auf, als er zu einem bunt zusammengewürfelten jüdischen Kommando innerhalb der Freien Polnischen Armee stieß, einem Selbstmordkommando, das in das Nazi-Hauptquartier einer Provinzstadt eindrang und den örtlichen Kommandanten erschoss. Ariel überlebte als Einziger. Die Nazis setzten einen Preis auf seinen Kopf aus, und die Polen entsandten ihn nach Palästina, wo er eine Gruppe britischer Saboteure trainieren sollte. Und damit nahm die Legende ihren Ausgang, dass Ariel Moss ein Doppelagent war, der sein Brot sowohl im Dienst des radikalen jüdischen Untergrunds der Irgun verdiente als auch für die Herren des britischen Geheimdienstes ackerte. Wenn das stimmte, war Ariel Moss der verdammt nochmal beste Doppelagent weit und breit. Er überfiel britische Banken in Jerusalem, entführte britische Beamte, verübte einen Bombenanschlag auf das Hauptquartier des britischen Generalstabs im King David Hotel, drang in die unbezwingbare Gefängnisfestung Akko ein und spazierte mit den dort gefangen gehaltenen Irgun-Kämpfern wieder heraus. Dieser anonyme Mann mit dem hängenden Auge wurde schließlich zum Kommandeur der Irgun und plante, die britischen Kolonialherrscher aus Palästina zu werfen.

Isaac wuchs mit einem Bild von Ariel an seiner Wand auf. Eigentlich war es ein polizeiliches Fahndungsfoto des Terroristen unter einem anderen Decknamen, Sasha Klein, aus einem sowjetischen Arbeitslager in Sibirien; er sah aus wie ein gewöhnlicher Verbrecher, ein urka mit kahlgeschorenem Schädel. Er war irgendwann um 1940 verhaftet worden, als zhid, der andere zhidy aus Polen herauszuschleusen versuchte. Sasha Klein entkam mit einer Bande von Dieben aus dem Gulag und verwandelte sich in einen Widerstandskämpfer des jüdischen Untergrunds.

Im November 1948 besuchte er in seiner Funktion als Führer seiner eigenen politischen Partei im neuen Staat Israel die Vereinigten Staaten. Er bemühte sich, Geldmittel aufzutreiben, aber von Albert Einstein und anderen illustren Juden wurde Ariel Moss als ein rechter Fanatiker attackiert, der ein Terrorregime über das Heilige Land gebracht habe. Isaac, seinerzeit fünfzehn Jahre alt und immer noch als Hehler unterwegs, nahm an einer Kundgebung für Ariel Moss im Seward Park teil. Sozialisten aus Brooklyn und der Bronx waren in die Lower East Side gekommen, um den Renegaten, der in einem langen Hickhack mit Israels herrschender sozialistischer Partei gefangen war, auszubuhen und zu bespucken. Ariel sah gar nicht wie ein Outlaw aus. Er hatte eingefallene Schultern und einen mageren Brustkorb, und seine Augen verbargen sich hinter dicken Brillengläsern, die ihm das Aussehen einer Eule verliehen.

»Satan«, schrie einer der Sozialisten, »hast du Kinder getötet?«

Ariel plierte den Sozialisten aus seinen Eulenaugen an. »Ja, es waren Kinder unter den Trümmern, als wir die Bomben im King David gezündet haben. Ich hielt einen Jungen in meinen Armen. Ich konnte ihn nicht wiederbeleben. Ich war einer vom Abrisskommando, kein Engel der Barmherzigkeit. Aber ich habe den Manager des King David vorher gewarnt und ihm gesagt, das Hotel von allen Gästen zu evakuieren. Er hat nicht hingehört, Genosse.«

»Ich bin nicht dein Genosse«, sagte der Sozialist. »Du bist ein Mörder und bettelst hier um Geld.«

Isaac gab alles, was er an Zaster hatte, in Ariels Sammelbüchse. Und Ariel kehrte nach Israel zurück, ein Paria wie zuvor. Dreißig Jahre lang fischte er im Trüben, bevor er die Mainstream-Politik für sich entdeckte. Er sprach besonders die Unterdrückten an, jüdische Flüchtlinge aus den islamischen Ländern Afrikas, Abkömmlinge babylonischer Stämme – kleine Händler aus dem Irak, Bäcker aus Usbekistan –, weniger die gebildeten Aschkenasim aus Osteuropa, und 1977 wurde der Geisterabsolvent der juristischen Fakultät Lodz schließlich zum Premierminister gewählt. Er stieß seine eigene nationalistische Partei vor den Kopf, als er 1978 mit Anwar el-Sadat das Abkommen von Camp David unterzeichnete. Darin wurde vereinbart, dass Israel die Halbinsel Sinai zurückgab und im Gegenzug Ägypten das Existenzrecht Israels anerkannte. Ägyptern wie Israelis missfiel das Abkommen gleichermaßen. Sadat kam drei Jahre später bei einem Attentat, das ein Dschihadist in den Reihen der Armee verübte, ums Leben, und Ariel entging einem Mordanschlag nach dem anderen, geplant von Fanatikern der religiösen Rechten und Killern von der moribunden Irgun. Sechs Mal lag er schwer verwundet im Krankenhaus. Seine eigenen Kinder sprachen nicht mehr mit ihm. Seine Frau starb. Er wurde immer verschlossener und trat 1983 zurück. Er war für niemanden mehr zu erreichen, weder für die Presse noch für die Verwandten seiner Frau noch für die wenigen Freunde, die ihm geblieben waren. Er zog von einem Ort zum anderen, von einer Baracke in Haifa in eine Hütte im Wald von Jerusalem. Berichten zufolge war er ein Strandläufer und Vagabund geworden, ja er hatte vielleicht sogar wieder begonnen, Banken zu überfallen, doch dieselben Berichte versicherten, die Agenten des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet schützten Ariel Moss davor, sich selbst und anderen zu schaden.

Ramona Dazzle fragte sich, weshalb dieser Eremit Kontakt zu Isaac Sidel aufnehmen wollte.

»Hat er Sie je aufgesucht, solange Sie Bürgermeister waren?«

»Nein«, musste Isaac beteuern. Während seiner Zeit als Premierminister war Ariel selten nach Manhattan gekommen. Er mied die Vereinten Nationen und ging Interessenvertretern aller Couleur aus dem Weg. Vielleicht hatte er sich nie von der wütenden Ablehnung der Sozialisten erholt, die ihm während seiner ersten Amerikareise im Jahr 1948 entgegenschlug. Aber einmal war er nach New York gekommen, als Isaac noch Police Commissioner war. Ariel war auf der Straße überfallen worden und wurde im Lincoln Hospital in der South Bronx stationär aufgenommen. Isaac scheute sich, den Helden seiner Jugend zu belästigen. Aber ihm war ein Rätsel, was Ariel Moss im Ödland zu suchen hatte, und dann auch noch ohne Leibwächter. Also schlich er sich rein interessehalber auf die Station. Er hatte nicht das Bedürfnis, Ariel Moss auszufragen, er wollte nur ein wenig in Eigenregie herumschnüffeln. Er sprach mit einer Krankenschwester und mit ein paar Insassen. Sie hatten keine Ahnung, wer Ariel Moss war, sondern hielten ihn für einen Amnestiker auf Stadtbummel durch die gefährlichste Quadratmeile Nordamerikas. Und während Isaac so herumschnüffelte, öffnete Ariel sein träges Auge.

»Ich kenne Sie – Sie sind der Pink Commish. Aber wir sind uns schon einmal begegnet, auf einer Kundgebung im Seward Park. Die Sozialisten haben mir das Fell gegerbt, und Sie haben mir etwas gelt gegeben.«

Isaac war perplex über das unglaubliche Gedächtnis des Patienten. Wie konnte Ariel sich an einen einzelnen Jungen erinnern? »Die Spende war nicht koscher«, sagte Isaac. »Das war Geld aus einem Hehlergeschäft.«

Ariel lachte in sein blaues Krankenhaushemd hinein. Seine Zähne waren ganz schwarz. Er sah aus wie ein Vampir, der sich schwarzes Blut im Mund zergehen ließ.

»Na, dann sind wir alle beide Desperados … Es ist kein Geheimnis. Ich war mal Bankräuber.«

»Aber an diesem Abschnitt des Southern Boulevard gibt es keine Banken. Dort gibt es so gut wie gar nichts. Was zieht Sie an einen derart gottlosen Ort?«

»Ich war auf Wallfahrt«, sagte Ariel Moss.

Isaac war noch konsternierter. Er fragte sich, ob der Straßenräuber Ariels Verstand erschüttert hatte.

»Sie haben bestimmt von Scholem Alejchem gehört, dem jiddischen Mark Twain. Als ich im Gulag war, waren es seine Geschichten, die mich weitermachen ließen. Seine letzten Lebensjahre hat er in der Bronx verbracht. In der Kelly Street. Er konnte nicht mehr schreiben. Er war eine Legende ohne Substanz geworden. Er hatte Diabetes und Tuberkulose und diverse andere Zipperlein. Wenn ihm ein paar seiner treuesten Leser nicht etwas zu essen vor die Tür gestellt hätten, wäre er mitsamt seiner Familie verhungert. Dennoch, zu seiner Beerdigung kamen hunderttausend Leute. Und ich habe es nie in die Kelly Street geschafft.«

Das war Isaacs letzte Begegnung mit Ariel Moss gewesen – im blauen Krankenhaushemd. Und dann, aus heiterem Himmel, hatte vor einer Woche der amtierende stellvertretende Sowjet-Außenminister Pesh Olinov anlässlich eines Empfangs im East Room Isaac ins Ohr geflüstert, dass der Eremit von Haifa die Biege gemacht habe und Big Guy treffen wolle. Olinov sagte wortwörtlich: die Biege gemacht. Warum sollte ein sowjetischer Diplomat, dessen plötzlicher Erfolg mit dem KGB und den Verbrecherbossen von Moskau und Kiew verbunden war, zum Kurier eines israelischen Ex-Premiers auf Abwegen werden? Es ergab keinen Sinn. Ägypten war der Mandant Sowjetrusslands, nicht die verrückten Juden aus Tel Aviv. Aber dann erkannte Isaac die Tätowierung auf Olinovs Fingerknöcheln – ein Dolch, der die Augenhöhle eines Totenkopfs durchbohrte. Isaac hatte diese Tätowierung schon einmal gesehen, bei den cheloveks von Brighton Beach. Sie war das Kennzeichen eines Werwolfs. Und Isaac begriff den Zusammenhang. Ariel und Pesh Olinov mussten im gleichen Gulag gewesen sein, vor vielen, vielen Jahren, mussten demselben Gangsterboss unterstanden haben, mussten gemeinsam entkommen sein. Die cheloveks würden keinen jüdischen Intellektuellen von der juristischen Fakultät Lodz in ihren Reihen geduldet haben – es sei denn, dieser Jurist war ein ebensolcher Werwolf wie sie selbst. Intellektuelle und zhidy starben als Erste. So lautete die grausame Devise Sibiriens. Ariel Moss hätte den bestialischen Alltag eines Arbeitslagers nicht überleben können, hätte er nicht unter dem Schutz eines pachan, eines Gangsterbosses gestanden. Und Olinov musste ein Untergebener dieses Bosses gewesen sein. Als Sohn einer Hure und eines chelovek im Lager geboren, wuchs er als Werwolf heran, der von seinem pachan auf den Knien geschaukelt wurde. Sein Gesicht zierten Narben von Messerkämpfen mit Rivalen seines pachan und anderen cheloveks. Er sah aus wie ein Flaschenkürbis, der von tiefen Furchen zweigeteilt war; seine leuchtend grünen Augen waren unter all den Malen halb verborgen. Isaac fühlte sich Pesh Olinov prompt verwandtschaftlich verbunden; sie waren wie zwei Freibeuter in einem Meer von Diplomaten und Politikern. Und doch war dieser ehemalige KGB-Oberst und Intimfreund von Unterweltgrößen der stellvertretende Außenminister unter Michail Gorbatschow; Olinov hatte an der Ausgestaltung von glasnost’ und perestrojka mitgewirkt und entscheidend dazu beigetragen, dem Westen Avancen zu machen und innerhalb der verwirrenden Kreml-Bürokratie gesellschaftliche und politische Reformen auf den Weg zu bringen.

Der Pink Commish war nicht blind. Moskau wütete gegen den Alkoholkonsum, zerstörte Schnapsbrennereien und verlor gleichzeitig Milliarden von Rubeln auf dem Schwarzmarkt an Olinovs alte Kameraden. Mit jedem seiner Erlasse wurde Pesh reicher. Er verbrachte Monate in der US-Hauptstadt, wie jeder andere K-Street-Lobbyist. Er wohnte gegenüber dem Weißen Haus im Hotel Washington, wo er umgeben von sechs Bodyguards auf der Dachterrasse dinierte. Immer noch musste er Anschlägen aus dem Weg gehen, wie oft schon hatte er scherbenübersät Explosionen überlebt. Wer wusste schon, wie viele Moskauer Gangster und Ehemalige aus dem Gulag Pesh nach dem Leben trachteten. Dass er einer der Vordenker der perestrojka geworden war, machte ihn zur einfachen Zielscheibe der konservativen Politiker und Politbüromitglieder. Also hatte sich Isaac am Tag nach dieser mysteriösen Zusammenkunft mit seinen Geheimdienstchefs in einem Verlies unter dem Oval Office getroffen, um Olinovs Annäherungsversuch zu besprechen. Bull Latham und Ramona Dazzle waren ebenfalls dabei. Isaac kam sich vor wie ein Schuljunge, als er sein Gespräch mit Pesh Wort für Wort wiederholen musste.

»Der Vize hat immer wieder gesagt, dass Ariel auf keinen Fall ins Weiße Haus kommen würde – hier hätten die Wände Ohren. Er würde nur in meine Datscha kommen. Ich wusste gar nicht, dass ich eine Datscha habe.«

Isaac sah vor sich, wie die Chiefs glucksend in sich hineinlachten. Sein nationaler Sicherheitsberater, Tim Vail, ergriff das Wort. Vail war ein blutjunges Genie, Harvard- und Georgetown-Absolvent, der den maßgeblichen Artikel zur sowjetischen Geopolitik veröffentlicht hatte. »Olinov meinte Camp David, Mr. President. Ariel hat dort das Friedensabkommen mit Sadat unterzeichnet. Dort muss er sich am wohlsten gefühlt haben. Aber warum sollte Pesh von sich aus den Himmelsboten für ihn spielen? Aus dem, was wir bislang an Unterhaltungen mitgehört haben, geht nichts hervor, was sie miteinander verbindet. Und wir waren fleißig, Sir. Deswegen misstrauen wir diesem Schachzug. Das ist irgendein Trick, um Sie in Ariels Dunstkreis hineinzuziehen, woraus immer der besteht.«

Doch Isaac traute Ariels umständlicher Art der Kontaktaufnahme mehr als den Ratschlägen seiner Geheimdienstchefs. Und Ramona musste das gemerkt haben. Ihr Boss war ein hoffnungsloser Romantiker und eine tickende Zeitbombe zugleich. Und jetzt versuchte sie, ihn durcheinanderzubringen, ihn auf dem falschen Fuß zu erwischen, während er mit seiner Glock in ihrem Büro stand.

»Ex-Premiers tauchen nicht einfach so aus dem Winterschlaf auf und beschließen ganz plötzlich, POTUS in seiner Datscha in Maryland zu besuchen. Er muss ein Motiv haben. Und mir gefällt das nicht, vor allem nicht, wenn das SOS von diesem Schlägertypen aus dem Kreml kommt. Ariel hat sich selbst noch nicht zu erkennen gegeben. Und wenn er es tut …«

»Dann weisen Sie gefälligst unsere Schlägertypen an, ihn rumlaufen zu lassen, soviel er Lust hat.«

Ihre Unterlippe zitterte. Sie hatte ihren Zaubertrank für Sidel noch nicht gefunden. »Wir sind nicht wie die Russen«, sagte sie. »Wir beschäftigen keine Schlägertypen. Einige unserer besten Agenten haben einen Doktortitel.«

Ja, murmelte Isaac in sich hinein, sie braten dir eins über und rezitieren dabei einen Hamlet-Monolog.

»Er hätte gar nicht in ein Flugzeug steigen dürfen. Er hat Dokumente gefälscht. Wir finden ihn.«

»Das haben schon die Briten gesagt, als er das King David zerbombt hat. Er ist gelandet, Ramona, und er ist viel zu clever, um gefunden zu werden. Er war sein halbes Leben ein gejagtes Tier.«

Ein alter, schwer gezeichneter Premierminister, der die Flatter gemacht hatte, musste in den Reihen des Schin Bet ein heilloses Chaos angerichtet haben. Vielleicht hatte Ariel Moss seinen eigenen Atom-Football samt Doomsday-Codes, und der Schin Bet wollte nicht, dass dieser Eremit von Haifa und seine Codes, über welche auch immer er noch verfügte, in die falschen Hände gerieten. Isaac hätte darauf wetten können, dass Ramona mit der israelischen Spionageabwehr in Verbindung gestanden hatte und ihm diese Information vorenthielt. Der Schin Bet traute dem Pink Commish nicht, selbst wenn er ein zhid aus der Lower East Side war. Sein Horizont lag zu weit links. Seine eigenen Geheimdienstchefs betrachteten ihn mit Argwohn, befeuert von all den neokonservativen Think Tanks. Die Neo-Cons waren überzeugt, dass Präsident Sidel ein Schläfer war, der Weisungen aus Moskau entgegennahm. Der Secret Service hatte ihm den Codenamen »Citizen« verpasst, und der Name klebte an ihm. In Talksendungen im Radio nannten ihn die Fanatiker mittlerweile den »Sowjetbürger Sidel«. Er konnte sich nicht aufmachen, um neue Wege zu bahnen, wie Huck Finn, sein Lieblingsheld in der amerikanischen Literatur. In Isaacs Augen gab es keine unbegangenen Wege mehr, außer vielleicht in der Antarktis oder in Feuerland, und da zog es ihn nicht unbedingt hin. Er steckte in seinem »Großen weißen Gefängnis« fest, mit einer Stabschefin, die ihn zu demontieren trachtete. Sie saß da mit ihren Strumpfhosenbeinen in der Luft, als sei er eine Art Randphänomen, das sie nur noch ein Weilchen ertragen müsste.

Er verabscheute ihre Selbstgefälligkeit, ihre Gewissheit, dass er nur ein Übergangskandidat war, der so oder so den Bach runtergehen würde. Er musste sich bremsen, nicht an ihrer Strumpfhose zu reißen, sie auf ihrem Stuhl herumzuwirbeln, bis sie nicht mehr wusste, wo hinten und vorne war. Aber Isaac wäre in Handschellen gelandet und der Körperverletzung beschuldigt worden.

Also lächelte er sein vages Lächeln – wie eine undurchdringliche chinesische Maske.

»Ramona, ich habe euch aus der Patsche geholfen«, sagte er. »Ihr hättet mich in den Teergruben versenkt, wenn euer eigener Kandidat bis zu seiner Amtseinführung durchgehalten hätte. Aber das hat er nicht, und jetzt habt ihr mich am Hals. Entweder führen wir eine Ehe, oder es herrscht Bürgerkrieg und die Front wird quer durch das DNC verlaufen. Und ihr werdet alle eure Geldgeber verlieren.«

Ihre schmalen Nüstern weiteten sich. »Sie drohen mir, Mr. President?«

»Ja«, flüsterte er. Sie waren ganz allein in ihren labyrinthartigen Gemächern. Ramonas Schranzen mussten in eine Bar nach Georgetown geflüchtet sein, wo sie sich bei Whiskey Sour und einem Krug britischem Ale über Isaacs abgewetzte Manschetten und seinen kahlen Hinterkopf lustig machen konnten.

Ramona zog ihre Strumpfhose glatt, erhob sich, stöckelte um ihren antiken Schreibtisch herum und schlug Isaac ins Gesicht. Sein Kiefer prickelte. Er blutete aus dem Mund, und in seinen Ohren hörte er ein Tosen, das die Brandung des Atlantiks gegen Ramonas privaten Schutzdeich war. Big Guy sparte es sich, das Blut von seinen Zähnen zu wischen. Die Fronten hatten sich verschoben. Er hatte Ramona Dazzle auf die Palme gebracht.

»Wir werden dafür sorgen, dass dieser russische Zwerg Olinov nach Moskau abberufen wird. Er wird nicht den Boten für diesen elenden Greis aus Haifa spielen.«

»Pesh ist kein Zwerg«, sagte Isaac in plötzlichem Singsang. »Und Sie können ihn nicht abberufen lassen – wir sind im Zeitalter der glasnost’, der Kooperation zwischen Ost und West. Wir verkleinern unsere Atomwaffenarsenale, ihren und unseren Generälen zum Trotz. Wenn Sie Ihre Häscher Olinov zu nahe kommen lassen, dann lasse ich ihnen die Schwänze abhacken und sie im Rose Garden zur Schau stellen. Sie können ihre verschrumpelten Überreste dann von Ihrer Veranda aus bewundern.«

»Sie sind widerlich«, brüllte Ramona ins Leere. »Sie sind ein Prolet.«

Sie ohrfeigte ihn noch einmal. Big Guy taumelte kurz und hielt ihre Handgelenke fest. Es war der erste lustvolle Moment, seit er ins Weißen Haus gekommen war.

»Lassen Sie mich los«, schrie sie Isaac an, der ihren hochschnellenden Stilettos auswich wie ein Matador und zudem seine Kronjuwelen schützen musste. Ein Mann vom Secret Service kam gelaufen, seine .357er Magnum gezückt wie ein obszönes Spielzeug. Hinterdrein Isaacs Navy-Adjutant, der den Atomkoffer schleppte. Und dann kam noch Bull Latham angerannt und pflügte sich zwischen ihnen durch, sodass Isaacs Adjutant mitsamt dem Football im dunklen Schacht unter Ramonas Schreibtisch landete.

»Genug herumgebalgt, Mr. President. Wir haben ein paar beunruhigende Details aufgeschnappt.«

Er nötigte Isaac und Ramona, am Konferenztisch Platz zu nehmen. »Ich mache keine Witze. Oh, wir haben Gerüchte gehört, dass Oberst Ghaddafi Ihnen Killer auf den Hals gehetzt hat – das geht schon seit Monaten so. Aber er will ja nicht, dass ihm der Arsch aus Tripoli rausgebombt wird. Am Ende müsste er sich noch mit Schleier und Kopftuch in die Wüste zurückziehen. Dann wäre er einer mehr auf der Liste meiner Lieblingstransen.« Bull sonnte sich in seinem neuen Ruhm. Als Isaacs Vizepräsident hatte er sich seine eigenen Regeln gemacht. Er herrschte über das FBI und langte Isaacs anderen Agenturen tief in die Taschen. Seine herkulischen Schultern verliehen ihm zusätzlich Nachdruck, wo immer er gerade herumstocherte. »Die kolumbianischen Drogenbosse hassen Sie, weil wir ihre Kartelle gesprengt haben. Aber sie halten sich selbst für Kreuzritter. Und Sie sind in den Barrios populär. Sie nennen Sie den israelita mit der Glock, heißt es aus anderer Quelle. Antisemitischer Dreck kümmert uns nicht – Spinner, die gegen den ›Itzig im Weißen Haus‹ geifern.«

Bull machte eine Kunstpause, um sich die Lippen zu lecken und seinen eigenen Sinn fürs Drama auszukosten.

»Aber jetzt ist etwas von der Aryan Brotherhood reingekommen, von diesen Knast-Freaks. Ein verschissenes Tattoo. Die sind Tätowierungskünstler, das weiß ich auch. Aber das hier ist doch ziemlich gruselig. Es ist eine Karikatur von Ihnen, Mr. President, im einen Auge steckt ein Eispickel, und Ihr Hals ist an Ihren Kopf genäht wie bei Frankenstein. Mit Stichen so dick wie ein Finger.«

»Dann sollten wir diese Tattoo-Künstler einfangen und ihnen zeigen, wo der Hammer hängt«, schnarrte Ramona.

»Nur die Ruhe«, sagte Bull Latham. »Das sind nur Erfüllungsgehilfen. Darum müssen wir ein wenig an ihrem Bäumchen rütteln.«

Isaac war auf der Hut vor Bull Latham. Der Secret Service hätte ihn vor Gefahren warnen müssen, nicht sein Vizepräsident. Und Matthew Malloy, der Chef der Sicherheitsmannschaft des Weißen Hauses, hatte bisher kein Wort gesagt.

»Was für ein Bäumchen denn?«, fragte Isaac mit der gespielten Naivität eines ehemaligen Cops.

»Ein vergiftetes, Mr. President, aber der Baum ist nicht das Problem. Wir sollten uns auf die Gärtner konzentrieren, die es fleißig gegossen haben. Sie sind es, die von Ihrem Ableben profitieren würden. Sie haben die Brotherhood mit einem ganzen Batzen Geld geködert.«

»Und wer sind diese gruseligen Gärtner?«

»Eben da liegt der Haken«, sagte Bull Latham. »Ich habe keinen Schimmer. Ich würde diese Neonazidreckskerle auspressen, aber die meisten von ihnen sitzen lebenslänglich und sind untereinander loyal. Sie würden nur lügen. Es könnte jeder sein, der Groll gegen Sie hegt, er müsste nur hart genug drauf sein, sich mit der Brotherhood anzulegen und ihnen ihre Kunst abzuluchsen. Das ist keine Kleinigkeit. Die Brotherhood ist nicht gerade scharf drauf, sich von ihren Tattoos zu trennen.«

Ramona sah ihren Augenblick gekommen. »Ich wette, Ariel Moss hat damit zu tun. Er könnte einer der Gärtner sein.«

Bull lachte höhnisch auf. »Der Eremit? Der muss Windeln tragen – das habe ich schwarz auf weiß, glauben Sie mir. Er war schon immer inkontinent, auch beim Camp-David-Abkommen. Der Schin Bet musste ihm ständig mit frischen Windeln hinterherrennen. Im Gulag hatte er irgendeine Art Ruhr und ist nie richtig geheilt worden – ein scheußlicher Fall von Würmern. Er ist keiner der Gärtner. Dafür garantiere ich.«

»Aber er ist unterwegs und richtet Unheil an«, greinte Ramona ohnmächtig wie ein kleines Mädchen, während Bull abwinkte.

»Wir kriegen ihn. Wir müssen nur die Nase im Wind haben.«

Isaac hatte die Nase voll von seinem Vize. Er verließ Ramonas Labyrinth, ohne Bull auch nur zuzunicken, ging die unter Thomas Jefferson errichteten Kolonnaden entlang und fuhr mit dem Präsidentenaufzug nach oben in seine Privatwohnung, zwei Männer vom Secret Service im Schlepptau. Er hatte sein eigenes Labyrinth an Zimmern. Es gelang ihm nicht, sich dort einzuleben. Er bewohnte die gesamte zweite Etage des Weißen Hauses, mit ihren Palisandertischen, Astrallampen, Kommoden aus Satinholz, mit Kristalllüstern, die unregelmäßige Schattenspiele an den Wänden hervorriefen, und einem kleinen Schatz an Cézannes, deren dick aufgetragene Erdfarben im Oberlicht der Fenster wie gekräuselt wirkten. Die Wohnung hatte außerdem eine Küche, verschiedene Wohnzimmer, einen Balkon und ein Frisierzimmer, in dem sich ein lachsfarbener Polstersessel, diverse Haartrockner, ein Hocker für die Maniküre und ein Porzellankelch für Shampoo befanden und in dem sich die First Lady wohlfühlen sollte. Aus irgendeinem Grund hielt Isaac sich in diesem rundum korallenrosa dekorierten Raum am liebsten auf. Nicht, dass er keine Ehefrau hatte. Aber diese Ehefrau, bekannt als die Countess Kathleen, eine üppige Rothaarige, die er im Alter von neunzehn Jahren geheiratet und von der sich scheiden zu lassen er bisher den Aufwand gescheut hatte, zog ein Immobilienimperium in Florida dem Weißen Haus vor. Sie war fünf Jahre älter als Isaac und eingefleischte Republikanerin. Ohne Kathleen, die um Isaacs willen der irischen Mafia des New York Police Department schöne Augen gemacht hatte, wäre er weder Bürgermeister noch Police Commissioner geworden. Sie hatte möglicherweise vor ihrer Heirat mit ein paar Chiefs geschlafen und sie mit ihrer wilden irischen Natur verhext.

Die Countess war Ramona und dem DNC ein Dorn im Auge. Während Isaacs Wahlkampagne hatte sie Millionen an die Republikaner gespendet und an die Demokraten keinen Dime. Aber Isaac zog nie über sie her und ließ nie ein abfälliges Wort über sie hören, und wenn Ramonas Detektive noch so viel Schmutz über Kathleens Grundstücksdeals in den Sümpfen Floridas ans Licht brachten. »Pfoten weg von meiner Frau, Schätzchen«, musste Isaac sie warnen. »Was immer ihr ausgrabt, wird sich am Ende nur gegen uns richten.« Isaac war clever genug, um zu sehen, wie clever die Countess selbst war. Wer wäre so blöd, eine Präsidentengattin wegen ein paar undurchsichtiger Grundstücksdeals im Okefenokee zu belangen? Und es machte ihm Freude, im Kosmetiksalon des Weißen Hauses zu sitzen und von der Countess zu träumen, wie sie ihr rotes Haar wusch.

Der Pink Commish wollte gerade die Augen schließen, als ihm ein gefalteter Zettel auffiel, der unter einem der Föns lag wie eine einfache Grußkarte. Vorne stand in ziemlich krakeliger Schrift:

willkommen in der brotherhood,

big balls

So hatten ihn seine Feinde genannt, als er noch Police Commissioner war und die krassen Typen in jedem Borough einlochte. Der Name war als Verhöhnung gedacht, aber Big Balls wurde schnell zu einer Art Respektsbezeugung. Er stellte Kinderschändern und Bankräubern und sadistischen Gangleadern so lange nach, bis die Handschellen klickten. Einmal ging er in ein brennendes Lagerhaus hinein, um einen wahnsinnigen Mörder festzusetzen, und lag danach sechs Wochen im Krankenhaus. Aber dadurch ließ sich ein Sidel nicht außer Gefecht setzen. Er zog ganz einfach mit seinem Büro in sein Krankenzimmer um und war dort umgeben von Detectives und Assistant D.A.s.

Sein Spitzname war ihm nicht in die Gracie Mansion gefolgt. Als Bürgermeister hieß er nicht mehr Big Balls. Warum also sollte ihn dieser Name auf einmal im Weißen Haus heimsuchen? Er faltete die Karte auseinander und erblickte eine Ausgabe ebenjener Tätowierung, die Bull beschrieben hatte, eine Kostprobe der Kunst der Aryan Brotherhood in roter Tinte – Isaac mit seinem kahlen Hinterkopf, einem Eispickel im linken Auge, den Kopf mit grober Schnur auf den Rumpf genäht. Der Künstler hatte Isaacs strengen Blick so gut getroffen, als hätte der Pink Commish irgendwo in der Hölle für sein Porträt Modell gestanden.

Unter der Zeichnung waren die üblichen Hakenkreuze und Runen der Aryan Brotherhood zu sehen. Sinnend betrachtete Isaac die Grußkarte. Wie kam sie hierher? Wer hatte sie in sein Allerheiligstes geschmuggelt? Jemand, der mit Isaacs Gewohnheiten und Schlupfwinkeln vertraut war? Er brüllte nicht nach dem Secret Service, alarmierte nicht Bull Latham. Er pflückte einen Telefonhörer von der Gabel neben dem Maniküregestell und ließ die Telefonistin des Weißen Hauses im Hotel Washington anrufen und sich zu Pesh Olinovs Suite durchstellen. Irgendein sowjetischer Gorilla ging an den Apparat.

»Wer spricht? Bitte zu antworten, jawohl?«

»Big Balls«, brüllte Isaac. »Richten Sie das Pesh aus.«

2

Ohne seinen Tross konnte er nicht mal über die Straße gehen. Jedes Mal brachte er den Verkehr auf der Pennsylvania Avenue für eine Stunde komplett zum Erliegen, während District Detectives und der Secret Service herumwuselten und die Tore des Lafayette Park säumten. Jede seiner Bewegungen musste vorab geplant und kartiert, sein Zielort genauestens erfasst werden. Er wäre vom Weißen Haus zu Fuß in fünf Minuten ins Hotel Washington gelaufen, aber er war noch nie zuvor auf eigene Faust außerhalb des North Portico gewesen. Als der gesalbte Präsident saß er in seinen eigenen Schlingen gefangen. Die Telefonistin des Weißen Hauses hatte offenbar bei Ramona und Matthew Malloy gepetzt. Wie eine Furie ging Isaacs Stabschefin auf ihn los.

»Sie Volltrottel«, schnaubte sie. »Wollen Sie eine internationale Krise heraufbeschwören? Die Gorillas von diesem Zwerg könnten Sie in die Schulter schießen – einfach aus Spaß. Sie können nicht mal eben so ins Hotel Washington hineinspazieren. Sie müssen das Protokoll befolgen. Sagen Sie’s ihm, Matt.«

Der Chef der Sicherheitsmannschaft wippte auf den Absätzen. Ramona hatte ihn seit dem Augenblick an der Kandare, als sie in den West Wing stolziert war. Er war fast fünfzig und plante seinen Ruhestand. Er musste einmal ausgesehen haben wie ein blauäugiger Gott Apoll, aber Calder Cottonwood hatte ihn in ein paar zwielichtige Deals hineingezogen, und seine Blondheit und sein gutes Aussehen waren dahin; sein Gesicht war schlapp geworden wie eine exotische Blume, die zu verrotten beginnt.

»Ich arrangiere den Transport, Mr. President. Jeder wird an seinem Platz sein. Und Dragon muss gesichert werden.«

Dragon war Isaacs gepanzerter Lincoln mit den schusssicheren Scheiben; er würde das Weiße Haus mit einer Flotte von Limousinen verlassen, um zwei Straßen weit zu fahren, während eines seiner Doubles in einer anderen Limousine saß.

»Das dauert eine Stunde und gibt Pesh die nötige Zeit, ein Szenario auszuarbeiten. Ich will diesen Drecksack mit runtergelassenen Unterhosen erwischen. Wir gehen zu Fuß, Matt.«

Auch so verlor er kostbare Zeit. Matt würde das Hotel vorwarnen und den Umkreis absichern müssen, was gleichbedeutend war mit Agenten vor Peshs Räumen, im Stockwerk darüber und im Stockwerk darunter. Es war wie die Choreografie für einen wahnsinnigen König, und Isaac musste sich dem äußeren Schein von Matthew Malloys »Chaos-Kontrolle« beugen. Er selbst weigerte sich, eine kugelsichere Weste überzuziehen. Seine Glock genügte ihm. Aber er musste ewig warten, bis sein Schutztrupp fertig ausgerüstet war – mit Magnetometern, .357er Magnums, Knopflochmikrofonen, Ray-Ban-Sonnenbrillen, Sackschutz – und aus seinem Körbchen in den Kellergewölben des West Wing ausfliegen konnte.

Matt und seine Männer trugen in der Winterkälte niemals Mäntel. Das hätte ihre Bewegungen erheblich verlangsamt, wenn sie ihre .357er Magnums zu ziehen versuchten. Sie hatten dem Schin Bet ein oder zwei Dinge abgeschaut. Die beiden Geheimdienste tauschten gerne fachmännische Tricks aus. Im vergangenen Jahr hatte Matt den Schin Bet zu einer Übungswoche auf sein Trainingsgelände bei Laurel, Maryland eingeladen. »Harte Burschen, diese Izzies«, sagte er. »Mit denen würde ich mich nicht gern anlegen.« Und nun trabte Isaacs Schutztrupp durch die entlaubte Landschaft des Lafayette Park, einer eigenen kleinen Welt aus windgepeitschten Bäumen, deren Rinde silbrig abblätterte, und stürmte die Lobby des Hotel Washington wie ein menschlicher Vorschlaghammer, Big Guy in ihrer Mitte eingekeilt. Sie sahen finster aus in ihren Ray-Bans und auch ein wenig komisch.

Die ganze Lobby wandte sich ihnen zu. POTUS und seine Beschützer waren in ein Zeitlupenparadies eingetreten, in dem alle Bewegung eingefroren schien und kein Laut zu hören war. Sie requirierten einen Fahrstuhl für sich allein, wobei zwei Agenten zurückblieben und den Fahrstuhlbereich bewachten. Die anderen fuhren mit Isaac nach oben. Im sechsten Stock sprangen sie hinaus und gruppierten sich abermals um Isaac. Zwei Agenten trugen tragbare Magnetometer. Es war völlig gleich, wer Pesh war – Diplomat, Verbrecherboss oder der thailändische König. Sie mussten in jedem Fall seine Suite auf den Kopf stellen. Es hatte vorab keine Durchsuchung gegeben, und sie konnten POTUS kein unerforschtes Gelände betreten lassen.

Isaac selbst klopfte an Pesh Olinovs Tür; einen Moment lang kam er sich vor wie ein junger Deputy Chief Inspector bei seiner ersten Razzia. Einer von Peshs Gorillas öffnete knurrend die Tür. Auf seinem kahlgeschorenen Schädel prangte ein rotes Muttermal, das ungefähr die Form Sibiriens hatte.

»Was stören, eh? Pesh im Schlaf.«

»Wecken Sie ihn«, sagte Isaac, während die Secret-Service-Männer mit ihren Ray-Bans und Knopfmikros durch die Tür trampelten. Aus dem Schlafzimmer seiner Suite erschien Pesh Olinov in einem prachtvollen Samtrock. Ein Leibwächter stand hinter ihm und schwenkte ein ledergebundenes Dokument.

»Sie dürfen hier nicht rein. Wie sind sowjetische Diplomaten.«

»Zwecklos, Sasha«, sagte Pesh mit einem Lächeln, das sich wie ein zitternder Wurm über seinen Mund fortsetzte. »Wir sind bei den Barbaren.«

»Sir«, sagte Matt, »wir müssen den Raum absuchen und die Russkis mit dem Metalldetektor kitzeln.«

»Nicht jetzt«, sagte Isaac. »Lassen Sie das mit der Leibesvisitation. Ich habe was mit Pesh zu besprechen.«

Er wandte sich dem amtierenden Vizeaußenminister zu, beugte sich nach vorn und flüsterte ihm ins Ohr: »Sie müssen meinen Beschützern vergeben. Sie haben ihre Vorschriften. Kann man nichts machen.«

Er ging mit Pesh ins Schlafzimmer und schloss die Tür, gerade als Matt zu schreien begann: »Sie können da nicht reingehen, Sir. Es ist nicht sicher.«

Isaac hatte erwartet, zwei Callgirls unter der Satinbettwäsche von Pesh Olinovs übergroßem Bett zu überraschen. Er hatte durch Bull Lathams Informanten vom FBI von Peshs schrägen Gewohnheiten erfahren. Aber Isaac fuhr zusammen, als er Olinovs Begleiterin erblickte. Sie war nicht einmal ausgezogen. Sie saß in einem Sessel aus Palisanderholz, der eine Replik seines eigenen kostbaren Mobiliars im Weißen Haus hätte sein können. Es war Renata Swallow, Doyenne von Georgetown und eins der tonangebenden Mitglieder der Cave Dwellers, der Crème de la Crème von Washingtons Elite. Die Cave Dwellers hatten nie viel mit Präsidenten oder deren Gattinnen zu schaffen gehabt. Sie und ihre Vorfahren hatten Mary Lincoln, Eleanor Roosevelt und Mamie Eisenhower mit ein und demselben eiskalten Gift brüskiert. Sie waren in ihrem einzigartigen Who’s Who verzeichnet, dem Green Book, hatten ihre eigenen Wohltätigkeitsbälle und Konzertabonnements und mischten sich nur selten in die Politik ein. Renata jedoch war nicht wie die anderen Doyennes oder Bienenköniginnen. Sie war seit kurzem verwitwet, ohne sich je auf dem Vermögen ihres verstorbenen Ehemannes ausgeruht zu haben, war siebenunddreißig, aufreizend blond, zog Kampfkünste gegenüber Wohltätigkeitsbällen vor und war quirliges Mitglied des Republican National Committee. Sie verabscheute Isaacs Stabschefin und ließ keine Gelegenheit aus, ihre Giftpfeile auf »Dizzy Ms. Dazzle« abzuschießen.

Isaac war Renata schon einmal begegnet, aber nicht in Washington, sondern auf einer Gala zu Ehren von George Balanchine und dem New York City Ballet in seiner allerersten Zeit als Bürgermeister. Er war gefesselt von ihrer Stimme. Sie sprach mit dem maître in einem lyrischen Russisch, das klang wie der Schrei eines unglückseligen Vogels. Er hatte nicht gewusst, wie traurig eine Sprache sein konnte. Und es passte nicht zu ihrer fast maskulinen Schönheit und ihrem kurzgeschnittenen Blondhaar. Er geriet beinahe außer sich über diese Washingtoner Oberaufseherin der Künste, bis sie ihn an der Schulter packte und ihn mit einer Stimme, die ihre ganz eigene martialische Musik hatte, anfuhr: »Was machen Sie denn hier, Mr. Mayor? Waren Sie in Ihrem Leben schon einmal im Ballett?«